V| VORWORT

Bei dem im Mittelpunkt dieses Buches stehenden Aerosolbolus handelt es sich um einen zu bestimmter Zeit in den Inhalationsstrom eingebrachten Teilchenimpuls, welcher für diagnostische Zwecke genutzt werden kann. Experimentelle Arbeiten der vergangenen Jahre vermochten zu demonstrieren, dass der Bolus während seines Transportes durch die Luftwegsstrukturen sowohl eine kontinuierliche Verbreiterung (Dispersion) als auch eine Formveränderung erfährt. Diese Phänomene werden unter anderem von der Lungenarchitektur beeinflusst, wobei krankhafte Modifikationen derselben (z. B. chronische Bronchitis, Emphysem) ein spezifisches Bolusbild erzeugen.

Im vorliegenden Buch sollen zunächst die Grundlagen der Inhalation, des intrapulmonalen Transportes und der Exhalation des Aerosolbolus ihre ausführliche Darstellung finden. Zu diesem Zweck sollen wichtige Bolusparameter einer detaillierten Beschreibung zugeführt und entsprechende Anwendungsbereiche der Teilcheninhalationsmethode erörtert werden. Das zweite Buchkapitel beschäftigt sich mit Computermodellen zur Bolusinhalation, welche in der Vergangenheit neben dem experimentellen Ansatz immer mehr an Bedeutung gewonnen haben. Bei zahlreichen Fragestellungen ist es heute mitunter gar nicht mehr notwendig, eine teils aufwendige Herangehensweise mit Experimenten zu planen, da theoretische Näherungen hinreichend genaue Aussagen abzuliefern vermögen. In einem weiteren Kapitel wird auf die Bolusdispersion in der normalen (gesunden) Lunge von erwachsenen Menschen und Kindern Bezug genommen, ehe nachfolgend die Wirkung verschiedener Lungenkrankheiten auf den Bolustransport zur Sprache kommt. Bei diesem letzten Abschnitt findet auch die Bolusdispersion in der Kinderlunge ihre umfangreiche Behandlung, womit einer stetig wachsenden Fokussierung der Lungenmedizin auf den präadulten respiratorischen Trakt Rechnung getragen werden soll.

Das Buch sieht sich keineswegs als eine ausschließlich Medizinern beziehungsweise Medizinerinnen und Physikern beziehungsweise Physikerinnen vorbehaltene Fachlektüre, sondern möchte ganz generell jene Leserschaft ansprechen, die ein gehobenes Interesse für Computermodelle in der Pneumologie besitzt oder erweiterte Kenntnisse in Hinblick auf die experimentelle und theoretische Diagnose von verschiedenen Lungeninsuffizienzen erlangen möchte. Demzufolge werden die hier gesammelten Ergebnisse auch in einer allgemein verständlichen Sprache präsentiert.

Robert Sturm, Herbst 2020

I| INHALT

  1. EINLEITUNG
  2. BOLUS-MODELLE
  3. AEROSOLBOLUS-DISPERSION IN DER GESUNDEN LUNGE
  4. AEROSOLBOLUS-DISPERSION IN DER KRANKEN LUNGE
  5. ZUSAMMENFASSENDE BEMERKUNGEN
  6. LITERATUR

1| EINLEITUNG

1.1 Definition und Erzeugung des Aerosolbolus

Abb. 1| Experimenteller Aufbau zur Durchführung von Aerosolbolus-Inhalationsexperimenten [1, 2].

Unter einem Aerosolbolus (lat. bŏlus = der Wurf) versteht man im Allgemeinen ein definiertes, mit Partikeln durchsetztes Luftvolumen (z. B. 50 ml), welches mithilfe einer technischen Apparatur zu einem bestimmten Zeitpunkt in den inhalierten Luftstrom eingebracht wird. Erfolgt die Injektion des Aerosols zu Beginn des Inhalationsvorganges, so vermögen die Teilchen in die tieferen Lungenbereiche vorzudringen (tiefer Bolus). Wird das Aerosol hingegen erst in der Endphase der Inhalation in den Luftstrom injiziert, erreichen die Partikel nur eine geringe Penetrationstiefe (flacher Bolus). Der apparative Aufbau für die Erzeugung eines Aerosolbolus besteht grundsätzlich aus drei Komponenten, welche mit einem digitalen Steuersystem in Verbindung stehen (Abb. 1). Über ein Ventilsystem werden Reinluft und Aerosol in genauer zeitlicher und mengenmäßiger Abstimmung miteinander in Verbindung gebracht. Ein daran angeschlossenes Flowmeter misst die Flussrate (Volumen pro Zeiteinheit) des Inhalations- beziehungsweise Exhalationsstroms (z. B. 250 ml/s). Das zuletzt noch in der Apparatur enthaltene Fotometer bestimmt die Partikelkonzentration beim Ein- und Ausatmen, wobei die Messergebnisse direkt am Computerbildschirm abgelesen werden können. Einzelne Probanden, die an Aerosolbolus-Experimenten teilnehmen, sind anhand eines speziellen Inhalationsrohres oder einer Atemmaske mit der Apparatur verbunden und können unter Verwendung von Lichtsignalen zur Generierung regelmäßiger Atmungszyklen (z. B. 2 s Inhalation ‒ 1 s Atempause ‒ 2 s Exhalation) mit vordefinierten inspiratorischen und exspiratorischen Volumina (z. B. jeweils 500 ml) veranlasst werden [1-10].

Abb. 2| Illustration zur Veranschaulichung der Aerosolbolus-Dispersion durch axiale Diffusion der inhalierten und exhalierten Teilchen.

Die Aerosolbolus-Inhalation bietet nicht nur die Möglichkeit einer gezielten Lenkung von Aerosolpartikeln in höhere oder tiefere Lungenregionen, sondern kann auch für diagnostische Zwecke herangezogen werden. Hierbei spielt das physikalische Phänomen der Aerosolbolus-Dispersion (Abb. 2) eine wichtige Rolle. Darunter versteht man die kontinuierliche Zunahme der Halbwertsbreite des Partikelimpulses mit zunehmender Transportstrecke im respiratorischen Trakt. Der Aerosolbolus erfährt dabei sowohl bei der Inhalation als auch bei der darauf folgenden Exhalation eine sukzessive Verbreiterung [1-5].

Ausschlaggebend für das Dispersionsphänomen ist der physikalische Prozess der axialen Diffusion, welcher durch die im Zusammenhang mit der diffusiven Teilchenbewegung stehenden Gesetzmäßigkeiten (1. und 2. Fick'sches Gesetz) beschrieben werden kann und unter anderem von der Strömungsgeschwindigkeit, der Luftwegsgeometrie und diversen Teilcheneigenschaften abhängt. Krankhafte Veränderungen der bronchialen und bronchiolären Durchmesser (chronische Bronchitis) wirken sich auf die Aerosolbolus-Dispersion ebenso aus wie signifikante Modifikationen der alveolären Struktur (Emphysem). Der exhalierte Aerosolbolus zeigt im Vergleich zum inhalierten Teilchenimpuls nicht nur eine deutliche Steigerung der Halbwertsbreite, sondern auch eine bemerkenswerte Reduktion der Amplitude (Peakhöhe). Dieser Umstand rührt einerseits daher, dass sich das Aerosol zunehmend mit der Atemluft vermischt, und lässt sich andererseits aber auch mit der Deposition einer gewissen Partikelfraktion begründen [5-12].

Abb. 3| Wichtige Kennwerte zur Beschreibung der Aerosolbolus-Ddispersion: HWI = Halbwertsbreite des inhalierten Bolus, HWE = Halbwertsbreite des exhalierten Bolus, M = Position des Modus des exhalierten Bolus, VT = Tidalvolumen, VLT = Volumetrische Lungentiefe (Penetrationsvolumen) [7-9].

Für die systematische Beschreibung der Aerosolbolus-Dispersion bedient man sich im Allgemeinen einiger einfacher Kennwerte (Abb. 3). Neben der bereits erwähnten Halbwertsbreite des inhalierten und exhalierten Teilchenimpulses (HWI und HWE) ist hier zunächst die sogenannte volumetrische Lungentiefe (VLT; Penetrationsvolumen) zu nennen, welche den volumetrischen Abstand zwischen Modus des inhalierten Teilchenpeaks und Endpunkt der Inhalationsphase bezeichnet. Geht man beispielsweise von einem Tidalvolumen (VT) von 500 ml aus und erfolgt die Injektion des 50 ml breiten Aerosolbolus bei exakt 200 ml des inhalierten Luftstromes, so beläuft sich die volumetrische Lungentiefe bei einem idealen symmetrischen Partikelimpuls auf 275 ml (500 ml - 200 ml - 25 ml). Hohe Werte dieses Parameters deuten auf einen tiefen Bolus hin, wohingegen niedrige Werte charakteristisch für einen flachen Bolus sind. Die Position des Modus (Höchstwertes) des exhalierten Aerosolbolus (M) entspricht der volumetrischen Distanz zwischen Startpunkt der Exhalation auf der einen Seite und Spitze des ausgeatmeten Aerosolbolus auf der anderen [3, 7-9].

Das Ausmaß der Aerosolbolus-Dispersion hängt nicht nur von den oben genannten Faktoren (Strömungsgeschwindigkeit, Luftwegsgeometrie, Teilcheneigenschaften), sondern auch von der volumetrischen Lungentiefe selbst ab.

Abb. 4| Abhängigkeit der Aerosolbolus-Dispersion von der volumetrischen Lungentiefe (VLT) des inhalierten Partikelpeaks [7].

Hier ist grundsätzlich festzuhalten, dass die seitliche Ausdehnung des exhalierten Teilchenpeaks mit der volumetrischen Lungentiefe anwächst. Die stetige Verbreiterung geht Hand in Hand mit einer permanenten Reduktion der Peakhöhe (Abb. 4). Um diesem Phänomen bei der medizinischen Diagnose ausreichende Aufmerksamkeit entgegenzubringen, werden Aerosolbolus-Experimente häufig unter Heranziehung eines breiten Spektrums an volumetrischen Lungentiefen (z. B. von 50 ml bis 450 ml) durchgeführt [2, 3, 10-15].

1.2 Mathematische Darstellung des Aerosolbolus

Sowohl der inhalierte als auch der exhalierte Aerosolbolus besitzen näherungsweise die Geometrie einer Gauß'schen Glockenkurve, wodurch verschiedene statistische Parameter erhoben werden können. Die Halbwertsbreite des ausgeatmeten Partikelpeaks, welche den obigen Ausführungen zufolge ein Grundmaß für die Intensität der Bolusdispersion repräsentiert, wird in der Regel durch Anwendung des Newton'schen Näherungsverfahrens ermittelt. Gemäß dieser Methode werden die entsprechenden x-Werte des Partikelimpulses ermittelt, indem man jeweils von einem Startwert (x1) ausgeht und den besser angepassten Approximationswert (xT) nach der Formel

berechnet. Dieser dient in weiterer Folge wiederum als Ausgangswert für einen neuen Berechnungszyklus.

Abb. 5| Wichtige Parameter zur Beschreibung der Geometrie des Aerosolbolus: (a) Halbwertsbreite (HW) und Standardabweichung (σ), (b) Schiefe (ψ), (c) Modus (M); IAB/EAB = inhalierter/exhalierter Aerosolbolus.

Andere Parameter für die Deskription der Breite und Form des exhalierten Aerosolbolus lassen sich unter Zuhilfenahme standardisierter statistischer Momente ermitteln. Die Standardabweichung, welche beiderseits des Mittelwertes jeweils 34,1 % der Breite des Teilchenpeaks abdeckt, entspricht hierbei der Quadratwurzel des zweiten statistischen Moments. Grundsätzlich erfolgt die Berechnung des statistischen Moments (μk) nach der mathematischen Formel

wobei C(t) die Teilchenkonzentration zur Zeit t, ti den Zeitpunkt der Bolusinjektion in den inhalierten Luftstrom und tm die zeitliche Position des Bolusmedians repräsentieren. Der zuletzt genannte Parameter gehorcht im Allgemeinen der Gleichung

Die Standardabweichung (σ) kann nun den obigen Ausführungen zufolge nach der Formel

berechnet werden [3, 7, 9].

Die Schiefe (ψ) beschreibt die Geometrie beziehungsweise den Grad der Asymmetrie des exhalierten Aerosolbolus. Aus mathematischer Sicht stellt sie sich als Quotient aus drittem statistischen Moment und Quadrat der Standardabweichung (Varianz) dar:

Nimmt die Schiefe den Wert Null an, zeichnet sich der Aerosolpeak durch eine ideale Symmetrie aus. Bei positiven Werten liegt hingegen eine Linksschiefe, bei negativen Werten umgekehrt eine Rechtsschiefe vor [7, 9].

Als letztes charakteristisches Merkmal kann die sogenannte Modusverschiebung (ΔM) angesehen werden, welche der Differenz aus volumetrischer Lungentiefe und Position des Höchstwertes des exhalierten Bolus entspricht:

Die Modusverschiebung ist in erster Linie auf die bereits weiter oben angesprochenen Durchmischungsphänomene während des intrapulmonalen Aerosoltransportes zurückzuführen, steht jedoch auch in unmittelbarer Verbindung mit an den Luftwegsbifurkationen generierten Sekundärströmungen, Mischungsprozessen zwischen Inhalations- und Residualluft in den Alveolen und den Trägheitseigenschaften der eingeatmeten Partikel [7-10].

1.3 Anwendungsbereiche der Aerosolbolus-Inhalation

Die gezielte Versetzung der Inhalationsluft mit Teilchenimpulsen hat gerade in den vergangenen Jahrzehnten etliche medizinische und physikalische Anwendungen gefunden, von denen drei etwas näher beleuchtet werden sollen. Hier ist zunächst die Nutzung der Aerosolbolus-Technik für den Transport von eingeatmeten Partikeln zu bestimmten Targetregionen im respiratorischen Trakt zu nennen (Abb. 6). Wie bereits in Abschnitt 1.1 erläutert wurde, lässt sich grundsätzlich eine Differenzierung zwischen flachem Aerosolbolus mit geringer volumetrischer Lungentiefe und tiefem Bolus mit hoher volumetrischer Lungentiefe vornehmen. In der Medizin wird anstelle der volumetrischen Lungentiefe oftmals auch die sogenannte Fronttiefe (VF) verwendet, welche die volumetrische Distanz zwischen Larynx (Kehlkopf) und Bolusfront bezeichnet. Dieser Parameter besitzt den wesentlichen Vorteil, dass das extrathorakale Luftvolumen nicht in die Messungen beziehungsweise Berechnungen miteinbezogen wird. Bei einem flachen Bolus erfolgt die Partikelinjektion in den inhalierten Luftstrom erst am Ende der Phase des Einatmens, wodurch die Teilchen nur mehr eine stark begrenzte Transportstrecke absolvieren können, ehe sie teilweise zur Ablagerung gelangen. Als hauptsächliche Depositionsorte gelten in diesem Fall die obersten Luftwege und unmittelbar damit assoziierte Lungenstrukturen. Wird die Injektion des Aerosolbolus in der mittleren Phase des Einatmens vorgenommen, gelangen die Partikel in der Hauptsache in mittlere Lungenregionen, um dort einer partiellen Deposition zu unterliegen. Kommt es schließlich zur Injektion des Partikelimpulses in der Endphase der Inhalation, können die Teilchen in großer Anzahl bis in die peripheren Lungenregionen vordringen und sich dort zum Teil ablagern [10-15].

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