Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (DHG)

Standards zur Teilhabe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und komplexem Unterstützungsbedarf

mit einem Vorwort von Prof. Dr. Iris Beck

mit Beiträgen von Carmen Badura, Heinz Becker, Dr. Christian Bradl, Prof. Dr. Friedrich Dieckmann, David Cyril Knöß, Carsten Krüger, Prof. Dr. Vera Munde, Andrea Pistorius, Rudi Sack, Dr. Monika Seifert, Susanne Siebert, Prof. Dr. Erik Weber

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2021

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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

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ISBN 978-3-17-039520-6

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Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort
  2. 1    Einführung
  3. 2    Leitbegriffe
  4. 2.1    Teilhabe
  5. 2.2    Selbstbestimmung
  6. 2.3    Personenzentrierung
  7. 2.4    Sozialraumorientierung
  8. 3    Teilhabe und Assistenz
  9. 3.1    Fachliche Herausforderungen
  10. 3.2    Rechtliche Aspekte
  11. 3.3    Fachliche Standards
  12. 4    Teilhabe und Pflege
  13. 4.1    Fachliche Herausforderungen
  14. 4.2    Rechtliche Aspekte
  15. 4.3    Fachliche Standards
  16. 5    Individuelle Teilhabeplanung und Teilhabemanagement
  17. 5.1    Fachliche Herausforderungen
  18. 5.2    Rechtliche Aspekte
  19. 5.3    Fachliche Standards
  20. 6    Teilhabe im Sozialraum
  21. 6.1    Fachliche Herausforderungen
  22. 6.2    Rechtliche Aspekte
  23. 6.3    Fachliche Standards
  24. 7    Teilhabe am Arbeitsleben
  25. 7.1    Fachliche Herausforderungen
  26. 7.2    Rechtliche Aspekte
  27. 7.3    Fachliche Standards
  28. 8    Zielperspektive Lebensqualität
  29. 8.1    Bedeutung für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf
  30. 8.2    Bedingungsfaktoren für das individuelle Wohlbefinden
  31. Autorinnen und Autoren
  32. Informationen zur DHG

Vorwort

Standards sind Festlegungen für die Art und Weise, wie Prozesse gestaltet sein sollen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Sie beschreiben Anforderungen und Kompetenzen, Bedingungen und Wissensbestände und beruhen auf Modellen von Entwicklungszielen. Standards liegen vor den Kompetenzen, die Ziele vor den Standards und vor den Zielen liegt deren Begründung. Entscheidend dafür, dass es zur Formulierung von Standards als Richtschnur kommt, ist also die Anerkennung und Geltung des Ziels.

Die Durchsetzung von Bildungs- und Teilhaberechten für Menschen mit Behinderung war historisch ein sehr langer Prozess, und er musste für jede Gruppe aufs Neue durchgesetzt werden. Angesichts von starren Verhältnissen, die Entwicklung, Bildung und Teilhabe auf der Basis defizitärer Menschenbilder verwehrten, war die Etablierung neuer Formen historisch häufig »ein kühnes Unternehmen«1. Die gesellschaftliche Steuerung von Lebenslagen durch Recht und Politik bedeutet nichts Geringeres als den »Erhalt von Lebenschancen aus der gesellschaftlichen Produktion als Sozialgüter«2, und die generationsprägende Wirkung von großen Reformen lässt sich an Lebensläufen belegen. Die Dynamik des Zugewinns – oder aber des Verlustes von Bildungs- und Teilhabechancen – zeigt sich bei Menschen mit Behinderung in besonderem Maß, denn ihre Lebenslage wird hochgradig von den sozialen Leistungen und Rechten beeinflusst. Wenn man über Teilhabe spricht, spricht man also über nichts weniger als über die individuelle Lebensführung; und dabei geht es um die grundsätzliche Frage, ob Handlungsspielräume für die Lebensführung vorhanden und so gestaltet sind, dass es neben den Zwängen und Abhängigkeiten auch freie Wahlmöglichkeiten gibt, ob über Zugehörigkeit und Anerkennung identitätsstärkende Erfahrungen gemacht werden können und man den Alltag ebenso wie sich stellende Belastungen bewältigen kann.

Die Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (DHG) setzt sich seit 1991 kontinuierlich für die Verbesserung der Lebenschancen von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und einem komplexen Unterstützungsbedarf ein, eine Gruppe, deren Bildungs- und Teilhaberechte als letzte anerkannt wurden. So äußerte sich der Verband Deutscher Sonderschulen (VDS, heute Verband Sonderpädagogik) 1983 zum ersten Mal überhaupt und dann äußerst verhalten zur Förderung der damals so genannten Schwerstbehinderten. Ein damals im Auftrag des VDS von Georg Feuser erarbeitetes Papier war zuvor abgelehnt worden, weil es mit Begriffen wie Bildung und Integration zu progressiv war.3 Bis heute ist die Lage dieser heterogenen Gruppe von Menschen gekennzeichnet durch besonders hohe Beschränkungen des Zugangs zu gesellschaftlichen Handlungsfeldern und zu den Angeboten der Bildung und Beschäftigung, der Kultur, der Freizeit und des öffentlichen Lebens sowie der Gesundheit und Therapie. Dies gilt sowohl in Bezug auf das Regelsystem als auch auf das Sondersystem, und diese Beschränkungen zeigen sich empirisch deutlich, sei es mit Blick auf das Verbleiben in ›besonderen Wohnformen‹4 oder den Ausschluss von der Teilhabe am Arbeitsleben, sogar aus den Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM).

Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und dem Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) wurde nun nach Jahrzehnten wieder eine große Reform-Dynamik in Gang gesetzt. Ihre Leitmotive sind Teilhabe/Partizipation und Selbstbestimmung, im Mittelpunkt steht die möglichst unabhängige individuelle Lebensführung und ihre Durchsetzung basiert nun auf Rechten. Die UN-BRK zeigt klar auf, dass es sich bei Marginalisierungs- und Diskriminierungsprozessen zentral um Menschenrechtsverletzungen handelt und diese Konsequenzen erzwingen. Es besteht eine Verpflichtung, den Zustand der starren Verhältnisse, wie er sich auch in Benennungen des Personenkreises als ›die, die keiner haben will‹, widerspiegelt, zu überwinden. Dafür müssen aber die bisherigen Exklusionsrisiken und Problemstellen genau in den Blick genommen und die rechtlichen Normen und fachlichen Ansprüche auf die Situation besonders hoher sozialer Abhängigkeit und erschwerter Partizipation hin durchdekliniert werden. Menschen mit einem komplexen Unterstützungsbedarf fallen aus Struktur- und Handlungslogiken, die sich an engen, schematischen Vorstellungen von ›Hilfebedarf‹, ›Bedarfsgruppen‹ und ›Leistungstypen‹ orientieren, heraus; ihr Bedarf wird zum ›Schnittstellenproblem‹, z. B. zwischen Pädagogik und Therapie oder Pädagogik und Pflege. Aus organisatorischen Unterschieden, die durch die Bildung von Hilfebedarfsgruppen stark gefördert werden, können inhaltliche Unterschiede werden, nämlich zwischen ›Teilhabe‹ und ›Pflege‹ oder ›Betreuung‹; dies hat spürbare Folgen für Denkweisen und Handlungsprozesse der Leistungserbringung und in deren Folge für die Handlungsspielräume der Menschen, z. B. wenn ›Wohnpflegeheime‹ sich maßgeblich an Pflegestandards ausrichten und dort grundsätzlich kein zweites Milieu vorgesehen ist.

Die Corona-Pandemie hat Bruchstellen dieser Logik schonungslos offen gelegt und verstärkt: die Zwänge des Lebens und gesundheitlichen Risiken in zumeist nicht selbst gewählten Wohngruppen, die reduzierten sozialen Kontakte und die unzureichenden Teilhabemöglichkeiten, die sich mit Mängeln der Infrastrukturen vor Ort, z. B. dem Zugang zu gesundheitlichen und therapeutischen Angeboten, verbinden. Die Pandemie-Situation könnte zur Sicherung der überkommenen Strukturen beitragen, wenn nun das Spannungsfeld zwischen Gesundheitsschutz und Teilhabe einseitig aufgelöst und nicht die Verluste an Optionen und Entwicklungsmöglichkeiten aufgearbeitet werden, sowohl für den Einzelnen als auch für ein ›Leben im Gemeinwesen‹. Die Chance für neue Entwicklungen liegt hingegen in einer konsequenten Individualisierung, die zuerst und der ICF folgend am Verständnis des Bedarfes ansetzt, aber weitergehend darauf zielt, die Handlungsspielräume für die Lebensführung zu erhöhen, und zwar anhand daraufhin bezogener flexibler, angemessener und wirksamer – also professioneller und fachlich kompetenter – Leistungen.

Die konstitutiven Spannungsfelder zwischen Selbstbestimmung und Abhängigkeit, aber auch Sorge und Schutz, zwischen Wahlmöglichkeiten und Bindungen und Verpflichtungen lassen sich nicht auflösen, sie müssen und sie können gestaltet werden. Die DHG-Standards basieren auf der expliziten Auseinandersetzung mit diesen Spannungsfeldern und den bisherigen Bruchstellen und formulieren aus sozialrechtlicher und fachlicher Perspektive Anforderungen, was Unterstützung zur individuellen Lebensführung bedeutet. Sie setzen dabei am Kernproblem an: der Umsetzung der Person- und Sozialraumorientierung als den ›Schaltstellen‹ zur Verwirklichung der menschenrechtlichen Ansprüche. Sie stellen der Komplexität der Lebenslage ein komplexes, advokatorisches Assistenzkonzept bei, das auch im Fall der Angewiesenheit auf Stellvertretung und Deutung Kontrolle über das eigene Leben ermöglichen soll.

Die von der DHG vorgelegten Standards verbinden ausgehend von Zielbegründungen die Beschreibung der rechtlichen Normen mit fachlichen und wissenschaftlichen Wissensbeständen, Rahmenbedingungen und Anforderungen in einer Systematik, Tiefe und Breite, wie sie bisher nirgends vorgelegt wurde. Sie richten sich an alle im Feld Tätigen und Verantwortlichen im Sinne einer einzulösenden Agenda.

Hamburg, Januar 2021 Iris Beck

1  Möckel, A. (1988): Geschichte der Heilpädagogik. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 51

2  Ferber, C. von (1972): Der behinderte Mensch und die Gesellschaft. In: W. Thimm (Hrsg.): Soziologie der Behinderten. Neuburgweier, S. 31

3  Stinkes, U. (1998): Der Verband und die Erziehung schwer behinderter Kinder. In: A. Möckel (Hrsg.): Erfolg, Niedergang, Neuanfang. 100 Jahre Verband Deutscher Sonderschulen. München, S. 249–264.

4  Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2016): Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a125-16-teilhabebericht.pdf;jsessionid =8CE02DA5EF5244E1A90A223C461E7A83?__blob=publicationFile&v=9; Franz, D. & Beck, I. (2015): Evaluation des Ambulantisierungsprogramms in Hamburg. Forschungsbericht. Hrsg.: Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (AGFW) Hamburg e. V. Hamburg. Online verfügbar unter: https://www.agfw-hamburg.de/download/Ambulantis ierung_Abschlussbericht_lang.pdf, Zugriff am 20.07.2020.

1    Einführung

Die Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft (DHG) engagiert sich seit nahezu 30 Jahren als berufsübergreifender und interdisziplinärer Fachverband für die Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf. Mit Aktivitäten wie Tagungen, Fachgesprächen, Expertisen, Stellungnahmen und DHG-Preis unterstützt die DHG innovative Ideen und Projekte, insbesondere zur Entwicklung inklusiver Wohnformen, zur Sozialraumorientierung, zur Quartiersentwicklung und für arbeitsweltbezogene Beschäftigungsangebote mit dem Ziel der Stärkung der Teilhabechancen.

DHG-Fachtagungen5 zu Themen wie Selbstbestimmung und Assistenz, Hilfeplanung, Teilhabe, Sozialraumorientierung und Quartiersentwicklung boten in den vergangenen 20 Jahren ein Forum, um innovative Entwicklungen anzustoßen und voranzutreiben. Als Fachverband stellt sich die DHG nun der Aufgabe, Leitziele und Handlungsempfehlungen für Fachkräfte und Dienste der Behindertenhilfe zu entwickeln. Die folgenden Standards sind Ergebnis einer über zweijährigen Diskussion im Vorstand der DHG mit einem Kreis von Unterstützer*innen sowie eines Fachgesprächs im Rahmen der Mitgliederversammlung vom April 2018. Sie sollen Grundsätze und Handlungsempfehlungen für Methoden, Prozesse und Strukturen einer zeitgemäßen »guten Praxis« professioneller Unterstützung konkretisieren. Gerade im Prozess der Umsetzung und der Evaluation des Bundesteilhabegesetzes und damit der weiteren Entwicklung des neuen Teilhaberechts erscheint es notwendig und hilfreich, entsprechende fachliche Standards, fundiert durch wissenschaftliche Diskurse und Erkenntnisse, zu formulieren.

Im Mittelpunkt stehen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen6 und komplexem Unterstützungsbedarf. Der Personenkreis ist sehr heterogen. Dazu gehören

•  Menschen mit erheblichen kognitiven und kommunikativen Beeinträchtigungen, die ihre Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Interessen überwiegend nonverbal, über jeweils eigene Ausdrucksformen signalisieren;

•  Menschen mit mehrfachen Beeinträchtigungen (körperlich, sprachlich oder sinnesbezogen, teilweise zusätzliche psychische Problemlagen und chronische Erkrankungen);

•  Menschen, deren Verhalten auffällt, die sich selbst oder andere gefährden, z. B. durch selbstverletzendes oder fremdverletzendes Verhalten gegen Personen und Sachen.

Allen gemeinsam ist, dass sie nicht oder nur bedingt für sich selbst sprechen können und bei der Wahrnehmung ihrer Rechte und Interessen anwaltschaftlicher Unterstützung bedürfen.

Der komplexe Unterstützungsbedarf fordert eine ganzheitliche Perspektive, die die Verwobenheit der vielfältigen individuellen Bedürfnisse und Bedarfe erkennt und auf der Handlungsebene integriert. Angesichts der Heterogenität des Personenkreises sind die Einschränkungen von Teilhabe nur personenzentriert beschreibbar und Unterstützungsbedarfe nur individualisiert realisierbar.

Die Begrifflichkeit und das Verständnis von Behinderung orientieren sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)7. Auf der Basis eines bio-psycho-sozialen Ansatzes wird Behinderung mehrperspektivisch im Rahmen einer Wechselwirkung zwischen körperbezogenen Faktoren, Umweltfaktoren und personenbezogenen Faktoren gesehen und als Einschränkung von Aktivitäten und Teilhabemöglichkeiten verstanden. Für den hier benannten Personenkreis sind Teilhabeeinschränkungen erheblich, in der Regel umfassend, d. h. sie beziehen sich auf alle ICF-Teilhabebereiche. Erforderlich sind entsprechend komplexe Unterstützungsleistungen und infrastrukturelle Rahmenbedingungen im Zusammenwirken verschiedener Leistungssysteme, um Teilhabebarrieren zu beseitigen bzw. zu reduzieren sowie Teilhabechancen zu erschließen bzw. zu erweitern. Fehlende oder unzureichende Unterstützungsangebote bedeuten für diese Menschen ein hohes Exklusionsrisiko. Wahlmöglichkeiten für kleinteilige Wohnsettings sind nach wie vor extrem beschränkt, institutionelle Strukturen sind in der Behindertenhilfe weithin vorherrschend.

Ergänzend zur ICF lenkt das sozialwissenschaftliche Lebensqualität-Konzept8 den Blick auf menschliche Grundbedürfnisse, um einer vielfach praktizierten Verkürzung von vielfältigen Bedürfnissen auf leistungsrechtlich anerkannte Bedarfe entgegenzuwirken. In dem mehrdimensionalen Konzept werden objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden integriert. Die Leitfrage nach dem subjektiven Wohlbefinden mit entsprechenden Indikatoren für das physische Wohlbefinden, das soziale Wohlbefinden, das materiell bedingte Wohlbefinden, die persönliche Entwicklung und Aktivitäten sowie das emotionale Wohlbefinden ist eine wichtige personenzentrierte Orientierungshilfe für die Teilhabeplanung und die Evaluation von Assistenzleistungen, insbesondere für den hier betreffenden Personenkreis.

Rechtliche Grundlagen für Standards einer »guten Praxis« basieren vorrangig auf dem neuen Teilhaberecht des Bundesteilhabegesetzes (BTHG). Aus Sicht der DHG muss das Recht auf »volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft« (§ 91 SGB IX) für alle Menschen mit Behinderungen9 unabhängig vom Unterstützungsbedarf, ohne Einschränkungen und mit Vorrang gelten. Mit den Pflegestärkungsgesetzen10 und dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff sowie den erweiterten Pflegeleistungen vergrößern sich die Schnittstellen des Pflegerechts zum Teilhaberecht. Konkrete Auswirkung auf Leistungsstrukturen sowie Umfang und Qualität von Assistenzleistungen haben die länderspezifischen BTHG-Ausführungsgesetze, Bedarfsermittlungsinstrumente sowie die jeweiligen Landesrahmenverträge. Einfluss nehmen auch die Wohn- und Teilhabegesetze der Bundesländer und die Aufsichtspraxis der jeweiligen Heimaufsichtsbehörden, z. B. hinsichtlich teilhaberelevanter Fachkonzepte.

Mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention und des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) stellen Personenzentrierung und Teilhabe die zentralen Leitbegriffe für eine zukunftsweisende Behindertenhilfe dar. Im Leistungsdreieck von Leistungsberechtigten, Leistungsträgern und Leistungserbringern stärkt das neue Teilhaberecht sowohl die Steuerungskompetenz durch die Leistungsträger der Eingliederungshilfe als auch die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Deren verstärkte Rechte beziehen sich allgemein auf Selbstbestimmung, auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, vor allem in der Teilhabe am Arbeitsleben und der sozialen Teilhabe.

Im Besonderen zielen sie darauf,

•  dass die »Lebensplanung und -führung möglichst selbstbestimmt und eigenverantwortlich« wahrgenommen werden kann,

•  dass Wünsche einschließlich nach einer »gewünschten Wohnform« und dem »Wohnen außerhalb von besonderen Wohnformen« berücksichtigt werden, »soweit sie angemessen sind«, und

•  dass erforderliche Assistenzleistungen »zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum« erbracht werden (§§ 91 SGB IX, 104 SGB IX und 113 SGB IX).

Zwar gelten diese verstärkten Rechte auf umfassende Teilhabe und erforderliche Assistenzleistungen in einer Wohnform nach Wahl unabhängig vom Umfang des jeweiligen Unterstützungsbedarfs, fehlende Ressourcen und fortbestehende institutionelle Strukturen bleiben jedoch wesentliche Barrieren für die Realisierung personenzentrierter Teilhaberechte. Außerdem stellt die Komplexität des Unter stützungsbedarfs sowohl an Leistungsträger (»Leistungen wie aus einer Hand«) als auch an Leistungserbringer (»Leistungsmix«, »Hilfen aus einer Hand«) zusätzliche Anforderungen an Koordination und Kooperation im Leistungssystem.

Viele rechtliche Ansprüche und fachliche Anforderungen des neuen Teilhaberechts sind erst noch mit Leben zu erfüllen. Die Realisierung einer umfassenden Teilhabe – ohne Exklusion und unabhängig vom Unterstützungsbedarf – bedarf einer systematischen Verankerung in der Umsetzung, Evaluation und Weiterentwicklung des Teilhaberechts. Die DHG-Standards zur Teilhabe bei komplexem Unterstützungsbedarf sind als Beitrag zum notwendigen Prozess der Ausgestaltung, Konkretisierung und Umsetzung von Teilhabe in fachlicher, rechtlicher und sozialpolitischer Hinsicht zu verstehen. Sie richten sich nicht nur an Leistungsträger und Leistungserbringer und deren Mitarbeitende, sondern auch an weitere Akteure wie Angehörige, Selbstvertretungsgruppen, Fach- und Berufsverbände sowie die Wissenschaft.

Komplexer Unterstützungsbedarf ist eine interdisziplinäre und multiprofessionelle Aufgabe. Dabei kommt in der alltagsgestaltenden Assistenz der pädagogischen Disziplin (Soziale Arbeit, Heilpädagogik, Andragogik) bzw. den pädagogischen Fachkräften (der Heilerziehungspflege und Heilpädagogik) mit ihren entwicklungs-, lebenswelt- und beziehungsorientierten Handlungsfeldern11 und einem an Selbstbestimmung orientierten, komplexem Assistenzkonzept12 eine herausragende Rolle zu. Unverzichtbar ist je nach Unterstützungsbedarf die Kooperation mit anderen Leistungssystemen, Disziplinen und Fachkräften (vor allem aus Sozialer Arbeit, Pflege, Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie) und mit deren Kompetenzen in einem strukturierten Teilhabemanagement.

In Anbetracht eines Personenkreises, der sich nicht oder nur sehr eingeschränkt für seine Interessen artikulieren kann, sieht sich die DHG in der Verantwortung, entsprechende Standards zunächst in anwaltschaftlicher Vertretung zu formulieren. Gleichwohl stellt sich die DHG der noch offenen Herausforderung zur Entwicklung einer Kultur der Selbstbestimmung und Beteiligung bei komplexem Unterstützungsbedarf.

Im Rahmen der Umsetzung des BTHG konzentriert sich die DHG mit ihren Standards zur Teilhabe auf fünf Handlungsfelder: Teilhabe und Assistenz; Teilhabe und Pflege; Individuelle Teilhabeplanung und Teilhabemanagement; Teilhabe im Sozialraum; Teilhabe am Arbeitsleben. Es ist beabsichtigt, diese Standards in einem fortlaufenden Prozess sowohl fortzuschreiben als auch um weitere Standards zu erweitern.

Literatur

Bundesarbeitsgemeinschaft der Ausbildungsstätten für Heilerziehungspflege in Deutschland (BAG HEP) (2019): Qualifikationsprofil Heilerziehungspflege. Länderübergreifendes kompetenzorientiertes Qualifikationsprofil für die Ausbildung von Heilerziehungspfleger*innen an Fachschulen für Heilerziehungspflege. Online verfügbar unter: https://www.akademie-schoenbrunn.de/fileadmin/data_akademie/Berufliche_Schulen/HEP_HEPH/Qualifikationsprofil_fuer_Heilerziehungspfleger.pdf, Zugriff am 29.06.2020.

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2013): Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe – Beeinträchtigung – Behinderung. Berlin. Online verfügbar unter: https://www.bmas.de/Share dDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a125-13-teilhabebericht.pdf?__blob=publicatio nFile&v=2, Zugriff am 30.07.2020.

Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) (Hrsg.) (2005): Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Genf: World Health Organization.

Kopyczinski, W. (2016): Assistenz zur Selbstbestimmung. Fachliche und menschenrechtliche Grundlagen zur Assistenz von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. Marburger Beiträge zur Inklusion 01. Marburg: Lebenshilfe Hessen.

Seifert, M. (2002): Menschen mit schwerer Behinderung in Heimen. Ergebnisse der Kölner Lebensqualität-Studie. In: Geistige Behinderung, 41 (3), 203–222.

5  vgl. dazu die DHG-Schriften: www.dhg-kontakt.de/schriften/

6  leistungsrechtlich als »Geistige Behinderung« bezeichnet

7  DIMDI 2005

8  Seifert 2002; vgl. auch Kap. 8 (Zielperspektive Lebensqualität) dieser Standards

9  Die Verwendung des Begriffs »Menschen mit Behinderungen« ist hier und im Folgenden an der Bezeichnung des Personenkreises in der UN-BRK und im BTHG orientiert, die auf dem Behinderungsverständnis der ICF basiert. Im Teilhabebericht der Bundesregierung wird zwischen Behinderung und Beeinträchtigung unterschieden. Beeinträchtigung bezieht sich auf konkrete Einschränkungen, z. B. beim Gehen, Hören oder Sehen. »Erst wenn im Zusammenhang mit dieser Beeinträchtigung Teilhabe und Aktivitäten durch ungünstige Umweltfaktoren dauerhaft eingeschränkt werden, wird von Behinderung ausgegangen.« (BMAS 2013, 7).

10  Pflegestärkungsgesetze 1, 2 und 3 (2014–2016); vgl. Kap. 4 (Teilhabe und Pflege) dieser Standards

11  vgl. BAG HEP 2019: Qualifikationsprofil Heilerziehungspflege

12  vgl. Kopyczinski 2016

2    Leitbegriffe

Die DHG-Standards orientieren sich an Leitbegriffen, die im Bundesteilhabegesetz (BTHG) verankert sind und die fachliche Arbeit mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und komplexem Unterstützungsbedarf bestimmen: Teilhabe, Selbstbestimmung, Personenzentrierung und Sozialraumorientierung. Sie werden im Folgenden kurz umrissen und hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Arbeit mit dem Personenkreis erläutert.

2.1           Teilhabe

Die »volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft« (participation) und die »Einbeziehung in die Gesellschaft« (inclusion) zählen zu den zentralen Grundsätzen der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (Art. 3 UN-BRK).

In der Fachdiskussion erweist sich Teilhabe als unscharfer Begriff, der – je nach Interessenslage – unterschiedlich interpretiert wird. Insbesondere in der Arbeit mit Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf wird das Recht auf Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft häufig missachtet. Separierende Unterstützungsstrukturen und Einstellungen von Entscheidungsträger*innen in Politik, Verwaltung und sozialen Diensten sowie tradiertes institutionelles Denken von Fachkräften erschweren die Umsetzung. Barrieren in der Umwelt verschärfen die Situation.

Der komplexe Wirkzusammenhang für die Realisierung von Teilhabe ist im bio-psycho-sozialen Modell der WHO dargestellt, das der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) zugrunde liegt.13 Es zeigt die Wechselwirkungsprozesse zwischen einer Person mit einem Gesundheitsproblem und person- und umweltbedingten Kontextfaktoren auf, die Einfluss auf die Teilhabe an subjektiv bedeutsamen Lebenssituationen und Lebensbereichen haben. In diesem Modell wird Behinderung als Beeinträchtigung der Teilhabe definiert, als Ergebnis einer negativen Wechselwirkung zwischen den individuellen Voraussetzungen und den jeweils gegebenen person- und umweltbezogenen Bedingungen.

Dieses Verständnis von Behinderung hat im BTHG seinen Niederschlag gefunden:

»Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern.« (§ 2 Abs. 1 SGB IX).

Unter Bezugnahme auf die ICF nennt das BTHG neun Teilhabebereiche, die bei der Planung von Unterstützungsleistungen zu beachten sind und deren subjektive Bedeutsamkeit zu erkunden ist: Lernen und Wissensanwendung – Allgemeine Aufgaben und Anforderungen – Kommunikation – Mobilität – Selbstversorgung – Häusliches Leben – Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen – Bedeutende Lebensbereiche (Bildung, Arbeit, wirtschaftliches Leben) – Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben.

Die Konkretisierung dieser Bereiche lässt die Mehrdimensionalität des Begriffs Teilhabe erkennen. Er umfasst sowohl die individuelle Ebene im häuslichen und außerhäuslichen Bereich als auch die soziale, kulturelle, materielle, rechtliche und politische Ebene. Dabei kommen jeweils unterschiedliche Aspekte von Teilhabe zum Tragen:14

•  Teil-Sein als Ausdruck »der ungeteilten bürger- und sozialrechtlichen Zugehörigkeit zum ›Ganzen‹ der Gesellschaft und das Gefühl, in einer lokalen Gemeinschaft respektiert zu sein und gebraucht zu werden«;

•  Teilhabe als »Einbeziehung in gesellschaftliche Aktivitäten und Entscheidungen, aber auch die Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern wie Sicherheit, Wohnung, Arbeit und Sozialen Leistungen«;

•  Teilnahme als aktiver Aspekt, »der eine Aufforderung und die Chance enthält, die Bürgerrolle engagiert wahrzunehmen, Gestaltungsmacht und Möglichkeiten zu nutzen, die Lebensbedingungen im eigenen lokalen Lebensumfeld mitzubestimmen und durch eigene Ideen und Handeln zu bereichern«.

Als Ziel einer teilhabeorientierten Unterstützung formuliert das BTHG, »die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständig und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern« (§ 4, Abs. 1,4 SGB IX). Ausgangspunkt sind jeweils die persönlichen Wünsche und Interessen (§ 117 Abs. 1 SGB IX).

Auf den Alltag von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf bezogen sind die Inhalte der Teilhabebereiche der ICF jeweils zu spezifizieren. Bedeutsame Aspekte sind zum Beispiel:

1)  Gelegenheit für Lernen und Entwicklung zu haben;

2)  Anforderungen im Alltag bewältigen zu können;

3)  mit anderen in (nonverbalen) Dialog treten zu können;

4)  sich innerhalb und außerhalb des Wohnbereichs bewegen zu können;

5)  bei der Selbstversorgung aktiv eingebunden zu sein;

6)  an haushaltsbezogenen Aktivitäten beteiligt zu sein;

7)  tragfähige soziale Beziehungen zu haben;

8)  in Lebensbereiche einbezogen zu sein, die subjektiv bedeutsam sind (z. B. Bildung, arbeitsweltbezogene Tätigkeiten, Freizeit);

9)  als Bürger*in am Leben in der Gemeinde teilzunehmen.