9.


Drei Tage, nachdem ich an Charleys Grab gestanden hatte, erreichte ich die Furt am Clear Fork River.

Shita hatte ich ein paarmal zur Ordnung rufen müssen, weil er sich immer wieder danebenbenahm. Entweder ließ er ein leises Knurren hören, oder er versuchte mit gesträubtem Fell die Hänge des Fork River Valley hinaufzujagen, sobald das Schneetreiben etwas nachließ oder der Wind von Norden auf Westen drehte.

Nachts schliefen wir eng aneinander gekuschelt, um uns einigermaßen warm zu halten, weil ich es nicht riskierte, ein Feuer anzuzünden. Auch dann schreckte er öfter aus dem Schlaf hoch und fing leise an zu knurren.

„Ruhig, Shita“, ermahnte ich ihn leise. „Ich weiß, dass du sie witterst und dir der Geruch ihrer Ponys nicht gefällt. Aber wir müssen so tun, als ahnten wir nicht, dass sie uns seit Tagen belauern und den Rückweg abschneiden. Warte nur, bis wir die Furt überquert haben und die Büsche dort drüben erreichen. Dann ist das Versteckspiel zu Ende, und du kannst deinen Gefühlen freien Lauf lassen!“

Und so geschah es auch.

Dort drüben am anderen Ufer, wo sich hinter den Büschen die roten Klippen der Clear Fork Range für den Trail nach Westen zum Llano Estacado öffneten, würden sie mich erwarten, um Rechenschaft von mir zu fordern.

„Bring den Schlamassel in Ordnung“, hatte Colonel Warwick zu mir gesagt. „Du weißt jetzt, dass alles von deinem Verhandlungsgeschick abhängt. Frieden oder Blutvergießen, diese Entscheidung liegt in ihren Händen. Aber es liegt bei dir, wie sie sich entscheiden werden. Es ist deine Bewährungsprobe, Junge. Ich hätte nicht geglaubt, dass sie so bald kommen würde. Nun, viel Glück, Junge.“

Er hatte mir mit seinen Soldaten das Geleit bis zum Brazos River gegeben. Dort hatte er sein Biwak aufgeschlagen, als ich ihm meldete, dass ich auf die Spuren der ersten indianischen Späher gestoßen sei.

Seitdem begleiteten sie mich wie mein eigener Schatten, als unsichtbare Schatten hinter Hügeln und Buschwäldern. Doch immer nahe genug, dass Shita seine Anspannung nie verlor.

„Los, Junge!“, sagte ich zu meinem Hund. „Das Wasser ist nicht sehr tief, aber verdammt kalt. Wenn du drüben bist, wartest du auf mich! Rühre dich ja nicht von der Stelle, weil sie dich sonst mit Pfeilen spicken werden wie diesen Major Henderson und seine Sklaventreiber!“

Shita blickte mich mit seinen klugen Augen an und japste leise. Diesmal war ich der Boss, wollte er damit sagen. Und er wollte alles tun, um mich nicht zu blamieren. Das zeigte er mir dadurch, dass er mir die Hand ableckte, ehe er mit weiten Sprüngen durch das flache Wasser planschte.

Ich folgte ihm auf meinem Braunen, den Spencer entsichert im Scabbard.

Als ich das westliche Ufer des Fork River erreichte, saß Shita ganz steif auf den Hinterbacken und spitzte die Ohren. Er gab keinen Laut von sich. Er saß da, als hätte er mit seinem Hundeleben abgeschlossen.

Obwohl es mir im Nacken kribbelte, musste ich leise lachen.

„Shita“, sagte ich leise, „ich habe nicht von dir verlangt, dass du dich für mich opfern sollst. Ich sagte nur zu dir, dass du die Rothäute nicht herausfordern sollst, aber deshalb ...“

Weiter gelangte ich nicht. Eine Lanze flog aus dem Gebüsch vor mir. Sie blieb wippend im feuchten Sand hinter mir stecken.

Ich griff nicht nach meinem Gewehr. Ich zügelte den Braunen und hob die rechte Hand bis zur Schulter. Dann bewegte ich sie langsam und kreisend bis zur Augenhöhe.

Nichts regte sich vor mir. Shita winselte leise. Er hatte fremdartige Gerüche in die Nase. Ich sah an seiner Schwanzspitze, die auf den Kieseln hin und her fegte, wie sehr er sich beherrschen musste.

Ich zog die rechte Hand herunter bis zu meinem Gürtel, streckte den Zeige- und Mittelfinger hinauf zum grauen Himmel und hob sie dann wieder bis zur Schulter. Ich wiederholte diese Bewegung ein paarmal, während mein Herz wie wild zu pochen begann.

Hatte ich etwas falsch gemacht? Misstrauten sie mir, weil ich so jung war und mein Gewehr und meinen Colt nicht neben Shita in das gelbe Gras warf, auf dem die Schneeflocken sich langsam in wässriges Eis auflösten?

Aber wenn sie mich töten wollten, hätten sie das schon vor Tagen tun können. Auch mein Hund hätte sie daran nicht zu hindern vermocht.

Ich raffte meinen ganzen Mut zusammen und wiederholte jetzt den Satz auf Mescalero zum dritten Mal: „Ich will euch nichts Böses, Freunde!“

Mein Herz pochte noch lauter. Ich kam mir vor wie ein Wahlredner, der mit seinen eingelernten Sprüchen seine Ansprache eröffnet, weil die Zeit längst überschritten ist und trotzdem niemand zur Versammlung erschien. Ich fühlte mich wie ein verdammter Narr.

Zweimal war ich bisher mit Indianern zusammengestoßen, zweimal nur in einer kurzen, heftigen Begegnung, die so überraschend und schnell abgelaufen war wie das Zusammentreffen eines seltenen Wildes mit einem Jäger. Nur war ich in diesen beiden Fällen das Wild gewesen und die Apachen die Jäger. Dabei hatte mich zweimal dieser Satz wie eine Zauberformel gerettet. Würde er auch diesmal seine Wirkung nicht verfehlen?

Sie sprangen aus den Büschen und stürmten von allen Seiten auf mich zu, die Lanzen zum Stoß gesenkt und die Tomahawks zum Schlag erhoben. Selbst Shita verlor bei diesem wilden Ansturm die Nerven und verkroch sich mit eingeklemmtem Schwanz unter den Bauch meines Braunen.

Ich erschrak, als ich die vielen roten Krieger sah, die so jäh und ungestüm aus den Büschen am Ufer brachen, als hätte die Erde sie ausgespuckt. Sie jagten auf mich zu, als wollten sie mich im Kies des Fork River zu Brei zerstampfen. Es waren mindestens hundert Reiter, die auf mich zu galoppierten.

Mein Satz hatte sie nicht im mindesten beeindruckt. Sie verstanden mich womöglich nicht. Hatte ich die Sprache meiner Kindheit so sehr verlernt? Konnte ich mich nicht mehr mit Apachen verständigen, bei denen ich einige der wichtigsten Lektionen meines jungen Lebens gelernt hatte?

Sie jagten auf mich zu, als wären sie mit ihren Pferden verwachsen. Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht wie Shita in Panik zu geraten.

Todesangst lähmte mich.

Doch im selben Atemzug war ich dankbar für diese lähmende Starre, die mich überfallen hatte. Ich wusste, dass nur eine einzige Fluchtbewegung oder der Ansatz zu einer Verteidigung genügte, und ich war ein toter Mann.

Dann, als ich schon glaubte, ich würde von ihren zottigen Ponys zurück in das Wasser geworfen, wirbelten sie alle wie auf ein Kommando herum und jagten so schnell davon, wie sie aus den Büschen getaucht waren.

Einen Moment lang wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte. Wollten die Rothäute nur ein Spiel mit mir treiben wie Katzen mit Mäusen? Folgte jetzt eine Schießübung mit ihren Pfeilen und alten Musketen, die ein paar der Krieger bei sich getragen hatten?

Ich handelte so, wie es mir mein Instinkt eingab. Ich zog meinen Colt aus dem Holster und den Spencer aus dem Scabbard. Ich tat das ganz ruhig und gelassen, als wäre ich auf dem Exerzierplatz von Fort Worth. Ich hängte beide Waffen über den Schaft der Lanze, die vor mir im Uferschlamm steckte, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete.

Shita kroch auf dem Bauch wieder unter dem Pferd hervor und winselte.

„Ruhig Blut bewahren, Shita“, sagte ich und kraulte ihm den Kopf. „Erst wenn die Sache schiefgeht und sie mich zu Hackfleisch verarbeiten, siehst du zu, dass du abhaust, mein kleiner treuer Freund. Dann schwimmst du ans andere Ufer hinüber und läufst zurück zum Brazos River, wo Colonel Warwick auf uns wartet.“

Er winselte leise, als hätte er jedes Wort verstanden.

Vielleicht war es dieses trauliche Zwiegespräch mit meinem Hund, was die Indianer umstimmte. Vielleicht hatten sie aber auch von Anfang an nur meinen Mut testen wollen, ehe sie sich ernsthaft mit mir befassten. Denn als sich die Büsche wieder vor mir teilten, rückten drei Apachen langsam und gemessen auf mich zu. Sie sahen sehr friedlich aus. Trotzdem wusste ich, dass die eigent­liche Gefahr erst jetzt begann. Wenn ich nicht die richtigen Worte oder Gesten fand, würde ich diesen Tag nicht überleben. Das spürte ich.

Wieder hob ich die Hand zum Zeichen des Friedens und führte sie langsam bis zur Stirn. Die drei Krieger, die auf mich zugingen, erwiderten den Gruß nicht.

Knapp drei Schritte von mir entfernt hielten sie an und betrachteten mich von Kopf bis Fuß, als wollten sie Maß nehmen oder im Stillen schon meine Waffen, mein Pferd und meinen Skalp unter sich aufteilen.

Es waren ein noch sehr junger und zwei ältere Krieger.

Ich hob wieder die Hand und ließ meiner Zunge freien Lauf. Der junge Häuptling verstand Englisch und Spanisch, wie die „weiße Gazelle“ mir verraten hatte.

„Ich komme in Frieden“, sagte ich.

In dem breiten Gesicht des jungen Häuptlings rührte sich kein Muskel. Nur in seinen dunklen, ernsten Augen zuckte ein Funken der Überraschung auf. Er trug eine gefiederte Lanze über dem Umhang aus Büffelfellen, deutete jetzt damit auf mich und sagte: „Woher kannst du unsere Sprache? Wer hat dir den Weg gewiesen, uns zu folgen?“

„Ich kann Spurenlesen“, antwortete ich. Nach und nach hatte ich das Gefühl, das meine Sprachkenntnisse zurückkehrten. „Ich habe als Kind bei Apachen gelebt. Ich bin mit Cochise geritten.“

Er blickte mich ausdruckslos an, aber ich sah an seinen Augen, dass er beeindruckt war und mir glaubte.

„Außerdem hat mir eine weiße Frau gesagt, wo ich euch finden würde, eine Frau, die bei deinem Volk gelebt hat.“

Er wusste, dass ich die Wahrheit sagte.

„Schickt dich der weiße Häuptling zu uns? Der Mann, der uns Waffen und Munition versprochen hat?“

„Der Häuptling der weißen Krieger von Fort Worth schickt mich zu dir, nicht dieser schlangenzüngige Verräter in der blauen Uniform.“

„Du weißt wohl nicht, wovon du redest, Bleich­gesicht!“ Der junge Krieger hob drohend seine Lanze. Er war wohl nicht viel älter als ich. „Das Bleichgesicht mit den weit auseinanderstehenden Augen ist ein Freund Er hat meinen Kriegern Feuerwasser geschenkt und uns Gewehre versprochen!“

„Ihr werdet keine Gewehre kriegen. Er hat euch alle betrogen.“

Ich griff in die Brusttasche meiner Lederjacke und holte einen mit Perlen bestickten Lederbeutel hervor. Ich bückte mich und legte den Beutel auf den feuchten Sand.

„Hier ist der Beweis, dass ich eine gute Botschaft bringe und nicht den bösen Zauber falscher Bleichgesichter!“

Der junge Häuptling hielt die Lanze immer noch drohend erhoben, als wolle er mich jeden Moment damit durchbohren. Doch als er den gestickten Beutel sah, trat Überraschung in seine Züge.

Er sprang aus dem Sattel, stieß die Lanze in den Boden, eilte auf mich zu, bückte sich und hob den Lederbeutel auf. Er hielt ihn hoch ins Licht, als könne er nicht glauben, was er da sah.

„Weiße Gazelle“, sagte er erregt. „Woher hast du diesen Beutel?“

Jetzt wusste ich, dass ich gute Chancen hatte, diese Situation zu überleben.

„Von ihr selbst. Und da du offenbar meinen Worten nicht traust, soll deine Frau, die du Weiße Gazelle nennst, selbst zu dir sprechen.“

„Ist sie hier?“, fragte der junge Häuptling, und in seinen dunklen Augen standen nicht mehr der Hass und die Trauer von vorhin, sondern aufkeimende Freude und grenzenloses Staunen.

„Deine Späher hätten dir längst davon berichtet, wenn sie bei mir wäre. Aber sie ist nicht weit von hier entfernt, Carizzo.“

„Du kennst meinen Namen…“ Er blickte mich wieder scharf an. „Bring mich zu ihr.“

Ich schüttelte den Kopf. „Sie ist in der Obhut des weißen Häuptlings, der mich zu dir geschickt hat. Es geht Weiße Gazelle gut. Aber sie ist sehr erschöpft. Dein angeblicher Freund hatte sie mit den anderen Apachen als Sklavin verkaufen wollen. Ihre Füße sind wund und taub von der Kälte, und sie leidet Fieber. Die weißen Medizinmänner pflegen sie, damit sie bald wieder zu dir zurückkehren kann.“

Er lauschte meinen Worten und schüttelte den Kopf.

„Wie kann sie dann zu mir sprechen? Willst du mich überlisten und betrügen, wie es die Art der weißen Männer ist?“

Der Zorn und die Erbitterung schienen seine aufkeimende Hoffnung wieder zu ersticken.

„Hat Weiße Gazelle dich je betrogen oder hintergangen?“, fragte ich zurück.

„Habe ich nicht die gleichen Augen und Haare wie sie? Wäre es nicht möglich, dass ich auch die gleichen ehr­lichen Absichten hinter meiner Stirn trage wie deine weiße Frau?“

„Sie hat die gleichen blauen Augen wie du. Du hast sie also wirklich gesehen..“

„... und mit ihr gesprochen, Chief Carizzo. Sie erzählte mir, dass sie dich gelehrt hat, nach Art der Weißen zu schreiben und ihre Botschaften zu lesen.“

„Das ist wahr.“

„Dann öffne den Beutel. Darin findest du ein Stück Papier, auf dem sie eine Nachricht für dich geschrieben hat.“

Der Häuptling öffnete die Lederschnüre des Beutels. Dann drehte er mir einfach den Rücken zu, weil er nicht wollte, dass ich Zeuge seiner Ergriffenheit wurde.

Ich wusste, was auf dem Zettel stand, in den Weiße Gazelle auch noch eine Locke ihres Haars und einen Ring eingewickelt hatte, damit Carizzo nicht mehr den geringsten Zweifel haben konnte, dass sie noch lebte und mich als Überbringer ihrer Botschaft ausersehen hatte.

Ich kannte den Text auswendig.

Ich wiederholte ihn mir in Gedanken, weil ich die lange Pause überbrücken wollte, in der sich alles entscheiden musste: Krieg oder Frieden, blutige Vergeltung oder Versöhnung. Oder vielleicht auch nur ein paar Monate Waffenstillstand, was immerhin schon etwas gewesen wäre.

Weiße Gazelle, die Frau des jungen Häuptlings Carizzo, hatte ungefähr das Folgende geschrieben:

„Nicht andere Indianer oder weiße Soldaten haben mich geraubt, als du auf Jagd warst, sondern Coman­cheros, die deine Krieger mit Feuerwasser betäubt haben. Sie haben unser Dorf niedergebrannt und die Frauen und Kinder zusammengetrieben. Dieser Comanchero, dem Du immer vertraut hast, ist ein ehemaliger Skalpjäger. Sie haben mich dann zusammen mit den anderen Frauen an die weißen Männer als Sklavin verkauft.

Der Mann, der dir diese Botschaft überbringt, hat mich zusammen mit den weißen Soldaten aus den Händen dieses Verräters befreit. Er wird dich zu mir führen. Er wird dir den Weg zu den anderen Apachen zeigen, die uns gefolgt sind und die Frauen und Kinder befreit haben. Sie haben nicht auf uns gewartet. Sie haben den weißen Soldaten nicht getraut. Aber du kannst ihnen trauen. Sie meinen es ehrlich.“


*


Nach drei Tagen kehrte ich wieder zurück nach Fort Worth, wo Captain Redwood inzwischen Mister Raffael Jordan vom Brazos Saloon und noch ein paar andere Kapuzenmänner wegen Verschwörung gegen die Militärregierung in die Arrestzellen des Forts gesperrt hatte.

Diese Sache ging mich nichts an. Außerdem war ich von meiner ersten Mission als Armeescout so erschöpft, dass ich ein paar Tage wie ein Toter schlief und nicht einmal für Shita zu sprechen war.

Ich hatte die Situation zu einem unblutigen Ende geführt. Die gefangenen Krieger wurden freigelassen und durften in ihre Heimatgebiete zurückkehren.


*


Als ich endlich ausgeschlafen hatte und mich Colonel Warwick in die Kommandantur holen ließ, war ich fest entschlossen, meinen Abschied von der Armee zu nehmen. Ich hatte mir schließlich meinen Aufenthalt in Fort Worth anders vorgestellt.

„Sir“, sagte ich, als er mich in sein Allerheiligstes gebeten hatte, „ich denke, Sie werden jetzt ganz bestimmt keinen Scout mehr in Fort Worth brauchen. Die Apachen haben Frieden versprochen. Sie werden keinen von ihnen noch einmal am Trinity River sehen.“

„Ich muss dir widersprechen, mein Junge“, erwiderte der alte Warwick und blickte mich dabei ein bisschen traurig an. „Vielleicht sehen wir keine Apachen am ­Trinity River, aber dich werden die Apachen bald wieder zu Gesicht kriegen.“

Ich erschrak. Ich ahnte, dass ich in den zwei Tagen, in denen ich mich ausgeruht hatte, etwas Wichtiges versäumt hatte.

Er kramte in seinen Papieren, die sich auf seinem Schreibtisch häuften, und zog ein Telegramm heraus, das wie ein Befehl aussah.

„Das traf heute Morgen aus Washington ein, Ronco. Vom Kriegsministerium. Ich hatte einen Bericht über dich nach Washington schicken müssen. Du bist jetzt auch eine kleine Berühmtheit als Scout geworden.“

„Um Gottes willen, Sir. Ich wollte gerade meinen Abschied nehmen.“

„Da bist du ein paar Stunden zu spät dran. Ich habe Anweisung, dich sofort nach Fort Calhoun im Süden von Texas in Marsch zu setzen. Du sollst dort den Posten des Chief of Scouts übernehmen. Es ist eine ehrenvolle Aufgabe, schreibt man mir.“

„Ich pfeife darauf, Sir.“

„Es ist ein Befehl, Ronco. Die Armee hat Blut geleckt. Sie lässt dich nicht mehr los. Selbst ich kann daran nichts ändern.“

Und so nahm das Verhängnis seinen Lauf. Es war die Stunde der Entscheidung über mein weiteres Leben.


RONCO



In dieser Reihe bisher erschienen

2701 Dietmar Kuegler Ich werde gejagt

2702 Dietmar Kuegler Der weiße Apache

2703 Dietmar Kuegler Tausend Gräber

2704 Dietmar Kuegler Apachenkrieg

2705 Dietmar Kuegler Das große Sterben

2706 Dietmar Kuegler Todesserenade

2707 Dietmar Kuegler Die Sonne des Todes

2708 Dietmar Kuegler Blutrache

2709 Dietmar Kuegler Zum Sterben verdammt

2710 Dietmar Kuegler Sklavenjagd

2711 Dietmar Kuegler Pony Express

2712 Dietmar Kuegler Todgeweiht

2713 Dietmar Kuegler Revolvermarshal

2714 Dietmar Kuegler Goldrausch

2715 Dietmar Kuegler Himmelfahrtskommando

2716 Dietmar Kuegler Im Fegefeuer

2717 Dietmar Kuegler Die Ratten von Savannah

2718 Dietmar Kuegler Missouri-Guerillas

2719 Dietmar Kuegler Höllenpoker

2720 Dietmar Kuegler Das Totenschiff

2721 Dietmar Kuegler Der eiserne Colonel

2722 Dietmar Kuegler Der Feuerreiter


Dietmar Kuegler


Der eiserne Colonel





Diese Reihe erscheint als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung
ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: 
www.BLITZ-Verlag.de

© 2021 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-175-5

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!



Der eiserne Colonel


von Ken Conagher


11. Juli 1881

Ich reite südwärts. Montemorelos liegt hinter mir. Montemorelos, dieses verdammte Fischernest, das beinahe zu meiner letzten Station geworden wäre.

Ich war auf der Fährte Maridos, des Samurais, geritten, der mit meinem Sohn Jellico geflohen war, um ihn zu einem für mich unbekannten Ziel zu bringen.

Aber dann war ich in einen wilden Strudel von Ereignissen geraten, die alle mit den Bewohnern dieses unglückseligen Fischernestes Montemorelos zusammenhingen, den Indios, die noch in einer Welt wie vor Hunderten von Jahren zu leben schienen, befangen in einem mörderischen Aberglauben, der jedes Jahr ein Menschenopfer verlangte, um die Götter des Meeres gnädig zu stimmen.

Und zuletzt hatte ich diesen Göttern geopfert werden sollen. Sie hatten mich an einen Felsen gekettet, über dem Horst eines Seeadler-Pärchens.

Ich hatte wieder einmal überlebt, aber keiner fragte mich, wie ich mich fühle. Es gibt keine Stelle an meinem Körper, die nicht zerschunden ist, die nicht schmerzt.

An diesem Abend kampiere ich in einem Canyon. Um mich abzulenken, habe ich mir mein Tagebuch vorgenommen, um weiter von meinem Leben zu berichten ...



1.


Dämmerung fiel über das Land, und es wurde Zeit, dass ich mich nach einem Camp für die Nacht umsah. Es war Ende August. Vor zwei Tagen hatte ich die Grenze nach Texas überschritten, Louisiana lag hinter mir.

Ich verließ den Trail, der auf Longview zuführte und ritt südwärts, bis ich auf einen Creek stieß, der vermutlich zum Savine River floss.

Mein Hund Shita war bereits vorausgelaufen. Er stand bis zum Bauch im Wasser und soff.

Auch meinen Grauen zog es mächtig zum Wasser. Links aus dem Schilf strich empört eine Wildente ab. Mit pfeifendem Flügelschlag verschwand sie nach Osten.

Shita starrte ihr nach und leckte sich die Schnauze.

„Die schnappst du nicht mehr“, sagte ich.

Er drehte den Kopf zu mir und wackelte mit dem Schwanz. Ich rutschte aus dem Sattel.

Genau in diesem Moment peitschten nördlich von uns auf dem Trail nach Longview Schüsse. Karabinerschüsse, wie ich hörte. Shita war mit einem Satz aus dem Wasser. Aus dem Schilf links flatterte noch eine Wildente hoch und flog ostwärts.

Ich lauschte und hörte hämmernden Hufschlag, der sich nach Nordosten entfernte und schließlich verstummte.

Shita blickte hechelnd zu mir hoch, als erwarte er meine Aufforderung, sich dort oben beim Trail ein bisschen umzusehen. Ich zögerte und versuchte mir einzureden, dass mich das alles nicht interessierte und nichts anginge. Manchmal, das hatte ich schon erfahren, war ein Zuviel an Neugier höchst ungesund.

Aber das hatte ich noch nicht zu Ende gedacht, da saß ich bereits wieder im Sattel und ritt auf meinen eigenen Spuren zurück zum Trail. Fast automatisch zog ich meinen Spencer-Karabiner aus dem Scabbard.

Shita lief dem Wallach und mir ein paar Schritte voraus. Als wir den Trail erreichten, wandte sich Shita nach links und verschwand aus meinem Blickfeld. Kurz darauf gab er Laut.

Er hatte etwas gefunden.

Ich trieb den Grauen an. Die Dämmerung begann in Dunkelheit überzugehen. Jetzt hatte der Wallach wieder die Wagenstraße unter den Hufen. Ich ritt in der Mitte. Links und rechts hatten die Räder unzähliger Wagen tiefe Furchen in den Boden gedrückt. Ich spähte voraus. Shita hockte bei einer Gestalt, die regungslos in der rechten Wagenspur lag. Ich zügelte den Wallach, stieß den Spencer-­Karabiner zurück in den Scabbard und glitt aus dem Sattel.

Langsam ging ich auf die Gestalt zu und ahnte, was ich finden würde, einen Toten.

Es war ein Mann. Er lag etwas verkrümmt auf dem Bauch, ein Bein noch angezogen, als sei er gekrochen.

Er war gekrochen. Trotz der einsetzenden Dunkelheit sah ich es. Er war in den Rücken geschossen worden. Eine Schleifspur verriet, dass er sich zwei, drei Yards auf dem Bauch weitergeschoben hatte.

Ich biss die Zähne zusammen.

Mehrere Patronenhülsen lagen herum. Ich trat näher an den Mann heran, kniete nieder und drehte ihn vorsichtig auf den Rücken. Ich blickte in ein hohlwangiges, bärtiges Gesicht. Das Grauen packte mich, als sich die Lippen des Mannes plötzlich bewegten. Die Lider flatterten, dann starrten mich brechende Augen an.

„Caddo ...“, murmelte der Mann.

Dann fiel sein Kopf zur Seite. Sie hatten ihn voll Blei gepumpt, von hinten. Und nun hatte er es hinter sich.

Erst jetzt fiel mir auf, dass der Tote eine zerschlissene Uniformjacke trug, eine Uniform der Unionstruppe mit den Rangabzeichen eines Captains.

Ich drückte dem toten Captain die Augen zu. Auf der rechten Wange, verdeckt durch den Bartwuchs, hatte er eine Narbe. Sie sah ganz so aus, als stamme sie von einem Säbelhieb. Einen Hut hatte er nicht mehr. Er war barhäuptig gewesen. Sein Haar war grau.

Dieser Captain war jetzt tot, aber ich hatte ganz den Eindruck, als sei er auch als Lebender nicht sehr weit vom Grab entfernt gewesen. Sein Gesicht trug die Spuren von Entbehrungen, Hunger und Not.

Am 9. April hatte General Lee bei Appomatox Court House vor Grant kapituliert. Und am 27. April hatte General Johnston mit dem Rest der konföderierten Truppen bei Durham‘s Station die Waffen gestreckt.

Der Krieg war vorbei.

Aber hier war ein Unions-Captain von hinten niedergeschossen worden.

„Caddo ...“, hatte er noch gesagt. Was, verdammt, bedeutete das? Die Caddo-Indianer waren Ackerbauern hier im östlichen Texas. Wenn sie von den weißen Eindringlingen nichts hielten, so bedeutete das noch lange nicht, dass sie deswegen auch einen Weißen von hinten abknallten, Nein, das Wort ‚Caddo‘ musste eine andere Bedeutung haben.

Sollte ich den Captain hier am Trail begraben und meiner Wege reiten? Ich schüttelte den Kopf, während ich in das hagere, jetzt zu Stein gewordene Gesicht blickte. Vielleicht kannte ihn jemand, vielleicht wurde er gesucht. Für mich war er ein Namenloser, aber nicht für andere, für seine Familie oder Freunde. Ich hatte nicht das Recht, diesen mir unbekannten Offizier in die Liste der Verschollenen einzureihen, wie es im Krieg geschehen war, wenn man Freund oder Feind irgendwo verscharrt hatte, ohne sich weiter um ihre Identität zu kümmern. Ich dachte an deren Angehörige und ihre Hoffnung, der Krieg möge den Vater, den Bruder, den Sohn, den Mann nicht verschlungen haben.

Verschollen, das war eine trügerische Hoffnung, aus der erst in langen, qualvollen Jahren des Wartens dann die harte Gewissheit wurde, dass der Verschollene nie wieder zurückkehren würde.

Das war der eine Grund.

Der andere war der Meuchelmord an dem Captain.

Ein paar Meilen nördlich von diesem Trail nach Longview musste der Ort Marshall liegen. Vielleicht befand sich dort eine Besatzungstruppe der Unions-Armee wie in vielen größeren Orten der Südstaaten. Dorthin würde ich den Captain bringen.

Ich beugte mich über den Toten und hob ihn auf. Überrascht stellte ich fest, wie leicht er war.

Noch während ich mich zu meinem Wallach umdrehte, flatterte etwas Helles an mir vorbei zu Boden, ein Stück Papier. Es musste sich von dem Toten gelöst haben.

Ich legte den Captain quer über den Rücken des Grauen, trat zurück und hob das Papier auf. Es war zusammengefaltet. Ich faltete es auseinander und strich es glatt. Ja, da stand etwas Geschriebenes. Ich kramte aus meinen Taschen ein Schwefelholz und riss es an. Was ich da las, klang ziemlich mysteriös.

Auf dem Papier stand: Yankees! Wenn ihr nicht zahlt, legen wir den nächsten um! Jede Woche einen!

Ich faltete das Papier wieder zusammen und steckte es in meine Brusttasche. Über meine Kopfhaut kroch ein Kribbeln, das sich über den Nacken fortsetzte.

Das Grauen des Krieges, wie ich ihn erlebt hatte, stand vor meinen Augen. Hier schien es sich erneut zeigen zu wollen, in einem widerlichen Ausbruch des Hasses.

Ich band den toten Captain fest, nahm den Wallach am Zügel und marschierte nordwärts.


*


Es war wieder wie im Krieg.

Unter dem Schatten eines Schuppendaches am Ortsrand von Marshall wurde ein Gewehr repetiert.

Eine Stimme rief mich an: „Halt! Wer da?“

Was sollte ich darauf antworten? Falls hier nach einer Parole gefragt wurde, so kannte ich sie nicht. Und einer Einheit der Unions-Armee gehörte ich auch nicht an.

Wütend erwiderte ich. „Was soll der Quatsch? Wird hier Krieg gespielt, oder was?“

Eine andere Stimme sagte: „Mann, Sergeant, der hat 'ne Leiche über seinem Gaul liegen.“

„Richtig“, erwiderte ich. „Der Tote ist ein Captain der Unions-Armee. Er wurde südlich von hier auf dem Trail nach Longview erschossen. Ich fand ihn. Wo soll ich ihn hinbringen?“

Sie flüsterten. Ich sah sie nur undeutlich. Mondlicht lag über der Stadt, aber sie befanden sich im Schatten. Ich stand mit meinem Pferd, dem Toten und Shita mitten auf der Straße wie auf einem Präsentierteller.

„Schnall ab!“, sagte die Stimme, die mich zuerst angerufen hatte. Das musste derjenige sein, den der andere mit Sergeant angesprochen hatte.

„Ich denke gar nicht daran“, sagte ich scharf, „und zwar deswegen nicht, weil du mir gar nichts zu befehlen hast, Sergeant. Hier ist ein toter Offizier, und ich frage noch einmal, wo ich ihn hinbringen soll.“

„Wer bist du?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ist das wichtig? Gut, mein Name ist Ronco. Ich könnte genauso gut Smith oder Johnson oder Abraham Lincoln heißen. Was soll‘s also?“

Der Sergeant knurrte etwas Unverständliches, dann sagte er: „Geh geradeaus weiter. Ich bleibe hinter dir. Wenn du Mätzchen versuchst, jag ich dir eine Kugel ins Kreuz, klar?“

Ich wurde stinksauer. „Klar, wohin denn sonst? Einem Mann Kugeln ins Kreuz zu schießen, scheint in dieser Gegend so üblich zu sein. Der Captain wurde auch von hinten erschossen, allerdings war er unbewaffnet. Ich bin es nicht. Du wirst neben mir gehen, Sergeant, aber nicht hinter mir. Ich bin kein Bandit, den man vor sich hertreibt. Ist das klar?“

Schweigen. Dann sagte die andere Stimme: „­Verdammt, Sergeant, ich fresse meinen Hut, wenn das kein Rebell ist. Der will unser Stabsquartier in die Luft sprengen. Das mit dem toten Captain ist nur ein Trick. Wetten, dass der Kerl unter dem Toten lauter Dynamitstangen versteckt hat?“

Mir platzte der Kragen.

„Wetten, dass du ein Vollidiot bist Mann? Im Übrigen bin ich kein Rebell, sondern im Krieg unter General Sherman geritten. Euer Stabsquartier interessiert mich allerdings. Schließlich habe ich keine Lust, noch nächste Woche mit dem toten Captain herumzuziehen. Danke für die Auskunft.“

Ich setzte mich einfach wieder in Marsch und kümmerte mich einen Dreck um das Palaver hinter mir. Einer der beiden feuerte sein Gewehr in den Nachthimmel ab.

Und der Sergeant brüllte: „Alarm! Rebellen greifen an! Alarm!“

Diese beiden Unions-Soldaten waren noch blöder als ich dachte. Jetzt schossen sie auch beide, aber nicht auf mich, sondern weiter in die Luft. Mir wurde auch klar, warum das so war. Sie hatten Angst, das angebliche Dynamit unter dem toten Captain zu treffen. Ihre idiotische Überzeugung war meine Lebensversicherung.

Der Krach hinter mir beim Schuppen war unvorstellbar. Die Stadt wurde aus ihrem Mitternachtsschlaf gerissen, kein Wunder.

Mein Grauer wurde nun doch etwas nervös, und ich musste ihn kürzer nehmen. Shita befahl ich, doch verdammt das Maul zu halten. Er erregte sich und kläffte den Mond an.

Da war ich nun durch die Nacht marschiert, mit einem toten Captain auf dem Pferd, und das hatte ich davon. Das war so eine Situation, wie sie verrückter nicht sein konnte.

Der Krach zeigte Wirkung.

Fenster wurden aufgerissen, Lichter flammten auf und warfen helle Bahnen über die Straße. Aus den Fenstern ertönten verwirrte Fragen und wütende Flüche. Fürwahr, ein feiner Empfang.

Nach den Schüssen und dem Alarmgebrüll des Ser­geanten musste ja nun allmählich die Armee auf dem Plan erscheinen. Ich war zwar weder Rebell, noch hatte ich die Absicht, das Stabsquartier in die Luft zu sprengen, aber wäre jetzt tatsächlich noch Krieg, dann hätte ich eine solche Aktion ohne weiteres schaffen können.

Erst in der Mitte der Stadt etwa wurde die Verteidigung gegen die ‚Rebellen‘ aufgebaut. Aus einem Hof rechts vor mir huschten Gestalten quer über die Straße und warfen sich auf einen Befehl hin in den Dreck. Metall klirrte, Gewehrmündungen wurden auf mich gerichtet.

Wenn die diesen Wahnsinn jetzt auf die Spitze trieben, dann war ich innerhalb der nächsten Sekunden ein toter Mann. So tot wie der Captain auf meinem Grauen.