Walter G. Pfaus

Das letzte Hemd hat viele Taschen

Das letzte Hemd hat viele Taschen

Krimi von Walter G. Pfaus


Der Umfang dieses Buchs entspricht 179 Taschenbuchseiten.


Klappentext:

Harry Steinberger hat seinen Vater gehasst - so sehr gehasst, dass ihn die Nachricht von seinem Tod wenig berührt. Aber das Gerücht, der skrupellose Bauunternehmer sei ermordet worden, weckt Harrys Neugier - und seinen beruflichen Ehrgeiz. Denn Harry ist Privatdetektiv.

Obwohl er sich nach dem Bruch mit seinem Vater geschworen hat, nie wieder in seine oberschwäbische Heimatstadt zurückzukehren, fährt Harry nun doch nach Rotbach, um den mysteriösen Tod seines Vaters aufzuklären. Die Wiederbegegnung mit der Vergangenheit verläuft schmerzhaft - im übertragenen wie im buchstäblichen Sinn: Immer wieder wird Harry überfallen und zusammengeschlagen. Und der korrupte Polizeichef von Rotbach rührt keinen Finger, stellt Harry schließlich sogar unter Mordverdacht. Bald ahnt Harry die Wahrheit - wenn er sie auch nicht fassen kann.


Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

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© Cover nach Motiven von Pixabay mit Steve Mayer, 2017

© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

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1

Es waren drei. Auf ihren schweren Maschinen kreisten sie ihn langsam ein. Sie trugen schwarze Lederkleidung und schwarze Sturzhelme. Die silbernen Knöpfe und Nieten an ihren Jacken spiegelten im matten Licht der Straßenlaternen. Das Rasseln der Ketten in ihren Händen untermalte das Dröhnen der Motoren. Harry Steinberger blickte sich nach allen Seiten um. Aber er entdeckte keine Möglichkeit, aus dem tödlichen Kreis herauszukommen. Sie hatten die Stelle gut gewählt.

Harry sah nur eine Chance: Er musste einen der Kerle zum Sturz bringen. Er konzentrierte sich auf den kleinsten der drei Angreifer und drehte sich mit ihm im Kreis.

Da traf ihn eine der großgliedrigen Ketten in den Rücken, und brennender Schmerz brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Bevor er sich wieder gefangen hatte, war der nächste da, und die Kette pfiff so nahe an seinem Gesicht vorbei, dass er den Luftzug spürte. Der Kleine vor ihm schwang seine Kette wie ein Lasso. Harry sah ihn auf sich zukommen. Er wartete, bis er heran war. Dann duckte er sich blitzschnell ab und setzte zum Sprung an. Doch er zögerte den Bruchteil einer Sekunde zu lange. Die Chance war vorbei. Ein Gerangel in seinem Rücken ließ Harry herumfahren. Die beiden anderen Motorradfahrer waren zu dicht aufeinandergeraten, und sie wären fast gestürzt. Aber dann kamen sie in einem größeren Bogen wieder auf Harry zu.

Harry rannte auf einen Schuppen los. Aber die Rocker auf ihren schweren Maschinen waren schneller. Sie schnitten ihm den Weg ab und begannen wieder, ihn einzukreisen.

Diesmal wartete Harry nicht, bis der Kreis sich geschlossen hatte. Als er eine Lücke entdeckte, brach er durch.

Die Rocker änderten sofort die Fahrtrichtung und folgten ihm. Nach knapp dreißig Metern hatte ihn der erste erreicht. Er schwang seine Kette und traf Harry an der linken Schulter. Die Wucht des Schlages warf ihn der Länge nach auf die Straße, und der stechende Schmerz in seiner Schulter hielt ihn am Boden. Harry rollte sich zur Seite. Keine Sekunde zu früh. Mit hoher Geschwindigkeit fuhr der nächste Rocker genau über die Stelle, an der er gerade noch gelegen hatte.

Harry versuchte sich aufzurichten, da sah er den dritten auf sich zukommen. Aus seiner Kauerstellung schnellte er sich weg, landete auf weicher Erde, und unter seiner linken Hand fühlte er ein schmales, loses Brett.

Harry hob das Brett mit der linken Hand an. Der Schmerz in seiner Schulter ließ ihn zusammenzucken, aber er konnte den Arm bewegen, es war nichts gebrochen.

Die Holzlatte war etwa zwei Meter lang und schien ziemlich stabil. Harry klemmte sie sich unter den rechten Arm und wandte sich dem ohrenbetäubenden Motorenlärm zu. Der erste der drei Rocker war schon wieder ziemlich nahe. Es war der Kleine. Er fuhr diesmal langsamer, um beweglicher zu sein.

Harry zwang sich auf die Knie hoch und hob die Latte wie eine Lanze. Er zielte auf die Brust des Rockers und stieß zu.

Der Kleine klammerte sich an der Lenkstange fest und versuchte krampfhaft, auf der Maschine zu bleiben. Aber es gelang ihm nicht. Er stürzte, und die Kawasaki fiel auf ihn. Ihr Motor dröhnte im Leerlauf weiter.

Harry kümmerte sich nicht um den Gestürzten, dessen Schreie den Motorenlärm übertönten. Sein Blick galt den beiden anderen, die ungestüm herangebraust kamen. Er stellte sich so, dass er die am Boden liegende Maschine zwischen sich und den andern hatte. Vor der gestürzten Kawasaki trennten sich die beiden, und Harry konzentrierte sich auf den linken. Wieder hob er die Latte, stieß sie dem Schwarzgekleideten vor die Brust und ging gleichzeitig tief in die Hocke. Damit wich er zwar der Kette des dritten Rockers aus, der ihm damit einen Scheitel hatte ziehen wollen, aber in der Hocke hatte Harry nicht mehr die Kraft, den andern aus dem Sattel zu heben. Er wurde selbst umgestoßen. Er kippte auf den Rücken, und die Latte brach ab.

Während Harry sich wieder hochrappelte, sah er, dass die beiden Rocker von ihren Maschinen stiegen. Kettenschwingend kamen sie auf ihn zu. Harry wich langsam zurück.

»Was, zum Teufel, wollt ihr von mir?«, schrie er.

Aber er bekam keine Antwort. Da begann er zu rennen. Harry hätte es sich zugetraut, mit den Burschen fertigzuwerden, wenn sie keine Ketten gehabt hätten. Die Ketten fürchtete er; er wusste: Ein einziger Schlag auf den Kopf könnte sein Tod sein. Harry war noch keine zwanzig Meter gerannt, als ein Streifenwagen auftauchte. Er blieb stehen und drehte sich um. Auch die beiden Rocker starrten dem Streifenwagen entgegen. Sie machten jetzt keine Anstalten mehr, ihn anzugreifen.

Harry trat in den Lichtkegel des heranfahrenden Wagens. Zwei Polizisten sprangen aus dem grünen VW.

»Was ist hier los?«

Harry erklärte es ihnen. Einer der beiden Rocker kam näher. Der andere kümmerte sich um ihren Kumpel, der immer noch unter seiner Maschine lag und wimmerte.

»Glauben Sie dem kein Wort!«, schrie der Rocker dem vorderen Beamten zu. »Er hat angefangen. Er hat Jens von der Maschine gestoßen ...«

»Und warum?«, fragte der Polizist.

»Woher soll ich das wissen?«, fauchte der junge Bursche. Er hatte den Helm abgenommen. »Fragen Sie ihn doch.«

Der andere Beamte forderte einen zweiten Streifenwagen und einen Krankenwagen an. Den Kleinen brachte man ins Krankenhaus. Die beiden Rocker und Harry mussten mit aufs Revier.

Harry wies sich aus.

»Privatdetektiv?«, wunderte sich Hauptmeister Berwald. »Angestellter bei der Detektei Kalmay.«

»Was haben Sie nachts um zwei an dieser gottverlassenen Stelle am Hafen gewollt?«

»Jemand hat mich angerufen«, erklärte Harry. »Er wollte sich dort mit mir treffen.«

»Wer war das?«

»Das weiß ich nicht. Er nannte keinen Namen. Er hat nur gesagt, es sei sehr wichtig.«

»Und da sind Sie einfach hingefahren?«

»Auf diese Art und Weise hab ich schon manch gute Information bekommen.«

»Das Schwein hat uns einfach überfallen«, sagte der größere der beiden Rocker. Er hatte ein vernarbtes Gesicht und glatt nach hinten gekämmtes Haar.

»Und was hattet ihr dort um diese Zeit zu suchen?«, fragte Berwald.

»Jemand hat uns hinbestellt«, antwortete der Pockennarbige und grinste.

Berwald sah seine Kollegen an. »Das kann ja eine lange Nacht werden.«

»Hören Sie«, sagte Harry. »Mir tun sämtliche Knochen weh, weil mich die Kerle mit ihren Ketten erwischt haben. Außerdem bin ich hundemüde. Können wir das Protokoll nicht morgen aufnehmen?«

»Solange ich nicht weiß, wer hier lügt, kommt keiner von euch raus.«

»Lassen Sie mich gehen, wenn ein Kollege von Ihnen für mich bürgt?«, fragte Harry.

»Wer sollte für Sie bürgen?«

»Kommissar Band ow.«

»Bandow? Haben Sie Kommissar Bandow gesagt? Sie haben ja nicht alle Tassen im Schrank.«

»Rufen Sie an, dann werden Sie schon sehen.«

»Einen Dreck werde ich.« Berwald schüttelte den Kopf. »Ich bin doch nicht lebensmüde.«

Ein Polizist im Hintergrund lachte.

Sie kannten Bandow alle. Er war einer der fähigsten und härtesten Kriminalbeamten in Hamburg. Aber er war ein ewig mürrischer und immer schlecht gelaunter Mann, der bei seinen Kollegen unbeliebt und in der Unterwelt verhasst war. Niemand hatte ihn jemals lachen sehen. Wer diesen Mann mitten in der Nacht anrufen wollte, nur damit er für ihn bürgte, konnte nicht ganz richtig im Kopf sein.

»Wählen Sie Bandows Nummer und geben Sie mir dann den Hörer«, schlug Harry vor.

Berwald zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen. Aber in Ihrer Haut möchte ich nicht stecken.«

»Das brauchen Sie ja auch nicht.«

Berwald wählte. Dann reichte er Harry den Hörer, als wäre er eine tickende Zeitbombe.

Nach dem fünften Klingeln meldete sich eine verschlafene, übellaunige Stimme.

»Bandow.«

»Ich bin’s, Harry.«

»Was?« Sekundenlang herrschte Stille. Dann tobte Bandow los: »Weißt du, wie spät es ist?«

»Drei Uhr fünf und zehn Sekunden.«

»Du steckst also wieder mal bis zum Hals im Dreck, was?«

»So würde ich das nicht gerade nennen.« Harry lächelte in die Runde. »Ich bin hier in Gesellschaft von einigen deiner Kollegen. Sie wollen mich nicht nach Hause lassen, weil mich heute Nacht drei Rocker überfallen haben, und die behaupten jetzt, ich hätte sie angegriffen. Deine Kollegen wissen nicht, wem sie glauben sollen, und da hab ich gedacht, wenn du ihnen sagst ...«

»Wem hast du denn jetzt wieder in die Suppe gespuckt?«, erkundigte sich Bandow plötzlich ruhig.

»Ich weiß es nicht, Roland. Wirklich nicht.«

»Was bearbeitest du gerade für einen Fall?«

»Völlig harmlos, Roland. Das übliche in dem Scheißladen. Überwachung und so. Damit kann die Sache nichts zu tun haben. Ich arbeite erst seit gestern daran.«

»Dann haben sie dich vielleicht verwechselt.«

»Ausgeschlossen. Ich hab einen anonymen Anruf bekommen. Jemand hat mich zum Hafen bestellt. Wegen einer wichtigen Information. Ich bin rausgefahren und hab gewartet. Und dann kamen diese Kerle auf ihren Feuerstühlen ...«

»Bist du verletzt?« Roland klang besorgt.

»Es geht«, sagte Harry. »Sie haben mich zweimal mit ihren Ketten erwischt. Aber nicht voll. Ich brauch nur ein paar Stunden Schlaf, dann bin ich wieder okay. Ich geb dir jetzt Hauptmeister Berwald.«

Den Hörer am Ohr, nickte Berwald immer wieder und sah Harry dabei unverwandt an.

»Alles klar, Herr Kommissar«, sagte Berwald schließlich. »Machen wir ...«

Harry winkte. »Ich möchte ihn noch mal sprechen.«

»Er will Sie noch mal sprechen«, gab Berwald weiter. Dann hörte er mit hochgezogenen Brauen zu. »Ich sag’s ihm ... Gute Nacht, Herr Kommissar.«

Berwald legte auf. »Ich soll Ihnen ausrichten ...«

»Ich kann mir denken, was«, sagte Harry. »Ich soll ihn am Arsch lecken und mich zum Teufel scheren.«

Berwald lachte verblüfft. »Ja, wortwörtlich das.«

»Dann kann ich jetzt also gehen?«, fragte Harry.

Berwald nickte. »Aber Sie sind morgen Vormittag Punkt zehn Uhr hier, sonst lasse ich Sie mit dem Streifenwagen abholen.«

»Ich werde da sein«, versprach Harry. Er deutete auf die Rocker. »Quetscht die Burschen richtig aus. Sie haben bestimmt im Auftrag gehandelt. Es würde mich wirklich interessieren, wem ich da im Weg bin ...«

»Er lügt!«, schrie der Pockennarbige. »Er hat uns zum Hafen gelockt und überfallen. Der Dreckskerl hat es schon lange auf uns abgesehen ... Wir verlangen sofort einen Anwalt.«

»Hier - Ihr Autoschlüssel«, sagte Berwald zu Harry. »Einer meiner Beamten hat Ihren Wagen hergefahren. Gute Nacht.«

»Danke. Und viel Spaß noch«, grinste Harry und ging.

Während der Fahrt dachte er an Roland Bandow, dem er es zu verdanken hatte, dass er jetzt nach Hause fahren konnte. Mit dem Kommissar verband ihn eine herzliche Freundschaft. Es war so etwas wie ein Vater-Sohn-Verhältnis. Aber davon wusste niemand.

Angefangen hatte es vor fünf Jahren. Harry war damals erst ein paar Tage in Hamburg, als er starr vor Entsetzen beobachtete, wie zwei Männer in einem Ford Capri gegen einen Baum fuhren, dann einen bewusstlosen Mann aus einem anderen Wagen hoben, ihn hinter das Steuer des Fords setzten und den Wagen mit Benzin übergossen. In diesem Augenblick hatte er sich auf die beiden Männer gestürzt. Mit Fäusten und Füßen hatte er zugeschlagen, und seine Karateausbildung war ihm dabei sehr zustatten gekommen. Er überwältigte die beiden Männer und rettete damit Kommissar Bandow das Leben.

Seit diesem Tag waren die beiden unzertrennlich.

Harry hatte in Roland Bandow einen Mann gefunden, der so war, wie er sich seinen Vater immer vorgestellt hatte. Seinen richtigen Vater hatte er wenige Tage vorher verlassen. Er wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Er wollte ihn nie mehr wiedersehen.

Nachdem Harry ein Jahr in einem Architekturbüro in Hamburg gearbeitet hatte, ließ er sich bei der Detektei Kalmay anstellen, und dank Roland Bandow wurde er zum erfolgreichsten Mann in der Detektei.



2

Als Harry im Bett lag, dachte er noch einmal an den geheimnisvollen Anrufer und den Angriff der Rocker. Aber er konnte die Geschehnisse der Nacht mit keinem seiner Fälle in Verbindung bringen.

Hundemüde schlief er ein. Um acht Uhr klingelte das Telefon. Verschlafen hob Harry ab.

»Hallo, Harry!«

»Mit wem spreche ich?«, fragte Harry und gähnte.

»Hier ist Ellen.«

»Ellen?«

»Deine Schulfreundin und ehemalige Verlobte.«

Harry Steinberger zog den Atem ein. Er presste den Hörer fester ans Ohr, und seine Zähne gruben sich in seine Unterlippe. Zwischen seinen dunklen, buschigen Augenbrauen bildeten sich zwei steile Falten.

»Woher weißt du, wo ich bin?«, fragte Harry nach der ersten Überraschung.

»Hier weiß fast jeder, wo du jetzt wohnst.«

»Und woher weiß man das?«

»Jemand hat dich in Hamburg gesehen.«

»Scheiße!«

»Die Welt ist klein, Harry«, sagte Ellen.

»Weshalb rufst du an?«

»Weil ich von dir wissen will, warum du nicht gekommen bist.«

»Weshalb hätte ich kommen sollen?«

»Hat man dich denn nicht benachrichtigt?«, fragte Ellen bestürzt.

»Warum und wieso? Ich will mit dem Pack nichts mehr zu schaffen haben. Die können mir alle gestohlen bleiben.«

»Harry, dein Vater ist tot.«

Harry richtete sich auf.

»Harry, bist du noch da?«

»Ja«, murmelte Harry. »Ich bin noch da.«

»Hast du das wirklich nicht gewusst?«

»Nein. Seit fünf Jahren hab ich keinen Kontakt mehr zu irgendwem in Rotbach. Ich hab auch keinen gesucht, ehrlich gestanden.«

»Jetzt begreife ich langsam«, sagte Ellen leise.

»Was begreifst du?«

»Harry!« Es war fast wie ein Schrei. »Du musst sofort kommen.«

»Wozu? Um ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten? Das schenke ich mir. Die bringen ihn auch ohne mich unter die Erde.«

»Aber das ist es ja, Harry. Er ist längst begraben. Seit vier Tagen schon.«

»Dann ist ja alles in Ordnung.«

»Eben nicht«, widersprach Ellen heftig. »Harry, hier ist etwas faul. Ernst sagt, dass seit dem Tode deines Vaters recht merkwürdige Dinge vor sich gehen.«

»Wer ist Ernst?«

»Mein Mann.«

»Ich dachte, du wolltest auf mich warten.«

»Ich hab auf dich gewartet. Zwei Jahre.«

»Du wolltest ewig auf mich warten.« Harry lächelte leise vor sich hin. »Hast du gesagt. Du hast es mir sogar geschworen.«

»Harry, ich bin kein Stück Holz. Und ein Mann, der über Nacht spurlos verschwindet und nichts mehr von sich hören lässt ...«

»Geschenkt, Ellen«, unterbrach Harry. »Du hast mich überzeugt.«

»Und was ist mit dir? Bist du auch verheiratet?«

»Ich war.«

»Also, das ist doch ...«

»Ich hab gesagt, ich war verheiratet.«

»Und da wirfst du mir vor ...«

»Bei mir war das etwas anderes.«

»Noch ein Wort zu diesem Thema, und ich lege auf der Stelle auf!«

Ellen war wirklich wütend.

Harry lachte. »Jetzt möchte ich dein Gesicht sehen. Es war immer sehr schön. Aber wenn du wütend warst, hast du mir noch besser gefallen.«

»Harry, bitte, lass den Quatsch. Dazu noch für mein Geld. Es ist sehr ernst. In dieser Stadt stimmt was nicht.«

»Was geht mich eure Stadt an.«

»Du bist hier geboren und aufgewachsen«, sagte Ellen laut. »Und dein Vater hat ...«

»Ich habe keinen Vater mehr.«

»Harry.« Ellen sprach jetzt ganz leise. »Ich glaube, dein Vater wurde ermordet.«

Für Sekunden versteifte sich Harrys Körper. Dann stand er auf, zog den Telefonapparat an der langen Schnur ins Wohnzimmer, setzte sich in einen Sessel und zündete sich eine Schwarze Hand an. Langsam sagte er: »Das musste früher oder später so kommen.«

»Du kommst also her, ja?«

»Ich wüsste nicht, was ich bei euch sollte.«

»Mein Gott, Harry, begreifst du denn nicht?« Ellens Stimme klang verzweifelt. »Dein Vater wurde umgebracht. Ist das für dich kein Grund, nach Hause zu kommen?«

»Geh zu Kästner«, sagte Harry. »Kästner ist euer Polizeichef. Er und seine Leute sind für so was zuständig.«

»Harry, tu bitte nicht so, als ob du nicht wüsstest, dass die hier alle unter einer Decke stecken«, versetzte Ellen ärgerlich. »Alle miteinander. Ich kann nicht zu Kästner.«

»Kästner ist Polizeibeamter«, erklärte Harry ruhig. »Und als solcher muss er jedem Hinweis nachgehen. Er muss nachprüfen, ob dein Verdacht begründet ist.«

»Einen Dreck wird er. Kästner steht kurz vor seiner Pensionierung. Er wird sich hüten, irgendetwas zu tun, was seinen ruhigen Lebensabend gefährden könnte.«

»Es ist seine Pflicht ...«

»Harry!«, unterbrach sie ihn eindringlich. »Es ist doch nur so eine Ahnung. Ernst weiß nichts Genaues. Du musst herkommen, in deinem eigenem Interesse.«

»Jetzt hör mir mal zu, Ellen. Mein Vater ist tot und begraben. Was soll ich also in Rotbach? Weihwasser auf seinem Grab verspritzen? Der braucht mein Weihwasser nicht. Das hilft ihm jetzt nichts mehr. Nach der Lehre der Kirche schmort er bereits in der Hölle.«

»Es gibt verschiedene Gründe, weshalb du einfach kommen musst«, drängte Ellen. »Erst mal geht es um dich, um den Besitz deines Vaters, der jetzt dir gehört. Zum andern geht es um meinen Mann. Er steckt mit drin, aber ich weiß nicht wie, er will mir nichts sagen. Und dann hat sich hier herumgesprochen, dass du inzwischen Privatdetektiv oder so was bist. Du musst also schon von Berufs wegen kommen. Ich hab dich nämlich soeben engagiert. Und nicht zuletzt habe ich selber auch noch ein Interesse daran, dass du zurückkommst. Ich möchte dich wiedersehen.«

Harry lachte. »Deinen letzten Grund akzeptiere ich. Einen Mann wie mich vergisst man nicht. Den möchte man gerne mal wieder haben.«

»Affe.«

»Weißt du noch, wie wir’s immer gemacht haben? Englisch, dänisch, spanisch, französisch ... französisch war’s gut, was?«

»Ekel.«

»Und dann polnisch. War ganz schön anstrengend damals. Erinnerst du dich noch, dass uns damals erst so richtig bewusst wurde, wie viele Staaten Europa eigentlich hat? Dabei haben wir unser Land immer ausgelassen.«

»Du bist unmöglich.« Ellen lachte. »Also, wann kannst du hier sein?«

Harry drückte seine Zigarette aus.

»Ich bin hier angestellt. In einer Detektei. Gestern bekam ich einen wichtigen Auftrag übertragen. Außerdem habe ich noch einen Chef ...«

»Der Mord an deinem Vater ist wichtiger als alles. Wenn du bis heute Abend um neun nicht hier bist, kümmere ich mich selbst um die Sache. Und es ist mir egal, wenn ich dabei draufgehe. Hast du gehört? Es ist mir völlig egal!«

Es machte klick. Ellen hatte aufgelegt.

Harry schlüpfte aus der Pyjamahose und zog das Telefon mit ins Bad. Er wählte die Nummer der Detektei und begann sich zu rasieren.

Dann wurde am anderen Ende abgehoben.

»Steinberger«, meldete sich Harry. »Morgen, Sigrid. Sieh bitte mal nach, wann die nächste Maschine nach München geht. Und buche mir sofort einen Platz.«

»München? Was willst du in München?«

»Frag nicht so viel, meine Teure. Ich hab es eilig.«

»Sag mal, was ist denn das für ein Geräusch?«

»Ich rasiere mich.«

»Mein Gott. Wie heißt sie?«

»Sigrid, wenn du mir nicht augenblicklich einen Platz in der nächsten Maschine nach München buchst, verrate ich Jupp Kloos deine neue Adresse ...«

»Harry! Okay, Harry, okay. Ich ruf in zehn Minuten zurück.«

»Fein, mein Schatz.«

Harry wählte die Nummer von Roland Bandow.

»Gott sei Dank, du bist noch da.« Harry schaltete den Rasierapparat aus. »Roland, ich glaube, ich weiß jetzt, wo’s langgeht.«

»Du meinst wegen der Rocker heute Nacht?«

»Ja. Eben hat mich eine alte Freundin aus Rotbach angerufen.«

»Rotbach?«

»Meine Heimatstadt. Meine Freundin sagte, mein Vater sei ermordet worden. Sie vermutet es nur, aber sie dürfte damit ziemlich richtig liegen. Man hat meinen Vater vor vier Tagen beerdigt, und kein Mensch hat es für nötig befunden, mich zu informieren. Dabei weiß in Rotbach offenbar so gut wie jeder, dass ich in Hamburg wohne.«

»Das mit deinem Vater tut mir leid, mein Junge«, sagte Bandow. »Aber ich sehe nicht recht, was das mit dem Überfall auf dich zu tun haben soll?«

»Das kann ich dir auch noch nicht sagen«, erwiderte Harry. »Es ist nur so ein Gefühl. Sie haben alle gewusst, wo ich zu erreichen bin, aber niemand hat mich benachrichtigt. Also wollten sie mich nicht dort haben. Und vermutlich wollen sie mich auch jetzt nicht dort haben, deshalb haben sie diese Rockerbande auf mich gehetzt.«

»Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?«

»Du kennst die Verhältnisse in Rotbach nicht. Ich bin mir fast sicher, dass die mir die Kerle auf den Hals geschickt haben. Ellen hat von seltsamen Dingen geredet. Ihr Mann soll irgendwie darin verwickelt sein. Wahrscheinlich hat sie gesagt, dass sie mich anrufen will, und prompt hat man versucht, mich aus dem Verkehr zu ziehen ...«

»Du willst also hinfahren.«

»Ja, Roland.«

»Gut, Junge. Das ist sehr gut. Schließe Frieden mit deinem Vater.«

»Er ist tot, Roland.«

»Man kann auch mit einem Toten Frieden schließen.«

»Wir werden sehen, Roland.«

»Wenn du Hilfe brauchst, ruf mich an, ja?«

»Vielen Dank, Roland. Aber ich hoffe, ich schaff es alleine.«

»Du schaffst es, da bin ich sicher. Du bist so viel wert wie drei meiner Männer.«

»Danke für die Blumen. Du wirst mir fehlen, Roland.«

»Du mir auch, Harry. Pass auf dich auf.«

»Mach ich. Ich melde mich wieder.«

Harry legte auf und ging unter die Dusche. Er trocknete sich gerade ab, als das Telefon wieder klingelte.

»Deine Maschine geht um zehn Uhr fünfzehn«, meldete Sigrid. »Schaffst du das noch?«

»Natürlich. Du bist ein Engel.«

»Leg noch nicht auf, Harry. Der Chef möchte dich sprechen.« Harry seufzte. »Okay.«

»Was höre ich da von München und so?«, erkundigte sich Kalmay mit seiner hohen Stimme. »Was wollen Sie in München?«

»Ich muss nach Rotbach.«

»Und wo, zum Teufel, liegt Rotbach?«

»Zwischen Biberach und Memmingen. Aber das sagt Ihnen wahrscheinlich auch nichts. Es ist meine Heimatstadt.«

»Was wollen Sie dort?«

»Mein Vater ist gestorben.«

»Oh! Mein Beileid, Harry. Wie lange werden Sie bleiben?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Drei Tage sind Sie beurlaubt. Sonderurlaub sozusagen.«

»Vielen Dank. Aber ich glaube, das wird nicht reichen. Ich habe einiges zu erledigen.«

»Wie lange?«

»Ich weiß es wirklich noch nicht.«

»Kommen Sie, so bald Sie können, Harry. Sie sind mein bester Mann. Ich brauche Sie.«

»Ich melde mich bei Ihnen, wenn ich zurück bin.«

In wenigen Minuten war Harry angezogen. Er packte ein paar Sachen in seine Reisetasche. Nur das Wichtigste. Als er die Schublade öffnete, in der die Pistole lag, blieb er lange davor stehen. Er hatte keinen Waffenschein. Die Pistole hatte er vor zwei Jahren einem Ganoven abgenommen. Die Waffe war sicherlich nirgends registriert, und er hatte sie damals behalten, ohne jemandem etwas zu sagen. Nicht einmal Roland wusste davon.

Bisher hatte er die Waffe nie benutzt. Aber jetzt hatte er das unbestimmte Gefühl, sie brauchen zu können. Wer es gewagt hatte, seinen Vater umzubringen, würde auch nicht davor zurückschrecken, den Sohn zu töten.

Harry packte die Pistole ein. Dann rief er ein Taxi und ließ sich zum Flugplatz fahren.



3

Fünf Stunden später stand er vor dem frischen Grabhügel. Eine Menge Kränze und angewelkte Blumen bedeckten die Erde. Harry hatte noch nie so viele Kränze auf einem Grab gesehen. Aber er wusste, dass dies kein Zeichen der Beliebtheit seines Vaters war. Niemand hatte ihn geliebt. Trotzdem hatten sie Kränze auf sein Grab gelegt, und Harry war sicher, dass bei der Beerdigung die ganze Stadt auf den Beinen gewesen war, wie es sich für Kleinstadtbürger gehört, wenn ein Mann wie Alexander Steinberger zu Grabe getragen wird.

Alexander Steinberger war ein Tyrann gewesen. Er besaß die größte Baufirma im Umkreis von fünfzig Kilometern und beschäftigte an die dreihundert Menschen. Seine Leute konnten ein Lied von der Härte ihres Chefs singen. Er war immer dort gut Freund, wo er wusste, dass es für ihn von Nutzen war. Und er kehrte mit eisernem Besen, wo er es sich erlauben konnte. Am meisten hatten seine Angestellten darunter zu leiden. Wem es nicht passte, der konnte gehen. Aber kaum jemand ging. Steinberger zahlte gut, und es gab nur wenig Ausweichmöglichkeiten.

Seine Freunde hatte er in der ganzen Umgebung. Fast überall hatte er einen oder zwei Mann im Gemeinderat sitzen, die er schmierte. So ging ihm selten ein Auftrag durch die Lappen. Auch in Rotbach hatte er seine Freunde. Im Stadtrat war er selbst. Soweit Harry zurückdenken konnte, hatte es nicht eine einzige Baustelle in der Stadt gegeben, an der die Firma Steinberger nicht mitarbeitete. Und dies lag keineswegs daran, dass Alexander Steinberger immer das billigste Angebot abgegeben hätte. Jedenfalls nicht von Anfang an. Wenn es dann jedoch zur Auswertung kam, war er der Billigste.