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Joachim Nowotny

Jakob lässt mich sitzen

ISBN 978-3-86394-190-1 (E-Book)

 

Das Buch erschien erstmals 1965 im Kinderbuchverlag Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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1. Kapitel

Heut ist die ganze Welt gegen mich.

Der Bussardvogel, der unter der Sonne und über dem Kiefernwald kreist, schreit mir ein höhnisches Piiäh zu. Der Storch tritt an den Rand des Nestes auf der Linde, er drückt den Kopf nach hinten und stößt den Schnabel in die warme Luft. Dann klappert er los. Es klingt, als würde er mich auslachen. Und die Sperlinge, die wie Lumpenbälle im Fliederbusch hängen, spektakeln, dass einem die Ohren wehtun. Die Hühner durchharken mit gekrümmten Pfoten das kurze Maigras auf der Wiese. Ab und an recken sie die Köpfe. Sie sehen zu mir her und quarren sich einen seltsamen Laut zu: Raaak-gack! Ich weiß schon, was das bedeuten soll.

„Seht euch den Heiko an!“, heißt das. „Er hockt den ganzen Nachmittag auf einem Fleck. Ist er vielleicht krank, dass er nicht wie sonst herumflitzt?“

Das Federvolk hat keine Ahnung. Ich muss hier auf dem Zaunpfosten sitzen. Auch wenn es Holzpantoffeln regnen sollte. Keine Macht der Welt bringt mich hier weg. Mag es ruhig aus dem offenen Küchenfenster nach frisch gebackenem Napfkuchen duften. Mir macht das nichts aus. Und wenn die Großmutter zehnmal die Teigschüssel auf dem Tisch hin und her schiebt, ich werd mich nicht verlocken lassen. Soll sie die Schüssel selber auskratzen. Heute habe ich fast keinen Appetit darauf. Oder doch?

Plötzlich schießt die Katze durch die Haustür auf den Hof. Ein Filzpantoffel taumelt durch die Luft und landet neben dem Hühnerhof im Sand. Während sich die Katze das Maul beleckt, höre ich die Großmutter schimpfen: „Hat der Mensch Töne? Nicht mal der Zuckerguss ist vor dem Biest sicher.“

Da läuft mir das Wasser im Munde zusammen. Ich schmecke sofort die Süße des Zuckers und die prickelnde Säure des Zitronensaftes auf der Zunge. Nur einen Löffel voll jetzt! Danach könnte ich drei geschlagene Stunden hier hocken und warten. Schon will ich auf einen Sprung in die Küche, da fällt es mir wieder ein: Lieber nicht! Unsereins muss auf seinem Posten bleiben. Das meiste passiert sowieso immer gerade, wenn man nicht dabei ist.

Missmutig breche ich mir einen Zweig aus dem Fliederbusch. Dann umklammern meine Füße wieder den Zaunriegel. Ich zerfasere die Rinde mit den Zähnen. Brrr, das schmeckt bitter! Aber es vertreibt die Zuckersehnsucht aus dem Munde.

Warum muss sie gerade heute backen? denke ich.

Meine Augen wandern im Kreis. Hinter der Scheune erhebt sich der Kiefernwald. Die Bäume stehen schweigsam und reglos beieinander wie Leute, die auf eine Beerdigung warten. Nur die Blätter der Zitterpappel am Waldrand spielen nicht mit. Sie winken in einer Tour und tun so, als wehe wer weiß was für ein Wind. Dabei geht kein Lüftchen. Nicht einmal die Schmetterlinge über der Wiese werden abgetrieben. Und auch das dünnstänglige Gras am Feldwegrand bewegt sich kaum. Auf dem Sandweg geht die Langeweile spazieren. Kommt sie an einem Roggenschlag oder einem Kartoffelfeld vorbei, bläht sie sich mächtig auf. Aber das grüne Meer der kniehohen Halme und die gestreckten Furchen lassen sich nicht ausstechen: Ätsch, wir sind viel langweiliger als du!

Vor dem Dorf kehrt die Langeweile wieder um. Dort hat sie nichts zu suchen. Sie ist mehr hier draußen zu Hause. Wenn ich mich nicht täusche, dann wohnt sie hier bei uns in der Einsamkeit. Eine Weile wandert sie noch umher. Auf einmal macht sie einen Sprung in die finstere Scheunenecke. Der kleine Bulko kommt quer über die Wiese gerannt. Mit dem will die Langeweile nichts zu tun haben. Er ist ihr zu lebendig.

„He!“, ruft er schon von Weitem. „Heiko! Mach schnell, es brennt.“

Ich rutsche zweimal auf dem Zaunpfosten hin und her. Aber ich bezwinge mich und sage zu dem kleinen Bulko: „Dich werden sie schon noch mal kaschen, wenn du ihnen die Wiese zertrampelst.“

„Hach“, sagt er, „die kriegen mich nicht.“ Er stopft sich die Hemdzipfel in die Turnhose. „Niemals kriegen die mich.“

„Und der Schurig?“, frage ich.

Der Schurig, das ist unser neuer Agronom im Dorfe. Vor drei Wochen kam er von der Schule weg zu uns. Noch niemand hat ihn rennen sehen. Aber der kleine Bulko weiß Bescheid.

„Der Agronom“, sagt er und schüttelt sich den Sand aus den Schuhen, „der Agronom latscht immer in Gummistiefeln rum. Wie wird er da vernünftig rennen können?“

Der kleine Bulko hat wieder einmal recht.

„Was denn nun?“, drängelt er. „Willst du auf dem Pfosten festwachsen?“

Ich hole tief Luft. „Es geht nicht, kleiner Bulko“, sage ich leise. „Ich muss hierbleiben.“

„Aber sie brennen am Mühlteich einen alten Schilfhaufen ab, Mensch. Flammen, so hoch, so hoch wie euer Haus. Und bloß der alte Zieschang ist dabei.“

Haushohe Flammen und der alte Zieschang, denke ich. Wie schnell hätten wir den überlistet! Wir brauchten bloß eine Weile ins Wasser zu stieren und dann was von einem Hecht zu flüstern, schon wären wir ihn los. Wenn der alte Zieschang einen Fisch spürt, vergisst er alles andere. Sogar so ein Feuer. Mit Leichtigkeit kämen wir heran. Und dann ...

Ich presse die Knie gegen das Pfostenholz. „Es geht wirklich nicht.“

Der kleine Bulko staunt. Er reißt die schwarzen Augen auf und schiebt die Oberlippe vor. „Hast du am Ende Arrest?“

Ich schüttele den Kopf. „Keine Spur. Aber es geht trotzdem nicht.“

Da feuchtet der kleine Bulko die Fingerspitzen mit der Zunge an. Dann fährt er mit ihnen über das kurzhaarige Kopffell. „Ich muss gehen. Mach’s gut, Heiko!“, sagt er.

Und schon rennt er wieder über die Wiese dem Dorfe zu. Unter seinen Füßen färbt sich das helle Maigras dunkel. Ehe es sich aufgerichtet hat, ist die Langeweile wieder da.

Sie steckt jetzt mehr im Holzschuppen und singt ein eintöniges Lied: Rätsche-rätsch, rätsche-rätsch.

Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. Dort im Schuppen hockt nicht die Langeweile. Sondern der Großvater. Er sitzt auf dem Hackklotz vor dem Sägebock und schärft die Zähne der Bügelsäge mit der Eisenfeile. Nicht lange, und er wird einen Meterknüppel zwischen die Bockhörner werfen. Dann zupft er am gespannten Sägeblatt, dass es summt.

„Komm! Komm! Komm!“, heißt das. Es gilt mir. Ich soll dem Großvater helfen, die Säge stundenlang hin- und herzuzerren. Die Langeweile aber lacht sich eins.

„Hihi! Das schmeckt dir nicht, was?“

Nein, es schmeckt mir nicht. Holzsägen ist keine Arbeit, sondern Strafe. Man muss sehen, wie man verschwinden kann. Ich rutsche von meinem Sitz und kauere mich hinter dem Zaun auf den Boden. Die Breite des Pfostens schützt mich vor den Blicken des Großvaters. Hier werde ich warten. Einmal muss Jakob doch kommen.

Jakob? So heißt mein Freund. Er ist viel größer und älter als der kleine Bulko. Ich glaube, er ist so um die neunzehn Jahre alt. Und Kraft hat er wie ein mittlerer Traktor. Einmal kam er gerade dazu, wie eine Zugmaschine im Wegschlamm stecken blieb. Er kuppelte den Anhänger aus und zog ihn ganz allein an den Straßenrand. So ein Kerl ist das, der Jakob. Sogar der kleine Bulko hat Respekt vor ihm. Wenn er noch so schnell rennt, Jakob macht bloß drei, vier Schritte, und schon hat er den Ausreißer beim Wickel gepackt. Ich bin froh, einen solchen Freund zu haben.