Omnes omnia omnino.
Alle alles in Rücksicht auf das Ganze lehren
Johann A. Comenius
Dieses Buch entspringt einer Hybris. Ich kann nur hoffen, dass Sie mir die meine verzeihen und Ihrerseits in fröhlicher Selbstüberschätzung zum Gelingen einer Aufgabe beitragen, die eigentlich unlösbar ist: herauszufinden, welche Bildung unsere Kinder brauchen, damit sie für ihr künftiges Leben gut gewappnet sind.
Zwar kennen wir so leidlich und aus unterschiedlichen Perspektiven die Welt von heute, doch bei der Welt von gestern wird es schon schwieriger: Wir sind auf Überlieferungen angewiesen, die zwangsläufig ein verzerrtes Bild zeichnen. Die Welt von morgen jedoch können wir nur erahnen. Insofern ist alles, was wir unseren Kindern beibringen, eine Wette auf eine Zukunft, die offen ist.
Das beginnt bei ganz fundamentalen Fragen: Wie zum Beispiel sollen unsere Kinder eigentlich schreiben lernen? Sollen sie Schreibschrift üben, vielleicht sogar Schönschrift, oder reicht die profane Druckschrift? Darüber wird unter Lehrern, Eltern und Experten immer wieder leidenschaftlich gestritten. Nun habe ich erlebt, wie unser jüngster Sohn in der Schule zusätzlich das Zehnfingersystem am Computer gelernt hat. Ich war zunächst skeptisch, aber seitdem tippt er seine Referate verdammt schnell in den Rechner. Wäre es vielleicht sogar sinnvoll, ging es mir durch den Kopf, das zum neuen Standard zu erheben? Gleichzeitig werden die Diktiersysteme immer leistungsfähiger; wer weiß, wie lange der Mensch noch umständlich Buchstaben in eine Tastatur tippen muss? Noch weiter gedacht: Wie ist es überhaupt um die Zukunft der Schrift bestellt, wenn wir uns jetzt schon über Voice-Mails und Skype verständigen können? Was, wenn wir Geräte durch Mimik, Gestik oder allein durch unsere Gedanken steuern können? Ist »Geräte steuern« künftig überhaupt noch das richtige Bild, oder verschmelzen wir zu einem gewissen Grade mit den Apparaten?
Sie merken schon: Wer in dieser Debatte einen Pflock einschlagen will, der spürt schnell, wie instabil der Grund ist. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als den Sprung ins Offene zu wagen, zu spekulieren, auszuprobieren, wohl auch übermütig zu sein. Zugleich zeigt der Streit um die Schreibschrift, wie stark die Kraft der Tradition in der Bildung wirkt. Schönschrift fördert die Feinmotorik, sie steht für Konzentration und Ästhetik. Wer etwas Neues will, der muss dieses Positive mitnehmen oder seinen Liebhabern eine attraktive Alternative bieten. Sonst wird er zu Recht scheitern. Die Tradition fest im Blick zu haben, ist auch deswegen sinnvoll, weil sie die vertrauten Muster liefert, auf die wir im Zweifel zurückgreifen. Sie ist der Anker, der uns Halt gibt, und sie liefert das Baumaterial, aus dem die Zukunft gestaltet wird.
Deshalb soll dieses Buch, dieser Kanon, das Alte, das Vorhandene versammeln, das unsere Kinder für morgen brauchen. Ich habe hier einhundert Bücher, Musikstücke, Gemälde, Filme, Gedichte und andere Werke zusammengestellt, die meines Erachtens jeder kennen sollte, von einer Kurzfassung der homerischen Epen über Chuck Berrys Johnny B. Goode bis zum Film Das Leben der Anderen.
Ich bin kein Erziehungswissenschaftler und kein Lehrplanexperte, sondern Journalist, der seit gut zwanzig Jahren das Bildungswesen beobachtet. Diesen Kanon habe ich als interessierter Bürger zusammengetragen, dem der Nachwuchs, dem die Schule, dem aber vor allem der Zusammenhalt der Gesellschaft wichtig ist. Und dort, in der Gesellschaft, nicht nur in Expertenzirkeln, muss die Debatte darum, was unsere Kinder (und wir selbst) wissen müssen, geführt werden. Dieser Kanon ist selbstverständlich kein Dogma. Aber er ist ein ernst gemeintes Angebot für einen gemeinsamen Grundstock der Allgemeinbildung. Ich bin der festen Überzeugung, dass unsere bewegte Gesellschaft dringender denn je eine gemeinsame Wissensbasis braucht – vor allem, um besser miteinander ins Gespräch zu kommen. Was genau dazu gehört, darüber lässt sich trefflich streiten. Dass aber ein klar umrissener Fundus nötig ist, das steht für mich außer Frage – warum ich davon überzeugt bin und wieso ich der Bildungsdebatte eine Rückkehr zu den Inhalten wünsche, möchte ich Ihnen im ersten Kapitel näher erklären.
Um einen Allgemeinbildungskanon, den ich nach vier unterschiedlichen Arten des Weltzugangs geordnet habe, wird es in den vier anschließenden Kapiteln gehen. Wenn ich Sie damit zum Nachdenken anrege, gern auch zum Widerspruch, dann freue ich mich. Nur langweilen sollen Sie sich nicht.
Viel Vergnügen beim Lesen!
Für Imke, Vincent und Christoph