Die Autorin

Katharina Sommer wurde im November 1998 in Graz geboren und wuchs in einer dreiköpfigen Familie (samt Katze) außerhalb der Kleinstadt Gleisdorf in Österreich auf. Derzeit verbringt sie ihre Tage in den Bibliotheken der Universität Graz, wo sie Deutsch und Geschichte auf Lehramt studiert.

Das Buch

Amanda hat alles zurückgelassen: Ihren betrügerischen Ex-Verlobten, ihren Job in New York, ihre Freunde. Jetzt ist sie zurück in ihrer Heimat Blue Bay und versucht die Bruchstücke ihres verkorksten Lebens neu zusammenzufügen. Da hilft es nicht, dass sie gleich an ihrem ersten Tag an der Ostküste Floridas beinahe im Meer ertrinkt und von dem attraktiven Rettungsschwimmer Cole aus den Fluten gezogen werden musste. Oder vielleicht ist es genau das, was passieren muss, um ihrem Leben eine neue Wendung zu geben. Denn zwischen Cole und ihr sprühen schon kurz darauf mächtig die Funken. Doch als Amanda denkt, dass sie ihr Leben endlich wieder in den Griff bekommt, holen sie die Geister der Vergangenheit ein.

Katharina Sommer

Crazy for you

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
August 2020 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-453-4

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Kapitel 1


Meine Lungen füllten sich mit Wasser, meine Atmung setzte aus und dennoch fühlte ich mich schwerelos. Als würde ich eins werden mit dem Wasser und den Wellen. Beinahe wie die kleine Meerjungfrau, die in Schaumbläschen zerfiel und von der Meeresströmung davongetragen wurde. Schon seltsam, dass ich ausgerechnet an ein altes Kindermärchen – in guter Disneyverfilmung – dachte, während mich die Wellen in die Tiefen des Ozeans zogen und Salzwasser in meine Lungen drang.

Fühlte sich so Sterben an?

Irgendwie hatte ich es mir anders vorgestellt – dramatischer. Stattdessen hatte es eine ungewollte Komik und es ärgerte mich, dass mich alle nur als das Dummchen in Erinnerung behalten würden, das bei windstillem Wasser und wolkenlosem Himmel in der Bucht ertrank, obwohl ich mal Leistungsschwimmerin gewesen war. Eigentlich passend – als Ende für mein bisher verkorkstes Leben. Nachdem ich meinen Job verloren und mich meine große Liebe für eine andere verlassen hatte, sollte sich nun anscheinend auch mein Ableben in die Reihe von Niederlagen eingliedern.

»Halte durch«, raunte mir eine dunkle Stimme zu.

Ob Gott oder der Teufel zu mir sprach, konnte ich nicht einordnen. Die Schwerelosigkeit lullte mich ein und die Worte drangen wie durch Watte an mein Ohr. Jemand hob mein Kinn an und ich spürte einen merkwürdigen Druck auf meinem Brustkorb, als hätte sich eine dicke Katze auf mich gesetzt. Für das Jenseits gab es hier viel zu viel Tumult.

»Sie hat Wasser eingeatmet.« Wäre ich noch am Leben gewesen, hätte ich nun vermutlich die Augen verdreht. Der Teufel war wohl nicht gerade ein Blitzchecker. Daher beschloss ich kurzerhand, geradewegs an der Hölle vorbeizuspazieren und stattdessen an die Tore des Himmels zu klopfen. Ich streckte die Hand aus, doch bevor meine Fingerknöchel gegen das dunkle Holz schlagen konnten, zog es mich mit einem gewaltigen Ruck zurück in die Wirklichkeit. Es fühlte sich an wie ein Anker in meiner Magengrube, der mich hochzog. Plötzlich hob sich meine Brust. Keuchend und prustend spuckte ich Wasser.

»Willkommen zurück im Leben, kleine Meernixe«, drang die amüsierte Stimme von Gott an mein Ohr und ich kam mir augenblicklich auf den Arm genommen vor.

War das seine Art von Humor? Eine Tote im Himmel mit dem Leben zu begrüßen … Nicht besonders einfühlsam. Aber jetzt konnte mir das auch schon egal sein. Blinzelnd öffnete ich die Augen und stierte in gleißendes weißes Sonnenlicht. Eine Sekunde später beugte sich eine Gestalt über mich und schirmte mich damit vor dem hellen Licht ab.

Wow – so hatte ich mir den Himmel sicher nicht vorgestellt. Aber gegen gut aussehende Engel hatte ich nun wirklich nichts einzuwenden.

»Hallo, Gabriel«, brachte ich mit einem seligen Lächeln auf den Lippen zustande, wobei jeder Laut höllisch schmerzte und ich mich hustend zur Seite rollte.

In dem Moment begriff ich, dass sich das alles viel zu real anfühlte. Als ich mich halb auf die Ellbogen gestützt aufrichtete und mich umsah, blickte mir eine Menge an schaulustigen Gesichtern entgegen, die definitiv nicht dem Himmelschor angehörten. Der dicke Mann mit Sonnenbrand und Goldkettchen in der zu eng sitzenden Badehose erfüllte wohl noch am ehesten die Vorstellung einer speckigen Putte aus einer barocken Kirche. Zu meinem Bedauern erinnerte ich mich jedoch, ihn schon zuvor am Strand auf einem Liegestuhl in der Sonne brutzeln gesehen zu haben. Deswegen war ich mir zu hundert Prozent sicher, nicht im Himmel gelandet zu sein.

»Eigentlich heiße ich Cole«, sagte in jenem Moment der heiße Engel höchstpersönlich. »Aber Gabriel ist auch okay.« Ich sah, wie er sich das Lachen verkniff, und ich schloss gequält die Augen. »Bitte lehne dich wieder zurück. Wir müssen dich in die stabile Seitenlage legen. Hast du Schmerzen?«

Ich konnte nicht antworten. Zu peinlich war mir der Rummel, der sich um uns bildete. Leider wusste ich zu gut, dass auch der vermeintliche Engel (genauso wie der krebsrote Rentner) nicht meiner Fantasie entsprungen, sondern der Lifeguard dieses Strandabschnitts war. Diesbezüglich war ich mir sicher, da ich ihn bereits vor meiner Schwimmtour abgecheckt hatte. Jedoch wollte ich ihm eigentlich damit imponieren, à la Pamela Anderson aus Baywatch aus dem Wasser zu joggen, anstatt mich wie ein nasser Sack Zement von ihm aus dem Ozean fischen zu lassen. Beschämt verzog ich mein Gesicht. Wie hatte mir das alles nur passieren können?

»Hallo? Hast du Schmerzen?« Mit der flachen Hand tätschelte er meine Wange und ich begriff, dass ich mich besser nicht tot stellen sollte, wenn ich ihn nicht auch noch zu einer Mund-zu-Mund-Beatmung nötigen wollte.

»Mir geht es gut, danke.« Flatternd schlug ich die Augenlider auf und versuchte mich ein weiteres Mal aufzurichten, aber eine starke Hand drückte mich zurück.

»Liegen bleiben!«, befahl er streng. »Wo bleibt der Krankenwagen? Sie braucht Sauerstoff.«

Warum war mir nicht schon zuvor aufgefallen, dass die blonden Dreadlocks nicht gerade den goldenen Engelslöckchen des stereotypischen Erzengels Gabriel glichen?

»Nein, es geht schon«, wehrte ich ab. Ich wollte einfach nur weg. Nach Hause – wenn man meine neue Postanschrift überhaupt so nennen konnte. »Ich komme schon zurecht.«

»Zu spät«, gab mein persönlicher Schutzengel zurück. Seine Stimme klang nicht verständnisvoll, sondern auf unpassende Art und Weise überheblich, was mich dazu veranlasste, mit schmalen Augen aufzusehen. Fragend legte ich den Kopf schief. »Der Krankenwagen ist schon unterwegs«, rief er mir in Erinnerung.

»Oh«, machte ich nur und gab meine Gegenwehr auf. Wenn der Krankenwagen gerufen wurde, hatte es mich vielleicht schlimmer erwischt, als ich dachte. Durch die Seitenlage klebte mir Sand auf der Wange und ich seufzte tief. Das war alles eine einzige Katastrophe und ich fühlte mich wie ein Häufchen Elend. Prüfend bewegte ich mein Bein, um zu spüren, ob ich noch Herr meiner Muskeln war. Es funktionierte alles schmerzfrei. Aber nun da der Rettungswagen schon auf dem Weg war, konnte ich auch nicht mehr abhauen.

Vielleicht erlaubte sich Gott ja einen Scherz und ich war doch tot?

»Bitte bleibe ruhig liegen. Ich muss dich jetzt für einen kleinen Schmerzcheck abtasten.« Der Rettungsschwimmer untersuchte mich auf Verletzungen und ich konnte nicht verhindern, nervös zurückzuzucken. Routiniert fuhren seine kühlen Finger über meine Haut.

Mir war es allerdings mehr als unangenehm, lediglich im Bikini vor ihm zu liegen.

»Kannst du dich erinnern, wie du heißt und wo du bist?«

Meine Gedanken waren laut und hektisch, jedoch klar, sodass auch die qualvollen Erinnerungen nicht ausgelöscht waren.

»Amanda«, brachte ich mit kratziger Stimme hervor. »Mein Name ist Amanda Jones und ich bin in Blue Bay, Florida.«

Cole nickte zufrieden und gab mir damit das Gefühl, wie bei einem Test gut abzuschneiden. Gerne hätte ich über mich selbst den Kopf geschüttelt, der Sauerstoffmangel hatte meinen Gedanken doch ganz schön zugesetzt.

»Gut, Amanda. Kannst du dich erinnern, was passiert ist?«, fragte er und zog die Augenbrauen zusammen, während er mit der Hand die Augen vor dem grellen Sonnenlicht abschirmte.

Die Antwort darauf war mir peinlich. Immerhin konnte ich gut schwimmen. Daher zuckte ich mit den Schultern und tat, als könnte ich mich nicht mehr richtig erinnern.

»Hast du Allergien oder Tabletten, die du einnehmen musst?«

»Nein.« Ich zuckte wieder mit den Schultern.

»Bitte nicht bewegen«, wies Cole mich an. »Tut das weh?« Seine Handfläche tastete meinen Kopf ab und ich atmete zischend aus.

»Du hast Glück gehabt.«

»Glück? Wie darf ich das verstehen?«, fragte ich und zog die Stirn kraus. Jemand, der Glück hat, gewinnt im Lotto und blamiert sich nicht am ersten Tag in der neuen Stadt in Grund und Boden.

»Vermutlich hast du dir den Kopf an den Felsen angeschlagen, bevor du bewusstlos geworden bist. Du kannst froh sein, keine Platzwunde zu haben.«

Leider musste ich eingestehen, dass er recht hatte. An einem gefährlichen Korallenriff hätte die Situation schon ganz anders ausgesehen. Die vereinzelten Felsen an der Flachküste Floridas waren hingegen geradezu harmlos.

Die restlichen Rettungsschwimmer verscheuchten die Schaulustigen und eine Frau im roten Badeanzug telefonierte mit dem Notarzt.

»Bring sie besser in den Schatten«, rief sie Cole zu und wedelte geschäftig mit der Hand in die Richtung des Rettungsturms und der Boote, bevor sie sich wieder abwandte, um weiter ins Handy zu sprechen.

»Du hast sie gehört«, verkündete Cole und kniete neben mir nieder.

»Danke. Aber ich schaffe das schon«, wiederholte ich, wie mir vorkam, zum tausendsten Mal heute. Als ich erkannte, was er vorhatte, schob ich seine Hand weg und versuchte mich eigenständig aufzurichten, aber meine Arme und Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Das brachte mich wieder zu der alles entscheidenden Frage zurück: Was hatte ich mir nur dabei gedacht? So lange zu tauchen und dann – dann was? Wie hatte ich halb ertrinken können?

»Mir scheint, als könnten Meernixen an Land nicht gehen«, gab Cole zurück und sein herablassender Tonfall versetzte mein Blut in Wallung. Mit einem spöttischen Grinsen – das ich ihm am liebsten aus dem Gesicht schlagen wollte – betrachtete er mich von oben herab. Obwohl ihn der schelmisch funkelnde Schalk in den grünen Augen nur noch verwegener aussehen ließ, überwog in diesem Moment meine Verärgerung.

Sollten Rettungsschwimmer nicht irgendwie netter sein? Wenn ein kleines Kind zu nahe am Wasser spielte, sagte er ihm doch auch bestimmt nicht: Ätschibätsch – selbst schuld, wenn du ertrinkst – ich rette dich nicht.

»Nicht erschrecken«, warnte er mich vor, dann lag bereits seine rechte Hand an meinem Rücken, und die andere fuhr unter meine Kniebeugen, um mich ganz im Brautstil hochzuheben. Wüsste er nur, was für alte Wunden er damit aufriss. Das Adjektiv alt war hierbei jedoch relativ. Es war nun erst zwei Monate her, seit mein Verlobter Henry mich sitzen gelassen hatte, und wie es der Zufall wollte, wäre heute der geplante Hochzeitstermin gewesen. Tränen traten mir in die Augen. Nur nicht weinen, beschwor ich mich innerlich. Nicht auszumalen, wie peinlich es geworden wäre, nun auch noch vor dem gut aussehenden Mann in Tränen auszubrechen und mich heulend an seine Schulter zu klammern.

Stattdessen konzentrierte ich mich ganz auf das Hier und Jetzt. Die verrücktspielenden Hormone vermochten wenigstens, meine Gedanken zu manipulieren und Henry aus meinem Kopf zu vertreiben. Coles Körper war gut gebaut, die Haut von der Sonne geküsst und, Himmel – diese Muskeln. Es war seltsam, einem Fremden so nah zu sein. Ich trug nur meinen Bikini und meine Hand hielt sich an seiner nackten Schulter fest. Meiner Meinung nach sollte es verboten sein, Rettungsschwimmer in diesen sexy roten Badehosen herumrennen zu lassen. Das war doch sowas von aus Baywatch geklaut und allein ein Blick genügte, um einen Radfahrer auf der angrenzenden Strandpromenade gegen eine Palme knallen zu lassen. Cole trug mich mit einer Leichtigkeit, als wöge ich nicht mehr als eine Feder. Bestimmt war er Gewichtheber …

»Nicht so ganz. Ich bin Surfer, aber danke, das nehme ich mal als Kompliment.« Sein Grinsen wurde, wenn möglich, noch überheblicher, und zu spät registrierte ich, dass ich meinen letzten Gedanken laut geäußert hatte. Gott, wie peinlich!

»Mir geht es wirklich gut. Kann ich bitte einfach gehen?« Die Worte kamen flehend über meine Lippen.

Cole musterte mich mit einem Blick, als hielte er mich für eine Gefahr. Nicht nur für mich, sondern für die ganze Menschheit. Sanft setzte er mich auf einem Handtuch mit dem Logo der Schwimmschule im Schatten ab.

»Ich glaube wirklich, es ist besser, du wirst im Krankenhaus untersucht. Du wirkst ziemlich durcheinander und eine Gehirnerschütterung ist nicht auszuschließen.«

Da in jenem Moment ein weißer Einsatzwagen in Sicht kam, gab ich mich geschlagen.

Langsam setzten sich alle Einzelteile zu einem großen Ganzen zusammen. Ich war getaucht und dem Felsabschnitt zu nahe gekommen. Ich kam mir so bescheuert vor. Jedes Kleinkind wusste, dass es nahe bei den Felsen gefährlich war. Dort zu tauchen war eine durch und durch dumme Idee gewesen.

»Hier herüber!«, rief Cole den Einsatzleuten gebieterisch zu.

Mir wurde ganz schlecht, als ich sah, dass sie eine Trage aus dem Rettungsauto zogen.

»Bitte sag ihnen, dass es mir gut geht. Das ist absolut nicht notwendig«, murmelte ich beschämt. »Mir geht es blendend. Ich kann gehen, stehen … mir geht es wirklich gut«, fügte ich mit noch mehr Nachdruck hinzu, aber er ignorierte mich.

»Sie hat Wasser eingeatmet und war kurzzeitig nicht ansprechbar. Der Schreck und das Adrenalin pushen sie gerade ziemlich auf. Aber sie redet wirres Zeug, und ich vermute, sie könnte sich den Kopf an den Felsen angeschlagen haben. Sie gehört auf jeden Fall im Krankenhaus untersucht«, erklärte er einem Sanitäter, der geschäftig nickte.

»Hallo, mein Name ist Keegan und wir bringen Sie jetzt ins Krankenhaus«, wandte er sich nun mir zu, und ich überlegte fieberhaft, wie ich der Trage entgehen könnte. »Können Sie mich hören?« Keegan sprach langsam mit laut erhobener Stimme, als würde er sich mit einer senilen und tauben Oma unterhalten. Ich meinte, in ihm einen alten Schulkollegen wiederzuerkennen, aber um nichts in der Welt hätte ich ihn darauf angesprochen. Und Keegans gab es schließlich wie Sand am Meer, oder?

Mit einem zu einer Grimasse verzogenen Gesicht legte ich meinen Kopf schief. »Mir geht es gut, danke. Ich möchte wirklich einfach nur heim. Mir fehlt nichts«, versuchte ich, ihn zu überzeugen.

Doch vergebens – der Sanitäter nickte nur mit einem mitleidigen Lächeln. Offenbar ließen Coles Worte ihn annehmen, ich könne meinen Zustand selbst nicht richtig einschätzen. Und vermutlich hatten sie damit recht. Seien wir doch ehrlich – ich wollte nur der Peinlichkeit entgehen, im Bikini auf der Trage abtransportiert zu werden. So hatte ich mir als Neue in der Stadt meinen ersten Eindruck bei den Bewohnern nicht vorgestellt.

»Gern geschehen, kleine Meernixe«, raunte mir mein heldenhafter Retter zu, als er mich noch mal hochhob und auf die Trage legte. Ich war so baff, dass ich gar nicht darüber nachdachte, welche angenehme Wärme sein nackter Oberkörper ausstrahlte. Stattdessen ging mir ein Licht auf, und ich begriff, dass es ihn amüsierte, mich der Peinlichkeit auszusetzen. Ungläubig öffnete ich den Mund und setzte zu einer Erwiderung an. Diese blieb mir allerdings vor Empörung in der Kehle stecken, als er mir zur Verabschiedung schelmisch zuzwinkerte, bevor er sich abwandte. Cole erlaubte sich einen Spaß mit mir und nun war ich doch wirklich auf dem Weg ins Krankenhaus.

Kapitel 2


Tatsächlich hatte mein Retter recht gehabt. An meinem Hinterkopf fühlte man bereits eine Beule und jetzt, da das Adrenalin langsam nachließ, machten sich auch schmerzhaft pochende Kopfschmerzen bemerkbar.

Ich lag auf einer Liege in der Notaufnahme und trug statt der nassen Badebekleidung ein Krankenhausnachthemd. Das hatte mir eine freundliche Krankenschwester netterweise überreicht, als sie bemerkt hatte, wie unangenehm mir die neugierigen Blicke der anderen Patienten waren.

Ein attraktiver Arzt (Herrgott – warum mussten heute auch alle so gut aussehen, während mein ramponiertes Äußeres dem einer Wasserleiche glich?) hatte mich darüber informiert, dass sie mich mit Verdacht auf eine Gehirnerschütterung erst mal untersuchen wollten.

Wenigstens das CT meinte es heute gut mit mir, und nachdem sie nichts Beunruhigendes auf den Bildern entdeckt hatten und auch die neurologischen Untersuchungen ohne Befund geblieben waren, bereiteten sie die Papiere für meine Entlassung vor.

»So, Miss Jones.« Der attraktive Assistenzarzt kam mit der Krankenakte in der Hand auf mich zu. Der weiße Kittel flatterte bei jedem Schritt um seine Oberschenkel und ließ ihn geradezu leuchten. Wie passend – hieß es nicht sowieso Götter in Weiß? Seltsam, dass sie bei meinem CT nichts gefunden hatten. So wie meine Gedanken am Rad drehten, machte es ganz den Anschein, als hätte ich einen gewaltigen Dachschaden. Nur gut, dass ich meine Überlegungen nicht laut äußerte. »Es sieht gut aus. Sobald Ihre Mutter hier ist, können Sie gehen.«

»Meine Mutter?« Mit einer Mischung aus Entsetzen und Verblüffung riss ich die Augen auf. Das war gar nicht gut – das Entsetzen überwog definitiv.

»Ja.« Der Arzt hob fragend die Augenbrauen. »Sie ist als Ihr Notfallkontakt angegeben.«

»Oh nein!« Mit einem entnervten Stöhnen ließ ich meinen Kopf in den Nacken fallen und starrte an die graue Krankenhausdecke.

»Tut mir sehr leid, sollte das Unannehmlichkeiten verursacht haben«, sagte der Arzt mit einem entschuldigenden Lächeln. Offenbar war es nicht schwer zu entschlüsseln, dass ich meine anstrengende Mutter besser nicht am Krankenbett haben wollte.

»Schon gut, das konnten Sie ja nicht wissen«, murmelte ich in mein Kopfkissen hinein und machte mir gedanklich eine Notiz, meinen Notfallkontakt so bald wie möglich zu ändern. Der Arzt öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Plötzlich zog jemand den Vorhang, der mein Bett von den anderen in der Notaufnahme abgrenzte, beiseite, und meine Mutter stürzte wie eine besorgte Glucke auf uns zu. Das war ja mal perfektes Timing.

»Amanda! Schatz! Was hast du nur getan?«

Den Arzt ungeduldig beiseiteschiebend, drängte sie sich an mein Bett und drückte mich fest.

»Mama«, sagte ich mit einem resignierten Seufzer.

Es war schon einige Monate her, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Aber so lieb ich sie auch hatte, gab es durchaus einen guten Grund, warum ich auf ein Treffen auf diesem Weg lieber verzichtet hätte.

»Doktor, was fehlt ihr?« In einer theatralischen Geste griff sie sich an die Brust, wobei sie die mit grellrotem Lippenstift bemalten Lippen besorgt zusammenkniff. Meine Mutter sah aus, als wäre sie einer Folge Desperate Housewives entsprungen, und das hellrote Kostüm saß perfekt. Das bedeutete, dass sie gerade aus der Kanzlei kam.

»Es sieht alles gut aus«, wiederholte mein Arzt noch mal seine Worte von vorhin, nachdem er sich nach Moms plötzlichem Auftauchen wieder einigermaßen gefangen hatte. »Sie können Ihre Tochter mit nach Hause nehmen. Eine Schwester hat die Papiere vorbereitet. Wir werden Ihnen Schmerztabletten mitgeben, und scheuen Sie sich nicht, herzukommen, sollten weitere Beschwerden auftreten.« Streng musterte er mich, dann wandte er sich wieder meiner Mutter zu. »Behalten Sie sie die nächsten Tage gut im Auge. Kein Autofahren, Alkohol oder Überanstrengung. Gehen Sie es ruhig an.« Freundlich lächelte er mir zu.

»Keine Sorge, ich passe auf dich auf – Kind.« Sie drückte mir einen Schmatzer auf die Stirn, was ich vergeblich zu verhindern versuchte.

»Ich brauche keine Hilfe. Mir geht es gut«, gab ich zurück und wischte mir genervt den roten Lippenstift von der Stirn. Immerhin war ich eine vierundzwanzigjährige, erwachsene und selbstständige Frau, kein weinendes Schulkind. Der Arzt musterte mich mitleidig. Nun wusste er meine resignierte Reaktion von vorhin wenigstens zu deuten.

»Schatz, reg dich nicht auf.« Mom tätschelte mir die Wangen, während sich Ärger in mir aufstaute. »Haben Sie schon einen Termin beim Psychiater für sie?« Fordernd wandte sich Mom dem irritierten Arzt zu.

»Beim Psychiater?«, fragte er und sah verwundert zwischen mir und meiner Mutter hin und her.

»Mom«, zischte ich mit gepresster Stimme und vergrub mein Gesicht in beiden Händen.

»Der Mann ist Arzt. Du brauchst dich nicht zu schämen.« Fest drückte sie meine Schulter, woraufhin ich genervt ihre Hand abschüttelte.

»Ihre Tochter hat nur eine leichte Gehirnerschütterung. Ein Psychiater ist …«, versuchte der Arzt zu erklären, aber Mom unterbrach ihn resolut.

»Sie hat versucht, sich umzubringen. Natürlich braucht sie Hilfe.«

»Gott, Mom! Hör auf damit! Ich habe nicht versucht, mich umzubringen«, stöhnte ich verzweifelt. Meine Wangen glühten und ich wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken.

»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte der Arzt verdattert. Das Patientengespräch schien für ihn in eine völlig falsche Richtung zu verlaufen, und ich bemerkte, wie er sich langsam immer weiter von meinem Bett entfernte, als begäbe er sich auf die Flucht.

»Ihr Verlobter hat sie verlassen, heute wäre der Hochzeitstermin gewesen. Sie hat versucht, sich das Leben zu nehmen«, rief Mom inbrünstig.

»Mom!« Panisch sah ich mich um, ob sie bereits die Aufmerksamkeit der anderen Patienten auf uns zog.

»Ich wollte mich nicht umbringen!«

»Aber natürlich – du bist eine großartige Schwimmerin, was soll sonst passiert sein?«

»Es war ein Versehen … ein Unfall«, murmelte ich und seufzte.

»Tzz«, machte Mom nur, womit mir klar war, dass sie mir nicht glaubte. Bestimmt würde ich jeden Moment explodieren. »Aber was hast du überhaupt hier gemacht? Warum bist du nicht in New York?« Tadelnd sah sie von oben auf mich herab. Unter ihrem Blick fühlte ich mich ganz klein und Tränen des Zorns traten mir in die Augen. Warum musste sie mich so bloßstellen?

»Ich habe meinen Job verloren und bin in Dads altes Haus gezogen.« Verschämt senkte ich den Kopf. Peinlicher konnte es wohl kaum werden.

»Sehen Sie!«, rief Mom aus und trat auf den Arzt zu, als würde sie ihn jeden Moment attackieren. Der Arme zuckte verdattert zusammen.

»Sie ist verzweifelt und wollte sich umbringen. Ich will sofort einen Psychiater!«

»Mom! Hör endlich auf damit. Ich würde mich niemals wegen Henry umbringen!«, brachte ich mit aller Überzeugung, die ich aufbringen konnte, hervor.

»Aber der Job …«, hielt sie dagegen, doch ich hörte einfach nicht mehr hin.

»Wenn ich hier nicht bald draußen bin, brauche ich wohl wirklich einen Psychologen«, knurrte ich mit vor Sarkasmus triefender Stimme und rollte mit den Augen.

»Sehen Sie …«, setzte Mom erneut an. Nun schien allerdings der Arzt wieder zu sich zu finden.

»Ma’am, seien Sie unbesorgt. Ich halte Ihre Befürchtungen wirklich für unbe…«

»Unbegründet?!«, donnerte meine Mutter los und ich verlor endgültig die Geduld.

»Herrgott, Mama! Lass den armen Mann in Ruhe! Ich habe mir nichts getan und ich will endlich nach Hause!« Ohne auf ihren Einwand zu achten, kletterte ich von der Liege, wobei ich achtgab, meinen nackten Hintern unter dem auf der Rückenseite geöffneten Krankenhauskittel nicht zu zeigen. Der arme Assistenzarzt hatte heute schon genug verarbeiten müssen, da wollte ich ihn nicht noch mehr in Verlegenheit bringen. »Mom, hast du etwas zum Anziehen für mich dabei?« Ich legte so viel Bestimmtheit wie möglich in meine Stimme, damit das Thema nun ein für alle Mal vom Tisch war.

»Mmpf«, machte Mom beleidigt, reichte mir jedoch eine Umhängetasche.

»Danke«, sagte ich immer noch ungehalten und setzte die Tasche auf meinem Bett ab. Vorsichtig versuchte ich, die Balance zu finden und mich langsam daran zu gewöhnen, wieder Boden unter den Füßen zu spüren. Plötzlich aufrecht zu stehen, machte meinen Kopf ganz schwindelig, und um meine Unsicherheit zu überspielen, wühlte ich in der Tasche nach der Kleidung, die mir Mom mitgebracht hatte. Rosa Stoff blitzte mir entgegen. »Mom, das sind meine alten Kinderklamotten.« Empört hob ich meinen Blick und starrte sie entgeistert an.

»Ich lasse Sie dann mal alleine. Amanda, ich wünsche Ihnen alles Gute.« Der Arzt sah seine Chance gekommen und Hals über Kopf flüchtete er zum nächsten Patienten.

»Das passt schon noch«, erwiderte Mom überzeugt, ihre Wangen färbten sich jedoch verdächtig dunkelrot.

»Das habe ich mit vierzehn getragen«, brauste ich auf und hielt eine grellpinke Leggings anklagend in die Höhe. Ich war mit den Nerven am Ende und fühlte mich wie in einem Albtraum gefangen. Genau genommen der Art von Traum, bei der man durch die Abschlussprüfung rasselte, seinem sechzigjährigen Lehrer am Altar gegenüberstand und die Jugendliebe mit der besten Freundin auf einem Einhorn davonritt. (Optional auch mit einem Pegasus, der dem Sonnenuntergang entgegenflog.) Gerne wäre ich mit einem markerschütternden Schrei aus dem Schlaf erwacht. Am besten gehörten die letzten paar Monate genauso zu diesem schrecklichen Traum. Nur leider lag ich in Wirklichkeit gerade nicht glücklich und zufrieden neben Henry im Bett in unserer New Yorker Luxuswohnung. Das wäre auch zu schön gewesen.

»Ich hatte sonst ja nichts mehr von euch Mädchen zu Hause.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Wie wäre es mit einer Hose und einem T-Shirt von dir gewesen?«, entgegnete ich genervt und verdrehte die Augen. »Ach, ist jetzt auch schon egal. Kannst du einfach die Papiere unterschreiben, dass du die Aufsichtspflicht übernimmst, damit wir hier rauskönnen?« Für einen kurzen Moment erwartete ich noch, sie würde widersprechen. Schlussendlich schüchterte sie mein bitterböser Blick wohl doch zu sehr ein und sie stöckelte auf ihren hochhackigen Schuhen davon. Bei jedem Schritt wippten ihre fein säuberlichen Locken hin und her.

Die blonden Wellen und die himmelblauen Augen mochte ich zwar von ihr geerbt haben, ansonsten unterschieden wir uns allerdings wie Tag und Nacht. Das hatte unser Verhältnis nie einfach gemacht. Unsere Gespräche verliefen meist, als würden wir Radios auf verschiedenen Frequenzen hören, und endeten doch immer wieder im Streit.

Erschöpft seufzte ich auf. Was war das heute nur für ein Tag? Der 16. Mai – eigentlich hätte heute einer der schönsten Tage meines Lebens sein sollen. So sprach man doch vom Hochzeitstag. Stattdessen ging einfach alles schief und nun kam zum krönenden Abschluss das Auftauchen meiner Mutter hinzu. Konnte es noch schlimmer werden? Nun gut, ich sollte es besser nicht beschreien und das Schicksal herausfordern. Als Mom zurückkam, war ich fertig angezogen und einfach nur schlecht gelaunt. Mit den pinken Leggings, dem hellgelben T-Shirt (das mir in meiner Kindheit als Nachthemd gedient hatte) und den Badeschlappen, die genauso gut Jimmy, Moms Freund, gehören konnten, fühlte ich mich wie ein zu groß geratenes Kleinkind. Ich rechnete es den anderen Leuten hoch an, dass bei meinem Anblick niemand zu lachen begann. Vermutlich hatten sie auch nur zu große Angst, da sie mich für eine Entlaufene aus der Psychiatrie einen Stock höher hielten.

»Lass uns gehen«, sagte ich erschöpft und Mom hängte sich die Tasche über die Schulter.

»Darüber reden wir noch. Amanda, ich mache mir wirklich Sorgen um dich!«

»Mama, hör auf.«

»Nicht Mama, hör auf«, entgegnete sie verärgert. »Wäre das Glück nicht auf deiner Seite gewesen, könnte ich jetzt die Beerdigung für mein kleines Mädchen planen«, brachte sie mit erstickter Stimme hervor. Doch ich konnte nur die Augen verdrehen.

So wie ich sie kannte, wäre die Beerdigung ein ganz großartiges Fest geworden. Ich seufzte schwer.

Kapitel 3


Nachdem ich meinen Job verloren hatte, war die große Penthouse-Wohnung in der East Side New Yorks für meine Geldbörse nicht länger erschwinglich gewesen. Zwar hatte Henry die Hochzeit früh genug abgesagt, sodass wir noch die Anzahlung für Location und Catering zurückbekommen hatten (und da er sich nie wieder gemeldet hatte, hatte ich es auch nicht für nötig gehalten, ihm seine Hälfte davon zukommen zu lassen). Dennoch war das keine Dauerlösung und das Geld reichte hinten und vorne nicht. Folglich hatte das Strandhaus meines verstorbenen Vaters in Blue Bay mehr als verlockend geklungen. Kurz entschlossen hatte ich in New York alle Zelte abgebrochen und war an die zwei Flugstunden entfernte Ostküste Floridas gezogen.

Wir nannten es Dads Haus, obwohl wir alle dort gelebt hatten. Mom, Dad, Claire und ich. Da das Strandhaus, seit wir nach Dads Tod weggezogen waren, schon lange leer stand, hatte ich nicht damit gerechnet, so schnell aufzufliegen. Es war das Erbe von meiner Schwester Claire und mir, und für ein paar Sommer hatte Mom es vermietet, doch momentan war es verlassen und somit die perfekte Zuflucht für mich.

»Warum hast du mir nicht gesagt, was los ist?«, fragte Mom und sah mich streng von der Seite an.

Ich saß am Beifahrersitz ihres Mercedes, während wir die Landstraße entlangrauschten. Mittlerweile war es dunkel und einzig die Scheinwerfer erhellten die Umgebung. Natürlich lag die Antwort ihrer Frage auf der Hand. Doch ich wollte sie nicht kränken, weswegen ich nur mit den Schultern zuckte und aus dem Fenster blickte.

Beim Haus angekommen, konnte ich von großem Glück sprechen, einen Reserveschlüssel unter der Fußmatte deponiert zu haben. Da meine Tasche noch irgendwo am Strand lag, wäre ich (um dem Horrortag eins draufzusetzen) auch noch obdachlos gewesen. Oder ich hätte ein Fenster einschlagen müssen, und die Nachbarn, die mich nicht mehr kannten, hätten die Polizei gerufen. So schlimm kam es glücklicherweise dann doch nicht.

»Du brauchst nicht mit hineinkommen«, sagte ich an Mom gewandt, da ich genau wusste, wie ungern sie unser altes Zuhause seit dem Tod meines Vaters betrat.

»Doch natürlich. Ich kann dich schließlich nicht allein lassen. Anweisung des Arztes …«

Die Tatsache, dass sie das nur nicht tat, weil sie mich für selbstmordgefährdet hielt, stand unausgesprochen zwischen uns. Henry war es nicht wert, seinetwegen von einer Brücke zu springen. Doch ich würde sie ohnehin nicht davon überzeugen können.

Wenigstens wusste ich selbst, dass er es nicht wert war, ihm auch nur eine einzige Träne nachzuweinen!

»Wie du meinst.« Mir fehlte die Kraft zu streiten, und unangenehme Kopfschmerzen verfolgten mich, weshalb ich auf die Schmerztabletten ganz sicher nicht zu verzichten gedachte. Auch wenn Mom in einem Anflug ihres mütterlichen Gewissens die verschriebenen Medikamente beinahe nicht mitgenommen hätte, da sie Pharmazeutika für gefährlich hielt.

Man konnte meine Mutter gut als Frau mit einer gespaltenen Persönlichkeit beschreiben. Auf der einen Seite war sie noch die streng konservative Ehefrau und Mutter, wohingegen sie auf der anderen Seite nach ihrer Midlifecrisis mit ihrem jüngeren Freund (einem veganen Hippie-Musiker) durchgebrannt war und von nun an statt Medikamente Sonnenlicht als Therapie bevorzugte.

Meine Eltern hatten sich in Blue Bay kennengelernt, als meine Mutter die Semesterferien hier verbracht hatte. Sie verliebte sich innerhalb kürzester Zeit in den charmanten Michael Jones und die Hochzeit folgte bald.

Der Fischerbetrieb unseres Vaters lief ganz ansehnlich und Mom, die aus gutem Hause kam und der eine steile Karriere als Anwältin offenstand, entschied sich für die Liebe. Sie wurde Hausfrau und kümmerte sich um die Kinder. Aus diesem Lebensabschnitt stammte auch ihr äußeres Erscheinungsbild der klassischen Hausfrau des vorherigen Jahrhunderts. Meine Schwester Claire und ich verbrachten unsere Kindheit im Strandhaus und wuchsen in Blue Bay auf.

Als mein Vater jedoch vor mittlerweile siebzehn Jahren starb und wir das Strandhaus und unsere Heimatstadt hinter uns ließen, änderte sich in Moms Leben und ihrer Einstellung so einiges. Erst nahm sie ihre Arbeit als Anwältin in ihrer Heimatstadt in einer New Yorker Kanzlei wieder auf und kümmerte sich allein um die zwei Kinder. Allerdings zogen Claire und ich schon früh aus, gingen aufs College, und Mom kehrte überraschend nach Blue Bay zurück.

Maßgeblich Schuld daran trug James Price – Jimmy, wie wir ihn alle nannten. Er war der Meinung, Jimmy wäre so schön lässig, und solange wir ihn nicht als DJ Jimmyboy ansprechen mussten, hatte ich kein Problem damit. James – oder Jimmy – war gut zehn Jahre jünger als Mom und löste als Anhänger der Naturheilkunde mit seiner komplett gegenteiligen Lebenseinstellung eine ziemliche Rundumveränderung aus. Daher tendierte Mom oft dazu, so zu entscheiden, wie sie dachte, dass Jimmy es erwarten würde. Tabletten waren somit natürlich ein großes Tabu. Aber solange sie mich nicht für eine Hypnosestunde zu ihm schickte, war ich zufrieden. Jimmy war schon okay, auch wenn ich ihn mir weder als Liebesguru für meine Mutter noch als Stiefvater für mich gewünscht hätte.

Ich knipste die Lichter im Vorraum an und zog die Schuhe aus. Es war verrückt, wie sehr sich diese vier Wände nach zu Hause anfühlten – als wäre ich nie weg gewesen.

»Ich geh schlafen«, teilte ich Mom unumwunden mit einem lang gezogenen Gähnen mit und schlurfte auf die Treppe zu.

In den Jahren, seit wir ausgezogen waren, hatte Mom es nicht über sich gebracht, das Haus zu verkaufen, sodass es inzwischen leer stand. Zwar hatte es kaum noch Ähnlichkeiten mit dem Haus, in welchem ich aufgewachsen war, doch ich sah Mom an, wie sie die Erinnerungen überschwemmten, und ich wollte nicht den Schmerz der Vergangenheit in ihrem Gesicht wahrnehmen. Daher ging ich, ohne mich umzublicken, nach oben.

Der Tod meines Vaters hatte der Familie sehr zugesetzt, und ich wusste, dass Mom es nicht guthieß, dass ich hierher zurückgekehrt war. Aber selbst sie konnte nicht verleugnen, welch gute Wertanlage das Haus war.

Als ich endlich das Schlafzimmer erreichte, ließ ich mich, so wie ich war, in die Kissen des Bettes sinken. Die Augenlider fielen mir zu und augenblicklich glitt ich in einen tiefen Schlaf. Wie nicht anders zu erwarten, füllten blonde Engel mit Dreadlocks und sexy Ärzte meine Träume.


Ich war arbeitslos, hatte keine Termine oder Verpflichtungen. Niemandem wäre aufgefallen, wenn ich den ganzen Tag verschlafen hätte. Doch ein laut trällernder Vogel, der sich offenbar direkt vor meinem Fenster platziert hatte, machte mir einen Strich durch die Rechnung. Da sich der sexy Arzt aus meinem Traum allerdings in Frankensteins Monster verwandelt und mich gefühlt Stunden durch ein Geisterhaus gejagt hatte, war ich dem Vogel recht dankbar.

Ich fühlte mich gerädert, als wäre ich tatsächlich die ganze Nacht gerannt, und so lag ich eine Weile einfach nur da, um meinen Körper daran zu erinnern, dass der Albtraum nicht Wirklichkeit gewesen war. Sobald die Erinnerungen aus dem Traum langsam verblassten, kletterte ich gähnend aus dem Bett. Die Sonne schien grell durch die Fenster und kündigte einen heißen Sommertag an. Mein Kopf schmerzte, und einzig meine trockene Kehle brachte mich dazu, nach unten in die Küche zu schlurfen, um mir ein Glas Wasser zu holen.

Die Holzdielen knarrten unter meinen Füßen, doch ich nahm die vertrauten Geräusche schon gar nicht mehr wirklich wahr.

»Morgen, Schatz!«

»Huch!« Erschrocken griff ich mir an die Brust und verharrte in der Bewegung. Meine Mutter stand im Wohnzimmer und lächelte mir gut gelaunt zu.

»Guten Morgen, Mom«, sagte ich perplex. Nachdem ich die letzten Wochen allein verbracht hatte, war es seltsam, meine Stimme schon so früh am Morgen zu gebrauchen. Ich hatte nicht erwartet, dass sie tatsächlich die Nacht über hiergeblieben war. Obwohl das Haus genügend Gästezimmer hatte, machte es ganz den Anschein, als hätte sie im Wohnzimmer übernachtet. Auf der weißen Ledercouch lag eine Decke ausgebreitet.

»Frühstück steht schon bereit.«

Auf einer Yogamatte, die ich, seit ich wieder hier eingezogen war, kein einziges Mal gesehen hatte, turnte sie inmitten des großen Wohnraums und vollführte irgendeine Verrenkung, die vermutlich einen besonderen Yoganamen hatte. Vielleicht ein Sonnengruß? Wenn ich mir ihre Position aber so ansah, hätte es genauso gut eine Mischung aus einem herabschauenden Hund und einem brüllenden Tiger darstellen können. Nicht, dass ich mich damit auskannte.

Offenbar hatte sie ihre Yogatasche im Auto gehabt, anders konnte ich mir den seltsamen Aufzug in der bunten Sportbekleidung (die vermutlich noch aus den Siebzigern stammte) nicht erklären. Auf der Anrichte standen tatsächlich bereits ein Teller und ein Glas mit Orangensaft. Aber als ich den gigantischen Geschenkkorb danebenstehen sah, verging mir der Appetit.

»Was ist das?«, fragte ich mit Argwohn.

»Ein Präsentkorb«, sprach Mom das Offensichtliche aus.

»Aha«, machte ich und hob die Augenbrauen.

»Es ist ein Geschenk für den Lifeguard, der dich gerettet hat.« Nun erst recht sprachlos nahm ich einen Schluck von meinem Orangensaft.

»Das ist doch sein Job, oder?«, murrte ich, wobei mir Hitze in die Wangen stieg. Nach gestern hatte ich nicht vorgehabt, den Strandabschnitt jemals wieder zu betreten. Nun den Rettungsschwimmer, den ich zu meinem Beschämen als Engel bezeichnet hatte, mit einem überdimensionalen Geschenkkorb zu überfallen, würde die Situation nicht weniger unangenehm machen.

»Amanda.« Mom hob drohend ihren Blick und richtete sich von der Yogamatte auf. »Ich verdanke diesem Mann, dass mein kleines Mädchen noch am Leben ist. Du wirst dort also hingehen.«

Es machte nicht den Anschein, als würde sie Widerspruch akzeptieren, und da ich so oder so meine Tasche wiederfinden musste, entschloss ich mich dazu, ihrem Befehl Folge zu leisten. Es war ohnehin keine schlechte Idee, einen Spaziergang am Meer zu unternehmen. Wenn mich der Weg an den Strandabschnitt führte, wo mein Unfall gestern passiert war, würde das auch keinen großen Unterschied machen. Ganz abgesehen davon, wäre es nur noch peinlicher gewesen, würde Mom an meiner Stelle gehen und mich erst recht wie ein kleines Kindergartenkind erscheinen lassen.

»Aber den ganzen Korb kann ich wirklich nicht mitnehmen.« Anstatt das gesamte Ungetüm mitzuschleppen, öffnete ich das Cellophan seitlich und nahm eine nett verpackte Kekspackung und die Karte heraus. »Hast du etwa für mich unterschrieben?«, fragte ich pikiert.

Das war mal wieder so typisch für sie. Alles musste nach außen perfekt sein. Es war wohl das Erstaunlichste, was mir je untergekommen war, dass sie und Jimmy ein Paar waren. Ihre Persönlichkeiten passten so gar nicht zusammen. Doch bekanntlich zogen sich Gegensätze an, auch wenn mir dieses Phänomen absolut rätselhaft war.

»Mach dich einfach auf den Weg«, wies Mom mich ungerührt an.

Da ich froh war, dass sie ihre Aufsichtspflicht in diesem Moment nicht so ernst nahm, duschte ich schnell und zog mir etwas anderes an. In den pinken Leggings und dem grellgelben T-Shirt wollte ich dem heißen Rettungsschwimmer nämlich wirklich nicht gegenüberstehen.

Kurz darauf trat ich durch die Terrassentür nach draußen und machte mich auf den Weg. Der Arzt hatte gemeint, ich solle mich nicht überanstrengen, aber ich hätte ohnehin nicht mehr länger still sitzen können. Erst recht mit meiner Mutter in der Nähe. Trotz der hoch am Himmel stehenden Sonne war die Hitze noch erträglich. Eine frische Brise spielte mit dem Saum des weißen Kleides, das ich mir übergezogen hatte, und zerzauste meine offenen Haare. Meine blonden Wellen waren zu meinem Leidwesen allerdings von der Sorte, die mich nach einem Tag (sollte ich sie nicht alle paar Stunden frisieren) aussehen ließen, als wäre ich eine heruntergekommene Schiffbrüchige, weshalb ich mir gar nicht erst die Mühe machte, sie zu bändigen zu versuchen.

Der Sand unter meinen nackten Füßen fühlte sich angenehm kühl an und ich genoss den Moment der Ruhe. Das Strandhaus war nur wenige Hundert Meter vom offenen Meer entfernt und keine Menschenseele war weit und breit zu sehen. Gemächlich schlenderte ich am Wasser entlang. Der öffentliche Strand lag ein Stückchen entfernt, und als er in Sicht kam, begann mein Herz in merkwürdiger Nervosität immer schneller zu klopfen. Vermutlich lag es an dem Ort, den ich mit dem fürchterlichen Gefühl, keine Luft zu bekommen, verband. Doch eigentlich konnte ich mich gar nicht wirklich daran erinnern, wie es gewesen war, unter Wasser gefangen zu sein. Dennoch verspürte ich ein beklemmendes Gefühl und mein Magen fuhr Achterbahn. Es war noch früh und der Strand daher recht leer. Ein paar Familien hatten mit Liegestühlen, Sonnenschirmen und Handtüchern ihre Lager für den Tag errichtet. Im Wasser erkannte man vereinzelt Wagemutige, die sich selbst jetzt, wo das Wasser noch recht frisch war, hinaus in die Wellen wagten. Darunter waren ein paar Surfer und eine Frau auf einer orangefarbenen Luftmatratze, die unübersehbar ins Auge stach.

Mit nervös flatterndem Magen ging ich auf den Aussichtspunkt der Lifeguards zu. An der Leiter des Rettungsturms lehnte ein schwarzhaariger Rettungsschwimmer und redete mit seiner blonden Kollegin. Ich erinnerte mich nicht, ihn gestern gesehen zu haben, allerdings erkannte ich in der Blonden diejenige, die den Krankenwagen herbeigerufen hatte. Nun war ich erst recht froh, nicht den gesamten Geschenkkorb mitgenommen zu haben. Der schwarzhaarige Rettungsschwimmer kletterte mit einem Fernglas in der Hand die Leiter hinauf. Meinen ganzen Mut zusammennehmend, überwand ich meinen inneren Angsthasen, um die Rettungsschwimmerin anzusprechen.

»Hallo«, begann ich zaghaft.

»Hi! Wie kann ich dir helfen?« Freundlich musterte sie mich von oben bis unten. Als ihr Blick an den Keksen hängen blieb, erschien ein wissendes Lächeln auf ihren Lippen, und ihre Augenbrauen hoben sich ein Stückchen.

»Ah, dich kenne ich doch. Wie geht es dir?«

»Viel besser. Nochmals vielen Dank!« Mein Lächeln wirkte betreten und ich musste mich sehr beherrschen, nicht verlegen zu Boden zu blicken. »Ich bin auf der Suche nach Cole. Ist er heute hier?«

»Er hat zwar gerade keinen Dienst, aber er ist draußen im Wasser. Die Wellen sind heute gut. Vermutlich dauert es noch eine Weile, bis er wieder herauskommt.«

Meine Augen folgten ihrem Blick und ich begriff, dass er einer der Surfer war, die ich zuvor gesehen hatte.

»Danke, ich werde einfach warten.«

Die Blonde kletterte über die Leiter auf die Plattform hinauf.

»Miles, die Wette habe ich damit wohl gewonnen. Hast du die Kekse gesehen?«, hörte ich sie zu ihrem Kollegen sagen und mir stieg Hitze in die Wangen.

Na und? Dann haben sie eben gewettet

»Amanda?«, rief er und mit wild klopfendem Herz blickte ich auf.

»Amanda, richtig?«, fragte er erneut, als er mich erreichte.

»Sind die für mich?« Mit einem Schmunzeln deutete er auf die Kekspackung und die Karte, die neben mir auf dem Felsen lagen.

»Ich mag eigentlich keinen Zimt, aber danke«, sagte er mit einem überheblichen Grinsen, als er die Kekse entgegennahm.

, war mein erster Gedanke, dann öffnete ich entrüstet den Mund. Was für ein arroganter Mistkerl!

Einen Strandabschnitt mit Rettungsschwimmern, die Geschenke zu schätzen wussten

»Woher wusstest du, welche meine Tasche ist?«, fragte ich irritiert und legte meinen Kopf schief. An dem Tag waren so viele Leute mit ihren Sachen am Strand gewesen. Als hätte er auf genau die Frage gewartet, breitete sich ein verschmitztes Lächeln auf seinem Gesicht aus.