Theresa schreibt ihre Erinnerungen in ein Tagebuch. Das ist alles, was blieb. Sie zahlte einen hohen Preis für ihren Wunsch nach Freiheit. Ihre spontane Flucht allein mit ihren Kindern über die DDR- Grenze im Jahr 1988 büßte sie mit dem Verlust ihres Unterschenkels. Ihr Mann Günther blieb im Osten. Ein Jahr später war die Todeszone Geschichte, die Mauer verschwunden. Mit der Wiedervereinigung finden sich beide in einer fremden Welt wieder. Es ist nicht das, was sie sich vorgestellt hatten. Die Vergangenheit holt sie immer wieder ein Die Bilder in ihrem Kopf verblassen, sie hält Fragmente ihres Lebens fest, bevor der Drache in den Schwanz sich beißt. Ein Tagebuch zweier Welten Ost und West.

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Impressum

Texte: Eva Frieko

Umschlag: Eva Frieko

Books on Demand GmbH

978-3-7519-9140-7

Für meine Kinder :

Sei du nur du

nur du

zart wie eine Blume

stark wie einer Eiche

frei wie ein Vogel

der, wenn es kalt wird

in die Wärme fliegt

aber immer wieder

zurück kehrt

Inhaltsverzeichnis

„Der Drache in den Schwanz sich beißt, …Mama, ich weiß etwas was du nicht weißt“

Die kleine sechsjährige Leonore, die Lena gerufen wird, summt immer wieder diesen Reim und blickt dabei geheimnisvoll drein.

Auf Drängen der Mutter verrät sie am 17. Juni 1988 ihr Geheimnis. Sie hat gehorcht und ein Gespräch ihres Vaters mit seinem Vorgesetzten belauscht.

Er befahl den Grenz-Zaun unter strengster Geheimhaltung zu reparieren, sodass diese Schwachstelle nicht bekannt würde.

Eine Rotte Wildschweine hatte ein tiefes Loch unter den Stacheldraht gegraben und ein Teil des Hochsicherheitszaunes wurde dadurch ein offenes Tor zum Westen. Theresa reagiert unüberlegt auf dieses Wissen .Sie packt einige Dokumente und flieht im Schutze der Nacht mit den Kindern Lena und Karsten nach West-Deutschland. Als sie unbemerkt und unversehrt über die Grenze gekrochen waren, tritt in ihrer Nähe ein Wildschwein auf eine vergessene Land-Mine.

Das offene Tor zur Freiheit wird zum Höllentor….

Theresa Mertens :Gedankenspiele…

5. August 2018

Obwohl eine Veränderung immer was positiv Erfrischendes hat, so lässt man doch ein Stück Leben hinter sich. Man überlegt, was ist wert in die neue Umgebung mitgenommen zu werden?

Von welchen Dingen sollte man sich für immer trennen? Sie haben es erraten, es handelt von einem Umzug in eine andere Stadt. Der Möbelwagen hat den größten Teil der schweren Kartons und Kästen schon weggebracht. Ich sitze im einzigen Lehnstuhl, der ausgemustert wurde weil er leicht beschädigt ist und lese in meinen Tagebuch-Eintragungen. Zufällig habe ich einige Aufzeichnungen wieder gefunden.

Seltsamerweise befand sich das Heft in der Küche inmitten eines Stapels von Kochrezepten, die ich aufschrieb, aber nie ausprobierte. Wenn ich in einem Magazin oder im TV neue Rezepte sehe, sammle ich sie, um sie anschließend, wie ich zu meinem Bedauern feststelle zu vergessen. Wie so vieles wollte ich mich auch an einen Abschnitt meines Lebens bewusst oder unbewusst nicht mehr erinnern.

Meine Kinder Lena und Karsten glauben, es sei Demenz und organisierten sogar eine Betreuungs-Person für mich. War das richtig? Zuviel Fürsorge kann sich rasch in eine Form von Abhängigkeit entwickeln. Zum Glück haben sie das rechtzeitig erkannt und lassen mich mit ihren Ängsten um meine Person in Ruhe. Sie halfen mir sogar beim Packen und sind auch einverstanden, dass mein neuer Wohnort 150 km von ihrer Stadt entfernt liegt.

Tagebuch-Eintragung vom 20. Juli 2014

Der unsichtbare Fluss der Liebe befreit den Menschen und lässt sein Leid ertragen.

Ich kenne wohl den Ursprung dieses Kraftfeldes, jedoch finde ich keinen Trost darin.

Ein dumpfer Kanonendonner hinter den Bergen.

Gelbschwarze Gewitterwolken warnen beständig, obwohl ihre Blitze noch weit entfernt sind. Ihr Leuchten kratzt in den Himmel bedrohliche Zacken. Mein Blick fällt auf eine Blume, die nackt und tot am Boden liegt. Längst sind die welken Blätter in den Staub gefallen. Das Kleid klebt schweißnass auf der Haut, die Hitze frisst den Atem. Der Lack ist an manchen Stellen der Haustür abgeblättert. Wunde Stellen mahnen vorwurfsvoll nach Farbe. Ich sehe es und sehe zu wie der Zahn der Zeit an meiner Haustür nagt.

Plötzlich: ein Donnerschlag! Wassermassen strömen vom Himmel wie vor langer Gefangenschaft befreit. Es blitzt und kracht, die Dachrinne läuft über, zu viel Wasser kann sie nicht ableiten. Sicher wird der Keller wieder überflutet sein und der modrige Geruch erinnert wochenlang an diesen Tag.

Früher sagte ich immer, später, ja später mache ich dies oder das. Zum Beispiel: Später erkunde ich die Welt und besteige sogar die Pyramiden oder ich wandere allein über alle Berge, wohin, man wird sehen wohin der Wind mich treibt. Erst müsste ich den Grenz-Zaun überwinden. Das Tor zur Freiheit schien mir so herrlich wie ein Himmelstor.

Heute ist später und ich zittere ängstlich unter einem schützenden Hausdach und warte und hoffe auf das Ende des Gewitters und bin froh, im Trockenen zu sein. Ist hier mein Ziel, das Ende der Welt? Feigheit, Bequemlichkeit welche dieser Tugenden hat Schuld an zerflossenen Träumen? Ich springe heute über meinen Schatten, öffne vorsichtig die Haustür, zucke nach einem Blitz und Donnerschlag zurück.

Mein Bein schmerzt, doch das ist einerlei, ich besiege meine Furcht und wage einem mutigen Schritt nach draußen.

Die Gassen sind leer, das Wasser fließt in Bächen über den Rinnstein, das Gewitter hat sich verzogen. Zurück bleibt warmer Sommer-Regen der meinen Körper und die Tränen wäscht. Ich humple zurück ins Haus und ziehe trockene Kleider an, meine Augen sind weiter auf die Straße gerichtet. Die Rückseite des Hauses gegenüber der Straße steht fensterlos wie eine Mauer da. Genauso als ob die Nachbarn beim Bau des Hauses dem Gegenüber beleidigt den Rücken gezeigt hätten. Bisher hatte ich das nie beachtet. Ich war gefangen im eigenen Spinnennetz meiner Gedanken. Plötzlich die Erkenntnis: Ich schaue und lerne: Sogar die Haustür mit Lackschäden lerne ich zu lieben, genauso wie die knorrigen Holzböden und die winzigen Räume. Eigentlich ist es ein Puppenhaus aus alter Zeit. Es ist das vertraute Gefühl von Heimat.

Die Wechselfälle des Daseins, die Stürme der Zeit und deren Untergänge warfen mich jahrelang hin und her, bis ich an diesem Orte hoffe, vielleicht sogar meinen Frieden zu finden.

Schließlich aber, nachdem all die Augenblicke in Schweigen dahingegangen waren, schwemmte dieses Sommergewitter alles was bisher im Dunkel war, fort. Die Erinnerung nimmt Form und Gestalt an. Anfangs bleich und schemenhaft, bis alles deutlich und schmerzlich sich in die Gegenwart drängt. Ich will diese Gedanken an diese Zeit verdrängen, aber ich weiß ich kann nicht mehr fliehen.

Ich schließe die Haustür ab, fühle mit meinem nackten Fuß das Holz der Dielen, den anderen gibt es nicht mehr, nur eine Prothese ohne Gefühl. Ich streiche mit der Hand über den Schrank um Staub zu finden und sehe in der Ecke den vertrockneten Hochzeits-Rosenstrauß meiner Lena. Die rosa Blümchen sind verblasst. Es sieht bizarr und wie steifgefroren aus, mit den Jahren geschrumpft. Auf der Papier-Serviette in der er gewickelt war, ist in verschnörkelter Schrift 15. Juni 2008 zu lesen.

Wie begann dieser Juni-Tag im Jahr 2008? weshalb habe ich diesen Blumenstrauß aufgehoben? Die Erinnerung kommt schemenhaft zurück. Ich sitze jetzt in einem Lehnstuhl und lasse mich ein in diese Stunde vor dieser Zeit von heute. Zögernd gestatte ich mir einen Blick zurück. Vor langer Zeit beschloss ich, nicht mehr an die Vergangenheit zu denken, sondern nur an den Augenblick von hier und heute. Jedoch das Jahr 2008 drängt so stark, ich kann nicht anders, ich erinnere mich deshalb sofort wieder an das Jahr 1988. Allerdings, was gestern war, will ich heute nicht mehr wissen Es hat keine Wichtigkeit in meinem Dasein. Ich schreibe alles auf, sobald die Erinnerung es zulässt.

Sorgfältig mit klarer Schrift male ich für mich wichtige Daten auf ein weißes Blatt Papier.

Meine Gedanken und Bilder an früher beschlossen, sich langsam zu zurück zu ziehen, zu vertrocknen. Es tut nicht weh, nur ab und zu, wenn ich meine wachen Momente habe, wie jetzt, schmerzt es. Ich erinnere mich deutlich an Erlebnisse vor fünfundzwanzig Jahren. Jedoch was ich in der Vorwoche gesagt und getan habe, ist ein weißes Nichts. Wahrscheinlich war das Erlebnis der Vorwoche nicht wichtig genug, um noch einen Gedanken daran zu verschwenden.

Schöne Erinnerungen gibt es wenige, trotzdem sind sie von Wert, denn sie sind und waren mein Leben.

Seit mich diese Frau Sommer wöchentlich besucht und mir gewisse Medikamente verabreicht, die ich nicht schlucken will, hat das Leben an Bedeutsamkeit verloren. Wo bleibt meine Freiheit, wenn andere bestimmen, was zu tun ist? Meine erwachsenen Kinder wollen das Beste für mich, was ist besser?

Heute schreibe ich Erinnerungen an den der Hochzeitstag unserer Tochter Lena, also kommt als Überschrift:

Hochzeit von Tochter Lena

15.. Juni 2008

„Bitte, alle Damen, stellt Euch auf die Seite, die Braut wirft gleich ihren Brautstrauß, wer möchte gerne die Nächste sein?“

Karsten, der ältere Bruder von Lena, delegierte die weiblichen jungen Gäste zum freien Platz vor der Kirche. Die Hochzeit seiner Schwester wurde von ihm so perfekt organisiert, wie er es auch sonst beruflich tat. Er managte Kongresse, Gipfeltreffen usw. Lena, seit einer halben Stunde Frau Lena Schneider war eine wunderschöne Braut. Ihr weißes Seidenkleid umschmeichelte ihre Figur, der Tüllschleier reichte bis zum Saum ihres bodenlangen Kleides. Sie strahlte mit ihren bernsteinfarbigen Augen ihren Bräutigam an, als sie aus der Kirche trat. Beide blieben am Podest stehen, bereit für ein Hochzeitsbild.

Wir, die Braut- und Bräutigam-Eltern müssen uns dann daneben stellen. Ich erinnere mich, dass ich dachte: „Hoffentlich sind meine Augen nicht schwarz und tränenverschmiert vor lauter Rührung.“

Die übrigen Gäste warteten vor der Kirche. nachdem das Familien-Foto-Procedere erledigt war, stellte ich mich ein wenig abseits der Gesellschaft. Ich würde selber auch ein paar Erinnerungsbilder mit meinem Foto-Apparat anfertigen. Als die Anweisung von Karsten, meines Sohnes kam, die ledigen Damen sollten sich für den Braut-Strauß-Fang bereitstellen, gehe ich noch weiter auf die Seite um Abstand zu halten. Ich wollte diesen Wurf mit einem Schnappschuss festhalten. Die Legende besagt, diejenige die den Strauß fängt, ist die nächste Braut. So standen alle ledigen weiblichen Gäste aufgeregt in Erwartung.

Ein allgemeines „ein zwei drei- Jetzt!“ folgte und der zarte Rosenstrauß flog durch die Luft. Ich hielt die Kamera hoch, freute mich auf ein Foto, da flog der Strauß direkt auf meine Nase zu.

Reflexartig fing ich ihn auf und stand verdattert da. Die Mädchen blickten mich neidvoll an und ich murmelte:

„ Entschuldigung. Ich wollte ihn nicht fangen, ich bin doch schon verheiratet.“

Karsten kam lachend auf mich zugelaufen: „Na, Mama, du warst wieder einmal schneller als alle anderen.“

Alle lachten.

Aber nur ich wusste, was er damit gemeint hatte. Ich war im Jahr 1988 mit meinen Kindern über die Grenze geflüchtet. Ein Jahr später spazierten tausende DDR Bürger gemütlich durch die geöffneten Grenzbalken, ich war zwar schneller als alle anderen, doch ich zahlte dafür auch einen hohen Preis.

Die Hochzeitstafel war reich geschmückt, wir waren etwa sechzig Gäste. Ich saß mit meinem Mann Günther seitlich von den Brautleuten. So konnte ich mit Lena auch sprechen. Karsten hatte wirklich alles bestens organisiert. Hochzeiten auszurichten brachten ihm schon am Anfang seiner Karriere viel Erfolg. Im Vorjahr war der Höhepunkt ein Auftrag mit tausend Gästen. Das war eine Hochzeit in Brunei, er zeigte uns nachher Video-Aufnahmen davon. Ein Märchen aus Tausend und einer Nacht. Doch für uns war heute der Tag einer der schönsten. Meine kleine Lena wirkte so glücklich und ich war es auch. Ihr Mann war eine gute Wahl, davon bin ich überzeugt. Johannes Schneider, ein tüchtiger Architekt, der seine Frau liebte, das sah man. Der Bräutigam-Vater hielt eine Ansprache auf das Wohl des Brautpaares, der Brautvater begnügte sich mit den Worten: „Werdet glücklich und schenkt uns viele Enkel.“

Nach dem offiziellen Teil wurde getrunken und gegessen. Das mehrgängige Menü bot für jeden Geschmack etwas, zum Beispiel Rinderbraten mit Kartoffel-Kroketten, oder für Vegetarier Gemüse in allen Variationen, auch an Fischliebhaber dachte man. Es war exzellent, und trotzdem bodenständig.

Die Gäste waren satt und zufrieden, und es wurde Zeit für etwas Stimmung. Eine Musik-Band, die für Schlager-Musik bekannt war, begann zu spielen und mit einem schwungvollen Walzer eröffnete das Brautpaar die Tanzfläche mit ihrem ersten Tanz. Ich schaute ihnen begeistert zu.

„Mama, wenn sie einen langsamen Blues spielen, magst du mit mir tanzen?“ Karsten hatte sich zu uns gesetzt und wahrscheinlich meinen sehnsüchtigen Blick zur Tanzfläche gesehen.

„Das ist sehr lieb von dir, Karsten, aber du fragst diesbezüglich besser deine Frau, du weißt doch dass es mich zu sehr anstrengt. Übrigens, ich will dir gratulieren und danken, dass du diese Hochzeit für unsere Familie so prachtvoll ausgerichtet hast.“ Er lachte und blickte mich spitzbübisch an: „Na, vielleicht überlege ich es mir doch noch, denn meine Honorar-Rechnungen müssen immer die Braut-Eltern bezahlen, das wird teuer.“

„Untersteh, dich! Sagtest du nicht, dieses Fest sei dein Hochzeitsgeschenk an deine Schwester?“

Er lachte wieder: „Mama, du musst aber alles gleich für bare Münze nehmen.“ Während unseres Geplänkels saß Günther, der Vater unserer gemeinsamen Kinder Karsten und Lena neben uns ohne ein Wort zu sprechen. Er hielt sich an seinem Bierglas fest und blickte auf die Tanzfläche ins Leere. „Nein, ich will mir diesen schönen Tag nicht verderben lassen, “ sprach ich zu mir selber, „heute denke ich nur an mich und kümmere mich nicht um Günther und seinen Weltschmerz.“

Bei diesen Gedanken blickte ich mich um und entdeckte nirgendwo meinen Mann Günther. Er hatte sich unbemerkt entfernt .Während meines Geplänkels mit Karsten, hatte er sich davongestohlen. Wahrscheinlich führte sein Weg zur Bar um sich ein Bier zu holen. Später erzählte er, dass er zur Toilette ging um sich zu erleichtern. Die unheimliche Begegnung die Günther am WC hatte, erzählte er mir irgendwann Jahre später. Erst als ich diese schreckliche Wahrheit erfuhr, wurden für mich sein Verhalten und seine Flucht in den Alkohol erklärbar. Seine eigene Vergangenheit, die unerschütterliche Loyalität zu Partei und Vaterland, dafür zahlte er einen hohen Preis An diesem Abend jedoch, schwieg er darüber. Hätte er nur mit mir darüber gesprochen.

Günther Mertens Eine unheimliche
Begegnung