Leora Stahl, Mutter zweier erwachsener Söhne (21 und 24 Jahre), von denen der Ältere vom Asperger-Autismus betroffen ist, gelernte Speditionskauffrau, ist freiberuflich als Nachhilfelehrerin tätig.
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ISBN 978-3-497-02972-3 (Print)
ISBN 978-3-497-61355-7 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-497-61356-4 (EPUB)
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Inhalt
Einleitung
Wie alles begann
Einmal am Tag zur Schule reicht
Sind die neu?
Man erkennt doch alles!
Wer braucht schon einen Verband?
Klavierkonzerte
Saubermachen mal anders
Daran hab ich gar nicht gedacht
Millionärsgattin
Heiteres Beruferaten
Jackett und Gartenschlappen
Mit viel Liebe zum Detail
Das Essen ist fertig. Super!
In der Kürze liegt nicht immer die Würze
Mama, glaub ihr kein Wort!
Hellsehen können wäre praktisch
Da, wo die Uhr ist
Kernkompetenz Zugfahren
In und um die Bäckerei
Der schnellste Rechts-links-Gucker der Welt
Baustelle im Badezimmer
Kennst du einen, kennst du einen
Einleitung
Herzlichen Dank erst einmal für das Interesse an meinem Buch zum Thema Asperger-Autismus und an den sehr persönlichen Geschichten und Begebenheiten, die das Leben mit unserem autistischen Sohn mit sich bringt.
Ich habe vor einiger Zeit meinen 51. Geburtstag gefeiert und bin Mutter zweier Söhne, beide volljährig. Simon ist aktuell dreiundzwanzig Jahre, Benedikt drei Jahre jünger. Der vermeintlich ältere Simon – und Protagonist dieses Buches – hat vor sieben Jahren noch einmal die Diagnose Asperger-Autismus bestätigt bekommen. Als er sieben war, wurde erstmals vorsichtig in diese Richtung diagnostiziert. Mein Mann und ich hatten seinerzeit fälschlicherweise – und im Nachhinein betrachtet mit einem Übermaß an Optimismus – angenommen, dass wir mit ein klein wenig psychologischer Unterstützung, Geduld und Enthusiasmus das Kind schon schaukeln würden. Ob es Naivität oder grenzenlose Selbstüberschätzung war, kann ich nicht mehr nachvollziehen. Im Rahmen der elterlichen Liebe zum eigenen Kind gehe ich stark davon aus, dass unser Blick auf die Situation und die uns erwartenden Schwierigkeiten mächtig getrübt war. Einfach ist nämlich anders!
Darum habe ich mich zum Schreiben dieses Buches entschieden: Ich weiß selbst, wie schwierig und nervenraubend die Unterstützung von und das Zusammenleben mit einem Asperger-Kind mitunter sein kann. Dass zeitweise Zweifel aufkommen, auch an sich selbst, man sich ab und an traurig und hilflos fühlt. Zusätzlich sind die Reaktionen des Umfelds nicht immer motivierend, geschweige denn hilfreich. Abgesehen davon hatte ich oft das Gefühl, mich anderen gegenüber rechtfertigen zu müssen, sowohl für das Verhalten von Simon als auch für mich, unsere Familienstruktur und meine Familie im Allgemeinen.
Es ist schade, dass die Gesellschaft Anderssein in der Regel negativ bewertet. Dies verursacht bei den betroffenen Personen und deren Familien unnötigen und zusätzlichen Stress. Davon haben wir zur Genüge – alleine mit der ganz normalen Alltagsbewältigung. Mehrbelastungen können dafür sorgen, dass die für den autistischen Menschen elementaren Bezugspersonen angespannt sind und unter Druck stehen. Und das sollten sie nicht sein, um mit Ruhe das nötige Maß an Sicherheit, Stabilität, Verlässlichkeit und Vertrauen geben zu können.
Je weiter und tiefer ich in die Thematik eintauche, umso mehr zeigen sich mir Parallelen zu anderen betroffenen Personen und Familien. Das zieht sich über Kindergarten und Schule bis ins Arbeitsleben, wo wir aktuell angekommen sind. Jeder weitere Schritt von Simon ins Leben und in die Gesellschaft birgt neue Herausforderungen und Missverständnisse.
Davon handelt mein Buch. Nicht in desillusionierender Form. Vielmehr ist es mir enorm wichtig, das Ganze – die komplexe Problematik, die Situationen, die Reaktionen und das gesamte Drumherum – auf humorvolle Weise zu erzählen und zu reflektieren. Es ist mir eine Herzensangelegenheit, den Fokus auf den besonderen Charme zu legen, den diese Menschen mit sich bringen. Ich spreche hier natürlich persönlich und beispielhaft von meinem Sohn. Mit welch großem Maß an Unbekümmertheit und mit was für einem anderen Blick auf die Dinge er eine Situation betrachten und angehen kann. Wie viele missverständliche Situationen unser gesellschaftliches Miteinander, das Leben und die Sprache mit sich bringen.
Auch wenn im Umgang mit Simon Ruhe und Besonnenheit angezeigt sind, weiß ich, dass in jeder x-beliebigen, stressigen Situation auch mein Puls raketenartig in die Höhe schnellen kann – und es mitunter auch tut. In diesen Momenten kostet es immens Kraft, mich zu beherrschen und die Kontrolle über mich und die Umstände zu behalten. Wenn alles vorbei ist, die Wogen sich geglättet haben und der Untergang der Titanic verhindert werden konnte oder sie auch nur stabilisiert wurde (man ist ja auch mit Kleinigkeiten zufrieden), versuche ich immer, alles noch einmal in Ruhe von außen zu betrachten. Das Erstaunliche ist, dass ich nachträglich viele lustige, humorvolle Szenen bemerke. Oft kann ich dann zumindest schmunzeln, ab und an auch herzhaft (und erleichtert) darüber lachen. Auf gar keinen Fall bedeutet dies, dass ich Simon dafür auslache, was oder wie etwas gelaufen ist. Es ist vielmehr reflektierend ein entspannter Blick auf die vertrackten Gesamtumstände.
Mir hilft diese Vorgehensweise ungemein. Diese generell entspanntere Stimmung und vermehrte Ruhe im Umgang miteinander kommen auch Simon sehr entgegen und zugute. Denn: Stimmungen zu erkennen und wahrzunehmen, ist ein großes Thema bei einem Asperger-Autisten.
Dieses Buch ist meine persönliche Art der Verarbeitung und mir ist es ein Anliegen, anderen Eltern und Familienangehörigen Mut zu machen: Ihr seid nicht alleine! Und hoffnungslos ist es auch nicht – nur eben schwierig – und diesen Satz schreibe ich mit einem kleinen Lächeln im Gesicht. Die Schwierigkeiten sind zu meistern. Irgendwie.
Vielleicht kann ich manches Schmunzeln hervorrufen, vielleicht atmet mancher erleichtert auf. Auch möchte ich durch meine offene Erzählweise und die vielen Beispiele mehr Verständnis erwirken: in erster Linie für die betroffenen Asperger-Autisten, aber auch für ihre Angehörigen.
Ich hinterfrage gerne auch mich betreffende Dinge und Verhaltensweisen kritisch. Simon bringt mich in dieser Hinsicht öfter zum Nachdenken, wenn auch von seiner Seite her sicherlich völlig unbewusst.
Ganz wichtig ist es mir aufzuzeigen, wie liebenswert unsere „Aspies“ sind. Auch wenn immer behauptet wird, dass Autisten keine Emotionen hätten, entgegne ich, dass diese einfach nicht unseren Emotionen entsprechen beziehungsweise unserem Verständnis und unseren Erwartungen an Emotionen. Außerdem ist Simon von Grund auf ehrlich und natürlich sowie treu und loyal – beinahe unerschütterlich treu und loyal. Dies scheint eine grundsätzliche Eigenschaft vieler Autisten zu sein. Was für ein edler Charakterzug! Davon könnte sich mancher von uns Nicht-Autisten eine große Scheibe abschneiden.
Wie stolz war und bin ich noch immer, wenn Simon sich alleine an eine für ihn schwierige Situation herantraut und diese mit Hilfe seiner mühsam erlernten Methoden eigenständig meistert! Und wie häufig überrascht er mich im Nachhinein mit der ihm eigenen Art, wie er die sich daraus ergebende neue und ihm unbekannte Folgesituation interpretiert und angeht. Seine Lösung ist gerne eher unkonventionell. Je weiter Simon in die Gesellschaft eintaucht und je mehr Sicherheit er im Umgang damit erlebt, umso mehr neue und unerwartete Momente tauchen auf. Dies ist ein Grund, warum wir oft etwas erst im Nachhinein (er)klären können. Manche Geschichten wurzeln exakt in diesem unvorbereiteten Angehen und Verständnis seitens meines Sohnes. Meine Erklärungen dazu basieren weder auf medizinischem noch fachlich-therapeutischem Wissen. Ich habe mich lediglich über Jahre eingehend und gewissenhaft mit der Thematik auseinandergesetzt, mir viel privates Wissen angeeignet und reichlich Erfahrung im Zusammenleben sowie bei Therapien gesammelt – inklusive diverser lehrreicher Rückschläge. Selbstverständlich bin ich emotional eingebunden, ich bin nun einmal Simons Mutter. Dennoch, bei aller Schwierigkeit, die diese Behinderung mit sich bringt: Ich finde ihn und seine Art großartig und absolut liebenswert!
Aus Erfahrung kann ich sagen, dass es auch Simon die Sache deutlich erleichtert, seit ich alles entspannter und humorvoller nehme. Diese Erzählweise und der offene Einblick hinter die sonst oftmals verschlossenen Türen machen hoffentlich den Zugang für Außenstehende leichter, die etwas versteckte Liebenswürdigkeit der Asperger-Autisten zu entdecken.
Ich bitte all jene, die auf eine differenzierte Begrifflichkeit achten, um Verständnis, dass ich – auch in diesem Buch – mit den Begriffen „Autist“, „autistisch“ etc. recht locker umgehe. Es soll sich freilich niemand diskriminiert fühlen, weil ich nicht immer Bezeichnungen wie „Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen“ oder „Mensch mit Asperger-Syndrom“ verwende.
Viel Spaß beim Lesen!
Wie alles begann
Auffällig war Simon von Anfang an. Bereits kurz nach der Entbindung entließ uns der Chefarzt mit den Worten: „Mit Ihrem Sohn werden Sie noch viel Freude haben.“ Erst im Rückblick wird klar, wie zweideutig das zu verstehen war.
Simon schrie unentwegt, ließ sich auch nicht stillen. Füttern ging nur mit Flasche und nur, wenn wir den Körperkontakt auf ein Mindestmaß beschränkten. Nahm man ihn auf den Arm, geschah genau das Gegenteil von Beruhigung. Schon früh zeichnete sich ab, dass Simon nicht gerne spielte. Die Schwierigkeit für ihn lag – und liegt bis heute – darin, dass er sich nicht zu beschäftigen weiß. Er hat keine Idee, wie er freie Zeit füllen kann. Wenn überhaupt, spielte Simon als Kind mit Autos. Genauer gesagt, montierte er sie auseinander.
Dagegen war er sehr sprachgewandt. Auch seinerzeit nur bei Themen, die ihn begeisterten – und das waren wenige. Dafür redete er aber seither in seinen Fachgebieten umso intensiver, allerdings nur mit ausgewählten Personen: mit mir, mit seinen beiden engsten Freunden und den Omas. Das war‘s. Sprach ihn jemand an, antwortete Simon zwar, aber meistens über mich als Vermittlerin. Wenn keine seiner Vertrauenspersonen anwesend war, war auch Simon nicht anwesend. Stattdessen suchte er draußen Stöcke, Blätter oder Insekten. Auch aus dem Kindergarten brachte er täglich Natur-Fundstücke mit nach Hause. Jedes Blättchen war wichtig. Ansonsten war Simon im Kindergarten unauffällig, da er dort permanent alleine im Außenbereich zu finden war. Wetterunabhängig. Hauptsache ungestört. Der Garten war ein Wohlfühlparadies für ihn, groß und gepflegt, dabei sehr natürlich.
Die Grundschule war ein Drama. Anders kann ich es nicht bezeichnen. Und das lag nicht an Simons Lehrerin. Sie war hervorragend und half uns, wo sie nur konnte. Doch bereits in der zweiten Klasse verweigerte Simon den Schulbesuch. Er war einfach krank. Wie übrigens heute immer noch, wenn er Stress, Angst oder Durcheinander verspürt, mit den exakt gleichen Symptomen wie seinerzeit.
Bereits in diesen jungen Jahren haben wir uns nicht mehr zu helfen gewusst, denn es existiert – eigentlich glücklicherweise – Schulpflicht in Deutschland. Simon war offensichtlich grundsätzlich anders und handelte anders als die anderen Kinder im Umfeld. Daher haben wir Rat und Hilfe in einer Uniklinik gesucht. Auf der hiesigen kinderpsychiatrischen Station waren mein sieben Jahre junger Simon und ich drei Monate lang. Erst gemeinsam stationär, dann Simon alleine in der Tagesklinik. Die Angst vor der Schule bestand bis zum Schluss seiner Schulkarriere. Mit erlernten Strategien, Ruhe im außerschulischen Ablauf und viel Verständnis durch die Lehrkräfte hat Simon es bis zum Fachabitur geschafft. Puh! Ein autistisches Kind bringt man nicht mal so eben durch die Schulzeit. Und für Simon selbst war es ein unglaublicher Kraftakt, aber das haben wir erst im Nachhinein festgestellt. Mit dem Fachabitur brach Simons schulischer Leidensdruck auch nach außen aus ihm heraus. Er war mehrere Monate lang krank. Nichts ging mehr. Und wir zogen von jetzt auf gleich die Reißleine.
Noch im Nachhinein betrachtet tut es mir unglaublich leid, dass Simon so lange in unserem Schulsystem durchgehalten hat. Das Ausmaß seines Leidensdrucks war nach der Grundschule für uns nicht erkennbar. Simon konnte es nicht in Worte fassen. Er hat keine Bezeichnung oder eventuell auch nicht das Gefühl für das, was in ihm über all die Jahre los war und was Schule mit ihm gemacht hat. Sagte er selbst einmal etwas dazu, war seine Wahrnehmung und damit auch seine Benennung der Gefühlslage definitiv anders, als man es erwarten würde. Dadurch hatten wir keine Chance, es richtig zu interpretieren und einzuordnen. Ein Teufelskreis, den wir letzten Endes durchbrechen konnten. Dies jedoch war einem Zufall geschuldet – einem glücklichen! Es waren die richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort.
Auch außerhalb der Schule tat Simon sich seit jeher schwer. Er war nie kontaktfreudig, kommunikativ sowieso nicht. Doch er hatte zwei richtig gute Freunde. Diese waren ein fester Bestandteil seines Lebens. Simon war und ist eine treue Seele, ehrlich und loyal. Für seine Freunde tat Simon alles – nicht aber für seinen Bruder. Benedikt hatte es – ich darf das heute so sagen – alles andere als leicht mit seinem autistischen Bruder, der nicht einmal direkt mit ihm sprach. Empathie bei Simon – Fehlanzeige! Heutzutage hat sich das Blatt dank therapeutischer Unterstützung komplett gewendet. Sie verstehen sich blendend. Benedikt weiß ihn zu nehmen und lässt sich auf seine spezielle Art ein – mitunter kopfschüttelnd, aber stets liebevoll brüderlich. Bei uns haben sich die Rollen von älterem und jüngerem Bruder zwangsläufig bereits vor Jahren umgekehrt. Benedikt ist auf jeden Fall nicht nachtragend, das hat er eindeutig bewiesen.
Außerdem liebt Simon Tiere. Er liebt sie nur etwas anders, als wir uns das vorstellen. Fürsorge und Rücksicht sind grundsätzlich nicht Simons hervorstechendste Eigenschaften. Davon wusste unser Hund ein Liedchen zu singen. Welcher Hund interpretiert es schon als Liebesbeweis, wenn er Leckerlies auf seinem Kopf festgebunden bekommt und damit herumlaufen muss, ohne die geringste Chance, sie zu verspeisen? Und wie soll der Hund ahnen, dass Simon sich vorgenommen hat, ihm diese Köstlichkeit in genau dreizehn Minuten zu geben? In seinen Augen musste das Tier wissen, dass es sich nur noch um Minuten des Wartens handelt, die Vorfreude sozusagen genießen. Auf der anderen Seite war Simon der geduldigste Hundestreichler, den man sich vorstellen kann. Er ist ein haptischer Mensch, und Tiere zu streicheln beruhigt ihn ungemein.
Außerdem war Sport ein wichtiger Bestandteil von Simons Kindheit. Er musste sich immer bewegen und auspowern. Nur mochte er keine Sportarten, bei denen auch andere in der Sporthalle waren. Körperkontakt kam nicht infrage. Höher, schneller, weiter dagegen war immer schon Simons Ding. Nur die Gefahreneinschätzung war ein Problem – und ist es noch. Simon entdeckte also unter anderem die Sportart Parkour für sich, zumal auch die Schule dies als AG anbot. Das war ganz nach Simons Gusto. Und nach meinem Gusto war, dass im Rahmen der Schulveranstaltungen Trainer ein Auge auf meinen waghalsigen Sportler hatten.
Dann die Musik, selber machen oder laut hören. Beides liebt er. Und auch dies bietet Nischen, in denen Simon für sich sein kann und seinen Gefühlen Ausdruck verleiht. Nur einen Musiklehrer konnte er nicht gut an seiner Seite ertragen. Seitdem er das nötige Basiswissen vermittelt bekommen hat, ist er autodidaktisch unterwegs. Das geht super – auch, weil Simon unbedingt will. Sein Klavier ist für ihn seit Jahren sehr wichtig. Wer ihn gut kennt, kann sogar anhand der Art des Spielens und der Musikstücke seine Verfassung erkennen. Diese in Worte zu fassen, fällt Simon nach wie vor schwer.
Als Simon mit knapp sieben Jahren im Rahmen der Schulverweigerung seine erste, vorsichtige Diagnose gestellt bekam, war Asperger-Autismus nicht wirklich bekannt, die Gesellschaft noch weniger darauf eingestellt als heute. Leicht war es weder für Simon noch für uns, aber es ist irgendwie gegangen. Simon sagt rückblickend immer noch, dass er eine tolle Kindheit hatte und ausschließlich schöne Erinnerungen. Ich vermute, alles Holprige und Stolprige hat er ausgeblendet.
Entsprechende therapeutische Unterstützung hat man uns erst viel später angeboten, als wir mit sechzehn Jahren die Diagnose Autismus erneut haben bestätigen lassen. Vorher war uns nicht bewusst, dass es autismusspezifische Therapien überhaupt gibt. Heute ist ein Leben ohne diese Hilfe für uns undenkbar. Auch von Schulassistenz oder Ähnlichem war zu seiner Zeit nie die Rede. Das hätte sicherlich vieles einfacher gemacht und Simon viel Leid erspart.
Doch es ist, wie es ist – und Simon hatte für sich eine schöne Kindheit. Nur etwas anders, eben etwas autistischer.
Einmal am Tag zur Schule reicht
Vor einigen Jahren trafen wir die sehr spontane Entscheidung, Simons Schullaufbahn für beendet zu erklären. Heute ist er bereits seit mehreren Jahren in einem kleinen, privaten Antiquariat angestellt. Die Suche nach einem auf Simons spezielle Bedürfnisse angepassten beziehungsweise für ihn realisierbaren Arbeitsplatz war überaus langwierig und mit vielen Hürden versehen. Da Simon bei Weitem nicht imstande ist, einen normalen Arbeitsalltag zu bestreiten, hat er weder eine Fünftagewoche noch einen Achtstundentag. Mit seinem geförderten Arbeitsplatz und dem vertraglich zu erledigenden Pensum ist er gut ausgelastet. Wir hatten Glück – sein Arbeitsplatz ist wie auf ihn und seine Bedürfnisse zugeschnitten und Simon ist dort glücklich und zufrieden. Er ist in seiner Art von Arbeitsleben angekommen. Das ist es, was zählt!
Simon arbeitet also mit Büchern, obwohl er noch nie ein einziges Buch komplett gelesen hat. Übrigens auch keine einzige Schullektüre, das kann ich heute zugeben. Ein beinahe geflügeltes Wort in unserer Familie, sobald es auch nur im Entferntesten ums Lesen geht: Iphigenie auf Tauris. Für einen Autisten ein schier unlösbares Problem. Bereits nach der ersten halben Seite dieser seinerzeitigen Pflichtlektüre der gymnasialen Oberstufe war sonnenklar: Das kann nichts werden! Es lag nicht allein an der für Simon ungewohnten Sprache. Viel schlimmer war, dass in dieser Lektüre eine Metapher die nächste jagt. Völlige Kapitulation unsererseits. Metaphern sind ein sprachliches Werkzeug, das sich Simon nicht erschließt. Er versteht, was gesagt wird, jedoch ausschließlich das, was explizit gesagt wird. Zwischen den Zeilen zu lesen oder zu interpretieren, ist ihm unmöglich. Simon findet Umschreibungen jedweder Art absolut unsinnig. Sollen die doch einfach klar sagen, was die meinen! Wortspielereien bereiten ihm überhaupt keinen Spaß. Für seine Wut und seine Ablehnung derartiger Literatur hat Simon allerdings ein reichhaltiges Wortrepertoire zur Verfügung …
Da man Bücher nach Simons Meinung nicht auf den Inhalt reduzieren muss, sind sie erstaunlicherweise genau sein Ding. Ihn faszinieren die sonstigen Details wie Einband, Seitenanzahl, Papier, Schriftart, Druck und so weiter. Simon hat mit seinem Arbeitsplatz das Optimale für sich gefunden. Ein kleines Unternehmen mit lediglich drei Mitarbeitern, feste Strukturen, absolute Verlässlichkeit auch in den Arbeitsprozessen. Und viel Ruhe, denn sowohl die Menschen sind ruhig, geduldig und entspannt als auch der grundsätzliche Geräuschpegel ist eher niedrig. Zudem verursachen Bücher naturgemäß keinen großartigen Radau. Einem Charakter wie Simon kommen all diese Umstände absolut entgegen. Da er fast ausschließlich im Hintergrund arbeitet, hat er wenig direkten Kundenkontakt.
Weiß man, wie Schule läuft, ist klar, welche schier unüberwindlichen Schwierigkeiten sich in der Schullaufbahn für Simon aufgetürmt haben. Missverständnisse waren an der Tagesordnung. Dass er überhaupt so lange durchgehalten hat, grenzt an ein Wunder – und ich ziehe meinen Hut vor ihm.
Wie häufig musste ich klärend eingreifen? Im Endeffekt viel zu selten, denn Simon hat eben nicht den Unterricht torpediert, nicht gestört, keine Unruhe verbreitet, nicht mit dem Nebenmann gequatscht. Darüber hinaus war er niemals frech oder unverschämt. Und laut sowieso nicht. Er war unauffällig – zu unauffällig? Eingeschüchtert, verunsichert und ängstlich – doch dessen sind wir uns erst heutzutage in vollem Umfang bewusst. Solange ein Schüler nicht unangenehm auffällt, besteht für die Lehrerschaft kein Grund zur Beschwerde oder Sorge und somit auch nicht zur außerordentlichen Kontaktaufnahme mit den Eltern. Das ist keine unmittelbare Kritik an den Lehrern; ich war oft in der Schule und durfte diesen Trubel hautnah miterleben. Dass man dort dankbar für jeden unauffälligen Lernenden ist, finde ich plausibel. Simon ist einfach untergegangen im allgemeinen Chaos. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sämtliche seiner direkten Lehrkräfte Simons Namen kannten, geschweige denn seine An- beziehungsweise in unserem Fall Abwesenheit bemerkt haben. Ja, ich meine Abwesenheit, denn Simons Verständnis von Schule, besser gesagt, dem Ablauf eines Schulalltags, gerade dem der gymnasialen Oberstufe, wich durchaus vom regulären ab. Solange in Unterstufe und Mittelstufe ein Klassenverband bestand, war es für Simon übersichtlicher, denn der Ablauf war deutlicher strukturiert. Die Schüler einer Klasse sind konstant zusammen, haben einen gemeinsamen Stundenplan, wechseln die Räume gemeinsam oder verbleiben (tobend und schreiend) im Klassenraum bis zum Lehrerwechsel. Alles irgendwie berechenbar für einen autistischen Jugendlichen. Man kommt morgens, wenn alle kommen, und man geht nachmittags, wenn alle anderen auch gehen. Man hat Pause, wenn auch alle anderen Pause haben. Bis zur Oberstufe beschränkten sich Simons schulische Schwierigkeiten somit beinahe ausschließlich auf andere Problematiken. Auch nicht unerheblich, aber völlig anderer Natur, weil offensichtlicherer Art – zumindest für den Teil des Lehrpersonals, der sich ein wenig in die Autismus-Thematik eingelesen hatte. In der gymnasialen Oberstufe waren dann der offene Klassenverbund und das Kurssystem das Problem.
Simon sind seine Mitmenschen eigentlich egal. Er hat ein paar handverlesene Bezugspersonen, denen er hundertprozentig vertraut. Wenn er wählen dürfte, bräuchte er außer den Personen seines Inner-circles niemanden in seiner unmittelbaren Nähe. Eine normale Klasse, so wie wir sie im deutschen Schulsystem kennengelernt haben, umfasst selten weniger als dreißig Schüler. Keine unerhebliche Menschenansammlung, gerade für einen Jugendlichen, der Menschen nicht gut um sich haben kann. Da ist innerer Stress vorprogrammiert. Mit dem Tag des Wechsels in die gymnasiale Oberstufe wurden aus dreißig Klassenkameraden über Nacht mehr als hundertvierzig Mitschüler. Auch die vermeintliche Sicherheit des fest zugeteilten Klassenraumes als Anlaufstelle war von jetzt auf gleich dahin. Willkommen im Kurssystem mit permanent wechselnden Räumen! Hierbei die Übersicht zu behalten, stelle ich mir anfangs für jeden schwierig vor. Simon war bis zum Schluss damit überfordert. Zudem die Unruhe, die ein ständiges Durchwandern des Schulgebäudes mit sich bringt, da auch in den Pausen zwischen den Stunden keine wirkliche Ruhe einkehrt. Der Oberstufenschüler muss sich auf Wanderschaft zum nächsten Kursraum machen. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass Raumbelegungen nicht unbedingt verlässlich sind. Da wird schnell einmal kurzfristig entschieden, dass die nächste Stunde nicht in Raum XY, sondern am anderen Ende des Areals in Raum AB abgehalten wird. Für Simon ein Problem. Ein neuer, vor allem ein unbekannter Kursraum bringt eine unbekannte, weil spontan einzunehmende Sitzordnung mit sich. Mit den kursabhängigen, immer unterschiedlichen Sitzordnungen hat er sich bis zum Schluss nicht abfinden, geschweige denn anfreunden können. Schon die stündlich wechselnden Kursteilnehmer waren für Simon unangenehm, denn aufgrund des Kurssystems hatte er mit niemandem einen auch nur annähernd identischen Stundenplan, was eine Orientierungshilfe hätte sein können. Die wechselnden Sitzordnungen bedeuteten für Simon auch eine sich stetig verändernde räumliche Perspektive. Für ihn war diese ständige Neuorientierung sehr schwierig. Und sei es, dass es in diesem Raum während der paar Tage, die er dort keinen Unterricht gehabt hatte, Veränderungen in der Tischanordnung oder Wanddekoration gegeben hat. Hier mal ein neues Poster, eine neue Beschädigung an Wand, Tür oder Tafel, dort die Tische plötzlich in U-Form aufgestellt. Jemanden, der Veränderungen hasst, stellen diese Umstände jedes Mal aufs Neue vor kräftezehrende Herausforderungen. Also täglich.
Das Spannendste am offenen Kurssystem, das Simons Schullaufbahn den finalen Todesstoß versetzt hat, waren die Freistunden. Dabei war es absolut irrelevant, ob es sich um angekündigte oder spontane Unterrichtsausfälle oder auch offiziell in seinem Stundenplan vorgesehene Freistunden handelte. Ich hätte mir im Leben nicht träumen lassen, dass eine Freistunde derartige Auswirkungen haben könnte. Welcher Schüler mag wohl keine Freistunden?
Man stelle sich Folgendes vor: Der morgendliche Kampf, dass Simon das Haus in Richtung Schule verlässt, war erfolgreich bestritten – aus meiner Sicht zumindest. Aus Simons Sicht war er im Umkehrschluss bedauerlicherweise als verloren zu vermelden. Planmäßig sollte er die nächsten sechs Stunden in Sachen qualifizierter Wissensaufnahme unterwegs sein. Nun erfuhr er bei Ankunft in der Schule, dass in der zweiten Unterrichtsstunde krankheitsbedingt der Lehrer – und somit der Unterricht – ausfällt.