Kalte Herzen
Ein Jeannette Dürer Krimi
Inhaltsübersicht
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Danksagung
Informationen zum Buch
Über Tessa Korber
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Aus allen Dschungelnischen: Seufzer, Schreie.
Er hebt den Fetisch. Dir entfällt das Wort.
Die süßen Hölzer rühren dunkle Trommeln.
Du blickst gebannt auf deinen Todesort.
Ingeborg Bachmann »Liebe: Dunkler Erdteil«
Gutsituierter Unternehmer, 52, 1,82, Nichtraucher,
sucht sehr hübsche junge Sie zum Verwöhnen.
Kontaktanzeige
Wohl um den Umstand wissend, daß die Art Frau, von der ich mir wünschte,
daß sie auf diese armselige kleine Kontaktanzeige antwortete,
dies a priori nicht tut,
harre ich doch in naivem Optimismus der Antworten,
die da ausbleiben werden.
Kontaktanzeige
»Partnervermittlung Dürer, guten Tag?« Jeannette klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Kinn und schaltete einen Gang hinunter.
»Oh, Entschuldigung«, sagte sie, als sie die Stimme der Sekretärin ihres Chefs Paumgartner erkannte, und sie lachte leise. »Ich dachte, es wäre eine Freundin.« Vorsichtig lenkte sie durch den lebhaften Verkehr auf dem Plärrer. Zu ihrer Linken glitt die Stadtmauer vorbei. »Nein, ich bin nicht deshalb nicht beim Gerichtstermin, weil ich eine neue berufliche Zukunft anstrebe.« Sie setzte den Blinker und bog ab in Richtung Germanisches Nationalmuseum. »Zametzer vertritt mich, weil wir übereingekommen sind, daß meine umwerfend blonde Mädchenschönheit nicht den prozeßnotwendigen Eindruck polizeilicher Kompetenz vermittelt.« Sie ließ der Sekretärin Zeit, den Satz zu entschlüsseln, während sie sich einordnete, um in die enge Gasse einzubiegen, die zum Parkhaus unter dem Maximum führte.
»Übereingekommen, ha!« kam ein trockenes Bellen aus dem Handy. Den folgenden Kommentar quittierte Jeannette mit einem stummen Lächeln. »Na, dann haben Sie eben Glück«, kam die Sekretärin rasch zurück zum Geschäftlichen, »und dürfen sich statt dessen um eine Leiche kümmern, die in der Brosamer Straße gefunden wurde.« Sie beschrieb die Lage der Wohnung. »Das ist gleich bei dem Kino«, ergänzte sie.
»Casablanca.« Jeannette nickte. Sie fuhr an der Einfahrt zur Tiefgarage vorbei und bog rechts ab.
»Dachte mir doch, daß Sie das wissen.«
Jeannette verabschiedete sich mit einem Seufzer. Da war das Tor zur Straße der Menschenrechte, dort die Sushi-Bar, in der sie ihre heiße Wut über Zametzers diskriminierendes Verhalten mit ein paar Reisröllchen hatte abkühlen wollen. Am meisten ärgerte sie, daß sie ihn damit hatte durchkommen lassen. Daß sie resigniert hatte, teils weil sie ohnehin nicht gerne vor Gericht auftrat, teils weil sie gemerkt hatte, daß Paumgartner geneigt war, Zametzer zuzustimmen, nachdem sie das letztemal mit dem Richter aneinandergeraten war. Sie habe seinen Gerichtshof als ironiefreie Zone zu betrachten! Jeannette schnaubte noch bei der Erinnerung an die Zurechtweisung. Nur weil sie zu bedenken gegeben hatte, daß es sich bei der Art, wie ihre Ermittlungsergebnisse aufgenommen wurden, vielleicht eher um Wahrheitsneuerfindung statt um Wahrheitsfindung gehandelt hätte. Heftig schüttelte sie den Kopf mit dem blonden Zopf. Sie hätten nicht nachgeben dürfen. Und das würde sie Paumgartner auch noch einmal in einem Gespräch unter vier Augen zu verstehen geben.
Das Handy klingelte erneut, als sie sich mit wachsendem Ärger durch den dichten Verkehr wühlte.
»Ja!« schnappte sie knapp.
»Jeannette?« So perfekt französisch und perfekt vorwurfsvoll betonte nur eine ihren Namen. Jeannette spürte ihre Wut abrupt zu einem Resignationswölkchen zusammenpuffen. »Ja, Mutter?«
»Meldest du dich immer so unhöflich, wenn du im Dienst bist?« fragte die tadelnde Stimme in leicht beleidigtem Ton.
»Um was geht es, Mutter?« Verdammt, daß sie sich auch nie merken konnte, welche Straße zum Kopernikusplatz führte. Immer bog sie entweder eine zu früh oder eine zu spät ab.
Frau Dürer beschloß, den ersten Anklagepunkt kommentarlos fallenzulassen. »Es geht um deine Schwester«, erklärte sie.
»Du meinst jene nun bald vierzigjährige, berufstätige Frau, die mit ihren drei Kindern ihr eigenes Leben lebt und es bestens im Griff hat?« fragte Jeannette routinemäßig zurück. Diesmal war sie zu früh abgebogen.
Ihre Mutter hielt sich nicht einmal mit einem Seufzer auf. »Sie trifft sich mit einem Mann.« Ihre Stimme fiel in Grabestiefen.
»Wäre es dir lieber, sie träfe eine Frau?« Jeannette grinste. Sie wußte sehr gut, wie ungern ihre Mutter es sah, daß Tanja ins Haus ihres Kollegen Martin Knauer und seines Lebensgefährten Joseph gezogen war. Selbst wenn sie laut nicht einmal mehr den Einwand wagte, es könnte einen schlechten Einfluß auf die Kinder haben. Auch jetzt quittierte sie Jeannettes Provokation lediglich mit einem Schnauben.
»Wir kennen diesen Menschen doch gar nicht«, erwiderte sie statt dessen nur. »Es ist ein völlig wildfremder Mann. Und deine Schwester hat ihn noch mit keinem Ton erwähnt.«
Jeannette seufzte. Dazu gäbe es dermaßen viel zu sagen, daß sie gar nicht wußte, wo sie anfangen sollte. »Mama«, setzte sie schließlich an.
Aber Frau Dürer kam ihr zuvor. Sie ließ sich lange über das Unglück in der Liebe ihrer älteren Tochter, über ihre Scheidung und ihre ausgesprochen unglückliche Hand bei der Wahl ihrer Männer aus. Jeannette verkniff es sich einzuwerfen, daß zumindest die Heirat damals Tanja von den Eltern mehr oder weniger aufgezwungen worden war. Davor hatte es ihres Wissens keinen anderen Mann gegeben, danach nur einen. Falls der einen Nachfolger gefunden haben sollte, durfte sie Tanja dazu nur gratulieren und ihrer Mutter raten, sich endlich aus dem Leben ihrer Töchter herauszuhalten. Aber sie konnte nicht gleichzeitig streiten und sich durch die engen Wohnstraßen zwängen.
»Du bist doch bei der Polizei«, schloß ihre Mutter schließlich den Vortrag.
Jeannette schnaubte. »Soll ich dir eines von unseren Plakaten mitbringen? Steigt nicht zu fremden Männern ins Auto? Die Kollegen von der Sitte haben da noch ein paar aus ihrer Kindergarten-Aktion.« Sie bemühte sich, möglichst spöttisch zu klingen.
»Nein, ich meine …« Frau Dürer kam erstmals ein wenig ins Stocken. »Ihr habt doch diese Computer im Büro«, begann sie schließlich. »Könntest du da nicht nachschauen, ob irgend etwas gegen ihn vorliegt. Nur damit man ruhiger wäre.«
»Nein, Mama.« Es sollte abschließend klingen. Sicher würde sie sich nicht noch einmal so weit vergessen, daß sie ihrer Schwester hinterherspionierte. Der Reinfall mit Tanjas letztem Liebhaber hatte ihr genügt. Sie hatte ihn für einen Serienkiller gehalten, dabei waren ein bißchen Haschkonsum und ein wenig Promiskuität alles, was man ihm vorwerfen konnte. Über beides war Tanja informiert gewesen. Und vom Eifer ihrer kleinen Schwester überhaupt nicht erbaut. Heftig schüttelte Jeannette den Kopf. »Das ist illegal.«
»Aber wenn wir wenigstens wüßten, ob er vorbestraft ist …«
Jeannette nahm das Handy vom Ohr und lockerte ihre vom Telefonieren steif gewordene Schulter. Sie sah jetzt die Fassade des Kinos vor sich. Trotz des fortgeschrittenen Herbstes saßen ein paar Leute an Bistrotischen davor und musterten interessiert die Schutzpolizisten, die sich an einem Hauseingang schräg gegenüber zu schaffen machten. Die Stimme ihrer Mutter klang nur noch als undeutliches Hintergrundrauschen aus dem Gerät. »… allein du bist schuld …«, hörte sie es undeutlich. Entschlossen hob sie es erneut ans Ohr. »Mama?« sprach sie noch einmal hinein und fügte brutal hinzu: »Ich muß jetzt in eine Wohnung, in der ein Mädchen mit eingeschlagenem Schädel liegt.«
Frau Dürer legte auf.
Jeannette parkte ihren Wagen, begrüßte die Kollegen, die ihr mitteilten, daß Martin Knauer bereits oben auf sie wartete, und wandte sich, ehe sie hineinging, noch einmal kurz um, um das Kino gegenüber zu betrachten. Wie oft war sie hier als Jugendliche gewesen. Ihre Familie hatte damals eine Weile in der Südstadt gewohnt, und der Besuch des Casablanca zählte zu ihren ersten Kinoerlebnissen überhaupt, zu den ersten selbständigen Ausgeh-Abenden, mit Taschengeld im Portemonnaie, dem Hausschlüssel um den Hals, der sorgsam eingebleuten Heimkehrzeit und dem noch sorgsamer ausgewählten T-Shirt zur engen Jeans, von dem man mit klopfendem Herzen hoffte, daß es ausreichend cool war. So cool, als zöge man jeden Abend los und kenne sich hier bestens aus. So cool, daß es zu den schwarzen Wänden paßte, die Jeannettes Mädchenpuls jedesmal in die Höhe getrieben hatten, signalisierten sie doch, daß sie hier einen Raum betrat, der vom bürgerlichen Pastell ihres Zuhauses so radikal verschieden war wie nur irgend vorstellbar und in dem eben deswegen das Unmögliche möglich schien. Es war dieses Kinoschwarz, das langsam abgefärbt hatte auf all ihre Klamotten, ihren Kajal, ihre Fingernägel und ihre Accessoires, um auf diese Weise den Ablösungsprozeß von zu Hause einzuläuten. Als ihre Mutter sagte, sie liefe rum wie zu ihrer eigenen Beerdigung, war Jeannette tief zufrieden gewesen.
Dasselbe Lächeln umspielte jetzt wieder ihre Züge, als sie das alte Kino betrachtete. Vielleicht, überlegte sie, wäre es gar keine so üble Idee, die Wände ihrer kahlen Wohnung schwarz zu streichen. Sie hatte sich vor einigen Monaten des WG-Gerümpels in ihrer Altbauwohnung entledigt, bereit, einen neuen Anfang zu machen und endlich erwachsen zu werden. Aber ihr adoleszenter Schwung war seither ein wenig erlahmt. Genaugenommen war es jetzt, wenn sie so darüber nachdachte, schon über ein Jahr her, daß sie ihre Wohnung ausgemistet und gestrichen hatte. Und noch immer starrte sie auf makellos gekalkte Wände und eine Leere, die jedem Zen-Kloster Ehre gemacht hätte. Wenn man von den Zonen absah, die Regine nach ihrem Einzug mit Beschlag belegt hatte.
Jeannette seufzte. Statt den geplanten Schritt in ein neues Leben zu tun, war sie um einen zurückgetreten und hatte ihre alte Studenten-Wohngemeinschaft mit ihrer Freundin Regine neu belebt. Warum dann also nicht weiter regredieren in pubertäres Schwarz? Ob Regine fände, daß es gut zu ihrem pinkfarbenen Ledersofa passe?
Über ihr ging quietschend ein Fenster auf. »Jeannette?« klang es fragend. »Kommst du endlich?« Es war Martin Knauer, der bereits nach ihr Ausschau gehalten hatte. Die Arbeit rief.
Sie antwortete nicht und wandte sich von dem Kino ab, dessen Fassadenfarbe stark abblätterte und die Gesichter der Filmidole von einst verblassen ließ. Der Zauber hatte nachgelassen. Und welche Farbe sie auch immer für ihr Refugium wählte, nichts trüge sie hinaus aus dieser Welt, in der ihr Alltag stattfand. Und soweit sie sich erinnern konnte, war in den schwarzen Räumen mit den Spiegeln und glitzernden Flaschen hinter der Bar, mit den Rauchschwaden, die durch das Scheinwerferlicht waberten, und den fremden Körpern, die sich dicht an dicht murmelnd zwischen den Barhockern drängten, auch nie etwas geschehen. Etwas Aufregendes, Unglaubliches, alles Veränderndes. Irgend etwas. Kein Kontakt zwischen ihrem hoffnungsvoll klopfenden Herzen drinnen und der Welt draußen. Aber das Schwarz hatte das verhüllt.
Jeannette erkannte ihr Ziel auf den ersten Blick, die einzige der drei Wohnungstüren auf diesem Stockwerk, die offenstand. Ohne Flur oder Garderobe, führte sie direkt in ein vollgestopftes Wohnzimmer. Ikearegale an den Wänden ringsum, dicht bepackt mit Büchern, dazwischen waren Kunstpostkarten aufgestellt, standen buntbeklebte Kartons mit Krimskrams, getrocknete Blumen, Fotografien, die Miniaturausgabe einer Nana von Niki de Saint Phalle, ein nicht zu Ende geschnitzter Speckstein, der undeutlich einen Frauentorso zeigte.
Die metallisch-silbern schimmernden Kissen auf dem Schlafsofa sahen selbstgenäht aus, der Brokat wie ein Erbstück, ein Vorhang aus Großmutters Zeiten, originell verarbeitet. Ein ähnlich prunkvolles Stück Stoff war über das wacklige Rattantischchen geworfen, das als Eßtisch diente, und verlieh dieser Ecke einen Hauch von Harem. In der Küchenecke standen ebenfalls Ikearegale, verhängt mit leuchtend pinkfarbenem Tüll, um die Töpfe mehr zu verfremden als zu verbergen. Daran festgeklipst Moosgummiblumen und Stoffbienen.
Raffaels Engel blickten von Postkarten an den Wänden, neben ausgeschnittenen Bildern von Designermöbeln, einem alten Stich vom Forum Romanum, einer Porträtaufnahme Hannah Arendts und privaten Schnappschüssen. Ein großer vergoldeter Bilderrahmen beinhaltete nichts als ein ausgeschnittenes Zitat Gertrude Steins. Jeannette trat näher an einen Schrank, an dem ein Kärtchen mit Text klebte, ein Ingeborg-Bachmann-Gedicht. Traurig schaute sie sich in dem bunten Sammelsurium um, das Kunst und Kitsch so fröhlich mischte. Sie kannte das, oh, sie kannte es.
Sorgfältig stakste sie um die Leiche herum, die in der Mitte des Raumes hinter dem umgefallenen Couchtisch lag, um näher an die Regale heranzutreten. Langsam ging sie die Buchrücken entlang, glitt mit den Fingern darüber, nickte bei jedem bekannten Namen. Einen Titel zog sie heraus. Sie schlug den gesuchten Text auf und fand ihn. Jochen Böhm, ein Kollege von der Spurensicherung, der ihren Bewegungen aufmerksam gefolgt war, trat hinter sie. Jeannette drehte sich um und drückte ihm das zerlesene Taschenbuch vor die Brust. »Liebe: Dunkler Erdteil«, sagte sie, »ein tolles Gedicht. Solltest du mal lesen.«
Er schüttelte nur den Kopf, verdrehte die Augen und stellte den Band hinter ihrem Rücken wieder an seinen Platz.
Martin Knauer stand noch immer an dem Fenster, von dem aus er so dringend nach ihr gerufen hatte. Er war in die Knie gegangen, um seinem Gegenüber, das ruhig blinzelnd dasaß, eindringlich ins Gesicht zu sehen. Jeannette stellte sich neben ihn. »Wir haben einen Zeugen?« fragte sie und legte den Kopf schief.
Jochen Böhm, der wieder die Regalbretter einpinselte, stieß ein rauhes Lachen aus. »Der kriegt das Maul nicht auf«, rief er zu ihnen hinüber.
Der andere wandte ob der Beleidigung nur den Kopf ab.
Jeannette konnte nicht umhin, sein Phlegma zu bewundern. Es war schwer einzuschätzen, was sich dahinter verbarg: Gleichgültigkeit, Arroganz, Dummheit? Verstand er überhaupt, was sie redeten? War er sich ihrer Aufmerksamkeit bewußt? Oder lebte er in gänzlich anderen Welten?
»Ich hatte schon Junkies auf dem Revier, die lebhafter waren«, kommentierte Martin.
Neugierig schob sie ihr Gesicht näher an seines heran. Seine Augen waren so leuchtend grün, daß es fast aussah, als wären sie aus dem raschelnden Grasimitat ausgeschnitten, mit dem der Sessel bezogen war, in dem er sich ungeniert fläzte. Sie schimmerten fast unwirklich aus einem Gesicht, dessen Form durch eine Narbe brutal entstellt wurde. Sie ließ die gesamte linke Hälfte schief aussehen, zog alle Linien herab und verhinderte auch, daß das linke Auge sich ganz schloß, weswegen es von einem rot entzündeten Rand umgeben war, der seltsam mit dem Grün kontrastierte. Auch einem Ohr fehlten Teile und zeugten von einem Leben voller Gewalttätigkeit, das gar nicht zu der heiteren Kulisse des Zimmers paßte, in dem er sich installiert hatte. Plötzlich erwiderte er ihren Blick ganz intensiv. Dann griente er wieder gleichgültig und entblößte dabei obszön leere, rosafarbene Kiefer. Jeannette zuckte angeekelt zurück.
»Er stinkt aus dem Mund«, stellte sie ernüchtert fest und erhob sich wieder.
»Na, wir wollen doch nicht beleidigend werden«, meinte Martin und hob die Hand, um dem Kater das tizianrote Fell zu kraulen. Der schien diese Solidarität nicht zu schätzen, sondern schlug mit ausgefahrenen Krallen nach ihm. Mit einem protestierenden Maunzen entrollte er seinen massigen Körper, sprang vom Sessel und strich einmal um Jeannettes Beine, ehe er hinkend in der Küche hinter dem Tüllvorhang verschwand, wo er sich zwischen den Pfannen zusammenrollte, um ihr Treiben weiter zu beobachten.
»Farbempfinden hat er auch keines«, meinte Jeannette, die den buschigen roten Schwanz betrachtete, der unter der brennend pinkfarbenen Gaze hervorragte.
»Er hat dir auf die Schuhe gesabbert.« Dieser Kommentar Martins schloß das Kapitel Kater vorerst ab.
Während Jeannette sich mit einem Papiertaschentuch die Turnschuhe reinigte, erklärte er ihr, was sich über das Geschehen bereits sagen ließ.
»Sie muß den Täter gekannt oder zumindest freiwillig hereingelassen haben«, erläuterte er.
Jeannette wischte ein letztes Mal, knüllte das Papier zusammen und schaute sich nach einem Mülleimer um. »Ist mir beim Hereinkommen schon aufgefallen«, bestätigte sie. »Die Tür war unbeschädigt, sagen die Kollegen.« Sie wies mit der Hand auf den Raum. »Und nach einem Kampf sieht es hier auch nicht aus.«
Martin nickte. »All die kitschigen Nippes stehen noch an ihrem Platz.«
Jeannette schüttelte den Kopf. »Das ist kein Kitsch«, erklärte sie. »Das ist Vorsatz. Eine Inszenierung, die in ironischer Absicht Hoch- und Massenkultur vermengt. Glaub es mir, ich habe auch jahrelang in so etwas gewohnt.« Sie schaute sich um und hielt inne. »Der Tisch ist umgefallen, als sie stürzte, oder?«
Martin nickte bestätigend. »Es ist das einzige Möbelstück, das verrückt worden zu sein scheint.«
»Abgesehen von dem hier«, rief Jochen Böhm in diesem Moment. Er winkte ihnen, und sie folgten seiner Aufforderung hin zum Regal auf der Küchenseite des Raumes, wo auf einem Brett neben einer selbstgezeichnet aussehenden Skizze irgendeiner Landschaft, der Miniatur-Reproduktion der Venus von Milo, einer Paperback-Ausgabe des Grimmschen Wörterbuches und einem Glas mit Haargummis ein mit venezianischem Papier bezogener Bilderrahmen lehnte. Das Glas war zersplittert und fehlte größtenteils, das Foto, das einmal darin gesteckt hatte, war so brutal herausgerissen worden, daß nur die zerfetzten Ecken im Rahmen zurückgeblieben waren. Jeannette und Martin neigten sich vor, um einen Fetzen in Augenschein zu nehmen, auf dessen Rückseite offensichtlich noch die digitale Anzeige eines Datums zu sehen war, wie sie auf manchen Fotos mit abgedruckt wird. Sie konnten eine Vier und eine Null entziffern, der Rest fehlte.
»Dreizehn mal achtzehn, seidenmatt«, kommentierte Jochen Böhm. »Standardformat.« Was allerdings einmal darauf zu sehen war, das konnte man nur ahnen.
»Bei dem Krempel hier könnte es alles mögliche gewesen sein«, meinte Martin und zuckte mit den Schultern. »Ein Porträt genauso wie irgendein Blödsinn.«
Jochen Böhm nickte und wies mit dem Kinn in die entgegengesetzte Ecke des Zimmers. »Da drüben sind lauter Aufnahmen von kaputten Statuen unter einem Wellblechdach.« Er schüttelte den Kopf.
»Aber warum sollte jemand Statuenfotos klauen?« Nein, Jeannette war ziemlich sicher, daß sich in dem Rahmen ein privateres Bild befunden hatte, die Aufnahme eines Menschen, der der Bewohnerin nahegestanden hatte, vielleicht sogar ihr eigenes Konterfei. Es ließ sich wohl nicht länger umgehen: Sie hatte sich lange genug von der Wohnung ablenken lassen. Sie mußte die Leiche selber in Augenschein nehmen, auch wenn sie das Gefühl hatte, sie schon sehr gut zu kennen.
»Können wir die Abdeckung zurückschlagen, Jochen?«
Als ihr Kollege nickte, kauerte sie sich mit Martin zusammen neben den Kopf. Oder neben das, was davon übrig war.
Martin zeichnete mit dem Finger Linien in die Luft. »Der erste Schlag muß sie von schräg vorne getroffen haben, siehst du, hier. Und hier. Ich schätze, so wie der Schädel aussieht, war der schon tödlich. Dann wurde noch ein paarmal auf sie eingedroschen, als sie lag. Das hat schließlich die Nase, das Jochbein und den Kiefer zerstört.
Jeannette betrachtete das deformierte Gesicht, von dem schwärzlich geronnene Klumpen auf den Teppich geflossen waren. Es war kaum noch als solches zu erkennen.
»Woher weißt du, daß schon der erste Schlag sie getötet hat?« fragte sie und fuhr die Bruchkante in der Luft vorsichtig nach, aber sie kannte die Antwort schon. Hätte er es nicht, wären die Spuren dieser Metzelei in der gesamten Wohnung zu sehen. Das Mädchen wäre herumgetaumelt, sie hätten Blut und Chaos überall gefunden. Aber sogar der Teppich war, abgesehen vom unmittelbaren Umfeld der Leiche, makellos.
Martin bestätigte es ihr. »Außerdem sehen die späteren Schläge aus wie von oben geführt, siehst du?« Er demonstrierte es mit einer unsichtbaren Waffe. Das brachte Jeannette auf ihre nächste Frage, die nach der Tatwaffe.
»Nichts.« Martin zuckte mit den Schultern. »Zweifelsohne groß, schwer, etwas Metallenes, würde ich schätzen, so was wie ein Wagenheber. Aber keine Spur davon in der Wohnung oder Anzeichen dafür, daß hier so etwas fehlt.«
»Wir werden abwarten müssen, was der Gerichtsmediziner sagt.« Jeannette stand auf. Sie ließ ihre Fingergelenke knacken und warf einen letzten Blick hinunter auf das tote Mädchen. Hier und da war ihr halblanges schwarzes Haar noch unberührt von der Verwüstung. Und das war der traurigste Anblick. Sie seufzte. Unmöglich zu sagen, wie die Kleine einmal ausgesehen hatte. Eben wollte sie wieder die Plane über Julia Steinerts Körper ziehen, als sie Stimmen aus dem Treppenhaus hörte, die lauter wurden.
»Julia! Julia! Lassen Sie mich vorbei!«
Mit wenigen Schritten war sie an der Tür, wo Jochen eben mit ausgebreiteten Armen einen Mann daran zu hindern suchte, die Wohnung zu betreten.
»Bitte seien Sie doch vernünftig«, hörte sie ihren Kollegen sagen und dazu die laute, befehlsgewohnte Stimme des anderen:
»Ich bin Anwalt, hören Sie, und Sie haben keinerlei Recht … Wo ist meine Tochter?«
»Deck alles zu«, rief Jeannette noch über ihre Schulter zu Martin, dann tauchte sie mit einer fließenden Bewegung unter Jochen Böhms Arm hindurch und schob sich zwischen die beiden streitenden Männer, was den Neuankömmling dazu brachte, verblüfft einen Schritt zurückzutreten.
»Tür zu«, zischte Jeannette gedämpft. Vor ihr im Treppenhaus standen zwei verdatterte Menschen. Der Mann trug über dem Anzug einen legeren Trenchcoat und auf dem Kopf seltsamerweise eine jener enganliegenden Lederkappen mit Kinnriemen, wie sie Rennfahrer in der Frühzeit des Automobils zu tragen pflegten. Er war etwa um die Fünfzig, schätzte sie, durchtrainiert und gebräunt und gewohnt, eine Krawatte zu tragen. Von der Frau hinter ihm war nicht viel zu erkennen. Sie stand noch auf der letzten Treppenstufe und trug neben einer großen Sonnenbrille ein Kopftuch, das unterm Kinn gekreuzt und um den Hals nach hinten gebunden war, wie man es in den Filmen der Loren aus den Sechzigern sehen konnte. In ihren Händen hielt sie so etwas wie einen Plastik-Wäschekorb, der bis zum Rand mit Lebensmitteln gefüllt schien. Es war ein unwahrscheinliches, absurdes Bild, das die beiden boten.
»Herr Steinert?« fragte Jeannette sanft den Mann, in dessen Gesicht noch die Erregung der Auseinandersetzung stand. Die Mimik der Frau war nicht zu erkennen.
»Herr Doktor Steinert«, korrigierte er sie. »Ich bin Anwalt, wie gesagt, und Sie haben keinerlei Recht, mich am Betreten der Wohnung meiner Tochter zu hindern.« Er hielt atemlos inne, aus dem Konzept gebracht vom Anblick der jungen Frau, die mit hängenden Armen dastand und keine Miene machte, sich ihm zu widersetzen. Jeannette sah, wie die Wut von ihm wich und langsam das Begreifen in seine Züge kroch. Sie verstand, daß er sich liebend gerne weiter an seiner Empörung festgeklammert hätte.
»Herr Doktor Steinert«, sagte sie leise. »Es tut mir sehr leid.«
Von der Gestalt hinter ihm kam ein Laut. Aber durch das Fenster am Treppenabsatz schien in diesem Moment die Herbstsonne voll herein. Sie ließ die feinen Nadeln der Aspidistra, die auf einem Hocker davor stand, grün aufleuchten und die Frau nur als dunkle Silhouette erkennbar werden.
»Hat sie …«, er suchte sichtlich nach einer Formulierung, die das Unfaßbare irgendwie begreifbar machte, ohne den schmerzlichen Kern zu sehr zu berühren, »… einen Unfall gehabt?«
Jeannette schüttelte den Kopf.
Herr Steinert fuhr auf. »Sie würde sich nie etwas antun, niemals!« Seine Stimme hallte im Treppenhaus wider.
Rasch trat die junge Kommissarin vor und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Sie ist ermordet worden«, sagte sie leise, aber bestimmt und wiederholte: »Es tut mir leid.«
Steinerts Frau legte die Hand vor den Mund.
»Das kann nicht sein.« Er schüttelte den Kopf, wiederholte immer wieder flüsternd: »Das kann nicht sein, das kann nicht sein.«
»Die Situation läßt leider keinen anderen Schluß zu. Deshalb muß ich Sie auch bitten, jetzt mit mir den Tatort zu verlassen.« Jeannette ging mit ausgebreiteten Armen auf die beiden zu, um sie mit sich die Treppe hinunter zu nehmen. Je eher sie aus diesem Hausflur kamen, desto besser.
Steinerts Kopf fuhr hoch. »Hat man sie vergewaltigt?« brüllte er.
»Robert«, sagte seine Frau. Sonst nichts.
In der nachfolgenden Stille klappte unten eine Tür, Schritte klapperten die Treppe hinab, jemand pfiff vor sich hin, Laute aus einem unangetasteten Alltag wie aus einer anderen, für die oben Versammelten unrettbar verlorenen Welt.
Steinert griff sich an den Kopf und riß die Lederkappe herunter, als hätte er mit einemmal begriffen, was für ein seltsames Schauspiel sie alle zusammen hier in diesem Treppenhaus boten, er, seine Frau, ihre Nostalgie-Maskerade und der Tod. Wirr und verschwitzt stand sein ergrautes Bürstenhaar von den Schläfen.
Jeannette schaute sich um. Hier konnten sie nicht bleiben. Sie verfluchte im stillen die Wohnung in ihrem Rücken, die keinen Flur besaß. Selbst um in das Schlafzimmer zu gelangen, mußte man durch den Wohn-Eßraum gehen, in dem unübersehbar Julia lag, ein Anblick, dem sie die Eltern nicht ohne Vorbereitung aussetzen konnte. Aber weder die Treppe noch die Straße waren geeignete Orte, um die Unterhaltung zu eröffnen, die unweigerlich geführt werden mußte. Sie erwog, die beiden von einem Beamten nach Hause begleiten zu lassen, um sie später dort aufzusuchen. Es wäre zweifellos das schonendste gewesen. Da öffnete sich die Tür links neben der Wohnung des Opfers.
Ein Mann trat heraus. Mit dem Rücken zu ihnen war er damit beschäftigt, seine Tür abzuschließen. Als er sich umwandte und die stille Gruppe endlich bemerkte, erschrak er kurz. Sein peinlich berührtes Erröten, als er das Ehepaar Steinert sah, zeigte Jeannette, daß er die Eltern seiner Nachbarin kannte. Er neigte leicht den Kopf, schluckte dann und spielte mit seinem Schlüssel. Offensichtlich suchte er nach den richtigen Worten. Jeannette warf einen Blick auf das Schild neben seiner Klingel.
»Herr Galster?« fragte sie.
Er nickte erleichtert, daß das Schweigen gebrochen war, und wandte sich an Jeannette. »Ich weiß es schon«, sagte er rasch. »Ihre Kollegen … Und ich dachte, ich gehe aus. Man ist ja nicht gern … So Wand an Wand.« Nun, da er endlich seine Sprache wiedergefunden hatte, machte er auch einen Schritt auf die noch immer steif dastehenden Steinerts zu. »Es tut mir unendlich leid«, setzte er an.
Die Frau sah zu Boden. Herr Steinert machte eine abwehrende Geste mit der Hand, in der er seine Rennfahrerkappe hielt. Der Kinngurt klapperte unangemessen laut mit der Spange gegen das Treppengeländer. Hilfesuchend wandte Galster sich wieder an Jeannette. »Wenn ich irgend etwas tun kann.«
Jeannette gab sich einen Ruck. »Das können Sie tatsächlich«, erklärte sie. »Könnten wir wohl für einen Moment in Ihre Wohnung?« Sie nickte leicht in Richtung der Eltern, und zu ihrer stillen Freude nickte Galster. Offenbar hatte er verstanden, worum es ihr ging.
»Selbstverständlich«, erklärte er und räusperte sich. Freundlich und verbindlich lud er sie dann ein, durch die Tür zu treten, die er ohne Umstände wieder öffnete. Er nahm sogar Frau Steinert den Wäschekorb ab, als sie über die Schwelle trat. Sie ließ ihn nur sehr zögerlich los, als wüßte sie nicht recht, was ihre Rolle sein sollte in diesem Stück, wenn sie sich von ihm trennte.
»Nehmen Sie doch Platz«, bot Galster an.
Das Ehepaar Steinert suchte sich zwei fern voneinander stehende Sessel aus, die um einen gläsernen Couchtisch gruppiert waren. Jeannette entschied sich für ein Zweiersofa, das unter einem Paar Radierungen von Bruno Bruni hing. Alles hier war in Beige und Messing eingerichtet, hell, pastellfarben, ein wenig altmodisch. Neben der Sitzgruppe dominierte ein modern aussehender Schreibtisch mit Laptop und Halogentischlampe, der ihr gegenüber am Fenster stand.
»Ich wollte ihr nämlich noch ein paar Sachen bringen.« Es waren die ersten Worte, die Frau Steinert sagte. »Sie wissen ja, die Kinder essen nicht immer ordentlich.« Sie verstummte, sei es aus Verlegenheit darüber, daß die Kommissarin, an die sie sich gewandt hatte, sich etwa im selben Alter befand wie die Kinder, von denen sie sprach, sei es, daß sie sich langsam darüber klar wurde, daß ihre Tochter die mitgebrachten Nahrungsmittel nie wieder in ihren Kühlschrank mit den aufgeklebten Postkarten einsortieren würde.
Jeannettes Blick ruhte eine Weile auf aufgeschichteten Tiefkühlschachteln, deren Pappe langsam weich wurde, auf Tupper-Dosen, Einmachgläsern und den majestätischen Blättern einer Ananas, die das Sammelsurium überragten.
Herr Steinert schnaubte. »Es sind die Reste aus unserem Kühlschrank«, erklärte er in einem Ton, als habe er etwas richtigzustellen. Es klang, als wollte er die Fürsorge seiner Frau ins rechte, realistischere, Licht rücken. »Wir wollten gerade verreisen.« Er warf sich in seinen Sessel zurück, als habe ihn etwas verärgert.
»Und da wollte mein Mann ihr die Schlüssel zu meinem kleinen Mercedes vorbeibringen«, ergänzte seine Frau. »Obwohl sie ja diese Bahncard hat.«
»Sie geht jedenfalls besser mit dem Auto um als du.«
Frau Steinert schwieg. Jeannette schaute von einem zum anderen. Herr Galster, der immer noch stand, nickte Jeannette zu und wies mit der Hand in Richtung der Küche, die in seinem Heim, einer Eckwohnung, ein eigenständiger Raum war. »Ich gehe dann mal Kaffee machen«, flüsterte er vernehmlich. »Wenn Sie irgend etwas brauchen …« Jeannette dankte ihm mit einem zerstreuten Lächeln.
Herr Steinert fuhr sich durch die silbergraue Igelfrisur. »Ich wollte ihr zu Weihnachten einen Sportwagen schenken«, fuhr er unmotiviert fort.
Frau Steinert lächelte Jeannette müde an. »In solchen Dingen ist mein Mann immer sehr großzügig.«
Jeannette wußte nicht recht, was ihr an der Antwort mißfiel, aber Herr Steinert schien es zu wissen, denn er runzelte die noch immer schwarzen, üppigen Brauen und warf sich erneut unbehaglich in seinem Sessel zurück. »Man sollte annehmen, daß du dich noch nie zu beklagen hattest«, gab er scharf zurück. »Ich«, er betonte dieses ich, »wollte sie ja auch in den Urlaub mitnehmen.« Und zum ersten Mal schlug er die Hände vors Gesicht.
Seine Frau lächelte bitter. »Als ob sie sich dafür interessiert hätte, ihre Ferien mit uns alten Leuten in einem Golfhotel zu verbringen.« Sie wandte sich an Jeannette. »Meine Tochter war eine so lebenslustige junge Frau.«
Steinert schnaubte hinter seinen Händen.
»Es tut mir leid«, sagte Jeannette, »daß Sie den Leichnam Ihrer Tochter vorerst nicht sehen können.« Schlagartig wurde alles wieder still. Irgendwo tickte eine Uhr. Jeannette konnte förmlich hören, wie die Eltern über den Sinn des Gesagten nachdachten, ihn abklopften, erwogen, hilflos vor der Erkenntnis zögerten. »Haben Sie vielleicht ein Foto Ihrer Tochter dabei?«
Frau Steinert begann schließlich mit zitternden Fingern in einer Krokodillederbrieftasche zu kramen, deren Inhalt sich ihr in den Schoß ergoß. Hilflos wühlte sie in den zahllosen Papieren, Quittungen und Bildern. Verärgert stemmte Herr Steinert sich aus dem Sessel hoch und griff in seine Gesäßtasche. Aus der dort befindlichen Brieftasche zog er mit rascher Geste ein Foto und warf es auf den Tisch. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Jeannette die überbelichtete kleine Figur darauf.
»Das ist Julia auf dem dritten Grün in meinem Club. Sie interessierte sich nämlich für Golf.«
Seine Frau, immer noch über das Durcheinander aus ihrer Handtasche gebeugt, gab einen Laut zwischen Schluchzer und Seufzer von sich. Nach einer Weile, als Ergebnis ihres Kramens, bot auch sie Jeannette eine Fotografie an. Sie zeigte Mutter und Tochter lachend über einem großen Eisbecher sitzend. »Das war letztes Jahr in Venedig«, fügte sie erklärend hinzu. »Mein Mann konnte wegen einer Firmenfusion nicht mit.«
»Ich bin auf Vertragsrecht spezialisiert«, sagte er reserviert.
Jeannette nickte auf die eine wie auf die andere Antwort. »Darf ich das eine Weile behalten?« fragte sie und steckte das Bild ein. Schwarzes Haar, mehr war nicht zu sagen. Ein hübsches Gesicht mit tiefschwarzen Augen und einem breiten, markanten Mund. Nichts davon war an der Leiche nebenan noch zu erkennen gewesen.