© 2014 Ecowin, Salzburg
By Benevento Publishing
Eine Marke der Red Bull Media House GmbH
Lektorat: Claudia Jürgens
Art Direction: Peter Feierabend
Gestaltung und Satz: Frank Behrendt
Coverfotos: iStockphoto.com/Uhr © Steve Collender
123rf.com/Vater mit Tochter © Stefano Valle, Paar © kurhan, Frau © Andres Rodriguez
E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH
ISBN: 978-3-7110-5120-2
www.ecowin.at
VORWORT
„Ich möchte morgens früher aufstehen“, „ich will mich bemühen, weniger Fleisch zu essen“, „ich will nie wieder mein Kind anbrüllen“, „ich nehme mir vor, von nun an ein Tagebuch mit täglichen Einträgen zu führen“, „ich will jeden Tag eine Viertelstunde Zeitung lesen“, „ich fasse den Vorsatz, wenigstens zweimal in der Woche Sport zu treiben“, „ ich will meinen Kaffeekonsum reduzieren“. Sätze wie diese sind vertraut. Ebenso vertraut sind Neujahrsvorsätze, wie sie gefasst werden, wie sie scheitern. In allen diesen Fällen geht es darum, dass wir etwas regelmäßig tun oder in aller Regel nicht mehr tun wollen. Das ist eine Frage der Gewohnheiten.
Dies ist ein Buch über tägliche Gewohnheiten. Was tun wir jeden Tag? Die meiste Zeit tun wir doch das, was wir die meiste Zeit tun. So gesehen sind Gewohnheiten wie die festen Bestandteile des Lebens, Baumaterial, das dem Alltag Halt und Stabilität verleiht. Das Leben ist dann wie eine feste Burg, wenn es von Gewohnheiten getragen wird. Freilich: Eine Burg kann auch zur Festung werden, die alles Leben erstickt, eine Gefängnisinsel wie Alcatraz. Das Tückische an einer Festung ist ja die doppelte Dynamik, dass man nicht nur schwer hineingelangt, sondern auch nur schwer herauskommt. Gewohnheiten können diese doppelte Rolle spielen. Sie schützen und sie sperren ein; sie binden und sie ketten an.
Dies ist ein Buch über Veränderungen und über Wachstum; über die Arbeit an sich selbst; über die Achtung vor einem Tag, an dem viel geschehen und viel gestaltet werden kann. Die Aussagen dieses Buches lassen sich in drei Sätzen zusammenfassen:
1. Du sollst dein Leben ändern.
2. Die nachhaltigste Form der Lebensveränderung ist die Veränderung einer Gewohnheit – die Aneignung einer neuen Gewohnheit, das Ablegen einer bestehenden Gewohnheit.
3. Die einfachste Art einer Gewohnheitsveränderung ist der konkrete Schritt, eine einzige Gewohnheit konsequent zu verändern. Das ist ein erster Schritt, auf den mühelos weitere Schritte folgen. Jeder Schritt für sich gesehen ist einfach – die Veränderung, die entsteht, kann groß, großartig und auch kompliziert sein.
Damit das Buch nicht bloß eine Folge von schönen Gedanken ist, habe ich ein Dutzend Personen gebeten, sich einem „30-Tage-Experiment“ zu unterziehen: einen Monat lang jeden Tag konsequent eine einzige Gewohnheit zu verändern, entweder sich eine neue Gewohnheit anzueignen oder mit einer Gewohnheit zu brechen. Diese Erfahrungen sind in das Buch eingeflossen. Ich habe auch mit meinem Leben experimentiert. Das Buch ist damit im Grunde die bescheidene Form einer „Selbstethik“, einer „Ethik im Umgang mit mir selbst“, einer experimentellen Lebensethik.
Ich danke Hannes Steiner für den Anstoß zu diesem Projekt sowie Christina Kindl, Claudia Jürgens und Martina Paischer für die Betreuung. Danken möchte ich auch allen Gewohnheitskünstlerinnen und -künstlern, die sich auf ein Lebensveränderungsexperiment eingelassen haben. Ihre Namen wurden selbstverständlich verändert. Bitten darf ich um wohlwollende Aufnahme der Gedanken.
Ich möchte dieses Buch Professor Steve Bevans zu seinem 70. Geburtstag widmen. Steve hat es sich zur Gewohnheit gemacht, sich jeden Tag durch die Lektüre von Lebensbeschreibungen heiligmäßiger Menschen inspirieren zu lassen. Er ist selbst zur Inspiration geworden.
Salzburg, im Sommer 2014
Gewohnheiten sind alltäglich. Begriffe wie „selbstverständlich“, „vertraut“, „regelmäßig“ kommen hier in den Sinn, im Gegensatz zu „spontan“, „einmalig“, „neu“. Gewohnheiten strukturieren einen Tag. Wir setzen uns gern an denselben Platz an einem Ort, den wir öfter frequentieren, wir bestellen gerne immer das Gleiche in einem Restaurant, die meisten von uns sind froh, wenn sie die gleichen Dinge immer wieder tun können. Viele Menschen haben eine Morgenroutine, mit der sie in den Tag schreiten, ohne in den Tag hineinzustolpern. Wasser, Sport, Ruhe, Frühstück, so hört man, seien gute Elemente einer vernünftigen, gesundheitsbewussten Morgenroutine. Dann bekommt man die Kraft für einen langen Tag. Denn Obacht, ein Tag kann lang sein.
„Ein Tag hat viele Leben“ ist ein Satz, der folgenden Gedanken ausdrücken soll: Ein Tag im Leben eines Menschen kann lang sein; am Anfang eines Tages liegt ein weißes Blatt Papier vor einem Menschen, der dieses Papier dann Stunde um Stunde füllt. 24 Stunden lang zu fasten kann den Tag ebenso lang machen wie das Warten auf etwas Wichtiges, eine beschwerliche Reise, ein ereignisarmer Wochenendtag. Wenn man einen Film drehen möchte, ist es schon ein großer Erfolg, wenn ein langer Arbeitstag zwei Minuten Filmmaterial erbringt. Es kann schwer sein, einen Vorsatz einen ganzen langen Tag mit seinen Höhen und Tiefen, die er mit sich bringt, durchzuhalten. In religiösen Traditionen sagt man manchmal, dass Heilige nicht durch außergewöhnliche Taten „gemacht“ werden, sondern durch den gelebten Alltag. Meine Großmutter sagte gern, es komme darauf an, jeden Tag „mit Anstand“ hinter sich zu bringen.
Ein Tag kann lang sein. So wie ein Dorf oder ein Kloster oder auch das Heim einer Familie ein „Mikrokosmos“ ist, in dem sich das menschliche Leben als Ganzes, mit all seinem Auf und Ab, zeigt, so ist auch ein Tag eine Welt für sich. „Jeder Tag hat seine eigene Plage“, heißt es in der Bergpredigt (Mt 6,34). Unser Leben ist eine Abfolge von Tagen; jeder Tag ist eine vollständige Einheit. Jeder Tag ist „der Beginn des restlichen Lebens“. Ein Freund von mir hat am Tag seiner Priesterweihe das Pfarrfest unter das Motto gestellt: „Today is the beginning of the rest of my life“. Dieser Satz gilt an jedem einzelnen Tag. Dieser Satz gewinnt in fortgeschrittenem Alter oder angesichts einer Grenze an Brisanz.
Der polnische Jurist Raphael Lemkin, der Vorkämpfer der Menschenrechte, der das Wort „Genozid“ prägte, war seit dem 6. September 1939 nach dem Einfall der Nazis auf der Flucht und wollte seinen Eltern einen Abschiedsbesuch abstatten. Er hatte sich von Warschau aus auf abenteuerliche Weise durchgekämpft – jeder Tag ein neuer Kampf mit Todesgefahren, jeder Tag eine Herausforderung mit Hunger, Bedrohungen, der Frage nach dem Schlafplatz und der Marschroute. Er wurde festgenommen und wieder freigelassen, erfuhr Ablehnung und blanke Aggression. Aber er schaffte es, Wołkowysk, die Stadt seiner Eltern, zu erreichen. Wie ein Dieb stahl er sich um sechs Uhr morgens ins Haus. Ein Freudentag, ein langer Freudentag. Frühstück, erschöpftes Ausruhen, das besondere Lieblingsmittagessen mit allen Kindheitserinnerungen. Am Nachmittag die ernsthaften Gespräche. Lemkin konnte seine Eltern nicht dazu überreden, ihren Heimatort zu verlassen, um über die neutralen Länder Litauen und Schweden in die USA auszuwandern. Sie weigerten sich, mit ihm zu ziehen. So verbrachte er noch einen weiteren, letzten Tag mit ihnen. In seiner Autobiografie schrieb Raphael Lemkin: „Ich versuchte, ein ganzes Jahr in diesem einen Tag zu leben, Zeit von der Zukunft zu borgen, die Seele meines Zuhauses aufzunehmen. Ich schaute ihre Gesichter intensiv an, gewissermaßen um sie meinem Gedächtnis so einzudrücken, dass sie dort für immer bleiben würden.“[1] „Ich versuchte, ein ganzes Jahr in diesem einen Tag zu leben“, die Fülle eines ganzen Lebensjahres in den einen Tag hineinzupressen. An diesem einen Tag wurde über jene Erinnerungen entschieden, von denen die Zukunft zehren würde.
Der Blick auf Gewohnheiten bringt eine neue Achtung vor einem Tag mit sich. Wir haben nur den heutigen Tag; der gestrige Tag ist vergangen und verloren; der morgige Tag ist noch nicht da und noch im Nebel; wenn wir unser Leben in die Hand nehmen und gestalten wollen, dann am heutigen Tag. Jetzt. 24 Stunden sind eine lange Zeit. Am Stadtrand von Le Mans wird seit 1923 das jährliche 24-Stunden-Rennen ausgetragen, in dem es darum geht, innerhalb eines Tages möglichst viele Runden zurückzulegen. Das Rennen zeigt, was zum Erstaunen vieler innerhalb von 24 Stunden möglich ist; das Rennen zeigt auch, dass die Vorbereitung auf einen besonderen Tag und auch der Beginn des besonderen Tages selbst entscheidend sind. Nicht nur, dass die Rennfahrer lange und penibel trainieren; 1925 wurde auch der „Le-Mans-Start“ eingeführt, bei dem die Teilnehmer zu ihren Fahrzeugen rennen mussten, um die Wagen stehend zu starten. Le Mans erinnert auch immer wieder an die Weisheit: „Es sind nicht immer die Schnellsten, die das Rennen machen“, da Ausdauer und Wachsamkeit bis zum Schluss entscheidend sind und nicht unbedingt die Geschwindigkeit auf der berühmten langen Geraden. So gewann Jacky Ickx das Rennen 1969, obwohl er demonstrativ langsam zu seinem Fahrzeug schritt. Ein langer Tag will gut geplant sein – und braucht einen guten Anfang. Wir werden noch sehen, dass der Anfang eines Tages mit Recht als Angelpunkt für Gewohnheitsveränderungen angesehen werden kann.
Gewohnheiten ermöglichen den Übergang von „Tag“ zu „Alltag“; wenn sich bestimmte Gewohnheiten einstellen, kann aus einem Tag „Alltag“ werden. Alltag ist das, was dem Leben Halt und Struktur gibt; Alltag ist die Gesamtheit der sich täglich wiederholenden Abläufe und der Inbegriff dessen, was wir als „gewöhnlich“ ansehen. Damit ist der Begriff des Alltags widersprüchlich – er steht einerseits für das Vertraute, Kontinuierliche, andererseits für das routinemäßig Wiederholte, „Graue“ des stets Gleichen.[2] Die Frage „Ist heute etwas Besonderes vorgefallen?“ zielt auf Außeralltägliches hin. Die ungarische Soziologin Agnes Heller hat hingegen den Zusammenhang zwischen Alltag und Kreativität bzw. Fortschritt betont.[3] Heller war in ihrem Denken von der Überzeugung geleitet, dass die großen Leistungen einer Kultur aus Herausforderungen, Problemen, Konflikten und Bedürfnissen des täglichen Lebens herrühren. Wir bemühen uns im Leben darum, einen Alltag zu schaffen, eine „Lebenswelt“ alltäglicher Lebenspraxis.[4] Wenn eine Patientin oder ein Patient längere Zeit im Krankenhaus verbringen muss, ist die Einrichtung von Alltag ein zentrales Element der Gestaltung des Aufenthalts.
Alltag und die Bewältigung des Alltags strukturieren unser Leben. Alltag hat mit Normalität, Erwartbarkeit, Vorhersagbarkeit, verlässlicher Wiederholung zu tun. Die Fähigkeit zur Bewältigung des Alltags wiederum sagt viel über seelische und soziale Gesundheit aus, über das Vermögen, das Leben mit seinen Anforderungen zu bewältigen. In der sozialen Welt gibt es das Phänomen der „erschöpften Familien“[5]; es handelt sich dabei um Konstellationen von Familien, die dem Alltag nicht mehr gewachsen sind: Eltern, die keine Post mehr öffnen, die Kinder nicht mehr in die Schule schicken, nicht mehr kochen, nicht mehr einkaufen ... In erschöpften Familien kann der Haushalt mit den anfallenden Routinearbeiten nicht mehr geführt werden. Die Routinen haben sich erschöpft. Diese elementaren Aspekte der Lebensbewältigung prägen unter normalen Umständen den Alltag. Gerade in einer entrhythmisierten Zeit, die hohes Tempo und große Flexibilität abverlangt, ist der Alltag auf vielfache Weise bedroht. Doch wenn Alltag verloren geht, verschwindet die Sicherheit des wiedererkennbaren und zuverlässigen Lebensvollzugs. „Alltagsschwund“ ist eine Strategie, mit der Menschen unterdrückt werden können. Zeugnisse israelischer Soldaten, die in den besetzten palästinensischen Gebieten arbeiteten, berichten von der Erosion des Alltags; Willkürakte und Demütigungen, unberechenbares Vorgehen, unklare Regelungen tragen dazu bei, dass sich Alltag nicht herausbilden kann. Beispielsweise wird der Strom abgestellt, die Gemüsekisten eines Transporters werden an einem Kontrollpunkt ausgeleert, Soldaten reißen Menschen in der Nacht zu Kontrollzwecken aus dem Schlaf … Das führt zu enormem kollektivem Stress, zum Niedergang von Normalität.[6] Es verwundert nicht, dass Robert und Edward Skidelsky „Sicherheit“ als ein notwendiges Element eines guten Lebens beschrieben haben[7]; „Sicherheit“ wird dabei als die berechtigte Erwartung eines Menschen verstanden, dass das eigene Leben weiterhin mehr oder weniger seinen gewohnten Gang gehen wird ohne Störung durch Krieg, Verbrechen, Revolution oder größere gesellschaftliche und wirtschaftliche Umbrüche. Wir könnten auch sagen: Sicherheit ist die Möglichkeit, Gewohnheiten zu etablieren und aufrechtzuerhalten. Das ist ein Grundelement eines guten Lebens. Gewohnheiten vermitteln wegen ihrer Gleichförmigkeit Stabilität und damit Sicherheit im Aufbau eines Alltags. „Alltagsfähigkeit“ ist also Teil eines Lebens, das wir als „gelingend“ und „gut“ empfinden.
Wir bewältigen unser Leben unter anderem dadurch, dass wir an einem Alltag bauen. Dies geschieht durch Gewohnheiten: Die meisten Menschen haben gewohnheitsmäßige Routinen, die sie durch den Tag führen. Mason Currey hat in einem Buch diese „kleinen Rituale“ von mehr als 160 berühmten Persönlichkeiten, Schriftstellerinnen und Künstlern, Musikern und Philosophinnen, Wissenschaftlerinnen und Politikern, zusammengetragen.[8] Eine tägliche Routine kann dazu beitragen, die eigene Produktivität und Kreativität zu steigern und Ablenkungen zu verhindern. Sie zu finden ist eine Kunst. Hier sind Experimente zur Gestaltung des eigenen Arbeitsrhythmus notwendig – wann und wo und wie kann ich am besten arbeiten? Ist Musik eine Unterstützung? Hilft es mir, wenn ich Tiere sehe, wie dies bei Gertrude Stein der Fall war, der man aus Gründen der Inspiration Kühe ins Blickfeld treiben musste? Die amerikanische Schriftstellerkollegin Sylvia Plath plagte sich bis zu ihrem Tod damit, eine für sich fruchtbare Tagesstruktur zu finden; ihr war klar, dass Regelmäßigkeit paradoxerweise Türen zur Kreativität öffnet. Und Philip Roth hat ein Gästecottage als Arbeitsraum, wo er nach dem Frühstück von 10 Uhr bis 18 Uhr arbeitet, mit einer einstündigen Mittagspause. Er hat diesen Ort und diesen Rhythmus als unterstützend erkannt.[9] Marcel Proust wiederum schrieb ausschließlich im Bett, den Kopf mit zwei Polstern abgestützt, was aufgrund der körperlichen Anstrengung immer wieder zu Schmerzen und Unbehagen führte.[10] Auch der österreichische Neurologe Viktor Frankl blieb nach dem Aufwachen und einer Tasse starken Kaffees, von Ehefrau Elly gebracht, noch liegen, um zu schreiben, die Korrespondenz zu erledigen oder sich Notizen zu machen, das Diktiergerät auf einem Stuhl neben seinem Bett.[11] William Faulkner arbeitete am besten am Vormittag, Sigmund Freud schrieb am liebsten nachts.[12] William Somerset Maugham veröffentlichte 78 Bücher, vor allem auch deswegen, weil er einer klaren Routine folgte, jeden Vormittag drei bis vier Stunden schrieb und sich auferlegt hatte, jeden Tag mindestens 1000 bis 1500 Wörter zu schreiben.[13] Der vor allem durch seine Kriminalromane bekannte Georges Simenon, der es auf 425 Bücher in seiner Laufbahn brachte, schrieb nie mehr als drei Stunden am Tag.[14] Er hatte sich eine Routine zurechtgelegt, die ihn nicht erschöpfte, ihm aber ein Maximum an Produktivität ermöglichte. Das ist wohl die Idee des guten Alltags.
Zusammenfassend: Gewohnheiten sind das Rückgrat von Alltag; Alltag ist eine Grundlage für ein ruhiges Leben mit einem Gefühl von Sicherheit. Sicherheit ist die Möglichkeit, Gewohnheiten einüben und ausüben zu können. Dies geschieht durch bestimmte Routinen, die sich Menschen aneignen. Die etablierte Routine ist dann weniger eine Haltung schaffende Gewohnheit als eine Gewohnheit, die einen Rahmen bereitstellt.[15] Dieser Rahmen soll so beschaffen sein, dass produktives und kreatives Schaffen ohne Erschöpfung möglich sind. Wenn der Rahmen das Leben einengt und beschwert aufgrund von Bequemlichkeit, drängt sich der Satz auf: „Ich muss mein Leben ändern.“
Der Satz „Ich bleib so scheiße, wie ich bin“[16] steht in eigenartigem Gegensatz zu Ronald Dworkins Überlegung, dass wir eine Pflicht haben, aus unserem Leben etwas zu machen. Das sei ein absoluter Wert. Das Leben sei einem Kunstwerk vergleichbar, das es zu gestalten gelte, eingedenk der Begrenztheit des Lebens.[17] Es gebiete der Selbstrespekt, so Dworkin, das eigene Leben authentisch zu leben, das heißt, jenen „Stil“ zu finden, jene Lebensform, die das ausdrücken, was einem wichtig ist – und nicht einfach gewohnheitsmäßig Konventionen zu folgen.[18] An einem authentisch gelebten Leben zeigt sich auch, ob man sich selbst ernst nimmt. Ich möchte das, was mir wichtig ist, in meinem Leben ausdrücken und so leben, dass ich mit dem, was mir wichtig ist, verbunden bin. Das würde dann darauf hinauslaufen, das Leben nicht einfach Tag für Tag verplätschern zu lassen, sondern an sich und am Leben zu arbeiten. Dann steht das Leben dauerhaft unter dem Motto „Du sollst dein Leben ändern“. Das kann natürlich eine Form von Stress erzeugen, die man braucht wie ein zusätzliches Loch im Kopf. Das kann zu „Sinnstress“ führen, dem Druck, ein sinnvolles Leben haben zu müssen, ähnlich wie es „Glücksstress“ gibt, den Druck, glücklich sein zu müssen. Gretchen Rubin hat in einem bekannten „Glücksprojekt“ („Happiness Project“) wissenschaftlich fundierte Ideen zur Steigerung des Lebensglücks getestet – Zeit, mit Freundinnen und Freunden zu verbringen, die Bewegungsgewohnheiten umzustellen, aufzuräumen, Bücher zu lesen, gute Gedanken zu nähren ...[19] Eine Erfahrung dieses Projekts lautet: Man kann an seinem Glück arbeiten; eine andere: Im Grunde kann man Glück nicht suchen, nur finden. Ähnlich mag es sich mit dem Sinnstress und dem Druck, ein sinnvolles Leben führen zu müssen, verhalten. Analog zu Gretchen Rubins Glücksprojekt kann man sich ein sinnstiftendes Projekt überlegen, in dem ausgesetzte Hunde adoptiert, einsame Menschen besucht, eine Hilfsaktion für ein bürgerkriegsgeschütteltes Land gestartet, Bäume gepflanzt und die nächsten drei geplanten Bücher nicht geschrieben werden. Auch hier könnte sich zeigen: Man kann seinem Leben eine Form, auch eine sinnstiftende Form geben, aber eben nur bis zu einem gewissen Punkt. Dieser Punkt berührt das, was man „Zufall“, „das Unplanbare“, „Preis der menschlichen Verletzbarkeit“ oder auch „Gnade“ heißen könnte. Eine Lebensform ist stets auch „offen“. Das schränkt den Geltungsanspruch von Gewohnheitsveränderungen ein.
Dennoch bietet eine Lebensform die Möglichkeit einer klaren und konsequenten Veränderung. Eine Lebensform ist ein über die schillernden Veränderungen von Situationen hinausgehender stabiler Rahmen, der vor allem von Gewohnheiten bestimmt wird. Gewohnheiten geben dem Leben „Form“. Mitunter sind wir in dieser Form geborgen, dann wieder gefangen wie in einer schützenden, aber auch die Flucht verhindernden Festung. Es bedarf eines Anstoßes, um daran zu denken, an dieser Form etwas zu verändern. Dies war die Erfahrung des jungen Nordkoreaners Shin Dong-hyuk, der 1982 in einem nordkoreanischen Gulag (Lager 14) als Sohn von zwei Häftlingen geboren wurde und dem im Alter von 23 Jahren die Flucht gelang.[20] Shin hatte seit seiner Geburt nie etwas anderes als das Lagerleben mit seiner Willkürherrschaft, Nahrungsmittelknappheit und einem System gegenseitiger Denunzierung gekannt. Shin konnte sich kein Bild von der Welt außerhalb des Lagers erarbeiten, die Schüler in der Lagerschule wurden nicht über die geografische Lage des Landes oder der Nachbarstaaten informiert. Er wusste nicht einmal, dass es ein Leben außerhalb Nordkoreas gab und dass manchen Menschen die Flucht aus dem Lager gelungen war. Der Anstoß zu diesem Umdenken erfolgte durch seine Begegnung mit dem gebildeten Häftling Park, der ihm erstmals die Idee eines anderen Lebens, eines Lebens außerhalb des Lagers, vermittelte. Durch Park veränderte Shin nicht nur seinen Blick auf das Leben, sondern auch seine Lebensgewohnheiten; Park bemühte sich beispielsweise um „eine würdevolle Haltung, insbesondere wenn Essenszeit war“.[21] So wurde Shin ein Anstoß gegeben, sein Leben zu verändern, tief greifend zu verändern. Er begann auf neue Weise über sich und sein Leben nachzudenken, Denkgewohnheiten veränderten sich. „Freiheit war in Shins Vorstellung einfach ein anderes Wort für gegrilltes Fleisch“[22]; das sollte sich nun ändern, das Wort „Freiheit“ bekam einen anderen Klang, eine Tiefe und Ernsthaftigkeit. Der Anstoß für ein verändertes Nachdenken über das Leben und damit für den Entschluss zur Lebensveränderung, zur Veränderung der Lebensform, war in Shins Fall die Begegnung mit einem Menschen, der ihm eine andere Welt eröffnete.
In meinem Fall war der Anstoß für das Ringen um eine Lebensveränderung ein zufällig entdeckter Brief: Habe ich den Brief wirklich gefunden? Ich habe eines Abends meinen Schreibtisch aufgeräumt, routinemäßig. Vertraute Zettelstöße, Abrechnungen, das Buch aus der Bibliothek, das zurückgegeben werden muss, die unerledigte Post, die korrigierten Prüfungsarbeiten mit den Rückmeldungsbögen, Formulare und so weiter. Wie immer. Handgriff für Handgriff, nichts Überraschendes. Dann ein kleiner, harmloser Zwischenfall – ein Blatt Papier (genau gesagt, eine Bestätigung für das Finanzamt) flatterte davon und fiel in die unterste Schreibtischschublade, die ich zuvor geöffnet hatte; ich wühlte herum und fand nicht nur besagtes Blatt, sondern auch einen recht alten, ungeöffneten Brief, auf dem „Clemens Sedmak“ stand. Die Handschrift war irgendwie vertraut, ich konnte sie aber nicht zuordnen. Ich öffnete den Umschlag, nahm das Blatt, das darin lag, heraus, und dann fiel mir die „Vereinbarung mit mir selbst“ wieder ein. Der Brief war vor 22 Jahren geschrieben worden und lautete:
Lieber Clemens! Es ist mir nicht klar, wem ich diesen Brief schreibe, natürlich mir selbst; aber was heißt das? Ich bin jetzt 20 Jahre alt, und wenn Du diesen Brief liest, bist Du, so ist es ausgemacht, 42 Jahre alt, falls Du bis dahin noch am Leben bist. Oder anders gesagt: Wenn ich diesen Brief wieder lese, ist es 22 Jahre her, seit ich diesen Brief geschrieben habe. Ich will nicht lange um den hoffentlich heißen Brei herumreden, sondern komme gleich zum Punkt: Wo stehst Du im Leben? Bist Du beruflich und privat fest verankert? Ich würde schon hoffen, dass Du ein Studium abgeschlossen und einen Beruf gefunden hast, es würde mich freuen, wenn Du Familie hast. Hast Du einen Alltag? Wie sieht er aus? Welche Gewohnheiten hast Du Dir angeeignet, was ist Dir, um mit Aristoteles zu sprechen, zur zweiten Natur geworden? Wie stehst Du jetzt da? Vielleicht in einem Leben mit eingefleischten bürgerlichen Gewohnheiten, einem Wohlstandsbauch, beginnendem Haarausfall, ungesunden Ess- und Bewegungsgewohnheiten? Ein Leben in Bequemlichkeit? Was ist aus Deinen Idealen geworden? Die Ideale, die Du als 20-jähriger Mann hattest? Ich darf Dich erinnern: Das Ideal, die Welt zu einem besseren Ort zu machen und glaubwürdig zu leben; das Ideal, jeden Tag, so wie es Gandhi gesehen hat, als einen entscheidenden Schritt in die richtige Richtung zu sehen und zu nutzen, also die Tage nicht einfach zu verplempern? Das Ideal, nach einem guten Leben zu suchen, das mit Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit gelebt werden kann? Kurz, ein Leben in Redlichkeit, in Integrität. Wo stehst Du da? Kannst Du Deinen Kindern in die Augen schauen? Viele Fragen, aber eigentlich ist es nur eine einzige: Lebst Du ein integres Leben? Ich hoffe, Du enttäuschst den Autor dieses Briefes nicht – also Dich selbst. Wenn Du aber dermaßen in einer Routine des Denkens und Empfindens eingefroren bist, dass Dich die Abkehr von Deinen einstigen Idealen nicht einmal mehr enttäuscht, so tut mir das so leid, dass ich froh bin, Dir nicht begegnen zu müssen. Oder muss ich das? Sind wir siamesische Zwillinge, aneinandergebunden, ja aneinandergekettet? Ich habe jedenfalls die Grundlage für die genannten Ideale gelegt. Ich hoffe, Du hast sie nicht verspielt. Leb wohl, also: Lebe redlich! Clemens
Ein eigenartiger Brief, nicht wahr? Nun konnte ich mich wieder erinnern. An meinem 20. Geburtstag hatte ich es mir zum Ziel gesetzt, mein Leben in die Hand zu nehmen und mir selbst treu zu bleiben. Wenn du 20 Jahre alt bist, bist du manchmal feierlich gestimmt: Ich und mein Leben – wie wollen wir diese Beziehung fruchtbar gestalten? Oder auch: Mein einzigartiges Leben angesichts des offenen Horizonts – was kann das noch alles werden? Wenn du 20 Jahre alt bist, ist der 42. Geburtstag weit weg. Sehr weit weg. Man lebt mit der leisen Ahnung, dass der 42. Geburtstag der Tag im Leben eines anderen Menschen in einem anderen Land ist. Man ist umgeben von Menschen, die den 40. Geburtstag hinter sich gelassen haben, und denkt sich mit Blick auf deren Lebensgewohnheiten wohl: „So nicht!“ Wäre ich an meinem 20. Geburtstag mir selbst im Alter von 42 begegnet, es wäre für den 20-Jährigen die Begegnung mit einem Fremden gewesen. Das ist übrigens ein interessantes Gedankenexperiment: Stell dir vor, du erwachst und hast 22 Jahre deines Lebens verschlafen, das ohne dich weitergelaufen ist. Du stehst dir nach 22 Jahren als fremder Person mit ihren Gewohnheiten und all dem, was für sie selbstverständlich geworden ist, gegenüber. Vielleicht bist du dir richtig unsympathisch geworden; vielleicht fragst du dich, warum dein Bruder nicht mehr mit dir spricht oder warum du deine Freunde von damals nicht mehr kennst – oder sie dich nicht mehr kennen wollen.
Jedenfalls hatte ich Glück – ein Schelm, der hier an Zufall glaubt –, diesen Brief nach 22 Jahren gefunden zu haben, den Brief, den ich schon längst vergessen hatte. Ich weiß nicht mehr genau, warum gerade der 42. Geburtstag ein Stichtag für mich war, gewissermaßen die Aufforderung zu einer Inventur. Ich glaube nicht, dass es damit zu tun hatte, dass Elvis Presley mit 42 Jahren verstarb. Oder auch der dänische Philosoph Søren Kierkegaard, dessen Leben im Jahr 1855 im Alter von 42 endete. Möglicherweise hatte ich gelesen, dass das Durchschnittsalter der Philosophinnen und Philosophen, wenn sie ihr wichtigstes Werk vollendeten, 42 war. Das scheint mir plausibel. Vielleicht war ich auch von Douglas Adams’ Buch „Per Anhalter durch die Galaxis“ („The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy“) beeindruckt gewesen, das auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest („life, the universe and everything“) die Antwort „42“ präsentierte. Das halte ich aber eigentlich für unwahrscheinlich. Jedenfalls konnte ich mich nun wieder an die Situation erinnern: Ich hatte am Schreibtisch in meinem Zimmer im Haus meiner Eltern gesessen, Semesterferien, war an meinem Geburtstag früh aufgestanden, befand mich in einer feierlichen und mich selbst sehr wichtig nehmenden Stimmung und schrieb den Brief in einem Zuge nieder. Danach ging ich an jenem Augusttag zu meinem damaligen Lieblingsplatz, den Felsen am Fluss, mit zukunftsträchtigen Gedanken beschäftigt. Lange her.
Der Brief hat mich wirklich aufgewühlt; er brachte viele Erinnerungen zurück, an meine Lebenssituation vor mehr als zwei Jahrzehnten. An den Vorsatz, nicht auf eingetretenen Pfaden zu gehen und träge Selbstverständlichkeiten sich nicht einschleifen zu lassen. Ich verbrachte den Rest des Abends in einem Zustand der Abwesenheit, ging zu Bett, konnte dann länger nicht einschlafen, musste immer wieder an diesen Brief denken. Mittlerweile hatte ich Robert Nozicks Buch über das geprüfte Leben gelesen, in dem er als 50-jähriger Philosoph über die großen Fragen des Lebens nachdenkt, auch über seine Jugendideale. Er schreibt einen kurzen, zwei Seiten langen Text mit dem an James Joyce angelehnten Titel „Porträt des Philosophen als junger Mann“[23] ein Exemplar von Platos Buch „Der Staat“ mit sich herumtrug und hoffte, dass ihn jemand damit entdecken und von ihm beeindruckt sein würde. Als 50-jähriger Mann blickte Nozick auf diese Szene zurück und fragte sich, ob der junge Mann von damals nicht insgeheim die Anerkennung des erwachsenen Robert Nozick gesucht hatte. Wir suchen, so überlegt sich Nozick, die Anerkennung unserer Eltern, und danach bemühen wir uns, für uns selbst, so wie wir waren, eine Elternrolle zu übernehmen; damit werde Reife greifbar.[24] Nozick schrieb also gewissermaßen als 50-jähriger erfolgreicher Philosoph einen Brief an sein 15-jähriges Ich; ich fand einen Brief des 20-jährigen Ich an mein 42-jähriges Ich vor. Nozick schenkte seinem 15-jährigen Vorgänger Anerkennung; in meinen Fall war es das Ringen darum, vor den hypothetischen Augen des 20-Jährigen zu bestehen.
Was also war aus mir und meinen Idealen geworden? Ich musste ja zugeben, dass der Autor des Briefes nicht ganz unrecht hatte; ich hatte es mir in meinem Leben eingerichtet, „wohnlich“ gemacht, bequem, folgte einer gewissen Routine, hatte gewisse ungesunde Gewohnheiten und Angewohnheiten. Kein Wunder, dass Eltern ihren Kindern mitunter peinlich sind; ich wäre mir selbst wohl auch peinlich gewesen, zeitversetzt sozusagen.
Wie glaubwürdig war mein Leben? Gandhi hatte sein Leben, so glaube ich mich zu erinnern, mit 37 Jahren radikal umgestellt, jede Gewohnheit geprüft, jeden Bereich seines Lebens hinterfragt, in jedem Lebensaspekt – Ernährung, Erziehung, politisches Engagement, Lektüre, Handarbeit, Ehe, medizinische Behandlung – die Wahrheit zu finden sich bemüht. Er hatte, wie er schrieb, systematisch versucht, „mit der Wahrheit“ zu experimentieren, mit all seinen Lebensgewohnheiten.[25] Gandhi beschreibt etwa, wie er es sich angewöhnt hatte, selbst die Wäsche zu waschen, motiviert durch die Suche nach einem einfachen Leben, die hohe Wäschereirechnung und die unerwünschte Abhängigkeit vom Personal in der Wäscherei; er besorgte sich ein einschlägiges Buch, Ausrüstung, und nach mehreren missglückten Versuchen entdeckte er die Schönheiten des Selberwaschens.[26] So veränderte er Schritt für Schritt die sein Leben prägenden Gewohnheiten.
Wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, erkennt man, dass man, ohne es eigentlich zu wollen, eine bestimmte Person und Persönlichkeit geworden ist.[27] Ingeborg Bachmann beschreibt dieses Lebensgefühl in ihrer 1961 erschienenen Erzählung „Das dreißigste Jahr“. Man erkennt, dass die Zeit, die, in der man glauben mochte, „alles“ werden zu können, vorbei ist; der Vorhang hebt sich, man bekommt sein Stichwort und muss zeigen, was man wirklich denkt und wozu man wirklich fähig ist. Hier kann sich auch das Gefühl einstellen, in einer Falle zu sitzen.
Saß ich schon in der Falle? In der Falle von Gewohnheiten und Lebensbahnen, die wie Schienen vorgegeben und fix eingestellt waren? Viele Gedanken, die mich beschäftigten. Der Brief ließ mich nicht mehr los, arbeitete in mir, erzwang Gefühle von Beschämung ob des Selbstverrats und stellte schließlich den Satz in den Raum, der am Anfang eines Arbeitens an Gewohnheiten steht: „Du sollst dein Leben ändern.“[28]