Über dieses Buch:
Im friesischen Städtchen Tondern ist der 30-jährige Krieg noch allgegenwärtig: Verwüstungen, Hunger und Elend bestimmen das Dasein eines Jeden. Als dann auch noch die Pest ausbricht, herrscht blanke Todesangst. Ist es Gottes Strafe oder gar bösartige Hexerei? Aller Augen richten sich auf Kapitän Redlefsen, der neu in der Stadt ist.
Aus dem besorgten Volk wird schnell eine blutgierige Meute, die nur eins will: Die Schuldigen sollen brennen! Redlefsen und seine junge Geliebte Inken geraten in den Strudel der grausamen Racheakte – und die Scheiterhaufen knistern schon …
Über die Autorin:
Kari Köster-Lösche, 1946 in Lübeck geboren, Tierärztin und Wikingerexpertin, hat einen Großteil ihrer Jugend im schwedischen Uppsala, dem Zentrum der nordischen Kultur, verbracht. Heute lebt und arbeitet sie als freie Autorin in Nordfriesland.
Kari Köster-Lösche veröffentlicht bei dotbooks bereits die historischen Romane »Die Erbin der Gaukler«, »Jagd im Eis«, »Die Wagenlenkerin«, »Die Reeder«, »Die Heilerin von Alexandria« und das Kinderbuch »Stille Nacht, eisige Nacht« sowie zwei historische Romanserien:
DIE WIKINGER-SAGA:
»Der Thorshammer – Band 1«
»Das Drachenboot – Band 2«
»Die Bronzefibel – Band 3«
DIE SACHSEN-SAGA:
»Das Blutgericht – Erster Roman«
»Donars Rache – Zweiter Roman«
»Mit Kreuz und Schwert – Dritter Roman«
Beide Romanserien sind jeweils auch als Sammelbände erhältlich.
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eBook-Neuausgabe Juni 2015
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ISBN 978-3-95824-259-3
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Kari Köster-Lösche
Die Hexe von Tondern
Roman
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Grau und trübe begann der Michaelistag im Jahre des Herrn 1650 im Norden Frieslands. Er unterschied sich in nichts von allen anderen Tagen der letzten Wochen. Die Feuchtigkeit durchdrang Kleidung, Möbel, Gerätschaften; der Ofen in der Wohnstube war morgens naß vom Wasser, das sich darauf niederschlug.
Und der Wind nahm seit Tagen zu.
Für gewöhnlich kam ein Sturm in dieser Jahreszeit aus Südwest, wurde stärker und drehte auf Nordwest, um dann allmählich abzuflauen.
Diesmal war es kein richtiger Sturm, und er war von anderer Art.
Tagelang hatte er aus Nord geweht, dann war er plötzlich eingeschlafen. Zwei Tage vor Michaelis war es ganz still geworden, so daß man die Möwen in den abgeernteten Feldern hatte hören können. Am Abend wurde der Himmel blutrot, doch ein wenig später ballte sich eine große düstere Wolke zusammen. Ihr schwärzester Teil lag über der kleinen Stadt Tondern im Herzogtum Schleswig. Sie war wie ein Hammer über einem Amboß geformt.
Müller Nes im Dörfchen Lügum südlich von Tondern konnte hinter die Dinge sehen. Er wußte, daß ein großes Unglück die Gegend heimsuchen würde. Am Anfang des Jahres waren zur Warnung der frommen Menschen zwei Sterne in den Wald von Tondern gefallen.
Jetzt aber stand das schreckliche Unglück kurz bevor. Müller Nes bemerkte als einziger, daß hinter der Wolke ein großes Schiff erschien, das mit sämtlichen Segeln an seinen zwei Masten aufrecht und schnell vor dem Wind dahinglitt. Einen Augenblick später brach es auseinander und verschwand.
Seither ging Nes mit vibrierenden Nerven umher, obwohl er ein vierschrötiger Kerl war, unter dessen Füßen der Boden dröhnte, wenn er mit dem Sack in die Mühle stapfte.
Am Michaelistag lud Nes wie gewöhnlich das Korn auf der hölzernen Plattform vor dem Eingang ab und hielt über das flache Land nördlich des Mühlenhügels hinweg Ausschau. Unter der dichten Wolkendecke zeichneten sich in der Ebene dunkel die Häuser der Stadt Tondern ab. Und davor funkelte eine weite Wasserfläche, die es an dieser Stelle sonst nicht gab. Dort mußte er hindurch, wenn er den Amtmann des Amtes Tondern warnen wollte.
Nes schüttelte sich und schlug verstohlen das Kreuz, wie es früher Brauch gewesen war, damals, bevor der neue Glaube um sich gegriffen hatte und die Mönche aus Tondern vertrieben worden waren. Frevel war es gewesen, ihr Kloster abzureißen. Seitdem blühten Hexenkunst und Teufelswerk allerorten.
Und der Wind nahm weiter zu.
1. In Lügum
»Mutter, Inken ist hoffärtig und eitel.«
Tade schüttelte den Kopf. Was war jetzt wieder los? Ständig nörgelte seine jüngste Tochter Petrine an Inken herum, seiner älteren. Petrine schlug überhaupt wenig nach ihm; wäre es nach Tade gegangen, hätte sie mehr Fleiß darauf verwendet, Nützliches zu lernen, wie schreiben und lesen.
Durch die geschlossenen Fensterläden hörte er ein Murmeln; seine Frau beschwichtigte das eifersüchtige kleine Mädchen mit sanften Worten. Mit verschränkten Armen blieb Tade stehen und betrachtete sein Haus. Es war sein Besitztum, von einem Baumeister aus Dithmarschen gebaut, der sein Handwerk weiter im Süden gelernt hatte. In dieser Gegend war es noch nicht üblich, zum Bau dörflicher Häuser gebrannte Ziegel zu verwenden, und so hatte Tade sich den Zorn seiner Nachbarn zugezogen.
Das Haus war gut und fest, ebenso wie der Stall. Bald würde Tade seine Ochsen hereinholen müssen. Noch waren sie draußen auf der Fenne, von der er nach seinem morgendlichen Rundgang soeben zurückkehrte. Als er durch die dunkle Diele zur Küche schritt, hörte er seine Frau Kaike hantieren und roch das Feuer, über dem der Brei köchelte.
»Ich gehe heute nach Tondern«, verkündete Tade entschlossen, »besser wird das Wetter in den nächsten Tagen ganz sicher nicht. Ich muß unbedingt mit Arne Mickelsen wegen der Ochsen reden.«
Kaike nickte mit einem tiefen Seufzer. Ihr Mann fühlte sich frei und unabhängig wie alle Friesen, und er beharrte darauf, die Ochsen, die er fett mästete, nach Gutdünken zu verkaufen. Es war nicht geradezu verboten; aber die Kaufleute der Stadt und der Graf betrachteten diesen Handel als ihr Privileg.
»Und die guten Schuhe! Darf sie die tragen?«
Kaike achtete vor lauter Besorgnis nicht auf ihre Zehnjährige. Ihr eigener Vater und Großvater hatten Ochsen gemästet und, wie es üblich war, an die Aufkäufer der Kaufleute abgegeben, die auch die Preise festlegten. In Lügum war Tade der einzige, der die Ochsen selbst verkaufte. Häufig mußte er sich die Anfeindungen der Männer anhören; sie selbst litt unter dem schweigsamen Mißtrauen anderer Frauen und fürchtete sich davor, daß die Obrigkeit ihren Mann eines Tages schärfer ins Auge fassen könnte.
»Ich dachte daran, Inken mitzunehmen.«
Kaike schöpfte einen Löffel Brei in eine Holzschale und stellte sie auf den Tisch, während Tade den Kopf unter der schrägen Decke einzog und sich setzte. Ihre stille Besorgnis wuchs.
»Sie wartet schon so lange darauf, ihre Tante zu besuchen. Es wird sie freuen. Und Margaretha auch.«
Petrine hob ihren Löffel und zeigte zur Tür, indes der Brei auf den Tisch kleckerte. »Mutter, Inken ist hoffärtig und eitel«, wiederholte sie eigensinnig. »Sie hat schon wieder die roten Bänder! Und wie kann man sich nur auf einen Besuch bei der ollen Tante Margaretha freuen!«
»Petrinchen.« Doch der Tadel von Kaike blieb milde. Den siegesgewohnten Blick ihrer jüngsten Tochter bemerkte sie nicht.
Inken stand reisefertig in der Tür zur Diele.
Sie hatte ihre Feiertagstracht angezogen und rote Bänder in die blonden Zöpfe eingebunden, die lose zum Kranz um den Kopf geschlungen waren. Kaike war überzeugt, daß Tade ihr vorher nichts gesagt hatte. Und trotzdem erschien sie nicht wie jeden Morgen in ihrer alltäglichen Kleidung. Wie so oft, versetzte die enge Beziehung zwischen Vater und Tochter Kaike in Erstaunen.
»Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten, du Betschwester«, versetzte Inken. »Mutter würde mich nicht reisen lassen, wenn ich unvollständig angekleidet wäre.«
»Inken«, sagte Kaike entrüstet. »Sie ist deine kleine Schwester! Wenn du ihr gegenüber doch ein wenig christliche Duldsamkeit zeigen würdest!« Sie schaute ihre ältere Tochter bekümmert an. Inken schlug nach ihrem Vater, und das machte ihr Angst. Ein wenig mehr Demut und Frömmigkeit hätten ihr gut angestanden. Sie hätte längst verheiratet sein und Kinder haben sollen; das hätte sie ruhiger gemacht. Doch ihr Gemüt war unruhig und ihre Zunge scharf, und sie lehnte jeden jungen Mann von Lügum ab. »Mach uns keine Schande bei den Verwandten«, mahnte sie kurz angebunden. »Frage nicht ständig, und gehe deiner Tante zur Hand.«
»Sie mag Fragen. Und sie hat vier Mägde, die ihr zur Hand gehen«, antwortete Inken. »Für mich ist an diesen Händen gar kein Platz mehr.«
Kaike schnappte nach Luft; sie war ihrer Tochter nicht gewachsen, und sie wußte es.
Tade lachte und blinzelte ihr zu. Dann stand er auf, nahm seiner Frau den Löffel aus der Hand und drückte sie herzhaft. »Laß mal gut sein«, sagte er. »Mich hast du ja auch geheiratet.«
Kaike schenkte ihm ein zärtliches Lächeln. Kurze Zeit später sah sie ihrem Mann und ihrer Tochter nach, die sich zu Fuß auf den Weg ins Dorf machten. Sie waren ein stattliches Paar: Inken war einen Kopf kleiner als ihr Vater, und beide hatten die hellen blonden Haare der Hansens, nur daß sich bei Tade die ersten weißen Strähnen darin mischten.
Von den Bäumen tropfte das Wasser, während der graue Tag langsam vom Hügel herunterkroch. Kaike schauderte. Ein scheußliches Wetter, nicht selten im Friesischen, so dicht an der See. Es war ein Tag, an dem die Gottlosen draußen in den Marschen und Kögen wieder ihr Spiel mit den Frommen treiben würden.
Klappernde Hufe störten die Stille. Zwischen den Holundersträuchern und dem Weißdorn tauchte der Kopf des feisten Müllers auf, der auf seinem massigen Braunen den Mühlbergweg herabtrabte. Kaike zog sich in die Diele zurück. Sie mochte den Mann nicht. Ein Spökenkieker: Zuweilen schien es ihr, daß er an dem Spuk beteiligt war, den er prophezeite.
***
»Moin, moin, Tade Hansen«, brummte Nes, erleichtert, daß er auf dem einsamen, wenngleich nicht weiten Weg ins Dorf Begleitung haben würde, und parierte unelegant sein Pferd zum Schritt durch. »Bis Lügum können wir uns wohl Gesellschaft leisten, wir zwei. Oder haben wir noch ein weiteres Stück Weg gemeinsam?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Tade. »Ich will in Geschäften nach Tondern.«
Der Müller riß an den Zügeln. Das paßte ihm gut, da wollte er auch hin. »Tondern. Michaelismarkt, was? Du beteiligst dich wieder am Handel mit deinen Ochsen? Bauer oder Händler, was bist du eigentlich?« fragte er spöttisch. »Sieh nur zu, daß du dich nicht in Schwierigkeiten bringst.«
»Was meinst du damit schon wieder?« fragte Tade verdrossen. Auf diese Begleitung legte er keinen Wert, aber es gab kein Entkommen. Zum Dorf führte nur dieser Weg.
»Ach, man hört so allerlei«, sagte Nes geheimniskrämerisch. »Der Herzog kümmert sich zwar nicht um Leute deines Schlages, aber mit dem Amtmann könntest du leicht aneinandergeraten.«
Tade schwieg. Der Müller würde auch ungefragt weiterreden.
»Die Kaufleute sind beim Amtmann schon vorstellig geworden. Sie heizen ihm ein, etwas gegen den Ochsenhandel der Bauern zu unternehmen. Das wußtest du wohl nicht?« fragte Nes lauernd. »Es ist gegen jeden Brauch, wenn Leute deines Schlages auch Handel treiben. Du wirst schon sehen, wohin das führt, Tade Hansen.«
»Ich handele schon lange mit Ochsen, wie du weißt, Müller. Seit hundert Jahren versuchen die Tonderaner Kaufleute dem Herzog das Alleinverkaufsrecht abzutrotzen und haben es immer noch nicht geschafft. Ich hoffe, es bleibt so.« Tade gab ein Schnauben von sich, das sich in den argwöhnischen Ohren des Müllers kritisch anhörte. »Du solltest brav deinen Mund halten, Nes. Du bist doch versorgt, ob du mahlst oder nicht. Und wenn du heute keinen Wind hast, dann eben morgen oder in zwei Wochen, was schert's den Herzog. Der Bauer steht geduldig an deiner Tür und wartet, er kann nicht zu einer anderen Mühle ausweichen. Ausgerechnet ein Müller sollte nicht meckern, wenn ein anderer sich umtut, um aus der Armut herauszukommen.«
Die Abfuhr brachte den Müller nicht dazu loszugaloppieren, wie Tade gehofft hatte. Nes blieb in verhaltenem Tempo an seiner Seite, winkte mit seiner fleischigen Hand dem Gemeindevorsteher zu, der sich als einziger auf der Dorfstraße zeigte. »Der Herzog wird schon wissen, warum er die Müller mit Privilegien ausgestattet hat«, sagte er hochmütig. »Du und ich gehören nicht zu den Leuten, die die Ordnung der Dinge anzweifeln sollten.«
Tade seufzte verstohlen.
Der Wind brauste in Stößen durch die hohen Ulmen an der Kirche. Erste Blätter rieselten; der Holunder wurde allmählich gelb.
»Hast du schon gehört, daß bei Broder Brodersen in Westre zwei Kühe verendet sind?« begann Nes das Gespräch wieder, als der Kirchhof hinter ihnen lag. »Ihnen muß wohl jemand die Klebende Seuche an den Hals gehext haben, und ich kann mir auch denken, wer ...«
»Waren sie krank?« fragte Tade knapp.
»Nein, eigentlich nicht, sie haben nur gehustet. Und davon können sie ja wohl nicht sterben! Broder hat ihnen noch einen geteerten Hering in den Hals gesteckt, genau wie es der Schweineschneider im vorigen Jahr riet.«
Dummes Zeug, dachte Tade. Es fiel ihm schwer, nicht harsch auszuweichen, als der Müller sich plötzlich zu ihm herunterbeugte und er dessen knollige Nase unversehens vor Augen hatte. Zwischen den rötlichen Augenbrauen perlten Schweißtropfen. Der Mann schien ja richtig Angst zu haben.
»Der Teufel fuhr auch gleich aus den Tieren heraus, wie nicht anders zu erwarten. Er röchelte und seufzte, aber es war bereits zu spät. Die Kühe waren schon zu sehr in DESSEN Hand«, flüsterte Nes geheimnisvoll.
»So ein Quatsch!« antwortete Tade unverblümt. »Wer da röchelte, war bestimmt nicht der Teufel! Wie würd's dir denn ergehen, wenn man deinen Rachen mit 'nem Hering zustopfte? Erst röcheln und dann ersticken, genau wie die Kühe.«
Wenn man bedachte, daß Menschen schon an einer Gräte im Hals sterben konnten ... Nes' Erklärungen schlagen seltsame Umwege ein, überlegte Inken und stellte sich einen Fischkopf im Mund vor, während sie achtlos ein Hölzchen zwischen den Fingern zerbrach.
»Meinst du?« fragte Nes verunsichert, hievte sich wieder in den Sattel und griff sich an die Kehle. »Nein, damit hat es nichts zu tun. Das war Hexenwerk! Der BÖSE ist überall. Der Pastor sagt es auch.« Er sah sich verstohlen um.
»Es war kein Hexenwerk«, entgegnete Tade scharf. »Hast du noch nie bemerkt, wie das mit der Brustseuche ist? Irgendein Tier bekommt sie, woher, weiß ich auch nicht, doch plötzlich ist sie da und breitet sich aus. Aber wie es dann weitergeht, das weiß ich! Da kommen die größten Schwätzer und die neugierigsten Dummköpfe herbeigerannt, wenn ein Ochse im Sterben liegt, und halten neben ihm Maulaffen feil. Und wenn sie nach Hause kommen, haben sie wenige Stunden später ein krankes Tier im eigenen Stall.«
Dem Müller entglitten die Zügel. Mit offenem Mund starrte er auf Tade hinunter.
Inken spielte mit dem Gedanken, den Wallach in der Flanke zu kitzeln. Andererseits hatte das Tier keine Schuld daran, daß sein Besitzer so beschränkt war.
»Die Neugier ist schuld«, setzte Tade seine Rede fort. »Ich würde mich nicht wundern, wenn der Schweineschneider selbst die Seuche herumtrüge. Jedenfalls gehe ich nie in Ställe, in denen ein Ochse krank ist. Und meine Ochsen bleiben gesund.«
»Na ja.« Nes zögerte, in hörbar überlegenem Ton. »Ich will dich nicht erschrecken, aber manche meinen, es kann nur eine einzige Erklärung dafür geben, daß du deine Tiere immer gut über den Winter bringst. So gesund. Und fett. Du kannst dir ja wohl denken, was ich meine.«
»Nein, kann ich nicht«, antwortete Tade entschieden. Eine Anschuldigung dieser Art konnte gefährlich sein.
»Was fällt dir ein! Vater ist doch nicht mit dem Teufel im Bunde«, rief Inken wütend.
Nes zerrte an den Zügeln und versuchte sein Pferd zu beruhigen. Er bekreuzigte sich. »Der Herr bewahre mich vor einer so gottlosen Sprache! Deine Tochter hat wohl vor nichts Ehrfurcht. Selbst mein Pferd hat mehr Frömmigkeit als sie.«
Tade warf Inken einen unwilligen Blick zu. Er hatte ihre schnelle Handbewegung und das Ästchen sehr wohl bemerkt. »Für die Seuchen muß es eine Erklärung geben. Und dir, Nes, rate ich, mich nicht noch einmal mit Hexerei in Verbindung zu bringen«, sagte er.
Der Müller schien sich im Augenblick lediglich mit seinem Pferd zu befassen. Er starrte auf den Widerrist, öffnete und schloß die Fäuste und klopfte mit den Hacken an die Seiten. Nach langem Bemühen bog das schwere Tier widerwillig den Nacken durch.
Tade grinste still. Der Mann hatte sich ein barsches Verhalten angewöhnt, weil er mit Bauern zu tun hatte, die dem Mühlenzwang unterlagen und sich fügen mußten. Sein Pferd wußte davon nichts und wehrte sich. Tade selbst aber suchte keinen Streit mit dem Müller. »Wer mit dem Teufel im Bunde ist, würde doch gewiß erst einmal an seinen Geldbeutel denken«, sagte er gelassen. »Dem Teufel fällt es nicht schwer, jemanden reich zu machen – hört man.«
»Genau! Zuerst baut er dem, der sich ihm verschrieben hat, ein Haus – hört man auch.« Nes kaute auf seinen Lippen, als hätte er zu viel gesagt.
Da weht der Wind also her, dachte Tade erbittert. Ein eigener Kopf – und Erfolg. Das machte einen Mann bereits verdächtig. »Es ist besser, du reitest vor«, sagte er ruhig. »Bevor ich mich vergesse.«
Der Müller grunzte etwas Unverständliches und warf Tade einen bitterbösen Blick zu. Dann trat er dem Pferd in die Seiten, bis es nachgab und sich in einen langsamen Trab setzte. Die Kleiflocken flogen um die Hufe und verklebten die langen Haare an den Fesseln. Noch in Sichtweite fiel der Braune wieder in Schritt.
»Weit kommt er nicht«, sagte Tade mit schmalen Lippen. »Aber ich möglicherweise auch nicht.«
***
Irgendwie hatte dieser erfreuliche Tag gar nicht so erfreulich angefangen, fand Inken und blieb schweigsam, bis sie die armseligen Häuschen von Struxbüll erreichten. Dahinter erstreckte sich eine Wasserfläche, aus der einzelne grüne Reste der Weide wie Inseln herauslugten. Die Süderau und die Grünau waren über die Ufer getreten und bildeten mit ihren Nebenarmen einen einzigen riesigen See, der bis nach Tondern zu reichen schien.
Nes war schon eine Weile vor ihnen angelangt und verhandelte vom Pferderücken herab mit einem Mann, dessen Wachshose, die an die Holzschuhe angenagelt war, ihn als Fischer auswies. Der Mann war dabei, zwischen Pfählen ein Netz zum Trocknen aufzuspannen.
»Du kommst mit dem Pferd nicht durch, Müller«, sagte Jens Fischer in seiner ruhigen, zuverlässigen Art. »Selbst wenn du wüßtest, wo die Brücken und Furten sind – das Wasser strömt zu schnell. Aber ich kann dich mit dem Boot hinbringen.«
Nes schüttelte sich entsetzt. »Mich bekommen keine zehn Pferde in ein Boot. Schon gar nicht heute, wo man vor lauter Wasser gar nicht mehr weiß, wo oben und wo unten ist.«
Inken zog sich ihren Umhang straffer um den Körper. Die Wolken hingen noch tiefer als im Morgengrauen, und es hatte zu nieseln begonnen. Nicht einmal die Turmspitze der Christkirche von Tondern konnte man sehen.
»Aber mich kannst du hinübersegeln, Jens«, sagte Tade und fügte schmunzelnd hinzu: »Ich weiß, wo oben und unten ist.«
»Du weißt es am allerwenigsten«, versetzte Nes in gehässigem Tonfall und zerrte das Pferd herum.
Tade schaute dem breiten Rücken des Müllers nachdenklich nach. Das Hexenunwesen im Amt nahm zu, doch es überraschte ihn, wie schnell ein unbescholtener Mann in die Gerüchteküche hineingeraten konnte und dann beim geringsten Ärger zum Ziel von Verdächtigungen wurde. Ein Müller hatte darüber hinaus viel Gelegenheit zu schwatzen. Und es gab genügend Männer, die ihm glaubten.
Jens hängte schweigend die letzten Ringe des Fischernetzes am Bund über einen Haken und ging zum Fuß der Warft hinunter, wo sein Boot in einem Abzugsgraben vertäut war. Tade und Inken folgten seinen langen Spuren aus niedergetretenem nassem Gras.
Der Fischer machte das Boot klar, reichte seinen Fahrgästen die Hand und half ihnen hinein. Nachdem er es einige Bootslängen gegen den Wind gestakt hatte, setzte er Segel und nahm hoch am Wind Kurs auf Tondern.
Das Wasser stand auf den Weiden nicht sehr hoch, doch die kurzen, harten Wellen machten die Sicht auf den Grund schwierig. Jens segelte konzentriert, zuweilen entlang einem der vielen schmalen, reetgesäumten Flußläufe, dann wieder über überflutetes Grasland. Tade grübelte vor sich hin, während Inken verträumt nach ertrunkenen Heckenrosen und Gräsern ausspähte, deren Ähren neben dem Boot aus dem Wasser herausschauten.
Erst als sie sich dem Steindamm vor dem Stadttor näherten, wurde Jens Fischer gesprächiger und weckte Tade aus seinen Gedanken. »Da haben die Kaufleute aber Glück gehabt, daß sie die Stadt noch erreicht haben«, sagte er. »Die hohen Karren der Hopfenhändler wären schon gestern nachmittag nicht mehr durchgekommen.«
»Früh für das Jahr«, bemerkte Tade.
»Es ist ein Unglücksjahr«, murmelte der Fischer. »Ich wüßte nicht, daß es zum Michaelismarkt einmal solche Schwierigkeiten gegeben hätte.«
Tade brummte eine Erwiderung, doch Jens brauchte keine Antwort, um genau Bescheid zu wissen. Er setzte Tade und Inken bei der Fenne zu Den sieben Schweden ab.
Sie winkten ihm kurz nach und wandten sich dann zum südlichen Stadttor. Es stand jenseits der Holzbrücke über die Wiedau und besaß mit seinen zwei Stockwerken eine beachtliche Höhe.
»Warum stehen so viele Menschen auf dem Damm?« fragte Inken verwundert. »Das Tor muß doch geöffnet sein.«
»Ich weiß es nicht. Das Tor ist seit dem Morgengrauen offen«, antwortete ihr Vater. »Horch, die Glocke der Christkirche läutet den Michaelismarkt ein. Es ist zehn Uhr.«
2. Kauffahrer
»Anluven«, rief der Schiffsführer auf dem Achterschiff. Er kannte das Gewässer zwischen den friesischen Inseln und dem Festland gut, aber es war der Sände wegen nicht einfach zu besegeln und erforderte häufige Lotungen und ständige Kursänderungen.
Der Steuermann nickte wortlos und stemmte sich gegen die Pinne. Er hörte, wie die Stengen sich knarrend auf den neuen Kurs einstellten und fühlte das veränderte Brummen im Holz unter seiner Hand. Der Kapitän war jung, er pflegte wie der Teufel zu segeln, und das Glück war stets auf seiner Seite. Trotzdem war die Sache mit dem Segelmacher merkwürdig und beschäftigte ihn immer noch.
Ketel Redlefsen achtete darauf, daß die Hoffnung sich gut vom Morsum-Kliff und seinen Untiefen freihielt. In der Ferne leuchtete das Kliff bei Emmerleff weiß auf, und davor ahnte Redlefsen schon die weite Mündung der Wiedau. Sie fuhren immer noch unter Vollzeug, obwohl es weiter aufbriste. Aber immerhin segelten sie im Schutz der Insel Sylt; die Wellen konnten hier nicht mehr hoch auflaufen. Er sprang den Niedergang hinunter und eilte in seine Kajüte, um einige Eintragungen in das Logbuch zu machen.
Nachdenklich schlug er die letzte Seite auf. Die Hoffnung, die Tondern anlaufen sollte, hatte Fliesen und Mühlsteine als Ballast geladen und dazu die Waren, die den eigentlichen Wert der Sendung ausmachten: Gewürze, Tabak, Tonpfeifen, Kleiderstoffe, erlesenes Mobiliar und Wein. Mauersteine, Dachpfannen, Kalk und Kacheln überließ sein Handelsherr den kleineren Schiffen.
Vom Beginn der Fahrt in Enkhuizen an hatten sie gegen den Wind an der holländischen und deutschen Küste kreuzen müssen. Die Stimmung seiner Mannschaft war trotzdem wie immer gut. Redlefsen. sorgte für seine Leute. Sie wurden ordentlich beköstigt, und über die Heuer brauchte sich keiner zu beklagen, sofern er willig arbeitete. Geschlagen wurde nicht.
Um so eigenartiger war der plötzliche Tod des Segelmachers gewesen. Mitten in der Arbeit war er beim Nähen umgefallen. Als sie ihn auf den Rücken drehten, stellten sie fest, daß er tot war. Er hatte sich vorher nicht beklagt und auch keine Beschwerden gehabt. Bootsmann Larsen nähte den Leichnam in Segelleinwand ein und legte ihn auf eine breite Planke.
Danach hatte man den Kapitän hochgerufen. »Der Herr sei mit ihm«, sagte Redlefsen wortkarg und gab das Zeichen, die sterblichen Reste des Segelmachers über Bord zu geben. »Vater unser ...«
Er starrte auf die Eintragung in das Logbuch vor vier Tagen. Der Wille des Herrn war unergründlich.
Es klopfte an der Tür zur Kapitänskajüte. Als Redlefsen aufsah, stand Larsen in der Öffnung. Zwischen Daumen und Zeigefinger baumelte an einem langen kahlen Schwanz ein schwarzes Tier. »Ich will nicht stören, Käpt'n«, sagte er grollend. »Aber was soll das hier sein? Eine türkische Riesenmaus? Oder eine zu klein geratene Bisamratte?«
Redlefsen erhob sich und trat näher, die Hände auf dem Rücken, um das Tier zu betrachten. »Es ist eine Hausratte, Larsen«, bestätigte er. »Wahrscheinlich in Enkhuizen angemustert. Holland wird von Schiffen aus aller Welt angelaufen. Wirf sie über Bord. Sind da noch mehr?«
»Solche mickrigen Dinger nicht«, antwortete der Bootsmann und rümpfte die Nase. »Unsere gewöhnlichen grauen Ratten, vier oder fünf tote Riesen. Die sind wenigstens ordentlich ernährt. Auf Reede werden wir den Frachtraum gründlich säubern und lüften.«
»Das tut«, sagte Redlefsen und lauschte nach oben. Der Mann an der Pinne änderte wieder den Kurs. Es wurde Zeit, Segel herunterzunehmen. Er nickte Larsen zu und enterte nach oben.
An Deck war alles in Ordnung. Nach weniger als drei Stunden von der Einfahrt in die Inseln an gerechnet, stand die Hoffnung im Hojer-Tief. Die Segel waren schon gekürzt worden, und die Fahrt verlangsamte sich. Der Kapitän sah sich um. Im Westen ballten sich die Wolken zu einem schweren Sturm. Ein Glück, daß die Reede von Tondern einigermaßen geschützt war. Immerhin lag die Insel Sylt zwischen ihr und den gewaltigen Wellen der Nordsee bei Sturm. Schlimmstenfalls würde man die Hoffnung auf die Reede bei List verholen müssen.
***
Eine halbe Stunde später rauschte der erste Anker ins Wasser und hielt das Schiff zwischen Ebbstrom und Wind. Redlefsen ließ vorsichtshalber einen zweiten Anker ausbringen.
Es lagen noch mehr Schiffe auf Reede vor Ruttebüll; alle großen mußten ihre Fracht auf kleinere Flußboote umladen lassen. Es herrschte ein geschäftiges Treiben; während eines Sturms würde die Arbeit weitgehend eingestellt werden. Auch auf der Hoffnung begann man sofort mit der Arbeit.
»Macht die Jolle klar!« Larsen überwachte das Abfieren des kleinen Bootes. Er brauchte keinen Befehl von Redlefsen. Jedermann wußte, daß der Kapitän sich jetzt zu einem Plauderstündchen mit den Leuten von der Zollbehörde aufmachen würde. Diese Zeit war stets gut angelegt.
Ketel Redlefsen tauschte die Pluderhosen und die weiten Seestiefel gegen Kniehosen und Schuhe. Er wusch sich und kämmte seine weißblonden Haare. Mit langem Mantel und hohem Hut machte er den Eindruck eines Mannes vom Stande, als er in die Jolle sprang und an den Schlickbuckeln vorbei in den Trichter der Wiedau ruderte, deren Ufer auch seewärts der Schleuse von Schilf bestanden waren.
Er fand den Zöllner in seinem Haus, einer kleinen Hütte aus Grassodenwänden und Reetdach. Es gab nur zwei Räume, und die Kinder krochen auf dem gestampften Fußboden des Dienstzimmers umher. Die Kinder hatten schnodderige Nasen, und eines nieste.
»Moin, Iwen«, sagte der Kapitän. »Feuchtkalt hier, findest du nicht? Es wird Herbst.« Mit Umsicht holte er eine Flasche mit scharfem holländischem Schnaps aus seiner Manteltasche.
»Sieht nicht gut aus mit dem Wetter, was?« fragte der Zöllner, als ob er den Kapitän erst gestern gesehen hätte, und langte nach den Gläsern in einem Schränkchen. Seine struppigen roten Augenbrauen hoben sich erwartungsvoll.
»Nein, es legt zu«, bestätigte der Kapitän. »Nach mir wird wohl kaum noch einer einlaufen, die werden gleich bei List in Schutz gehen müssen. Ich hoffe, wir bekommen das Wichtigste noch an Land.«
»Hmm«, brummelte Iwen. »Dann beeile dich. Vorige Woche versuchte ein Holländer über die Watten hereinzukommen. Ist ihm tüchtig danebengeraten. Die zehn Mann Besatzung haben sie gerettet, aber die Fracht war verloren.« Er lachte schadenfroh. »Überhaupt: Der Winter kommt zu früh.«
Verblüfft blickte Redlefsen den Zöllner an, während er auf eine Erklärung wartete. Er kannte Iwen schon lange, und es sah ihm nicht ähnlich, sich über das Unglück anderer zu freuen.
»Der Amtmann soll getobt haben, als er die Nachricht bekam. Er brauchte dringend das Baumaterial und muß nun zusehen, wo er es herbekommt. Am Schloß wird mächtig gebaut, Kalk aus der Ostsee, Balken aus Norwegen. Du weißt, wie es ist. Und in Tondern gab's für viele Bürger was zu lachen. Lesen und schreiben kann er nicht, aber Amtmann ist er«, sagte Iwen verächtlich. »Kein Mensch versteht den Herzog. Was findet er an diesem Mann?«
»Ich habe schon davon gehört«, warf der Kapitän ein, »aber ich kann es nicht glauben. Es ist Schlichtweg unmöglich, daß ein Amtmann des Herzogs nicht schreiben kann.«
»Du sagst es.« Iwen stieß mit dem Finger auf die Tischplatte. »Aber Amtmann Lydwardus Hestorf aus Lübeck kann es nicht. Ich schwör's dir! Überhaupt – es geht bergab im Land.«
»Darauf trinken wir.«
Der Zöllner nickte düster. »Die Verhältnisse sind alles andere als rosig. Die Angst im Lande wächst. Es braut sich was zusammen. Man weiß nur nicht, was.«
Ketel nickte, lehnte sich in seinem knackenden Besucherstuhl zurück und wirbelte die Daumen erwartungsvoll umeinander.
»In letzter Zeit kommt der Scharfrichter kaum zur Ruhe. Es gibt immer mehr Räuberei und Totschlag. Ich mache weite Umwege, damit ich nicht am Hochgericht vorbei muß.« Iwen lehnte sich zu seinem Besucher hinüber. »Die Galgenfenne ist ganz schwarz von Vögeln, die nicht mal mehr auffliegen, wenn man sich ihnen nähert. Sie stehen unter dem Schutz des Bösen«, flüsterte er.
»Unsinn, Iwen«, brummte Ketel und nippte am Branntwein.
Iwen setzte sich wieder aufrecht und sagte in normalem Tonfall: »Tatsache aber ist, daß da mehr Leichen herumliegen als je, und es stinkt, daß es einen grausen kann.«
»Ja, das glaube ich dir«, sagte Ketel nüchtern. »Es sind bloß Leichen, und die Vögel haben Hunger. Weder der Gestank noch die Vögel haben etwas mit dem Bösen zu tun.«
»Mag sein«, gab Iwen widerwillig zu, »aber die Leute glauben es. Und sie glauben außerdem, daß der Teufel den Amtmann in seinen Klauen hat. Ich auch. Seitdem wir ihn haben, geht im Amt nichts mehr gut. Gar nicht zu vergleichen mit den Zeiten, in denen du hier öfter gewesen bist.«
Ketel äußerte sich nicht. Im großen und ganzen war es immer das gleiche; das Volk klagte, und die Fürsten lebten fürstlich. Doch in diesem Herbst schien alles ein wenig schlimmer zu sein, obwohl der Krieg vorbei war und sich ein wenig Hoffnung ausgebreitet hatte.
Bald darauf verabschiedete sich der Kapitän und ging. Iwen sah nicht auf; er schenkte sich noch ein Glas ein und blickte trübsinnig hinein.
Es dauerte eine Weile, bis Redlefsen die Jolle gegen den Wind zur Hoffnung zurückgerudert hatte. Zwei Frachtsegler aus dem Fluß lagen längsseits, schon beladen und klar zum Ablegen. In einem saß der Bootsmann, der sich bereit erklärt hatte, die Seekiste des toten Segelmachers zu dessen Familie zu befördern.
Der Kapitän bestieg mit seinem Seesack den zweiten Prahm. Als er die Festmacheleine sah, wandte er sich zu dem Seemann an Deck: »Versucht alles an Lastkähnen zu mieten, was ihr bekommen könnt. Wenn es sein muß, überbietet andere.«
»Warum, Käpt'n?« fragte der Seemann erstaunt, während er zu einem Staken griff, um den Prahm von der Hoffnung abzuhalten. »Liegt etwas Besonderes an?«
»Wenn ich das selbst wüßte«, murmelte Redlefsen beunruhigt, setzte sich und schoß das Tau auf, das er gerade eingeholt hatte. »Irgendwie wäre ich heute lieber in London.«
»Ich dachte, Ihr haßt London?«
»Ja, aber es gibt vermutlich Orte, die noch schlimmer sein können ...« Ketel Redlefsen rückte sich im Bug zurecht und blickte nach vorne, den Schleusentoren entgegen. Weit dahinter im Binnenland lag Tondern. Irgend etwas gab ihm das Gefühl, daß Tondern im Augenblick zu diesen Orten gehören konnte.
3. Tod auf der Wiedau
Die Flußschiffer kamen vor dem Wind mit Hilfe weniger Ruderschläge schnell an die Schleuse. Deren drei Tore waren geöffnet, damit das Wasser der Wiedau abfließen konnte.
Hinter der Schleuse schlugen die Fischer die Bändsel los, mit denen die Spriete an die Masten gebunden waren. Die Segel entfalteten sich, und die Prähme gewannen an Fahrt.
Redlefsen saß im Bug des ersten und sah die armseligen Hütten von Ruttebüll an sich vorüberziehen, davor jeweils ein schwarz geteertes Boot. Er war schon einige Zeit nicht mehr hier gewesen; meistens ankerte er bei Südwesthörn und brachte die Waren von dort nach Tondern. Doch hier hatte sich nichts geändert.
Der Fischer an der Pinne konzentrierte sich schweigend auf die Schiffsführung; er fuhr die beiden Segel aus der Hand und verkürzte oder verlängerte die Schoten in raschem Wechsel. Erst als sie aus dem weiten, schilfbestandenen See in die Mündung der Wiedau einfuhren, spuckte er verächtlich ins Wasser. »Verfluchte Deiche«, hörte Ketel ihn murmeln.
Der Deich zur linken Seite war so hoch, daß der Kapitän nicht über den Kamm hinwegschauen konnte. Kaum vorstellbar, daß der Wasserstand jemals hoch genug sein würde, den Deich zu überfluten.
»Und sie bauen immer noch. Sogar die Pläne für einen Kanal zwischen Nord- und Ostsee haben sie noch nicht aufgegeben.«
»Aber die Deiche schützen doch auch euer Land«, entgegnete der Kapitän erstaunt, während er das Unterliek des vorderen Segels festhielt, das in den unberechenbaren Abwinden zu knattern begonnen hatte.
»Land, Land! Wessen Land? Doch nicht unseres«, erwiderte der Fischer böse. »Wem nutzen denn die Deiche? Doch nur dem Adel und den reichen Bauern in den Kögen. Die werden noch reicher davon, wollen immer mehr Deiche. Die Kaufleute von Tondern waren anfangs dagegen, weil ihr Hafen von der See abgeschnitten wurde – aber hinterher waren sie trotzdem die Gewinner. Und mit ihnen der Amtmann und der Herzog. Es heißt, daß sie eine Menge Steuern mehr einnehmen. Wir Fischer wollten diese Deiche und die Schleusen nie.«
Der Kapitän betrachtete den Mann am Ruder: Er war groß wie alle Friesen und hatte breite Schultern und arbeitsgewohnte Hände. Seine Kleidung war alt und geflickt und an manchen Stellen so dünn, daß ein weiteres Ausbessern unmöglich schien. Er war alles andere als ein junger Hitzkopf, doch die Erfahrung vieler Jahre machte ihn offenbar gesprächig, auch einem Fremden gegenüber.
»Wir werden mit jedem Jahr ärmer«, knurrte er. »Im Frühjahr hungern hier viele, vor allem, wenn der Herzog wieder eine neue Steuer erhebt – für seine Hochzeit, für ein neues Schloß, für Schanzarbeiten, für was weiß ich. Ihm fällt immer etwas ein. Aber ich weiß bald nicht mehr weiter. Fischen und Fische verkaufen, Lasten fahren – das alles reicht kaum aus, um die Familie zu ernähren. Aber wenigstens arbeitet jetzt mein Sohn mit.« Mit einer Kopfbewegung wies er hinüber zum Boot, das ihnen folgte.
Der Kapitän nickte nachdenklich. Die Unzufriedenheit im Land war offenbar allgemein.
»Und die Fischgründe nehmen immer mehr ab. Was konnten wir hier früher fischen! Sogar der Butt kam noch herein. Jetzt müssen wir schon auf See hinaus.«
Und die Seefischerei, das wußte Ketel, war etwas ganz anderes als die Flußfischerei. Ketel wollte dem Fischer gerade etwas erwidern, als seine Aufmerksamkeit abgelenkt wurde. Beide Boote näherten sich einander in diesem Augenblick bis auf Schiffslänge, und Ketel bemerkte, daß sein Bootsmann sich gemütlich in den Bug gelegt hatte. »Larsen!« rief er scharf Faulheit duldete er nicht. Der Kerl war noch im Dienst.
»Euer Mann ist krank, glaube ich!«
Redlefsen leistete dem Bootsmann im stillen Abbitte. Hände wurden überall gebraucht, auch an Bord eines Prahms, doch Krankheit entschuldigte ihn. Da die Kurse die Prähme wieder auseinanderführten, formte der Kapitän die Hände zu einem Schalltrichter. »Was hat er denn?«
»Ich weiß es nicht, er spricht nicht«, rief der junge Schiffer zurück. »Ich kann jetzt nicht zu ihm, weil ich die Pinne nicht loslassen kann. Bei Aventoft ist die Wiedau breiter, da sehe ich nach ihm.«
Ketel nickte beunruhigt. Er zog den Mantel am Hals straffer und kauerte sich wortlos zusammen. Der Deich auf der Backbordseite verlief mal näher, mal ferner, und zwischen Deich und Wasser befand sich ein breiter Schilfgürtel. Dahinter mußte Tondern liegen, in der Marsch vor der Geest, doch die Stadt blieb Ketels Blicken verborgen. Auf der Steuerbordseite schimmerte überall im Schilf Wasser; zuweilen gab es dazwischen breite Schlickflächen ohne jeden Bewuchs und Sandbänke. Um hier zu segeln, mußte man den Fluß genau kennen.
Endlich kam ein Kirchturm in Sicht, und die Wiedau wurde breiter. Redlefsen drehte sich um.
Im anderen Boot stieg der Prahmführer schon über die Säcke und Kästen der Ladung hinweg nach vorn, während das Boot ein wenig schwankte, doch mit festgelaschter Pinne seine gerade Bahn vor dem Wind zog. Ketel sah, wie der junge Mann Larsen an den Haaren packte, seinen Kopf hob und ihm besorgt ins Gesicht starrte. »Kapitän Redlefsen, Euer Mann scheint tot zu sein!«
»Verflucht«, murmelte der alte Fischer. »Mit einer Leiche kommen wir nicht in die Stadt.«
Der Kapitän brauchte einige Zeit, um den Schrecken zu verdauen. »Wie sollten die Leute es denn merken?« fragte er schließlich.
»Bei Aschesodde kontrollieren sie neuerdings jedes einlaufende Boot. Die Stadtväter sind nicht zimperlich, wenn's darum geht, unerwünschtes Volk aus Tondern fernzuhalten. Verbannte Bürger, fremde Krüppel, ortsansässige Bettler und städtische Verbrecher werden in regelmäßigen Abständen vom Armenvogt und vom Scharfrichter an die Stadtgrenze befördert. Euch würden sie ohne Federlesens aus der Stadt weisen, wenn sie Euch mit einer Leiche erwischten«, erklärte der Fischer in nüchternem Tonfall. »Könnt Ihr ihn denn nicht woanders begraben lassen? Es muß doch nicht gerade Tondern sein!«
»Das ist ein vernünftiger Gedanke«, räumte der Kapitän ein. »Zumal der Mann aus Niebüll stammt.«
»Dann gibt es keine Probleme«, erklärte der Fischer erleichtert. »Es wird nicht so schwierig sein, jemanden zu finden, der in die Bökingharde segelt und bereit ist, gegen gutes Geld einen Toten mitzunehmen. Wir unterbrechen in Legan, Knut!« rief er zu seinem Sohn hinüber, der nickte.
***
Legan war nicht weit von Aventoft entfernt. Kurz hinter der alten, jetzt unbenutzten Schleuse von Grippenfeld steuerten die Fischer in das viereckige Hafenbecken, in dem etliche kleinere Segel- und Ruderboote festgemacht waren. Der Prahmführer hatte den Palstek noch nicht über den Pfosten geworfen, als Redlefsen bereits bei ihm an Bord war.
Larsen war im Bug über der Ankerleine zusammengesunken. Als der Kapitän ihn vorsichtig an den Schultern gepackt und umgedreht hatte, schrak er zusammen.
Bis vor wenigen Stunden war der Bootsmann ein drahtiger, gesunder Kerl gewesen, braungebrannt und wettergegerbt wie alle Seeleute. Jetzt waren seine Wangen eingefallen, die Haut fahlgelb wie eine Muschel. Am Kinn verdeckten die schwarzen Barthaare bläuliche Flecken. Die toten Augen waren wie in panischer Angst aufgerissen.
Der junge Mann, der die Festmacher inzwischen belegt hatte, tat vor Schreck einen Schritt zurück und stürzte über ein Fäßchen. Mit offenem Mund starrte er den Toten an und vergaß aufzustehen.
»Habt ihr einen Sack?« fragte Ketel unbewegt.
Der alte Fischer hatte mit argwöhnischem Gesichtsausdruck vom Heck seines Bootes zugesehen. »Was immer der Mann hatte, Kapitän, ich frage Euch gar nicht danach. Vielleicht wißt Ihr es ja auch gar nicht. Aber im Krug solltet Ihr lieber erklären, der Seemann sei von der Rah gestürzt, und dabei hätte er sich den Kopf zerschmettert. Das wäre nicht ungewöhnlich. Aber dieser Tod ist ungewöhnlich. Der Mann war frisch und gesund, als er an Bord stieg. Und jung.«
Redlefsen widersprach ihm nicht und nahm dankbar den Sack entgegen, den der Fischer ihm reichte. Er stülpte das rauhe Tuch über Larsens Kopf und verschnürte es mit einem Bändsel, das er unter dem Seitendeck fand. »Ich weiß nicht, woran mein Bootsmann starb«, erklärte er knapp.
»Hm«, brummte der alte Fischer bloß und begann den Deich hochzusteigen, hinter dem die Schenke lag.
Ich weiß es wirklich nicht, dachte Redlefsen, während er dem Fischer auf dem ausgetretenen, glitschigen Trampelpfad folgte. Und wenn es nun die Pest ist? Zwei Tote in so kurzer Zeit!
Er blieb auf dem Deichkamm stehen und schaute sich um, während er seine Angst niederkämpfte. Unterhalb des Deiches lag ein baufälliges Haus, dessen Fensterläden trotz der herbstlichen Luft sperrangelweit offenstanden. Ein Weg endete am Gasthaus, der sich zwischen Büschen nach Tondern schlängelte. In der Ferne war der Kirchturm der Stadt zu erkennen, umgeben von der dunklen Silhouette von Bäumen.