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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-841-4
Tosend rauschte der Wildbach ins Tal. Bei dem Lärm konnte man sein eigenes Wort nicht verstehen. Noch hatten die Touristen diese kleine weltabgeschiedene Ecke nicht entdeckt. Die Einwohner lebten seit Jahrhunderten beschaulich in der Bergeinsamkeit. Doch leicht war das Leben hier nicht. Die Äcker auf den Berghängen waren schwer zu bearbeiten. Da halfen keine Maschinen, hier mußte man noch das Pferd vor den Pflug spannen, und wer keines besaß, die Kuh. Dann gab es am Abend jedoch weniger Milch, und das spürte die ganze Familie. Freilich, hungern mußte niemand, doch der Tisch war selten wirklich reichhaltig gedeckt.
Therese Bicherl öffnete seufzend die Stalltür, hob den nicht allzu schweren Milcheimer hoch und lief geduckt zum Wohnhaus, denn der Wind blies heftig. Wieder lag ein arbeitsreicher, aber leerer Tag hinter ihr.
Therese lebte seit zwei Jahren allein. Ihr Sohn hatte nach einem heftigen Streit mit dem Vater das Haus verlassen. Seitdem war kein Lebenszeichen mehr von ihm gekommen. Vor Gram über das Verschwinden seines einzigen Sohnes, des Hallodri, wie er ihn nannte, war der Bicherl bettlägerig geworden und nach langem Krankenlager gestorben.
Seither hatte Therese den Hof allein bewirtschaftet, eine harte Aufgabe für eine Frau. Bei der Ernte halfen zwar einige Nachbarn mit, doch auch während des ganzen Jahres gab es genügend Arbeit, bei der die Therese sich oftmals überlastet fühlte.
»Wenn nur der Thomas hier wär«, sagte Therese seufzend zu sich. »Jetzt könnt’ er den Hof übernehmen, und ich würd’ ihm den Haushalt führen.« Während der langen Zeit ihres Alleinseins hatte sie sich angewöhnt, mit sich selbst zu sprechen, denn es war ja selten einmal jemand da, mit dem sie reden konnte. Sie strich sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Am liebsten wäre sie ohne Nachtmahl zu Bett gegangen, denn der Tag war lang gewesen, und sie hatte den Schlaf bitter nötig. Aber Therese zwang sich, den Tisch zu decken und in Ruhe etwas zu essen. So hatte sie es zu Lebzeiten ihres Mannes gehalten, und so sollte es auch bleiben. Vielleicht kam der Thomas ja bald heim. Die Bäuerin hatte diese Hoffnung nie ganz aufgegeben.
Nach dem Essen ging Therese noch einmal hinaus, prüfte, ob alle Türriegel in Ordnung waren, warf der Kuh noch eine Gabel voll Heu hin und schaute nochmals in den Hühnerstall. Anschließend ging sie ins Haus zurück.
Mit gebeugten Schultern stieg Therese die Treppe zu ihrer Schlafstube hinauf. Doch als sie endlich im Bett lag, wollte der Schlaf trotz aller Müdigkeit nicht kommen. Zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Wie sollte es nur weitergehen? Lange würde sie die schwere Arbeit nicht mehr schaffen. Sie war zu alt. Eigentlich hätte sie schon seit einigen Jahren auf ihrem Altenteil sitzen und der Sohn mit einer jungen Frau den Hof führen müssen. Wenn Thomas nie mehr heimkam – was sollte dann geschehen? Den Hof, der seit Jahrhunderten der Familie gehörte, verkaufen. Niemals! Aber was sonst? Über all dem Grübeln schlief die Therese endlich ein.
Ein beharrliches Klack-Klack, das nicht aufhören wollte, riß sie irgendwann aus dem Schlaf. Hatte sich ein Fensterladen losgerissen? Nein, da war noch ein anderes Geräusch. Eine Stimme!
»Mutter! Mutter, wach auf!«
Thomas! Jäh richtete sich Therese in ihrem Bett auf. Träumte sie? Nein, da war die Stimme wieder: »Mutter! Mutter, ich bin’s, dein Thomas!«
Thereses Herz blieb fast stehen! Thomas! Ihr Sohn! Ihr so lang erwarteter Sohn! War er
nun endlich nach Hause gekommen? Schnell machte Therese Licht.
»Thomas!« rief sie. »Bub! Wart nur, ich komm gleich!« Schnell warf sie sich ein warmes Tuch um. Sie rannte die Treppe hinunter. Beim Öffnen der Tür fiel ihr der Schlüsselbund aus der Hand. Sie konnte gar nicht schnell genug aufschließen.
»Thomas! Bub! Endlich!«
Der Bursch fiel der Frau um den Hals. »Mutter! Bin ich froh, dich zu sehen!«
»Lang genug hat’s ja gedauert«, meinte Therese vorwurfsvoll.
Zerknirscht senkte Thomas den Kopf. »Kannst mir verzeihen, Mutter?« fragte er so leise und beschämt, daß Thereses Herz blutete.
»Ach, Bub!« flüsterte sie. Erst dann wurde ihr bewußt, wie durchnäßt und schmutzig ihr Sohn war. »Mein Gott, Bub, komm erst einmal herein. Ich werd’ dir etwas zu essen richten. Wirst doch Hunger haben. Und saubere Sachen mußt anziehen. Wart’, ich hol’ dir vom Vater etwas Warmes und Trockenes zum Wechseln.« Vor lauter Aufregung wußte Therese nicht, was sie zuerst tun sollte.
Ihr Sohn stand ruhig daneben und lächelte sie liebevoll an. »Mutter, setz’ dich doch erst einmal. Erzähl mir, wie es dir und dem Vater geht. Meinst, er freut sich auch, daß ich zurückgekommen bin?«
Therese zuckte zusammen. Der Junge wußte ja noch nicht einmal, daß sein Vater nicht mehr lebte. »Thomas, jetzt ziehst dich erst einmal um«, meinte sie ablenkend. »Derweil mach’ ich dir ein Abendessen. Dann können wir in Ruhe über alles reden.«
Sie drängte ihn in die Stube und holte dann rasch ein paar Sachen vom Vater. Dann ging sie in die Küche, machte Feuer und wärmte schnell das übriggebliebene Essen vom Mittag auf.
Kurz darauf saßen beide am Küchentisch. Im Herd knisterte ein wärmendes Feuer. Thomas aß mit Heißhunger. Therese saß dabei und blickte ihn immer wieder an, als könne sie sich nicht sattsehen an ihrem Buben. Ab und zu strich sie mit ihrer verarbeiteten Rechten über seinen Arm. Thomas nahm den letzten Rest Soße mit einem Stück Brot auf. Dann lehnte er sich aufatmend zurück.
»So gut hat’s mir seit Jahren nimmer geschmeckt«, meinte er zufrieden. »Doch jetzt sag mir, was der Vater so macht. Ist er immer noch bös’ mit mir?«
Erst jetzt fiel ihm auf, daß sie beide allein in der Küche saßen. Bei dem Lärm hätte doch auch der Vater wach werden müssen.
»Ist er gar krank?« fragte Thomas unruhig.
Die Mutter senkte den Blick. »Nein, krank ist der Vater net.« Sie sah ihren Sohn an und sagte aufseufzend: »Der Vater lebt net mehr, Thomas. Vor zwei Jahren ist er von uns gegangen. Der Herrgott hat ihn nach einer schweren Krankheit erlöst.«
»Tot? Mein Vater ist tot?«
»Ja, Bub, wir sind ganz allein, nur du und ich. Ach, du weißt ja gar net, wie froh ich bin, daß du wieder da bist.« Plötzlich schoß der Therese ein erschreckender Gedanke durch den Kopf. »Du bleibst doch, Thomas? Du willst doch net wieder fort oder?«
Zärtlich nahm er ihre Hand. »Nein«, erwiderte er ruhig, »ich bleib’, Mutter. Hier ist schließlich mein Zuhaus’. Ich hab’ genug von der weiten Welt gesehen. Es war net immer schön«, fügte er düster hinzu.
»Was hast denn all die Jahre gemacht?« fragte Therese neugierig.
»Laß uns net darüber sprechen, Mutter. Ich will das alles vergessen. Laß uns nur noch an heute und morgen denken, net mehr an die Vergangenheit. Erzähl mir lieber, ob unsere alte Kuh, die Alma, noch lebt.«
»Ja, die lebt noch. Sie gibt zwar nimmer gar so viel Milch, aber für eine neue Jungkuh hat’s nie gereicht.«
»Es war gewiß net leicht für dich, Mutter«, meinte Thomas. »Der Hof und nur du allein zum Bewirtschaften.«
»Nein, leicht war’s wahrhaftig net.« Therese seufzte. »Doch nun bist du ja da und kannst den Hof übernehmen. Jetzt fehlt nur noch eine Jungbäuerin. Hast gar ein Madl in der Stadt kennengelernt, die sich für unsren Hof eignen würd’?«
Thomas wurde rot. »Die Stadtmadln sind doch heut alle net mehr für die Landwirtschaft zu haben. Die gehen lieber in die Fabrik arbeiten. Da haben sie auch pünktlich Feierabend. Doch sag mal, Mutter, wie geht’s eigentlich der Anna-Lena, der Tochter vom Kreuzhof-Bauern?«
Ah, daher weht der Wind, dachte Therese. Doch sie hütete sich, ein Wort zu sagen. Die Anna-Lena wäre ihr als Schwiegertochter sehr willkommen gewesen. Doch das war Sache des Buben.
»Die Anna-Lena«, meinte sie gedehnt, »führt ihrem Vater die Wirtschaft, ein rechtschaffenes, kreuzbraves Madl.«
»Ich meint’ halt… Hat sie schon einen Schatz? Ist sie schon einem Burschen versprochen?«
»Davon ist mir nix bekannt.« Therese lächelte. »Doch wenn du magst, können wir sie ja am Sonntag zum Kaffee einladen. Sie würd’ sich bestimmt freuen, dich wiederzusehen.«
»Meinetwegen«, brummte Thomas. »Doch jetzt ist es schon spät, Mutter. Wollen wir nicht schlafen gehen? Wir müssen schließlich morgen früh raus. Und dann können wir allweil noch reden.«
Therese mußte unwillkürlich lächeln. Die Anna-Lena Kreuzhofer. Ach, vielleicht wurde ja doch noch alles gut. Laut sagte sie: »Du hast recht, Bub. Morgen ist auch noch ein Tag.«
*
»Anna! Anna-Lena, wo steckst denn?« Die Stimme ihres Vaters riß Anna-Lena Kreuzhofer aus ihren Gedanken. Wie so oft in den letzten Jahren hatte sie an Thomas, den Sohn des Bicherl-Bauern gedacht. Doch energisch schob sie die Gedanken beiseite. Der kommt nimmer wieder, dachte sie wehmütig und schalt sich selbst eine Träumerin.
»Hier bin ich, Vater. In der Küche.«
»Na, dann wird’s Essen ja bald fertig sein. Wir haben alle einen rechtschaffenen Hunger.«
»Das kann ich verstehen.« Anna-Lena lächelte. »Schick mir die Marie zum Tischdecken. Dann könnt ihr in ein paar Minuten zum Essen kommen.« Die Haushaltsführung auf dem Hof ihres Vaters machte Anna-Lena Spaß. Sie war mit Leib und Seele eine Bauersfrau. Ein Leben in der Stadt war für sie unvorstellbar. Es machte sie glücklich, die Kälber, Ferkel, Küken und was es sonst noch an Tieren auf dem Hof gab, heranwachsen zu sehen. Jedes Jahr brachte ein neues Wachstum, eine neue Ernte.
Polternd stürzten die Knechte und Mägde ins Haus. Sie arbeiteten gern für den Kreuzhof-Bauern. Die Bezahlung war nicht schlecht, das Essen gut und reichlich.
»Habt ihr das ganze Heu heimfahren können?« fragte Anna-Lena.
Stolz nickte Sepp, der Großknecht. »Es war ein ordentliches Stück Arbeit«, meinte er. »Aber heut abend gibt’s sicherlich ein Unwetter. Doch uns kann das
net stören. Die Ernte lagert trocken. Es war ein gutes Jahr. Wir werden einen sorgenfreien Winter haben.«
Dann sagte niemand mehr ein Wort. Hungrig waren alle von der schweren Arbeit. Nach dem Essen lehnten sie sich behaglich zurück.
»Kochen kannst, Anna-Lena. Das muß man dir lassen«, sagte der Vater stolz. »Bist auch eine gute Hausfrau.«
Das Gesinde nickte beifällig.
Der Großknecht steckte sich ein Pfeifchen an. »Ich hab’ heut beim Krämer gehört, der Sohn vom Bicherl ist zurückgekommen. Die Mutter war im Dorf und hat’s erzählt.«
»Der Thomas?« fragte Anna-Lena erstaunt.
»Ja, der Thomas Bicherl. Lang genug ist er ja in der Fremde gewesen. Seine Mutter hatte schwer zu kämpfen in dieser Zeit, ohne Hilfe auf dem Hof.«
»Meinst net, Vater«, Anna-Lena sprach mit leiser Stimme, »wir sollten einmal auf dem Bicherl-Hof vorbeischauen und den Thomas begrüßen.«
»Das fehlte gerade noch«, brummte der Kreuzhof-Bauer. »Soll der Hallodri doch erst einmal zu uns kommen. Er ist ja schließlich weggelaufen und hat seine arme Mutter alleingelassen.«
»Damals lebte aber sein Vater noch«, nahm die Tochter den Thomas etwas zu heftig in Schutz. »Und wir wissen net, was zwischen dem Thomas und seinem Vater vorgefallen ist. Bestimmt hatte er einen Grund fortzugehen.«
»Für einen Bauernsohn gibt es keinen Grund, seinen Hof zu verlassen und die Mutter jahrelang im Ungewissen zu lassen. Warum hat er ihr net geschrieben. Da kannst sagen, was du willst: Das war net recht.«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach Anna-Lenas Antwort.
»Herein!«
Therese Bicherl trat ein.
»Grüß Gott! Stör’ ich grad beim Essen?«
»Grüß Gott, Bicherlerin. Nimm Platz. Nein, du störst net. Wir sind grad fertig. Magst einen Enzian?«
»Gern.« Therese lächelte. Das Glück strahlte ihr aus den Augen. »Stellt euch vor, mein Sohn, der Thomas ist nach Haus’ gekommen. Welche Freude auf meine alten Tag.«
»Das freut mich für dich, Bicherlerin«, meinte der Bauer freundlich. »Hast es aber auch verdient, daß du jetzt Hilfe bekommst. Hart genug hast ja arbeiten müssen, um den Hof zu halten. Ein Hof ohne Bauer ist wie eine Kuh ohne Milch. Das taugt beides net.«
»Er wird doch hierbleiben, der Thomas?« fragte Anna-Lena ängstlich. »Er geht doch nimmer in die Stadt zurück?«
»Nein, Anna-Lena. Der Thomas bleibt jetzt für immer auf dem Hof.« Stolz blickte die Bicherl-Bäuerin in die Runde. »Magst net am Sonntag mit deinem Vater zum Kaffee kommen? Der Thomas und ich würden uns sehr freuen. Und die Knecht’ sollen auf seine Heimkehr ein großes Glas Bier trinken. Ich hab’ schon mit dem Wirt gesprochen. Für die Mägde gibt’s Schokolade.«
Nun redeten alle durcheinander. »Dank’ schön, Bicherlerin! Wir werden auch auf euer Wohl trinken.«
Die Madln kicherten. Gar manche hatte den strammen Bicherl-Buben noch im Kopf. Er war ein Mannsbild, das man so bald nicht vergaß.
»Ich freu’ mich auf Sonntag, Bicherl-Bäuerin. Der Vater und ich werden bestimmt kommen.«
»Ich werd’s dem Thomas ausrichten. Damit machst ihn glücklich, Anna-Lena.«
Anna-Lena hätte gern noch viele Fragen gestellt. Ging’s dem Thomas gut? Hatte er auch kein Madl in der Stadt kennengelernt? Aber dann hätte er doch sicher nicht die Mutter geschickt, damit sie den Kreuzhof-Bauern mit seiner Tochter einlud. Ob er in der Ferne wohl manchmal an sie, Anna-Lena, gedacht hatte? Nur ihre natürliche Zurückhaltung gebot dem Madl, die Bicherl-Bäuerin nicht mit Fragen über ihren Sohn zu behelligen. Und bis zum Sonntag waren es ja nur noch wenige Tage. Die würden auch noch vergehen.
*
Am Sonntag stand die Sonne an einem strahlendblauen Himmel. Der Altweibersommer entwickelte sich noch einmal mit voller Pracht, ehe es zum Herbst und dann zum langen Winter überging. Freude war in Anna-Lenas Herzen. Heute würde sie den Thomas wiedersehen. Am liebsten hätte sie schon am frühen Morgen gejauchzt und gesungen. Doch die griesgrämige Miene ihres Vaters dämpfte ihren Übermut ein wenig.
»Vater, freust dich denn garnet, daß der Bicherl-Bub wieder zu Haus’ ist?«
»Freilich, für die Bicherlelrin freu’ ich mich. Aber ich kann halt net vergessen, daß der Thomas seine Mutter so lang’ allein gelassen hat.«
»Vater, ich hab’ doch schon mal gesagt, daß wir die Gründe dafür net kennen.«
»Dann frag’ ich ihn halt.«
»Fall net gleich mit der Tür ins Haus«, bat Anna-Lena. »Wenn wir’s wissen sollen, wird er es uns schon erzählen.«
»Immer nimmst diesen Hallodri in Schutz. Hast ihn vielleicht gern?«
Verlegen suchte Anna-Lena nach einer Antwort. »Und wenn ich ihn gern hab’, Vater? Was dann?« fragte sie trotzig, da ihr keine passende Erwiderung einfiel. Doch sie wartete die Antwort des Vaters nicht ab. Schnell drehte sie sich um und verließ den Raum. Das heftige Türenschlagen verriet dem Vater ihre Gemütsbewegung.
Auf Anna-Lenas Freude war ein Schatten gefallen. Warum nur mußte der Vater immer über den Thomas schimpfen? Bis zum Nachmittag wich sie ihrem Vater aus.
Beim Umkleiden gab sich Anna-Lena besondere Mühe. Das helle Dirndl mit dem mit Enzianblüten bestickten Oberteil und der grünen Schürze stand ihr wirklich gut. Die dunklen lockigen Haare waren zu Flechten gebunden und rund um den Kopf festgesteckt. Ihr hübsches Gesicht mit den großen dunklen Augen strahlte vor Glück.
»Mei, du schaust aber gut aus«, staunte der Vater.
»Ja, Bauer, deine Tochter ist wirklich ein blitzsauberes Madl«, meinte der Sepp mit bedächtiger Stimme. »Du wirst sie nimmer lang’ halten können. Ist eh schon ein Wunder, daß sie noch nicht verheiratet ist. Bewerber hab’ ich auf dem Hof schon genug gesehen.«
»Sei stad, Sepp«, rief Anna-Lena verlegen dazwischen. »Geht euer Bier trinken und schaut euch net die Augen nach mir aus.«
Die Knechte lachten.
»Geh, Bauer, es ist doch nur schmeichelhaft für dich, wenn wir uns den Hals nach deiner schönen Tochter verrenken.«
»Anschauen könnt ihr sie ja, aber mehr auch net.« Stolz hakte sich der Kreuzhofer-Bauer bei seiner Tochter unter, und in dieser Haltung gingen die beiden durchs Dorf.
Alle grüßten Vater und Tochter höflich. Die Sonne hatte die Dorfbewohner aus ihren Häusern gelockt, und nun saßen fast alle im Vorgarten auf der Bank. Dem Kreuzhofer schwoll die Brust vor Stolz über seine bildhübsche Tochter.
Beim Aufstieg zum Bicherl-Hof fiel zwischen den beiden kein Wort. Anna-Lena hätte auch nichts sagen können. Vor Aufregung klopfte ihr Herz zum Zerspringen. Es fiel ihr schwer, Luft zu bekommen. Endlich, nach so langer Zeit würde sie den Thomas wiedersehen!
Auf halbem Weg kam er ihnen schon entgegen. »Anna-Lena!«
»Thomas!«
Die Liebe klang aus beider Stimmen.
Der Kreuzhofer räusperte sich. »Grüß Gott, Thomas. Hast wohl nur Augen für die Tochter. Den Vater siehst gar net.«
»Entschuldigung, Kreuzhofer-Bauer. Aber ich hab’ die Anna-Lena doch so lang net gesehen. Und oft hab’ ich an dich gedacht, Madl«, wandte er sich wieder an das Dirndl. »Sehr oft sogar.«
»Warum bist dann net heimgekommen?« fragte der Kreuzhofer. »Die Mutter hätt’ dich auf dem Hof brauchen können.«
»Das ist eine lange Geschicht, Kreuzhofer. Doch jetzt kommt doch erst einmal ins Haus. Die Mutter hat Kuchen gebacken. Sie freut sich sehr über euren Besuch.«
»Mehr noch als du?« flüsterte Arena-Lena und senkte den Kopf.
Thomas griff zärtlich mit der Hand unter ihr Kinn. Ohne ein Wort zu sagen, blickte er ihr tief in die Augen. Seine Blicke sagten mehr als Worte. Anna-Lena fühlte sich von einer Welle von Glück überrollt.
Die Bicherlerin kam aus dem Haus.
»Wo bleibt ihr denn so lang? Der Kaffee wird ja kalt«, freudig lächelnd reichte sie dem Kreuzhofer die Hand und nahm dann das Madl in den Arm.
Kurze Zeit später saßen alle gemütlich um den Kaffeetisch herum.
»Man sieht doch gleich, daß ein Mannsbild im Haus ist«, meinte der Kreuzhofer-Bastian. »Thomas war schon fleißig. Das Dach vom Stall ist geflickt, und auch der Holzhaufen für den Winter ist mächtig angewachsen.«
»Fleißig ist er, mein Thomas.« Therese nickte. »Er läßt mich jetzt nur noch die Hausarbeit verrichten, alle Stall- und Feldarbeit macht er selbst.«
»Es wurde auch Zeit, Mutter«, meldete sich Thomas zu Wort. »Hast lang’ genug für zwei schuften müssen. Doch heut ist Sonntag. Da heißt es für alle Ausruhen. Magst net mit mir ein wenig in die Berge gehen«, wandte er sich an Anna-Lena. »Nur ein kleines Stückerl.«
»Gern«, erwiderte das Madl.
»Na, dann werden wir beiden Alten uns wohl einen Enzian genehmigen. Du trinkst doch einen mit mir, Therese?«
»Gern, Bastian. Laß die Jugend laufen. Wir setzen uns derweil vor die Tür und schauen uns den Sonnenuntergang an.«
Hand in Hand liefen Anna-Lena und Thomas den Berg hinan. Die Sonnenstrahlen fielen gerade auf den Goldbachfelsen.
»Ist das schön«, meinte Thomas. »Ich hab’s als Kind und junger Bub ja oft genug gesehen, doch wie schön es wirklich ist, merkt man erst, wenn man von daheim fort war. Ach, wie oft hab’ ich an zu Hause gedacht – an die Mutter und an dich«, fügte er leise hinzu.
»In der Stadt hast doch genug andere Madln kennengelernt.« Eifersucht klang aus Anna-Lenas Stimme.
»Ja, das schon, aber keine war so blitzsauber und gescheit wie du.«
»Thomas, sag mal, warum bist damals von daheim fortgelaufen? Bei Nacht und Nebel bist verschwunden. Du mußt doch einen Grund gehabt haben.«
Tiefe Falten bildeten sich auf der Stirn des Burschen. »Mit dem Vater war damals kein Aushalten mehr. Wie einen kleinen Buben hat er mich behandelt. Und wenn die Mutter meine Partei ergriffen hatte, fuhr er auch ihr über den Mund. Ich wollte den Hof modernisieren. Du weißt doch selbst, daß man Geräte braucht, wenn man effektiv wirtschaften will. Doch der Vater war strikt dagegen. ›Dieses neumodische Zeug kommt mir net auf den Hof‹, hat er geschrien. ›Mein Vater und mein Großvater haben so gewirtschaftet. Mit ihrer Hände Arbeit haben sie dieses Anwesen aufgebaut, und so soll der Hof auch bleiben.‹ Keinen Argumenten war er zugängig. Ich hatte ohne sein Wissen einen Traktor bestellt. Dann verlangte er von mir, daß ich die Bestellung rückgängig machen sollte. Und als die Mutter mir zustimmte, hat er sie sogar geschlagen. Da hab’ ich’s nimmer ausgehalten und bin davongerannt.«
Die beiden jungen Menschen schwiegen eine Weile.
»Jetzt weiß ich, daß es net richtig war. Ich hätt’ die Mutter net allein lassen dürfen.«
»Ich kann dich ja verstehen, Thomas. Dein Vater war schließlich als starrsinniger Mann bekannt. Aber du hättest doch deiner Mutter einmal schreiben können.«
»Ich weiß, Anna-Lena, ich weiß. In den letzten Tagen hab’ ich’s oft genug bereut, daß ich nix hab’ von mir hören lassen. Die Mutter hat mir verziehen. Verzeihst du mir auch?« Bittend wie ein kleiner Junge sah er sie an.
»Ich hab’ nix zu verzeihen, Thomas.«
»Doch, Anna-Lena. Dich hab’ ich ja damals auch im Stich gelassen. Wir haben uns ja schon damals gern gehabt.«
»Damals! Und heut?« Wie ein Hauch kamen diese Worte über Anna-Lenas Lippen.
»Heut? Heut mag ich dich noch lieber, wenn’s überhaupt möglich ist, daß die Lieb’ sich steigern kann. Jeden Tag hab’ ich an dich gedacht. Dein Bild hat mir immer vor Augen gestanden. Tag und Nacht.«
»Nun übertreibst aber, Thomas.« Anna-Lena lachte.
»Gewiß net. Was ich sag, stimmt. Aber was red’ ich die ganze Zeit! Busserln möcht’ ich dich. Ganz und gar abbusserln.«
Liebevoll zog er sie in seine Arme und drückte zärtlich seine Lippen auf die ihren. Nach einer ganzen Weile ließ er sie los.
Atemlos meinte er: »Madl, du bist so schön wie eine Bergblume. Du duftest so schön wie eine Blumenwiese im Frühling. Ich mag dich nimmer loslassen. Magst für immer bei mir bleiben? Heirate mich! Werd Bäuerin auf meinem Hof! Morgens, wenn ich aufsteh’, möcht’ ich dein liebes Gesicht sehen, und abends beim Zubettgehen möcht’ ich dich zärtlich in meine Arme schließen. Sag ja, Anna-Lena, sag, daß du bei mir bleiben willst.«
Mit strahlenden Augen sagte Anna-Lena: »Ja! Gern will ich bei dir bleiben. Die Zeit ohne dich war so lang.«
Thomas hob sie hoch und schwenkte sie herum. »Du machst mich zum glücklichsten Menschen auf der ganzen Welt!« rief er begeistert. »Doch nun laß uns heimgehen und die Neuigkeit der Mutter erzählen. Wie sie sich freuen wird!«
Ein Schatten fiel auf Anna-Lenas Gesicht. »Und mein Vater? Meinst, daß er sich auch freut? Er war mit deinem Fortlaufen gar net einverstanden.«
»Ich werd’ deinen Vater überzeugen, daß ich dich nie allein lass’. Er kann mir seine Tochter ruhig anvertrauen. Die Zeit in der Fremde hat mich viel gelehrt. Das Wichtigste ist die Heimat. Ein Heimatloser, der nirgendwo Wurzeln fassen kann, ist ein unglücklicher Mensch.«
Nun war auch Anna-Lena wieder beruhigt. »Wenn du das dem Vater so erklärst, ist er sicherlich mit unserer Hochzeit einverstanden.«
Hand in Hand liefen die beiden jungen Liebenden den Berg hinunter dem Bicherl-Hof zu.
*
Therese Bicherl und Bastian Kreuzhofer war die Liebe in den Augen der beiden jungen Leute nicht entgangen. Nachdem sie sich zusammen auf die Bank vor dem Haus gesetzt und einige Minuten schweigend auf die grandiose Bergwelt geblickt hatten, meinte Bastian: »Therese, dein Bub schaut mein Madl mit verliebten Augen an. Glaubst du, er meint es ernst?«
»Das glaub’ ich schon, Bastart.«
»Aber ist auf ihn auch Verlaß? Er hat seine Mutter schon einmal im Stich gelassen.«
»Die Jugend muß sich die Hörner abstoßen. Und Xaver, mein verstorbener Mann, hat den Buben gar zu arg am Bandl gehalten. Xaver war ein unzugänglicher, starrsinniger Mann. Das weißt du auch ganz genau. Es war vielleicht nicht recht von dem Buben, so lang’ fortzubleiben, aber er ist ja wiedergekommen. Und daß er ein tüchtiger Bauer ist, das kann man schon die paar Tage nach seiner Heimkehr merken. Fleißig ist er, mein Thomas, sehr fleißig sogar. Dein Madl hätt’s net schlecht bei ihm.«
»Wenn du meinst, Therese«, brummte der Kreuzhofer. »Freuen würd’s mich schon. Dann bleibt das Madl wenigstens im Dorf, und ich kann sie alle Tag’ sehen. Reuen soll’s euch net. Die Anna-Lena bekommt eine schöne Mitgift. Und später könnt’ der Älteste von den beiden meinen Hof übernehmen. Bis dahin mach’ ich’s schon noch. Ach ja, es ist ein Kreuz, wenn man keinen Buben hat.«
»Du hast eine blitzsaubere, gescheite Tochter, Bastian. Dafür sollst dem Herrgott dankbar sein.«
»Hast recht, Therese. Hast ja recht.«
Wieder schwiegen die beiden. Die Sonne ging nun langsam hinter den Bergen unter. Die Bergspitzen glühten rot-gold. Ein Habicht stieg auf und ließ sich eine Zeitlang nur vom Wind treiben. Dann stieß er blitzschnell zur Erde hinab, faßte seine Beute, einen kleinen Hasen, und trug sie triumphierend zu seinem Nest zurück.
»Da, schau! So schnell kann das Ende kommen, Therese!«
»Ei, Bastian.« Die Bicherlerin lachte. »Du bist doch selbst eher ein Habicht als ein Hase. Dir kann so schnell nix etwas anhaben.«
»Man kann nie wissen! Doch schau, da kommen unsere beiden Kinder. Denen schaut die Lieb’ ja schon kilometerweit aus den Augen.« Bastian stand auf.
Anna-Lena lief ihm entgegen. »Vater!« rief sie bittend.
»Du brauchst gar nix zu sagen, Madl. Man sieht auch so, daß ihr euch einig geworden seid. Und du, Thomas, wirst auch nimmer fortlaufen?«
»Nie mehr«, sagte Thomas und blickte dem alten Kreuzhofer tief in die Augen. »Wennst mir deine Tochter zur Frau gibst, werd’ ich sie auf Händen tragen.« Er hielt ihm die Hand hin. »Schlag ein, Bauer, deine Tochter hat ja gesagt.«
»Willst diesen Hallodri wirklich heiraten?« brummte der Kreuzhofer. Doch man merkte ihm an, daß er es nicht bös’ meinte.
»Ja, Vater, ich will!«
Therese hatte stumm und mit Tränen in den Augen zugehört. »Madl, nun bekomm ich dich als Schwiegertochter. Wie froh ich bin.« Liebevoll nahm sie das Dirndl in den Arm.
»Mutter«, zögernd sprach Anna-Lena, das für sie ungewohnte Wort aus »auch ich bin glücklich. Ich kann gar net sagen, wie.«
»Und wann soll die Hochzeit sein?« fragte Bastian.
»Bald. Lang’ genug haben wir ja gewartet. Jetzt möcht’ ich keinen Tag länger allein sein.« Fest legte Thomas den Arm um AnnaLenas Schultern.
Vertrauensvoll blickte das Madl zu ihm auf. »Ja, ich möcht’ auch nimmer warten.«
»Nun, ein paar Tage wird’s ja noch Zeit haben«, brummte der Bastian. »So sehr pressiert’s wohl net. Oder willst deinen alten Vater so bald schon allein lassen?«
Heftig schlang Anna-Lena die Arme um den Kreuzhofer. »Nein, Vater. Ich will dich net allein lassen und ich werd’ dich auch net allein lassen. Jeden Tag komm ich dich besuchen. Ich muß doch nachschauen, ob die Marie den Haushalt richtig führen kann.«
»Na, das wird etwas werden«, knurrte der Kreuzhofer. »Die Marie in der Küche. Dann ist’s mit dem guten Essen vorbei.«
Anna-Lena lachte. »Ich bring’ ihr’s Kochen schon noch richtig bei.«
»Jetzt wollen wir erst einmal Verlobung feiern«, meinte Therese resolut. »Bis zur Hochzeit dauert es ja noch ein paar Tag’. Ich hab’ eine gute Flasche Wein im Keller, die hab’ ich extra für so eine Gelegenheit aufbewahrt. Und die zweite Flasche öffnen wir dann, wenn wir die Geburt meines Enkels feiern können.« Sie lächelte verschmitzt.
Anna-Lena wurde rot.
Thomas küßte sie vor aller Augen auf die Wangen und lachte. »Bis es soweit ist, wird’s nimmer lang’ dauern. Du kannst die zweite Flasche ruhig schon mal bereitstellen.«
Stundenlang saßen die vier an diesem Abend noch in trauter Eintracht zusammen. Erst als Bastian und Therese die beiden jungen Leute daran erinnerten, daß morgen wieder ein Arbeitstag sei, trennten sie sich. Doch die Eltern sahen, wie schwer es ihnen fiel.
Am nächsten Morgen machte die Neuigkeit im Dorf die Runde. Wer es als erstes erzählt hatte, wußte niemand mehr so recht, doch das Leuchten in Anna-Lenas Augen zeigte allen, daß es bis zur Hochzeit nimmer weit war.
»Bauer, zur Verlobung deiner Tochter mußt schon ein paar Maß springen lassen«, meinte der Sepp lächelnd. »Das Gesinde gerät außer Rand und Band, wennst net großzügig bist.«
»Hast recht, Sepp. Es ist ja schließlich meine Einzige. Da darf man sich net lumpen lassen. Ich werd’ gleich mal zum Wirt gehen.«
»Aber vorher schaust beim Pfarrer vorbei, Vater«, rief Anna-Lena. »Frag ihn, wann der Thomas und ich vorbeikommen können.«
»Hast es ja wirklich eilig«, brummte der Bastian, doch er machte sich gehorsam auf den Weg.
Der Pfarrer hatte die Neuigkeit schon vernommen. »Mit dem Bicherl-Thomas kriegst einen guten Schwiegersohn, Kreuzhofer. Sicher, dein Hof ist größer als seiner, aber der Thomas ist ein guter und fleißiger Bauer. Da wird’s deine Tochter gut haben.«
»Das will ich hoffen«, meinte der Kreuzhofer trocken.
Der Pfarrer blickte ihn scharf an, sagte jedoch nichts zu der Bemerkung. »Sag den beiden jungen Leuten, sie können morgen abend bei mir vorbeischauen. Dann werden wir den Hochzeitstermin festlegen.«
Mit roten Wangen und glänzenden Augen saßen die Brautleute am nächsten Abend vor dem Pfarrer.
»So schnell wie möglich wollt ihr also heiraten.« Hochwürden lächelte freundlich. »Aber vier Wochen wird’s doch noch Zeit haben. Ich muß das Aufgebot ja erst einmal von der Kanzel verkünden.«
»Vier Wochen sind für uns eine lange Zeit, Herr Pfarrer, aber wir werden’s schon noch aushalten.« Thomas schaute seine Anna-Lena strahlend an. Sie stieß ihm mit dem Ellbogen in die Seite.
»Herr Pfarrer, nehmen Sie ihn net so ernst«, bat sie lächelnd. »Er hat mich ja eine ganze Weile allein gelassen, da wird’s die kurze Zeit auch noch gehen.«
»Meinen Segen habt ihr beiden!« Der Pfarrer verabschiedete sich von ihnen. »Ich freu’ mich immer, wenn zwei junge Menschenkinder aus meiner Gemeinde den Bund fürs Leben schließen.«
Die Hochzeitsvorbereitungen zogen sich über vier Wochen hin. Der Kreuzhofer hatte sich vorgenommen, seine einzige Tochter mit großem Pomp zu verheiraten. Es wurde geschlachtet, gebacken und gebraut. Die Mägde hatten alle Hände voll zu tun, doch die Freude über die Hochzeit der beiden jungen Liebenden war groß. Daher verrichteten alle ihre Arbeit gern. Das Haus hallte wider vor Freude und Lachen.
Am glücklichsten aber war Anna-Lena. Sie hätte am liebsten die ganze Welt umarmt. Ihr Liebster war heimgekehrt und führte sie als seine Frau auf seinen Hof. Manchmal beschlich sie jedoch ein leichtes Unbehagen. So viel Glück! Konnte das gutgehen? Doch energisch verjagte sie ihre Ängste und schalt sich selbst eine Törin.
*
Der Tag der Hochzeit war da. Als wollte er mitfeiern, hatte der Herbsthimmel sein schönstes Gewand angezogen. In allen bunten Farben leuchteten die Bäume und Büsche. Weiße Schäfchenwolken zogen über den Horizont. Doch ganz in der Ferne wurden die Wolken dicker und dunkler.
Die Hochzeitskutsche, bespannt mit vier prächtigen Schimmeln, hielt vor dem Kreuzhofer-
Hof. Schneidig sprang Thomas vom Kutschbock. Die Mägde standen kichernd vor der Haustür.
»Na, nun steht net so da herum«, sagte Thomas lachend. »Holt mir meine zukünftige Bäuerin.«
Doch gerade in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Anna-Lena erschien, gefolgt von ihrem Vater.
Thomas verschlug es bei dem Anblick des Madls die Sprache. »Mei, bist du schön«, rief er staunend.
Das weiße Spitzenkleid umfloß Anna-Lenas zierliche Figur. In ihrer geflochtenen Haarkrone war der Schleier mit dem Myrtenkranz festgesteckt. Vier kleine Mädchen trugen das lange federleichte Gebilde. Mit glücklichem Lachen reichte Anna-Lena ihrem zukünftigen Mann den Arm und schwungvoll hob Thomas sie in die Kutsche.
Die Fahrt zur Kirche verlief in feierlichem Schweigen. Als Thomas Anna-Lena beim Aussteigen half, fielen einige Regentropfen.
»Regen bedeutet Unglück für Hochzeiter«, rief eine alte Frau aus der Menge der vor der Kirche wartenden Zuschauer.
»Sei stad, Walli«, raunte die Nachbarin ihr daraufhin zu.
Ein ehrfürchtiges Gemurmel ging durch die Menge, als Anna-Lena und ihr Mann zu den Klängen des Hochzeitsmarsches den Kirchengang entlangschritten. Bastian Kreuzhofer folgte mit Therese Bicherl am Arm in stolzer Haltung. Therese konnte vor Tränen in den Augen gar nichts sehen. Solch ein Glückstag! Wie oft hatte sie in den letzten Jahren davon geträumt, daß ihr Sohn heimkehren und eine junge Bäuerin auf den Hof holen würde. Und nun gar die Anna-Lena, die sie so gern hatte wie eine eigene Tochter!
Auf die Frage des Pfarrers: »Willst du, Thomas Bicherl, die Anna-Lena Kreuzhofer zur Frau, so antworte mit ja«, klang Thomas’ Antwort deutlich durch die atemlose Stille der Kirche. Anna-Lena sagte ihr »Ja« etwas leiser, doch mit fester Stimme. Beim Austausch der Ringe schluchzte Therese Bicherl laut auf.
Inzwischen waren am gesamten Himmel Wolken aufgezogen. Die Heimfahrt verlief in großer Eile und nicht sehr feierlich.
Immer wieder wurden Stimmen laut, die Unglück prophezeiten. »Regentropfen sind die Tränen der Braut«, hieß es allgemein, doch in Gegenwart der Hochzeiter waren alle still.
Als Bastian Kreuzhofer das Gerede hörte, warf er drohende Blicke um sich. »Im Herbst regnet es halt manchmal. Wenn jede Hochzeit, die bei Regen stattfindet, Unglück bringen soll…«, sagte er böse zu den Klatschbasen, doch so leise, daß seine Tochter es nicht hören konnte. »Und wenn ihr nicht aufhört, euch das Maul zu zerreißen, dann…« Daraufhin fiel kein Wort mehr über diese Sache.
Im Kreuzhofer-Hof war ein Festmahl gerichtet, über das noch Jahre danach gesprochen werden sollte. Sekt, Wein, Bier und Branntwein waren in Hülle und Fülle vorhanden.
Während des Hochzeitsmahls konnte Thomas seine Blicke nicht von seiner jungen Frau lösen. So schön war sie ihm noch nie erschienen. Was war er doch für ein Glückspilz!
»Anna-Lena, Liebste, bist du glücklich?« fragte er sie leise.
»Thomas«, entgegnete sie mit leuchtenden Augen, »wie kannst nur so was fragen? Glücklicher als ich kann man nimmer sein, da bin ich sicher.«
»Ich werd’ alles tun, um dir dein Glück zu erhalten«, versicherte er ihr und besiegelte sein Versprechen mit einem langen Kuß.
An diesem Tag ahnte niemand, welch eine lange Leidenszeit den beiden bevorstand.
*
Der Winter hatte seinen Einzug ins Land gehalten. Die Sonne ließ den Schnee auf den Berghängen glänzen, als wäre er mit Brillanten bestückt. Im Haus loderte ein mächtiges Feuer im Ofen.
Thomas, Anna-Lena und Therese Bicherl lebten in Frieden auf ihrem Hof. Der Bicherl-Bauer, wie er nun von allen genannt wurde, hatte bereits viele Veränderungen an Haus und Hof vorgenommen. Er plante, im nächsten Jahr noch ein paar Äcker zusätzlich zu kaufen und den Viehbestand zu vergrößern. Dann würde man auch einen Knecht einstellen können.
Therese und Anna-Lena verrichteten die Hausarbeit in stiller Eintracht. Doch ihren Vater vergaß Anna-Lena in ihrem Glück nicht. Fast täglich ging sie ins Tal und schaute im Vaterhaus nach dem Rechten.
An einem bitterkalten Dezembernachmittag wollte sie gerade wieder nach Haus gehen, als der Sepp auf sie zukam. »Bäuerin, da hat grad eine Fremde nach eurem Hof gefragt. Der Wirt vom ›Grünen Ochsen‹ hat’s mir erzählt. Mächtig herausgeputzt soll sie gewesen sein. Ein richtiges Stadtkind.«
Anna-Lena runzelte die Stirn. »Eine Fremde? Wer mag denn das gewesen sein? Na, ich werd’s ja erfahren, wenn ich nach Haus’ komm. Hoffentlich verirrt sie sich nicht in den Bergen. Die Wege sind arg verschneit und für Fremde net mehr zu erkennen. Warum hat der Wirt sie net hier auf den Hof geschickt?«
»Die hat direkt nach deinem Mann gefragt.
»Ich werd’ mich gleich auf den Weg machen. Vielleicht seh’ ich sie unterwegs noch.«
»’s wird auch Zeit. Heut abend gibt’s gewiß noch einen schlimmen Schneesturm.«
Eilig ging Anna-Lena nach Hause. Eine Fremde? Wer mochte das sein? Was wollte ein Stadtmadl in den Bergen? Unruhig beschleunigte sie ihren Schritt. Doch so schnell sie auch ging, sie konnte die Fremde nirgends sehen.
Atemlos stieß sie daheim die Tür auf. »Mutter!«
»Guten Abend«, sagte eine fremde Frauenstimme.
»Grüß Gott«, stammelte Anna-Lena verwirrt. »Wer sind Sie? Wo ist mein Mann? Und wo ist meine Schwiegermutter?«
»Wenn Sie die alte Frau meinen«, ertönte die rauchige Stimme erneut, »die ist in den Wald gegangen, um ihren Sohn zu holen. Und ich bin Angelika Hofer, die Verlobte von Thomas Bicherl.«
»Die Verlobte… von Thomas?« Anna-Lena mußte sich an der Stuhllehne festhalten.
»Überrascht Sie das so?« fragte die Fremde amüsiert. »Warum soll der Thomas net verlobt sein. Er ist doch schließlich alt genug.«
Anna-Lena zog es vor zu schweigen. Dies war eine Situation, die sie nicht beurteilen konnte. Hier mußte Thomas Klarheit schaffen.
»Möchten Sie eine Tasse Kaffee?« fragte sie die Fremde höflich, doch ihr Widerwille gegen diese geschminkte Frau aus der Stadt war deutlich zu hören.
»Lieber würde ich etwas Alkoholisches trinken.«
»Vielleicht einen Enzian?«
»Ja, gern.«
Während Anna-Lena in die Stube ging, um die Enzianflasche zu holen, kam Thomas mit seiner Mutter zurück.
Entsetzt weiteten sich seine Augen, als er Angelika Hofer in der Küche sitzen sah. »Du hier?« fragte er verdutzt.
»Wie du siehst. Jedenfalls freu’ ich mich sehr, daß du mich nicht vergessen hast. Ich bin hier, um dich an dein Versprechen zu erinnern.«
»Mein Versprechen?«
»Du hast mir doch versprochen, mich zu heiraten. Oder hast du das etwa vergessen. Schließlich haben wir uns ja mal sehr geliebt.«
»Vor einigen Jahren. Das ist doch lange vorbei und vergessen.«
»Das würde ich nicht gerade sagen. Schließlich hat unsere Liebe damals Frucht getragen.«
»Wie meinst du das?« fragte Thomas entsetzt.
»Nun, ich habe einen Sohn. Und du bist der Vater!«
»Ich, der Vater!« Thomas war ganz blaß geworden.
»Ohne jeden Zweifel.«
»Warum hast du mir das damals net gesagt?«
»Ich hatte meine Gründe«, erwiderte Angelika zurückhaltend. »Aber da du es ja sowieso erfahren wirst, werde ich es dir erzählen. Ich hatte einen reichen Mann kennengelernt und habe ihn geheiratet. Doch dann lief sein Geschäft nicht mehr gut. Er ist vor lauter Sorgen krank geworden und gestorben. Nun bin ich Witwe und außer einer Menge Schulden hat er mir nichts hinterlassen.«
Während des ganzen Gesprächs hatte Anna-Lena schweigend im Hintergrund gestanden. Jetzt fragte sie: »Und wo ist der Bub? Thomas’ Sohn, meine ich.«
»Der ist in einem privaten Kinderheim. Aber jetzt kann ich die Kosten für das Heim nimmer tragen, deshalb muß ich ihn bald abholen. Aus diesem Grund bin ich hergekommen. Schließlich ist es ja auch die Pflicht des Vaters, für seinen Sohn zu sorgen«, entgegnete Angelika trotzig.
»Aber ich kann dich net heiraten«, rief Thomas verzweifelt. »Ich bin schon verheiratet.«
»Ist das deine Frau?« Angelika wies auf Anna-Lena.
»Ja.« Thomas ging zu Anna-Lena und legte beschützend den Arm um sie.
Jeder konnte sehen, wie Angelika schluckte. Das hatte sie nicht erwartet. »Gib mir noch einen Schnaps«, sagte sie nun rauh. »Ich muß nachdenken.« Sie leerte das Stamperl mit dem Enzian in einem Zug.
»Dann gibt es nur noch eine Möglichkeit«, meinte sie dann nach einer Weile lauernd. »Wenn du mir genug Geld gibst, werde ich in Zukunft allein für unseren Sohn sorgen. Aber glaub ja net, daß du mich mit ein paar Pfennigen abspeisen kannst. Florian ist schließlich dein Sohn, und du hast eine Unterhaltspflicht ihm gegenüber. Wenn du mich net reichlich entschädigst, werd’ ich dich wegen Verletzung der Unterhaltspflicht anzeigen.«
»Aber woher soll ich Geld nehmen«, fragte Thomas verzweifelt. »Wir haben nur den Hof. Ich kann damit gerade unseren Lebensunterhalt erwirtschaften.«
»Verkauf den Hof!«
»Und dann? Soll ich vielleicht mit meiner Frau und mit meiner alten Mutter als Tagelöhner dienen.«
»Warum nicht?«
»Du bist verrückt«, entfuhr es Thomas.
»Ich muß schließlich auch an mein Kind denken«, meinte Angelika Hofer kühl.
»Daß ich net lach’.« Thomas’ Stimme klang bitter. »Du und an dein Kind denken. Wenn du dein Kind lieben würdest, wär’s jetzt bei dir und net in einem Heim. Dich durchschau’ ich schon. Du denkst immer nur an dich. Damals war ich blind verliebt, und als du klammheimlich von mir fortgingst, hast mir richtig weh getan. Doch dann gingen mir die Augen auf, und ich war froh, daß ich dich nicht mehr sehen mußte. Und warum bist fortgegangen? Nur weil du einen Mann kennengelernt hast, der mehr Geld hatte als ich. Hast dem vielleicht von dem Kind erzählt?«
»Das geht dich nix an. Ich hatte schon meine Gründe zu schweigen.«