Der achte Kongreß zu Nounas in Costricana, an dem auch der weltberühmte Weltraumfahrer Ijon Tichy teilnimmt, steht unter keinem guten Stern. In den Straßen kämpft eine rücksichtslose Militärregierung mit Insurgenten, wobei auch chemische Kampfstoffe eingesetzt werden. Auch die Teilnehmer des Kongresses werden in die Kämpfe verwickelt und müssen sich auf der Flucht, vollgepumpt mit Chemie, in die Kanalisation der Stadt zurückziehen. Ijon Tichy wird nach schweren Verletzungen in Kühlschlaf versetzt und erwacht im Jahr 2039. Mittlerweile ist das Zeitalter der Psychemie angebrochen, der Beeinflussung aller Sinneswahrnehmungen durch chemische Mittel, die die ganze menschliche Existenz durchdringen, so daß es keine Wirklichkeit mehr gibt, die nicht chemisch manipuliert wäre. Wie in den Sterntagebüchern (st 459) betreibt Lem ein Spiel mit der Sprache und schöpft scheinbar mühelos mehr als hundert neue Begriffe aus der Wissenschaft und dem Leben der Zukunft und imaginiert beiläufig die »sprachseitige Zukunftsvoraussage«, d.h. eine Futurologie, die die Zukunft anhand der Umformungsmöglichkeiten der Sprache erforscht.
Stanisław Lem wurde am 12. September 1921 im polnischen Lwów (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. März 2006 starb. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Übersetzer und freier Schriftsteller. Er wandte sich früh dem Genre Science-fiction zu, verfaßte aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zur Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanisław Lem zählt zu den bekanntesten und meistübersetzten Autoren Polens. Viele seiner Werke wurden verfilmt.
Der futurologische Kongreß
Aus Ijon Tichys Erinnerungen
Aus dem Polnischen
von I. Zimmermann-Göllheim
Phantastische Bibliothek
Band 29
Suhrkamp
Titel der Originalausgabe:
Kongres futurologiczny
Umschlagfoto: Roger Ressmeyer / Corbis
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© by Stanisław Lem 1972
Alle Rechte an der deutschen Ausgabe Insel Verlag, Frankfurt am Main 1974
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Insel Verlags, Frankfurt am Main 1994
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-74318-8
www.suhrkamp.de
Der Achte Futurologische Weltkongreß fand zu Nounas in Costricana statt. Ehrlich gesagt, ich wäre nie hingereist, aber Professor Tarantoga deutete an, alle Welt erwarte es von mir. Auch sagte er (was mir einen Stich gab), Astronautik sei heute eine Form der Erdflucht. Wer die Sorgen der Erde satt habe, fliege in die Galaxis und gedenke so das Ärgste zu versäumen. In der Tat lugte ich zumal früher auf dem Heimflug von meinen Reisen oft angstvoll durchs Fenster, gewärtig, statt des Erdballs ein Ding wie eine Bratkartoffel vorzufinden. Also sträubte ich mich kaum; ich erwähnte nur, daß ich von Futurologie nichts verstehe. Tarantoga erwiderte, fast niemand verstehe etwas von Schiffspumpen, doch beim Ruf »Alle an die Pumpen« eile jeder an seinen Platz.
Der Vorstand der Futurologischen Gesellschaft hatte Costricana zum Tagungsland gewählt, weil die Übervölkerungs-Springflut und ihre Bekämpfung das Thema bildeten. Costricana hat derzeit den welthöchsten Geburtenüberschuß; unter dem Druck solcher Wirklichkeit sollten wir fruchtbarer debattieren. Nur Lästerer hoben hervor, daß just in Nounas ein neuerbautes Hotel des Hilton-Konzerns meistens leer stand, wohingegen zur Tagung außer den Futurologen ebenso viele Presseleute anreisen sollten. Da sich im Rahmen der Debatten das Hotel in nichts aufgelöst hat, kann ich jetzt ruhigen Gewissens und ohne Furcht vor dem Verdacht der Schleichwerbung feststellen: Es war ein ausgezeichnetes Hilton! In solchen Dingen hat mein Urteil besonderes Gewicht. Ich bin nämlich der geborene Schwelger. Nur aus Pflichtgefühl entsage ich allem Komfort und erwähle mir die astronautische Plackerei.
Das costricanesische Hilton schoß hundertsechs Stockwerke hoch aus einem flachen vierstöckigen Sockel empor. Auf den Dächern dieses niedrigen Teils gab es Tennisplätze, Schwimm- und Sonnenbäder, Go-Kart-Rennstrecken, Karusselle, die zugleich als Roulett dienten, und eine Schießbude, wo jeder nach Herzenslust und freier Wahl auf ausgestopfte Personen schießen konnte (Sonderanfertigungen wurden binnen vierundzwanzig Stunden geliefert). Es gab auch eine halbrunde Konzert-Arena mit einer Anlage, die Tränengas ins Publikum sprühen konnte. Mir wurde ein Appartement im hundertsten Stockwerk zugewiesen. Von dort aus sah ich nichts als die Oberseite der bläulich-braunen Smogwolke, die das Stadtbild verhüllte. An der Hotelausstattung befremdete mich manches, zum Beispiel in einer Ecke des Jaspis-Badezimmers eine drei Meter lange Eisenstange, im Schrank eine Tarnpelerine in Schutzfarben und unter dem Bett ein Sack Zwieback. Im Bad, neben den Handtüchern, hing in dicker Rolle ein typisches Kletterseil. Und als ich erstmals den Schlüssel ins Yale-Schloß steckte, bemerkte ich an der Tür ein kleines Schild mit der Aufschrift: »Die Hilton-Direktion bürgt dafür, daß diese Räumlichkeit keine Bomben enthält.«
Bekanntlich gibt es heutzutage zweierlei Wissenschaftler: ortsfeste und fahrende. Die ortsfesten forschen wie eh und je, die fahrenden aber besuchen alle erdenklichen internationalen Konferenzen und Kongresse. Der Wissenschaftler dieser zweiten Gruppe ist leicht zu erkennen: am Rockaufschlag trägt er stets eine kleine Visitenkarte mit dem Namen und dem akademischen Grad, in der Tasche aber die Zeitpläne der Fluglinien. Er selbst verwendet nur Gürtel ohne Metallschnalle, und auch seine Mappe hat ein Schnappschloß aus Kunststoff, alles nur, um nicht grundlos die Alarmsirene des Geräts auszulösen, das auf dem Flughafen die Reisenden durchleuchtet und Hieb- und Schußwaffen auffindet. Die Fachliteratur studiert ein solcher Wissenschaftler in den Bussen der Fluglinien und in Wartesälen, Flugzeugen und Hotelbuffets. Da ich aus begreiflichen Gründen viele in den letzten Jahren aufgekommene Eigenheiten der irdischen Kultur nicht kannte, erregte ich Flugplatzalarm in Bangkok, in Athen und in Costricana selbst. Dem konnte ich nicht rechtzeitig vorbeugen, denn ich habe sechs Metallplomben (aus Amalgam). In Nounas selbst wollte ich sie gegen Porzellan auswechseln lassen, doch unvermutete Ereignisse vereitelten dies. Den Sinn des Stricks, der Stange, des Zwiebacks und der Pelerine erklärte mir leutselig ein Mitglied der amerikanischen Futurologendelegation: das Hotelgewerbe unserer Zeit treffe eben Vorsichtsmaßnahmen ehemals unbekannter Art. Jeder solche Gegenstand im Appartement erhöhe die Überlebensquote pro Hotelbett. Aus Leichtsinn achtete ich zuwenig auf diese Worte.
Die Debatten sollten am Nachmittag des ersten Tages beginnen, doch schon am Morgen erhielten wir die vollständigen Konferenzmaterialien in eleganter graphischer Ausstattung und mit zahlreichen Exponaten. Ein hübsches Bild boten insbesondere die Abreißblöcke aus blauem Hochglanzpapier mit dem Aufdruck: »Begattungspassierscheine«. Auch wissenschaftliche Konferenzen leiden heute unter der Bevölkerungsexplosion. Da die Anzahl der Futurologen mit gleicher Steigerung anwächst wie die ganze Menschheit, herrschen bei Kongressen Hast und Gedränge. Die Referate können nicht vorgetragen werden; jeder muß sie sich im voraus zu Gemüte führen. Doch am Morgen hatten wir keine Zeit dazu, denn die Gastgeber baten uns zu einem Gläschen Wein. Diese kleine Feier verlief fast ungestört, wenn man davon absieht, daß die Delegation der USA mit faulen Tomaten beworfen wurde. Beim Wein sprach ich mit einem Bekannten, dem Journalisten Jim Stantor von United Press International. Er sagte mir, daß Extremisten bei Tagesanbruch den amerikanischen Konsul in Costricana und den dritten Botschaftsattaché entführt hätten und für die Freigabe der Diplomaten die Entlassung politischer Häftlinge verlangten. Um aber den Ernst der Forderungen zu betonen, hatten die Extremisten an die Botschaft und an regierende Kräfte vorerst einzelne Zähne der zwei Geiseln gesandt und die Eskalation angekündigt. Doch dieser Mißton beeinträchtigte keineswegs die herzliche Atmosphäre des Morgencocktails. Der Botschafter der USA kam persönlich und hielt eine kurze Ansprache über die Notwendigkeit internationalen Zusammenwirkens; allerdings standen rund um den Redner sechs breitschultrige Zivilisten, die uns aufs Korn nahmen. Ich gestehe, daß mich dies ein wenig verstörte, zumal da sich neben mir ein dunkelhäutiger indischer Delegierter in Anbetracht seines Schnupfens schneuzen wollte und nach dem Tuch in die Tasche langte. Der Pressesprecher der Futurologischen Gesellschaft versicherte mir nachher, die angewandten Mittel seien unerläßlich und menschenfreundlich gewesen. Die Bedeckung führe ausschließlich großkalibrige Waffen von geringer Durchschlagskraft, genau wie die Wachen an Bord der Linienflugzeuge. Demnach könne kein Außenstehender geschädigt werden, im Gegensatz zu früher, wo ein Geschoß nach Erlegung des Attentäters oft noch fünf bis sechs harmlose Sterbliche durchbohrt habe. Ein Mensch, der unter konzentriertem Beschuß vor deinen Füßen zusammensackt, ist nichtsdestoweniger kein erfreulicher Anblick, selbst dann nicht, wenn es sich um ein simples Mißverständnis handelt, das den Austausch diplomatischer Entschuldigungsnoten nach sich zieht.
Doch statt auf das Sachgebiet menschenfreundlicher Ballistik abzuschweifen, sollte ich lieber erklären, wieso ich die Konferenzmaterialien während des ganzen Tages nicht durchblättern konnte. Ich will von der üblen Einzelheit absehen, daß ich rasch das blutige Hemd zu wechseln hatte; gegen meine Gewohnheit frühstückte ich dann im Hotelbuffet. Morgens esse ich immer weiche Eier, und in keinem Hotel der Erde können sie ans Bett serviert werden, ohne daß sie samt den Dottern eklig gerinnen. Dies ergibt sich selbstredend aus den stetig zunehmenden Ausmaßen der Hauptstadthotels. Wenn anderthalb Meilen die Kochküche vom Zimmer trennen, dann rettet nichts die Dotter vor dem Gerinnen. Soviel ich weiß, haben eigene Hilton-Fachleute dieses Problem untersucht und den Schluß gezogen, Abhilfe schüfen lediglich eigene Aufzüge mit Überschallgeschwindigkeit; jedoch der sogenannte ›Sonic Boom‹, der Knall beim Durchbrechen der Schallmauer, ließe in geschlossenem Raum die Trommelfelle platzen. Wir könnten vielleicht verlangen, der Küchenautomat solle rohe Eier liefern, und der Kellnerautomat solle sie vor unseren Augen im Zimmer weich kochen; doch dann könnten wir fast ebensogut einen Stall voll eigener Hühner ins Hilton mitschleppen! Aus diesen Gründen begab ich mich am Morgen ins Buffet. Heutzutage nehmen 95 von hundert Hotelgästen an irgendeiner Tagung oder Konferenz teil. Der Einsiedlergast, der Einlings-Tourist ohne Visitenkarte am Aufschlag und ohne prallgestopfte Mappe voll Konferenzpapierkram ist selten wie die Perle in der Wüste. Außer uns tagten damals in Costricana die Splittergruppe »Tiger« der Jugendlichen Gegenbewegung, die Verleger Befreiter Literatur und der Streichholzschachtelsammlerverband. Gewöhnlich werden die Mitglieder einer solchen Gruppe in ein und demselben Stockwerk untergebracht. Doch um mich zu ehren, hatte mir die Direktion das Appartement im hundertsten Stock gegeben, weil es einen eigenen Palmenhain hatte, wo Bach-Konzerte stattfanden; das Orchester war weiblich und vollführte beim Spielen gemeinschaftlich Strip-Tease. Das alles hätte ich gern entbehrt, aber leider war kein Zimmer frei. Ich mußte also bleiben, wo man mich einquartiert hatte. Kaum saß ich auf einem Barhocker im Buffet meines Stockwerkes, da hielt mir schon der stämmige Sitznachbar das schwere beschlagene Doppelgewehr unter die Nase, das er umgehängt trug. (Von den schwarzen Bartzotteln des Mannes konnte ich wie von einer Speisekarte alle Mahlzeiten der letzten Woche ablesen.) Er lachte rauh und fragte, was ich von seiner Päpstlerin hielte. Ich begriff nichts, aber das wollte ich lieber nicht eingestehen. Bei Zufallsbekanntschaften ist Schweigen die beste Taktik. Er offenbarte mir denn auch eifrig von selbst, dieser doppelläufige Stutzen mit Laservisier, Schnelldrücker und Lader sei eine Waffe gegen den Papst. Unentwegt schwatzend zückte der Bärtige ein geknicktes Foto; es zeigte ihn selbst, wie er eben auf eine Puppe mit Priesterkäppchen anlegte. Er behauptete, er sei schon in Höchstform und rüste sich eben zur großen Wallfahrt nach Rom, um dort den Heiligen Vater vor dem Petersdom abzuknallen. Ich glaubte kein Wort, doch unter stetigem Geplapper zeigte mir der Kerl ein Flugbillet mit Buchung, ein Meßbuch, den Prospekt einer Pilgerreise für amerikanische Katholiken und endlich ein Päckchen Patronen mit kreuzweis geritzten Köpfen. Aus Ersparnisgründen hatte er nur die Hinfahrt bezahlt, denn er rechnete damit, von den empörten Wallern in Stücke gerissen zu werden. Diese Aussicht schien ihn in blendende Laune zu versetzen. Zunächst hielt ich ihn für einen Irren oder für einen der extremistischen Berufsattentäter, die ja heute nicht selten sind. Doch auch hier täuschte ich mich. Pausenlos schwatzend und immer wieder vom hohen Hocker kriechend, um die heruntergerutschte Flinte aufzuklauben, offenbarte er mir, er sei just ein glühender strenggläubiger Katholik. Die geplante Aktion (die er »Aktion P« nannte) sei ein besonderes Opfer seinerseits. Er wolle das Gewissen der Menschheit aufrütteln, und was rüttle daran wohl besser als solch ausbündige Tat? Was nach der Heiligen Schrift Abraham mit Isaak getan habe, das werde auch er tun, nur eben umgekehrt, nicht mit dem Sohn, sondern mit dem Vater, noch dazu mit dem Heiligen, erläuterte er mir. Solcherart beweise er den höchsten von einem Christen je aufgebrachten Opfermut und liefere den Körper an die Martern aus, die Seele aber an die Verdammnis, alles nur, um der Menschheit die Augen zu öffnen. »Um dieses Augenöffnen bemühen sich ein bißchen zu viele« – dachte ich. Von der Standrede nicht überzeugt, ging ich den Papst retten, das heißt, den Plan verraten. Aber als ich im Buffet des 77. Stockwerks auf Stantor stieß, da ließ er mich gar nicht ausreden; er sagte, unter den Geschenken der letzten amerikanischen Wallfahrergruppe an Hadrian den Elften hätten sich ein Meßwein-Fäßchen voll Nitroglyzerin sowie zwei Zeitbomben befunden. Den blasierten Ton begriff ich besser, als ich hörte, daß die Extremisten soeben ein Bein in die Botschaft geschickt hätten; nur von wem es stamme, sei noch ungeklärt. Im übrigen sprach Stantor nicht zu Ende; er wurde ans Telefon gerufen, denn in der Avenida Romana hatte sich angeblich jemand aus Protest in Brand gesteckt. Im Buffet des 77. Stockwerks war die Stimmung ganz anders als oben bei mir. Es gab viele barfüßige und bis zum Gürtel in Kettenhemden gehüllte Mädchen; manch eine trug einen Säbel. Einige hatten ihre langen Zöpfe nach neuester Mode am Collier oder am nägelgespickten Halsband befestigt. Ich bin nicht sicher: waren das nun Streichholzschachtelsammlerinnen oder die Sekretärinnen des Verbandes Befreiter Verleger? Die farbigen Standfotos, die gerade betrachtet wurden, sahen mir eher nach Spezialpublikationen aus. Ich fuhr neun Stockwerke abwärts, dorthin, wo meine Futurologen hausten. Schon wieder in einem Buffet angelangt, nahm ich einen Long Drink mit Alphonse Mauvin von Agence France Presse; zum letztenmal versuchte ich den Papst zu retten, aber Mauvin nahm meinen Bericht mit stoischem Gleichmut auf und brummte nur, vorigen Monat habe im Vatikan ein australischer Pilgrim geschossen, aber von einem völlig anderen weltanschaulichen Standort aus. Mauvin erhoffte sich für die Agentur ein interessantes Interview mit einem gewissen Manuel Pyrhullo; diesen jagten das FBI, die Sûreté, die Interpol und etliche andere Polizisten, er war nämlich der Gründer eines neuartigen Dienstleistungsbetriebs und empfahl sich als Spezialist für Sprengstoffanschläge, wobei er sich seiner Gesinnungslosigkeit sogar rühmte. Er war gemeinhin unter dem Decknamen »Der Bomber« bekannt. Bald trat ein schönes rothaariges Mädchen an unseren Tisch. Ihre Tracht ähnelte einem ganz und gar von Schnellfeuerserien durchlöcherten Spitzennachthemd. Das war die Abgesandte der Extremisten; sie sollte den Reporter zu ihnen ins Hauptquartier lotsen. Im Fortgehen überreichte mir Mauvin ein Reklameflugblatt Pyrhullos. Ich erfuhr daraus, nun sei endlich Schluß mit der Stümperei unverantwortlicher Dilettanten, die ja unfähig seien, Dynamit von Melinit und Bickford-Zündschnüre von Knallquecksilber zu unterscheiden; im Zeitalter der hochgezüchteten Spezialisierung tue man nichts auf eigene Faust; man vertraue dem Berufsethos und den Kenntnissen gewissenhafter Fachleute. Auf der Rückseite des Flugblattes las ich den Dienstleistungstarif nebst Umrechnung in die Währungen der höchstentwickelten Länder dieser Welt.
Eben begannen die Futurologen im Buffet einzutreffen; einer von ihnen, Professor Mashkenase, stürzte bleich und schlotternd herbei und schrie, bei ihm liege eine Zeitbombe im Zimmer. Der Barmixer schien mit solchen Lebenslagen vertraut; er rief mechanisch »Deckung!« und verschwand hinter dem Schanktisch. Doch die Hoteldetektive klärten den Fall im Nu: irgendein Kollege hatte dem Professor einen dummen Streich gespielt; in einer alten Keksdose tickte ein simpler Wecker. Das sah mir nach einem Engländer aus, die schwärmen ja für sogenannte »Practical Jokes«. Aber der Vorfall war schnell vergessen, denn J. Stantor und J. G. Howler, beide von UPI, brachten uns den Text einer Verbalnote der amerikanischen Regierung an die costricanesische, zum Thema der entführten Diplomaten. Das Schriftstück war in der üblichen Sprache diplomatischer Noten abgefaßt und nannte weder das Bein noch die Zähne beim Namen. Jim teilte mir mit, daß die örtliche Regierung drastische Maßnahmen erwog. Der Machthaber, General Apollon Diaz, begünstigte die »Falken«, die ihm empfahlen, Gewalt mit Gewalt niederzuzwingen. Das Kabinett beriet in Permanenz, unter anderem über folgenden Vorschlag einer Gegenoffensive: den politischen Häftlingen, deren Freigabe die Extremisten fordern, reißt man doppelt so viele Zähne aus. Und da die Stabsadresse der Extremisten nicht bekannt ist, sendet man ihnen diese Zähne postlagernd.
Die Luftpostausgabe der New York Times appellierte in Sulzbergers Worten an Vernunft und Gemeinsinn der menschlichen Rasse. Stantor sagte mir im Vertrauen, die Regierung habe einen Eisenbahnzug mit geheimem Kriegsmaterial requiriert, Eigentum der USA, das auf costricanesischem Gebiet als Durchfuhrgut nach Peru unterwegs gewesen sei. Futurologen zu entführen, schien den Extremisten vorerst nicht einzufallen; in ihrem Sinne wäre das gar nicht dumm gewesen, denn Costricana beherbergte im Augenblick mehr Futurologen als Diplomaten. Ein hundertstöckiges Hotel ist jedoch ein eigener Organismus, so riesig und gegen den Rest der Welt so luxuriös abgeschirmt, daß Nachrichten von draußen nur wie von der anderen Erdhälfte herüberdringen. Vorläufig war bei den Futurologen nichts von einer Panik zu merken. Das hoteleigene Reisebüro verzeichnete keinen Massenansturm auf Flüge nach den Vereinigten Staaten oder sonstwohin. Für zwei Uhr war das offizielle Eröffnungsbankett anberaumt, und ich hatte noch nicht Zeit gefunden, den Abendpyjama anzulegen. Ich fuhr also auf mein Zimmer und dann schleunigst hinunter in den 46. Stock zum Purpursaal. Im Vorraum nahten sich mir zwei bezaubernde Mädchen in Pumphosen, oben ohne, die Brust mit Vergißmeinnicht und Schneeglöckchen bemalt. Die beiden überreichten mir ein glänzendes Faltblatt. Ich sah es gar nicht an und betrat den Saal. Er war noch fast leer; der Anblick der Festtafel benahm mir den Atem, nicht weil sie üppig gedeckt war, nein, schockierend wirkten die Formen aller Pasteten, Vorspeisen und Beilagen. Sogar die Salate waren Geschlechtsteilen nachgebildet. Von optischer Täuschung konnte keine Rede sein, denn aus diskret versteckten Lautsprechern drang ein in gewissen Kreisen beliebter Schlager, der mit den Worten beginnt: »Wer heut nicht für Geschlechtsteil wirbt, ein Hundsfott, der’s Geschäft verdirbt, denn heut ist jedem angenehm das Urogenitalsystem«.
Die ersten Bankettierer trafen ein, alle mit Rauschebart und martialischem Schnauz, im übrigen lauter junge Leute, im Pyjama oder auch ohne. Sechs Kellner trugen eine Torte herein; beim Anblick dieser unanständigsten Süßspeise der Welt konnte ich nicht länger zweifeln: ich hatte mich im Saal geirrt und war wider Willen beim Bankett der Befreiten Literatur gelandet. Unter dem Vorwand, die Sekretärin sei mir abhanden gekommen, entwich ich schleunigst und fuhr ins nächsttiefere Stockwerk, um am rechten Platze aufzuatmen. Der Purpursaal (nicht der Rosasaal, in den ich mich vorher verirrt hatte) war schon voll. Der bescheidene Aufwand enttäuschte mich, aber ich ließ mir möglichst wenig anmerken. Das Buffet war ein kaltes Stehbuffet; um die Konsumation zu erschweren, hatte man aus dem riesigen Saal alle Stühle und Sessel entfernt. Es galt also, die bei solchen Anlässen übliche Behendigkeit zu entwickeln, zumal da die gehaltvolleren Schüsseln wüst umdrängt wurden. Ein Vertreter der costricanesischen Sektion der Futurologischen Gesellschaft, Señor Cuillone, erklärte mit bezauberndem Lächeln, jedwede Schlemmerei wäre fehl am Platze, denn zu den Themen der Tagung zähle auch die Hungersnot, die der Menschheit drohe. Natürlich fanden sich Skeptiker. Sie sagten, der Gesellschaft seien die Zuwendungen gekürzt worden, und nur dies erkläre so krasse Sparmaßnahmen. Die Presseleute mußten fasten: so wollte es ihr Beruf. Sie eilten rastlos zwischen uns umher und sammelten Kurzinterviews mit den Leuchten der ausländischen Prognostik. Statt des Botschafters der USA erschien nur der Dritte Botschaftssekretär mit mächtiger Schutztruppe und als einziger im Smoking, da sich eine kugelsichere Weste unter dem Pyjama schwer verbergen läßt. Gäste aus der Stadt wurden unten in der Hall durchsucht. Wie ich hörte, türmte sich dort schon ein ansehnlicher Stapel gefundener Waffen. Die eigentlichen Debatten waren für fünf Uhr anberaumt. So blieb noch Zeit, um im Zimmer auszuruhen. Ich fuhr also in den hundertsten Stock. Die versalzenen Salate hatten mich sehr durstig gemacht. Doch das Buffet meines Stockwerks umlagerten Gegenbewegler und Dynamitbrüder mit ihren Mädchen, und mir genügte schon jenes eine Gespräch mit dem bärtigen Papisten (oder Antipapisten?). Ich beschied mich also mit einem Glas Leitungswasser. Kaum hatte ich es ausgetrunken, da erlosch im Bad und in beiden Zimmern das Licht.
Und welche Telefonnummer ich auch wählte, ich wurde stets mit einem Automaten verbunden, der das Märchen von Aschenputtel erzählte. Ich wollte abwärts fahren, doch auch der Lift funktionierte nicht. Ich hörte den Chor der Gegenbewegler singen und im Takt bereits schießen – daneben, wie ich hoffte. Sogar in erstklassigen Hotels kommen Defekte vor; das ist freilich ein schwacher Trost. Am meisten erstaunte mich jedoch die eigene Reaktion. Meine seit dem Gespräch mit dem Papstschützen eher üble Laune besserte sich von Sekunde zu Sekunde. Durchs Zimmer tappend und den Hausrat umwerfend, lächelte ich huldvoll in die Finsternis. Nicht einmal das Knie, das ich mir an den Koffern blutig schlug, schmälerte mein Wohlwollen für die ganze Welt. Ich ertastete auf dem Nachttisch Reste der Mahlzeit, die ich mir zwischen Frühstück und Lunch aufs Zimmer bestellt hatte. Ich steckte ein Schnipsel von einem Kongreßfaltblatt in ein Scheibchen Butter, zündete das Papier mit einem Streichholz an und gewann somit eine Kerze, wenn sie auch rußte. In ihrem Schein setzte ich mich in den Lehnstuhl, ich hatte ja noch mehr als zwei Stunden Freizeit. (Eine davon benötigte ich allerdings zur Treppenwanderung, falls der Lift gestört blieb.) Mein Gemütszustand durchlief weitere Schwankungen und Wandlungen, die ich mit lebhaftem Interesse beobachtete. Mir war vergnügt zumute, schlechtweg köstlich. Im Nu konnte ich Unmengen von Argumenten zum Lob der eingetretenen Sachlage aufzählen. Für einen der feinsten erdenklichen Plätze der Welt hielt ich allen Ernstes ein Hilton-Appartement voll Qualm und Ruß aus einem Butterstümpfchen, inmitten ägyptischer Finsternis, ohne Verbindung zur Außenwelt und mit einem Telefon, das Märchen erzählt. Ferner verspürte ich den übermächtigen Wunsch, dem erstbesten Mitmenschen die Haare zu streicheln oder zumindest seine Bruderhand zu drücken und ihm dabei tief in die Augen zu schauen.
Dem grimmigsten Feind hätte ich die Wangen abgeschmatzt. Die Butter schmolz, prasselte und rauchte; einmal