Über dieses Buch

Cover

Rio de Janeiro: Stadt des Karnevals, Meisterin der Zufälle und der Maskerade. Özgür, eine introvertierte junge türkische Akademikerin, kann sich von der ebenso faszinierenden wie bedrohlichen Stadt nicht lösen. Sie führt den Leser durch die Labyrinthe dieser Metropole, in der die Menschen in Liebe und Leid auf oftmals tödliche Weise miteinander verschmelzen.

Aslı Erdoğan

Aslı Erdoğan (*1967) studierte Informatik und Physik. In ihren Werken erkundet sie stets das Fremde, das andere vor dem Hintergrund der türkischen Gesellschaft und der globalen Entwicklungen. 2010 wurde sie mit dem bedeutendsten Literaturpreis der Türkei ausgezeichnet. Als Kolumnistin und Beiratsmitglied der kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem wurde sie im August 2016 verhaftet, seit 2017 lebt sie in Deutschland im Exil.

Angelika Gillitz-Acar

Angelika Gillitz-Acar (*1958) studierte erst Sozialpädagogik, dann Geschichte und Kultur des Nahen Orients sowie Turkologie und Pädagogik. Sie arbeitet als Übersetzerin und in Projekten zur Integration junger Ausländer.

Angelika Hoch

Angelika Hoch (*1969) studierte zunächst Kunstgeschichte und ließ darauf ein Turkologie-Studium folgen, das sie im Jahr 2002 abschloss. Seitdem ist sie u. a. als freie Übersetzerin aus dem Türkischen tätig.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Aslı Erdoğan

Die Stadt mit der roten Pelerine

Mit einem Nachwort von Karin Schweißgut

Roman

Aus dem Türkischen von Angelika Gillitz-Acar und Angelika Hoch

Türkische Bibliothek

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel Kırmızı Pelerinli Kent beim Verlag Adam Yayınları.

Originaltitel: Kirmizi Pelerinli Kent (2001)

© by Aslı Erdoğan 1998

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30207-5

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Version vom 02.08.2020, 21:36h

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Du warst mein Tod:

Dich konnte ich halten,

während mir alles entfiel.

Paul Celan

Eine Reisende in den Straßen von Rio – I

»Rio ist der schönste Ort der Welt!«, sagen die Einwohner über ihre Stadt. Wie im Chor tönt es einstimmig: »Der schönste Ort der Welt!« Reisehandbücher und exotisch angehauchte Filme verbreiten diese Ansicht, ebenso Entdeckungsreisende längst vergangener Tage und heute Pauschaltouristen im Karneval. Von so unterschiedlicher Seite war dieses Urteil schon zu vernehmen. Ich schließe mich ihm an; auch wenn ich nicht genau weiß, was hier mit »Welt« gemeint ist, glaube ich dennoch, genug von ihr gesehen zu haben.

So sieht sie aus, die typische, allseits bekannte, atemberaubende Fotografie von Rio: unendlich weite, silbrig glänzende Sandstrände unter wolkenlosem Himmel; die bis ins Herz der Stadt reichende, verschlungene Küste der Guanabarabucht; Berge, wie in die Erde gestoßene Dolche, die die Linie des Horizonts zerteilen; schwindelerregende Abgründe; mächtige, wilde, schroffe Felsen; der nur aus einem einzigen Granit bestehende, wie herausgemeißelte Pão de Açúcar, der Zuckerhut, der mir manchmal wie ein Daumen, manchmal wie ein Grabstein vorkommt; der Dschungel, der über Jahrtausende seine Geheimnisse bewahrte, der trotz all der Plünderungen noch immer unberührt ist und im Feuer der Jugend knackt und knistert. Eine Stadt, die sich unter dem gleißenden Licht der Tropen und dem rötlichen Dunst, der sich um die Berghänge legt, in ein Märchenreich verwandelt.

Und dennoch werde ich keine Loblieder auf die so oft beschriebene, überirdische Schönheit Rios anstimmen. Mich verbindet ohnehin seit Langem nichts mehr mit dieser Stadt. Nur so viel: Das früheste Bild, das mir von Rio im Gedächtnis geblieben ist, zeigt genau diese Ansicht, die ich zum ersten Mal auf einer billigen Postkarte sah. Ich war wie verzaubert. Am stärksten beeindruckten mich die Felsen. Diese aschgrauen, bronze- und kupferfarbenen, violetten und ziegelroten Felsen, so alt wie die Erde, die verharren, als seien sie Skulpturen einer erstarrten Bewegung. Wäre ich sentimentaler gewesen, hätte ich diese Postkarte über einer Kerze verbrannt und ihre Asche ins Tal von Santa Teresa verstreut, aus dem die Schüsse zu hören waren. Ich habe sie jedoch lediglich verloren.

Nun bleibt mir nichts weiter, als denjenigen, die an diesen »schönsten Ort der Welt« reisen, eine gesunde und wohlbehaltene Heimkehr zu wünschen. Aber ich erinnere daran: Sämtliche Abenteuer in Brasilien endeten bisher blutig, und seit dem 16. Jahrhundert hat dieses wilde Land noch jeden Weltenbummler, Herumtreiber, Goldgräber und tollkühnen Draufgänger bezwungen. Deshalb warne ich davor, jemals Rios gewaltige Aids- und Kriminalitätsraten zu vergessen, und sei es nur für einen Augenblick; ich warne davor, alleine herumzulaufen, eine Uhr, echten oder falschen Goldschmuck zu tragen. Man sollte alle nur erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um nicht vom Blut der Stadt bespritzt zu werden. Außerdem empfehle ich, vom Gipfel des Corcovado aus, dem Berg mit der berühmten, monumentalen Christusstatue, den Sonnenuntergang zu verfolgen – ein in den Tropen eindrucksvolles, aber nur flüchtiges Schauspiel. Und man sollte unbedingt den frischen Papayasaft probieren.

Dann gibt es da noch das Rio der Journalisten, der internationalen Hilfsorganisationen, der Menschenrechtler und der diversen »Ohne-Grenzen-Institutionen«. Rio, das ist die Stadt, in der jeder Dritte Hunger leidet, die in Kriminalität zu versinken droht und die durch den Handel mit billigem Mischlingsfleisch, mit Kokain und Waffen groß geworden ist. Ihre sechshundert Hügel werden allesamt von unzähligen Favelas in Beschlag genommen. Hunderttausende von Obdachlosen verrotten in diesen Straßen wie verrostete Nägel, die man weggeworfen hat. Es ist die Stadt der Massaker, der öffentlichen Hinrichtungen, der Meningitis- und Aidsepidemien. Die Stadt, wo im Garten der Candelária-Kathedrale Straßenkinder erschossen wurden, wo räuberische Banden mit Maschinenpistolen die Strände heimsuchen. Rio ist die Heimat der Justiceiros, dieser selbsternannten Gerechtigkeitsfanatiker, die nicht einmal so viel vom Rechnen verstehen, um die Zahl ihrer Mordopfer auf ihrem Kerbholz einzuritzen. Rio ist der Ort, wo naive, wohlmeinende und großzügige Organisationen versuchen, ein ausgebeutetes, schlecht ernährtes und geknechtetes Volk – vor wem? – zu schützen. Rio zwinkert nur teuflisch mit den Augen und belächelt sie. Die Stadt weiß, dass sie schnell aufgeben und, nachdem sie sich ein, zwei Punkte auf ihrem Gewissenskonto gutgeschrieben haben, wieder zurückkehren werden in ihre wie ein Uhrwerk funktionierende, langweilige, mit Freud und Leid geizende Erste Welt; übersät mit Moskitostichen, voll von Darmparasiten und Erinnerungen an gelungene, bequeme und hygienisch einwandfreie Abenteuer. Und denjenigen, die Rio immer noch nicht satthaben, sieht die Stadt amüsiert hinterher, wie sie sich verdrossen nach Nicaragua aufmachen oder sich auf die Seite der Zapatisten schlagen. Rio, diese launische, verführerische Gaunerin, die man nie zu fassen bekommt.

Ein prächtiges Foto von Rio und sein Negativ, zwei Masken, mehr nicht. Das sind nur zwei der vielen verschiedenen Kostüme, die sich diese Stadt überstreift, die seit Jahrhunderten ihre Karnevalstradition pflegt. Das Rio jedoch, von dem ich erzählen werde, ist ein Labyrinth, das aus mehr als zwei Dimensionen besteht. Genauer gesagt, es ist eine Reihe sowohl zeitlich als auch räumlich ineinander verschlungener Labyrinthe, voller Sackgassen, toter Winkel, geheimer Kammern, schaudererregender Echos, krampfhafter Befreiungsschläge, vager Prophezeiungen.

Bald werden Sie die Straßen Rios betreten. Es wird eine Reise in die gefährliche Nähe eines Wesens sein, das uns seine Schrecklichkeit ständig spüren lässt; dauernd wird Ihnen der stechende Atem des Todes ins Gesicht wehen, und ununterbrochen werden Ihnen finstere, verderbte Blicke im Nacken sitzen. Es wird sein, als würden Sie sich über einen Brunnen beugen und hineinsehen und plötzlich feststellen, dass eigentlich er es ist, der Sie belauert. Sie werden dem menschlichen Körper begegnen, der im Reich der Begierde auf einen kläglichen Thron gesetzt wurde und den man jetzt billig verschleudert. Das nie erlöschende Feuer des Fleisches, seine Torheit und seine einzigartige Schönheit; ein leichtes, schnell vergängliches, unstetes Leben, und an jeder Ecke ein Tod.

Es war vor zwei Jahren. Auf einem Fest in einer Favela sah ich eine Frau. Sie war in Lumpen gehüllt, Beine und Hintern waren nackt. Es dauerte Minuten, bis ich wusste, zu welchem Geschlecht sie gehörte. Die Frau sah aus, als hätte man sie zu spät aus einem Konzentrationslager befreit und als wäre es ihr Schicksal, innerhalb von wenigen Tagen zu sterben. Vielleicht war sie zwanzig, sie hätte aber auch siebzig sein können. Sie hatte fast alle Zähne verloren, und ihre Ellenbogen hatten die Haut durchbohrt und ragten spitz heraus. Eine Sambatänzerin, sie war im Freudentaumel, lachte schallend. Ihr Gesicht strahlte diese naive, reine Freude aus, wie man sie sonst nur bei Kindern sieht. Wenn Sie je in die trüben, matten und leeren Augen einer Frau gesehen haben, die gerade am Verhungern ist, und dem Glück, dem wahren Glück begegnet sind, dann werden Sie ins Innere der Labyrinthe Rios eingedrungen sein. Alles, was Sie danach sehen, bezahlen Sie mit Ihrem Leben. Genauso wie ich.

Nun brauchen Sie – und ich – nur noch die nötige Portion Mut. Vielleicht so viel, wie man bräuchte, bevor man von einem Boot aus in tiefes, dunkles Wasser springt oder bevor man beim Pokern seine Karten aufdeckt. Vergessen Sie eines nicht! Es ist Rio de Janeiro, das Sie vor sich haben. (Wussten Sie eigentlich, dass Rio de Janeiro »Januar-Fluss« bedeutet?) Diese Stadt hat es im endlosen Spiel der Zufälle zu einer solchen Meisterschaft gebracht, dass im Vergleich zu ihr selbst der Teufel als Amateur gilt. In dem Moment, in dem sie einen glauben macht, sie würde bluffen, zieht sie das Karo-Ass.

Schließen Sie jetzt Ihre Augen. Ich zähle leise bis zehn. Bei zehn sind Sie in Rio. Aber sagen werde ich Ihnen nicht, wann Sie die Augen wieder aufmachen müssen.