Inhaltsverzeichnis

Über den Autor
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Danksagung
Copyright

Danksagung

Ich möchte Helen Mazarakis und Sharon Mack für ihre Hilfe und Unterstützung danken.

Der Autor

Wenn er nicht gerade schreibt, arbeitet Mark Lawrence als Wissenschaftler, der sich hauptsächlich mit der Erforschung künstlicher Intelligenz beschäftigt. »Prinz der Dunkelheit« ist sein erster Roman. Der Autor lebt mit seiner Frau und ihren gemeinsamen vier Kindern in England.

1

Raben! Immer die Raben. Sie saßen schon auf den Giebeln der Kirche, bevor aus den Verwundeten Tote wurden. Schon bevor Rike damit fertig war, Finger von Händen zu trennen und Ringe von Fingern. Ich lehnte mich an den Galgenpfosten und nickte den Vögeln zu, die, zwölf an der Zahl, in einer schwarzen Reihe saßen und mit klugen Augen beobachteten.

Der Dorfplatz war rot. Blut in der Gosse, Blut auf den Steinplatten, Blut im Brunnen. Die Leichen lagen, wie es sich für Leichen gehört; manche in komischer Haltung, mit verstümmelten Händen nach dem Himmel greifend, andere friedlich, um ihre Verletzungen gekrümmt. Fliegen schwirrten über die Verwundeten, als sie mit dem Tode rangen. Hierhin und dorthin wanden sie sich, manche blind, andere verschlagen, alle von ihrem summenden Gefolge verraten.

»Wasser! Wasser!« Immer wollen die Sterbenden Wasser. Seltsam – bei mir ist es das Töten, das mich durstig macht.

Das also war Mabberton. Zweihundert mit ihren Sensen und Äxten tot herumliegende Bauern. Wisst ihr, ich habe sie darauf hingewiesen, dass wir uns auf diese Weise den Lebensunterhalt verdienen. Ich hab’s ihrem Anführer namens Bovid Tor gesagt. Ich hab ihnen diese Chance gegeben, das mache ich immer. Aber nein. Sie wollten Blut und Gemetzel. Und sie haben beides bekommen.

Krieg, meine Freunde, ist etwas Schönes. Jene, die etwas anderes behaupten, stehen – oder liegen – auf der Verliererseite. Wenn ich mir die Mühe gemacht hätte, zum alten Bovid hinüberzugehen, der mit seinen Eingeweiden in den Händen am Brunnen lehnte, so wäre er vermutlich anderer Ansicht gewesen. Aber seht nur, wohin es ihn gebracht hat, anderer Meinung zu sein.

»Scheißarme Kackbauern.« Rike ließ eine Handvoll Finger auf Bovids offenen Bauch fallen. Dann kam er zu mir und zeigte mir seine magere Beute, als sei es meine Schuld. »Sieh dir das an! Ein goldener Ring. Einer! Ein ganzes Dorf und nur ein einziger verdammter Goldring. Ich würde die Mistkerle gern ins Leben zurückholen, um sie dann nochmal umzubringen. Scheißverdammte Schlammkriecher.«

Er hätte es wirklich getan. Rike war ein echt übler Bursche, und habgierig noch dazu. Ich sah ihm in die Augen. »Beruhig dich, Bruder Rike. In Mabberton gibt es mehr als nur eine Art von Gold.«

Ich gab ihm meinen warnenden Blick. Sein Fluchen stahl der Szene den Zauber. Außerdem musste ich streng mit ihm sein. Nach einem Kampf war Rike immer nervös und wollte mehr. Mein Blick teilte ihm mit, dass ich mehr für ihn hatte. Mehr als genug. Er brummte, ließ den blutigen Ring in einer Tasche verschwinden und schob das Messer in den Gürtel.

Makin kam und legte uns beiden den Arm um die Schultern. Seine Panzerhandschuhe klopften auf Schulterplatten. Wenn sich Makin auf etwas gut verstand, dann darauf, Dinge zu glätten.

»Bruder Jorg hat Recht, Kleiner Rikey. Hier gibt es jede Menge Schätze zu heben.« Er war daran gewöhnt, Rike »Kleiner Rikey« zu nennen, weil er uns alle um einen Kopf überragte und doppelt so breit war. Makin erzählte ständig Witze. Er erzählte sie auch denen, die er tötete, wenn sie ihm Zeit genug ließen. Er sah sie gern mit einem Lächeln sterben.

»Welche Schätze?«, fragte Rike noch immer verdrießlich.

»Wo es Bauern gibt, Kleiner Rikey … Was gibt es da wohl sonst noch?« Makin unterstrich seine Worte, indem er beide Brauen wölbte.

Rike hob sein Visier und zeigte uns sein hässliches Gesicht. Eigentlich war es mehr brutal als hässlich. Ich glaube, die Narben verschönerten ihn. »Kühe?«

Makin schürzte die Lippen. Ich fand seine Lippen immer abstoßend, dick und fleischig, wie sie waren, aber das sah ich ihm nach, wegen der Witze und seiner tödlichen Arbeit mit dem Streitflegel. »Von mir aus kannst du die Kühe haben, Kleiner Rikey. Was mich betrifft … Ich suche mir ein paar Bauerntöchter, bevor die anderen alle aufgebraucht haben.«

Sie gingen, und Rike lachte sein Lachen, ein heiseres Har, har, har, als versuchte er, sich eine Gräte aus dem Hals zu husten.

Ich beobachtete, wie sie die Tür von Bovids Bude aufbrachen, der Kirche gegenüber. Ein hübsches Haus war’s, mit hohem Dach, Schiefertafeln und einem kleinen Blumengarten. Bovids Blick folgte ihnen, aber er konnte den Kopf nicht drehen.

Ich sah zu den Raben hoch und beobachtete dann, wie Gemt und sein schwachsinniger Bruder Maical Köpfe einsammelten, Maical mit dem Karren und Gemt mit der Axt. Ja, es war etwas Schönes. Zumindest für die Augen. Zugegeben, der Krieg riecht schlecht. Aber wir würden das Dorf ohnehin bald niederbrennen, und dann würde sich der Gestank im Rauch verlieren. Goldene Ringe? Ich brauche keinen zusätzlichen Lohn.

»Junge!«, rief Bovid mit hohler, schwacher Stimme.

Ich trat vor ihn und stützte mich auf mein Schwert, plötzlich müde in Armen und Beinen. »Was auch immer du sagen willst, Bauer, sag es schnell, denn Bruder Gemt kommt mit der Axt. Gleich ist die Rübe ab.«

Bovid schien keine Angst zu haben. Es ist schwer, jemandem Angst zu machen, der so kurz davor ist, ein Schmaus für die Würmer zu werden. Trotzdem, es ärgerte mich, dass er mich »Junge« genannt hatte und keinen Respekt zeigte. »Hast du Töchter, Bauer? Die sich vielleicht im Keller verstecken? Der alte Rike wird sie aufstöbern.«

Daraufhin sah Bovid plötzlich auf, mit Schmerz in den Augen. »W-wie alt bist du, Junge?«

Wieder das »Junge«. »Alt genug, um dich wie einen dicken Geldbeutel aufzuschlitzen«, sagte ich und wurde wütend. Ich werde nicht gern wütend. Weil es mich wütend macht. Ich glaube, er merkte gar nichts von meiner Wut. Vielleicht wusste er nicht einmal, dass ich es gewesen war, der ihn vor nicht einmal einer halben Stunde aufgeschnitten hatte.

»Fünfzehn Sommer, mehr nicht. Es können nicht mehr sein als…« Bovids Worte kamen langsam, von blauen Lippen in einem bleichen Gesicht.

Unter anderen Umständen hätte ich es ihm vielleicht gesagt, aber er hörte schon nichts mehr. Hinter mir rumpelte der Karren, und Gemt kam mit tropfender Axt.

»Nehmt seinen Kopf«, sagte ich. »Lasst seinen fetten Wanst den Raben.«

Fünfzehn! Mit fünfzehn würde ich wohl kaum noch Dörfer überfallen.

Nach Vollendung meines fünfzehnten Lebensjahres würde ich König sein!

Manche Menschen werden mit einem Groll geboren.
Bei Bruder Gemt galt der Groll der ganzen Welt.

2

Mabberton brannte gut. In jenem Sommer brannten alle Dörfer gut. Makin sprach von einem heißen Hurensohn von Sommer, zu geizig, um Regen zu geben, und er hatte nicht Unrecht. Staub wirbelte hinter uns auf, wenn wir einen Ort erreichten; Rauch stieg gen Himmel, wenn wir ihn verließen.

»Wer möchte ein Bauer sein?« Makin stellte gern Fragen.

»Wer möchte eine Bauerntochter sein?« Ich nickte in Richtung Rike, der so müde war, dass er fast aus seinem Sattel rutschte. Ein dummes Grinsen lag auf seinem Gesicht und ein Ballen Samit auf seinem Plattenpanzer. Ich habe nie erfahren, wo er in Mabberton Samit entdeckt hatte.

»Bruder Rike genießt seine einfachen Freuden«, sagte Makin.

Das tat er. Rike war gierig danach. So gierig wie das Feuer.

Die Flammen fraßen Mabberton. Ich hielt die Fackel ans strohgedeckte Wirtshaus, und das Feuer jagte uns hinaus. Nur ein weiterer blutiger Tag im jahrelangen Todeskampf unseres gefallenen Reichs.

Makin wischte sich Schweiß ab und hinterließ Rußstreifen in seinem Gesicht. Er hatte ein Talent dafür, schmutzig zu werden, dieser Makin. »Du selbst hast nicht über jenen Freuden gestanden, Bruder Jorg.«

Da konnte ich ihm nicht widersprechen. »Wie alt bist du?«, hatte der dicke Bauer wissen wollen. Alt genug, seinen Töchtern einen Besuch abzustatten. Das dicke Mädchen hatte viel zu sagen gehabt, genau wie ihr Vater. Hatte wie eine Schleiereule geschrien. Die ältere Tochter hatte mir besser gefallen. Die war ziemlich still gewesen. So still, dass man sie gelegentlich kneifen musste, um sicher zu sein, dass sie nicht vor Schreck gestorben war. Bestimmt sind sie beide nicht still geblieben, als das Feuer sie erreichte.

Gemt ritt heran und vertrieb meine Kopfbilder.

»Die Männer des Barons werden den Rauch aus einer Entfernung von zehn Meilen sehen können. Du hättest das Dorf nicht anzünden sollen.« Er schüttelte den Kopf, was seine dumme Mähne aus fuchsrotem Haar hin und her schwingen ließ.

»Hätteste nich!«, rief Gemts blöder Bruder von seinem Grauschimmel herab. Der Graue verließ die Straße nicht. Er war klüger als Maical.

Gemt wollte immer Dinge klarstellen. »Du hättest die Leichen nicht in den Brunnen werfen sollen, jetzt müssen wir durstig los.« »Du hättest den Priester nicht töten sollen, jetzt haben wir Pech.« »Wenn wir sie ein bisschen geschont hätten, könnten wir Lösegeld von Baron Kennick bekommen.« Am liebsten hätte ich ihm mein Messer in die Kehle gestoßen. Auf der Stelle. Am liebsten hätte ich mich vorgebeugt und ihm die Klinge in den Hals gerammt. »Wie war das? Was hast du gesagt, Bruder Gemt? Blubber, blubber? Ich hätte deinen verdammten Adamsapfel nicht zerstechen sollen?«

»O nein!«, rief ich und gab mich schockiert. »Schnell, Kleiner Rikey, piss auf Mabberton. Lösch das Feuer.«

»Die Männer des Barons werden’s sehen«, sagte Gemt stur und mit rotem Gesicht. Er wurde so rot wie Rote Bete, wenn man ihn ärgerte. Das rote Gesicht verstärkte meinen Wunsch, ihn zu töten. Aber ich hielt mich zurück. Als Anführer trägt man Verantwortung. Man muss darauf achten, nicht zu viele der eigenen Männer zu töten, denn wen soll man sonst anführen?

Die Brüder sammelten sich um uns herum, wie immer, wenn was passierte. Ich zog an Gerrods Zügeln – er blieb mit einem kurzen Wiehern stehen, das wie Kichern klang, und klopfte mit dem Huf. Mein Blick blieb auf Gemt gerichtet, und ich wartete. Ich wartete, bis sich alle achtunddreißig Brüder versammelt hatten und Gemts Gesicht so rot geworden war, dass man glauben konnte, gleich würde Blut aus seinen Ohren fließen.

»Wohin reiten wir, meine Brüder?«, fragte ich und richtete mich in den Steigbügeln auf, damit ich ihre hässlichen Gesichter sehen konnte. Ich stellte die Frage mit meiner leisen Stimme, und sie alle wurden still und lauschten.

»Wohin?«, fragte ich erneut. »Ich kann doch nicht der Einzige sein, der es weiß? Habe ich Geheimnisse vor euch, meine Brüder?«

Das schien Rike ein wenig zu verwirren, denn er zog die Stirn kraus. Der Fette Burlow brachte sein Pferd an meine rechte Seite, und links war der Nubier mit seinen strahlend weißen Zähnen im pechschwarzen Gesicht. Stille.

»Bruder Gemt kann es uns sagen. Er weiß, was sein sollte und was ist.« Ich lächelte, obwohl meine Hand noch immer schmerzte vor Verlangen, den Dolch in seinen Hals zu rammen. »Wohin reiten wir, Bruder Gemt?«

»Nach Wennith, an der Pferdeküste«, sagte er zögernd, denn es widerstrebte ihm, irgendeiner Sache zuzustimmen.

»Schön und gut. Wie gelangen wir dorthin? Eine so große Schar, fast vierzig, mit prächtigen, gestohlenen Pferden …«

Gemt zog eine finstere Miene. Er begriff, worauf ich hinauswollte.

»Wie können wir Wennith rechtzeitig erreichen und ein Stück vom Kuchen bekommen, solange er noch warm und saftig ist?«, fragte ich.

»Totenstraße!«, rief Rike und freute sich, die Antwort zu wissen.

»Totenstraße«, wiederholte ich, noch immer mit ruhiger Stimme, und lächelte. »Welchen anderen Weg könnten wir nehmen?« Ich sah den Nubier an und hielt den Blick seiner dunklen Augen fest. Ich wusste nicht, was in ihm vor sich ging, aber ich ließ ihn erkennen, was in mir geschah.

»Es gibt keinen anderen Weg.«

Rike ist in Fahrt geraten, dachte ich. Er weiß nicht, welches Spiel gespielt wird, aber es gefällt ihm, daran teilzunehmen.

»Wissen die Männer des Barons, wohin wir wollen?«, fragte ich den Fetten Burlow.

»Kriegshunde folgen der Front«, sagte er. Dumm ist er nicht gerade, der Fette Burlow. Seine Backen schwabbeln, wenn er spricht, aber dumm ist er nicht.

»Also …« Ich sah mich um, ganz langsam. »Also, der Baron weiß, wohin Räuber wie wir reiten, und er kennt den Weg, den wir nehmen wollen.« Ich ließ die Brüder darüber nachdenken. »Und ich habe gerade ein großes Feuer angezündet, um ihm zu sagen, dass es eine schlechte Idee wäre, uns zu folgen.«

Und dann stach ich das Messer in Gemts Hals. Es war nicht nötig, aber ich wollte es. Er tanzte richtig hübsch herum, gurgelte kräftig mit seinem munter sprudelnden Blut und fiel vom Pferd. Sein rotes Gesicht erbleichte schnell.

»Nimm seinen Kopf, Maical«, sagte ich.

Und das tat er.

Gemt hatte einfach einen schlechten Moment erwischt.

Was auch immer unseren Bruder Maical zerbrach, es ließ ihn
außen heil. Er sah so fest und zäh und grimmig aus wie die
anderen. Bis man ihm eine Frage stellte.

3

»Zwei Tote, zwei Zappler.« Makin zeigte sein breites Grinsen.

Wir hätten ohnehin beim Galgen haltgemacht, aber Makin war vorausgeritten, um die Lage zu erkunden. Die Nachricht, dass zwei der vier Galgenkäfige lebende Gefangene enthielten, würde die Brüder aufmuntern, dachte ich mir.

»Zwei«, brummte Rike. Er war müde, und ein müder Kleiner Rikey sieht einen Galgen immer halbleer.

»Zwei!«, gab der Nubier mit donnernder Stimme weiter.

Ich sah, wie einige der Jungs Münzen hervor holten und wetteten. Die Totenstraße ist so langweilig wie eine Sonntagspredigt. Sie verläuft schnurgerade und eben. So eben, dass man sich über jeden kleinen Hügel freut. Und zu beiden Seiten Sumpf und Mücken, Mücken und noch mehr Sumpf. Auf der Totenstraße kriegt man nichts Besseres als zwei Zappler in einem Galgenkäfig.

Seltsam, dass mir nicht die Frage in den Sinn kam, was ein Galgen dort mitten im Nichts eigentlich zu suchen hatte. Ich nahm ihn als Belohnung. Jemand hatte Gefangene dem Tod überlassen, in am Straßenrand baumelnden Käfigen. Ich fand es sonderbar, dass jemand einen solchen Ort wählte, aber es war kostenlose Unterhaltung für meine kleine Truppe. Die Brüder waren ungeduldig, und so ließ ich Gerrod traben. Ein gutes Pferd, mein Gerrod. Er schüttelte seine Erschöpfung ab und klapperte über die Straße. Dafür eignet sie sich gut, die Totenstraße: Hufe klappern zu lassen.

»Zappler!«, rief Rike, und die anderen beeilten sich, zu uns aufzuschließen.

Ich gab Gerrods Zügel frei. Er würde kein Pferd an sich vorbeilassen. Nicht auf dieser Straße, die mit Steinplatten gepflastert war, zwischen ihnen nicht einmal genug Platz für einen Grashalm. Und nicht eine der Platten schief oder abgenutzt, obwohl sie mitten in einem Sumpf lagen!

Natürlich erreichte ich die Zappler als Erster. Die anderen Pferde konnten es nicht mit Gerrod aufnehmen. Erst recht nicht mit mir auf seinem Rücken – die anderen Brüder waren ungefähr doppelt so schwer wie ich. Beim Galgen drehte ich Gerrod und sah über die Straße zurück. Und ich rief, wild und voller Freude, laut genug, um den Kopfkarren zu wecken. Auch Gemt lag auf ihm, rollte zusammen mit den anderen Köpfen hin und her.

Makin kam zuerst, obwohl er die Strecke bereits zweimal zuvor geritten war.

»Sollen die Männer des Barons kommen«, sagte ich zu ihm. »Die Totenstraße ist wie eine Brücke. Zehn Männer könnten hier ein ganzes Heer aufhalten. Wer seitlich an uns vorbei will, kann im Sumpf verrecken.«

Makin nickte und keuchte noch immer.

»Die Erbauer dieser Straße … wenn sie mir eine Burg errichten würden …« Donner im Osten untermalte meine Worte.

»Wenn die Straßenmänner Burgen bauen würden, fänden wir nie einen Weg hinein«, erwiderte Makin. »Sei froh, dass es sie nicht mehr gibt.«

Wir beobachteten, wie die Brüder eintrafen. Die untergehende Sonne schien in den Sumpftümpeln orangefarbene Feuer zu entzünden, und ich dachte an Mabberton.

»Ein guter Tag, Bruder Makin«, sagte ich.

»Ja, Bruder Jorg«, sagte er.

Und so kamen die Brüder und begannen, sich um die Zappler zu streiten. Ich setzte mich neben den Beutekarren und las, während es noch hell genug war und der Regen auf sich warten ließ. Der Tag weckte in mir den Wunsch, Plutarch zu lesen. Ich hatte ihn ganz für mich allein, zwischen zwei lederne Buchdeckel gequetscht. Irgendein würdiger Mönch hatte sein ganzes Leben mit der Arbeit an diesem Buch verbracht. Ein ganzes Leben lang hatte er sich darüber gebeugt, mit einem Pinsel in der Hand. Hier das Gold, für Heiligenschein, Sonne und Schnörkel. Dort ein giftiges Blau, blauer als der Mittagshimmel. Winzige zinnoberrote Punkte stellten ein Blumenbeet dar. Wahrscheinlich war er darüber erblindet, dieser Mönch. Wahrscheinlich hatte er sein ganzes Leben, von jungen Jahren bis ins hohe Alter, damit verbracht, Plutarchs alte Worte zu verschönern.

Donner grollte, die Zappler zappelten und heulten, und ich saß da und las Worte, die geschrieben worden waren, noch bevor die Straßenleute ihre Straßen gebaut hatten.

»Ihr seid Feiglinge! Weiber mit Schwertern und Äxten!« Einer der Krähenschmäuse am Galgen hatte einen Mund.

»Nicht ein Mann ist unter euch. Knabenschänder seid ihr, dem kleinen Jungen dort gefolgt.« Er rollte die Worte am Ende zusammen, wie ein Erbarmensmann.

»Hier gibt es jemanden, der eine Meinung über dich hat, Bruder Jorg!«, rief Makin.

Ein Regentropfen traf meine Nase. Ich schloss das Buch mit Plutarchs Worten. Er hatte eine Weile gewartet, mir von Sparta und Lycurgus zu erzählen; er konnte noch etwas länger warten und dabei trocken bleiben. Der Zappler hatte noch mehr zu sagen, und ich ließ ihn zu meinem Rücken sprechen. Wenn man unterwegs war, musste man ein Buch gut einwickeln, um es vor dem Regen zu schützen. Zehnmal in Wachstuch gewickelt, und dann noch zehnmal andersherum, bevor man es unter einer Decke in die Satteltasche legte. In eine gute Satteltasche, wohlgemerkt, nicht in diesen Müll von den Thurtanen, in gutes zwiegenähtes Leder von der Pferdeküste.

Die Jungs machten vor mir Platz. Der Galgen, ein einfaches Ding, aus neuem Holz errichtet, stank schlimmer als der Kopfkarren. Vier Käfige hingen daran, und zwei von ihnen enthielten tote Männer. Sehr tote Männer. Ihre Beine hingen durchs Gitter, und Raben pickten an den Knochen. Fliegen umgaben sie wie eine zweite Haut, schwarz und summend. Die Jungs hatten ein bisschen an einem der beiden Überlebenden herumgestochert, und das schien dem Burschen nicht besonders gut bekommen zu sein – offenbar war er abgekratzt. Ich hielt das für Verschwendung, denn wir hatten eine ganze Nacht vor uns. Was ich auch laut gesagt hätte, wenn der Zappler mit dem großen Maul nicht gewesen wäre.

»Da kommt der Junge! Hat aufgehört, in seinem gestohlenen Buch nach schmutzigen Bildern zu suchen.« Der Bursche hockte gebückt in seinem Käfig, die Füße blutig, an manchen Stellen ohne Haut. Ein alter Mann, etwa vierzig, mit schwarzem Haar, grauem Bart und dunklen Augen, in denen es glitzerte. »Reiß die Seiten aus dem Buch und putz dir damit den Hintern ab, Junge«, sagte er in herausforderndem Ton. »Mehr Nutzen haben sie für dich nicht.«

»Wir könnten ein Feuer anzünden und es langsam brennen lassen«, sagte Rike. Selbst Rike wusste, dass uns der Alte zornig machen wollte, damit wir ihm ein schnelles Ende bescherten. »Wie bei den Galgen von Turston.«

Bei diesen Worten kam leises Lachen von einigen Brüdern. Aber nicht von Makin. Er runzelte die Stirn unter all dem Dreck, sah zum Zappler hoch und hob die Hand, damit die anderen still wurden.

»Es wäre schändlich, ein so gutes Buch auf diese Weise zu vergeuden, Pater Gomst«, sagte ich.

Wie Makin hatte ich Gomst trotz des Bartes und des verfilzten Haars erkannt. Doch ohne den Akzent wäre er gebraten worden.

»Das gilt insbesondere für den Abschnitt über Lycurgus, der in Hochlatein geschrieben ist, nicht im Pidgin-Römisch, das sie in der Kirche lehren.«

»Du kennst mich?«, fragte der Mann. Seine Stimme brach – plötzlich wurde er weinerlich.

»Natürlich kenne ich dich.« Ich hob beide Hände zu meinen wundervollen Locken und strich das Haar zurück, damit er in der Düsternis mein Gesicht sehen konnte. Ich habe die markanten Züge der Ankraths. »Du bist Pater Gomst und willst mich zur Schule zurückbringen.«

»P-prin…« Er flennte jetzt und brachte die Worte einfach nicht heraus. Richtig ekelhaft war’s. Gab mir das Gefühl, in etwas Faules gebissen zu haben.

»Prinz Honorous Jorg Ankrath, zu Euren Diensten.« Ich verneigte mich wie ein Höfling.

»W-was ist mit Hauptmann Bortha passiert?« Pater Gomst schwankte völlig verwirrt in seinem Käfig.

»Hauptmann Bortha, Sir!« Makin salutierte zackig und trat näher. Blut vom ersten Zappler klebte an ihm.

Plötzlich herrschte tödliche Stille. Selbst das Summen und Surren der Sumpfinsekten verstummte. Mit offenem Mund sahen die Brüder von mir zum alten Priester und wieder zu mir. Der Kleine Rikey sah so verblüfft aus, als hätte ich ihn gefragt, was neun mal sechs ergab.

Der Regen wählte genau diesen Moment, um auf uns herabzufallen  – der Allmächtige schien seinen Nachttopf über uns zu leeren. Die Finsternis, die sich um uns herum verdichtet hatte, wurde so dick wie Sirup.

»Prinz Jorg!« Pater Gomst musste rufen, um das Prasseln des Regens zu übertönen. »Die Nacht! Du musst fliehen!« Er umkrallte mit weißen Fingerknöcheln die Gitterstäbe des Käfigs. Ohne ein Blinzeln starrten seine weit aufgerissenen Augen in den strömenden Regen und die Dunkelheit.

Und durch Nacht und Regen, im Sumpf, wo kein Mensch gehen konnte, sahen wir sie kommen. Wir sahen ihre Lichter. Bleich wie Tote brannten diese Lichter in tiefen Tümpeln, auf die kein Mensch seinen Blick richten sollte. Lichter, die einem Mann versprachen, was auch immer er sich wünschen konnte, die ihn anlockten und ihm Antworten in Aussicht stellten, wo doch nur kalter Schlamm wartete, tief und hungrig.

Ich habe Pater Gomst nie gemocht. Er hatte mir gesagt, was ich tun sollte, seit ich sechs Jahre alt war, und seinen Worten oft mit drohend erhobener Hand Nachdruck verliehen.

»Lauf, Prinz Jorg! Flieh!«, heulte der alte Gomst, sich auf widerliche Weise aufopfernd.

Also blieb ich, wo ich war.

Bruder Gains war nicht der Koch, weil er kochen konnte. Er
konnte lediglich alles andere noch weniger.

4

Die Toten kamen durch den Regen, Geister von Sumpftoten, Ertrunkenen und von Männern, deren Leichen dem Schlamm übergeben worden waren. Ich sah, wie der Rote Kent blindlings in den Sumpf floh. Nur wenige Brüder waren so vernünftig, auf der Straße zu bleiben, als sie losliefen; die meisten endeten im Morast.

Pater Gomst betete in seinem Käfig und rief die Worte wie einen Schild: »Vater unser, der Du bist im Himmel, schütze Deinen Sohn. Vater unser, der Du bist im Himmel …« Immer schneller sprach er, als die Angst ihn packte.

Der Erste von ihnen entstieg dem saugenden Schlamm und betrat die Totenstraße. Er hatte ein Glühen an sich wie Mondschein, ein Licht, von dem man sofort wusste, dass es nicht wärmen konnte. In diesem Licht zeichnete sich die Gestalt ab, und man konnte sehen, wie der Regen sie durchdrang und auf die Straße klatschte.

Niemand stand bei mir. Der Nubier lief, die Augen groß in seinem dunklen Gesicht. Der Fette Burlow sah aus, als zapfe ihm jemand sein Blut ab. Rike schrie wie ein Kind. Selbst Makin wirkte entsetzt.

Ich breitete die Arme aus, als wollte ich den Regen begrüßen. Deutlich spürte ich, wie er auf mich herabprasselte. Ich hatte noch nicht viele Jahre auf dem Buckel, aber selbst für mich fühlte sich der Regen wie eine Erinnerung an. Er weckte wilde Nächte in mir, als ich auf dem Burgturm gestanden hatte, ganz am Rand, dicht vor dem Abgrund, im Regen fast ertrinkend und die Blitze herausfordernd.

»Vater unser, der Du bist im Himmel. Vater unser, der Du bist …« Pater Gomst begann zu brabbeln, als der Geist näher kam. Die Gestalt brannte mit kaltem Feuer, dessen Schein an meinen Knochen kratzte.

Ich hielt die Arme ausgebreitet und das Gesicht dem Regen zugewandt.

»Mein Vater ist nicht im Himmel, Gomsty«, sagte ich. »Er sitzt in der Burg und zählt seine Männer.«

Der Tote kam noch näher, und ich sah ihm in die Augen. Hohl waren sie.

»Was hast du für mich?«, fragte ich.

Und er zeigte es mir.

Und ich zeigte dem Geist, was ich für ihn hatte.

Es gibt einen Grund, warum ich diesen Krieg gewinnen werde. Alle Lebenden fechten einen Kampf aus, der schon alt war, bevor sie geboren wurden. Ich habe meine Zähne bekommen, während ich im Kriegszimmer meines Vaters auf Holzsoldaten biss. Es gibt einen Grund, warum ich dort gewinnen werde, wo andere verloren. Und dies ist der Grund: Ich kenne die Spielregeln.

»Hölle«, sagte der Tote. »Ich habe die Hölle für dich.«

Und er floss in mich, kalt wie das Sterben, scharf wie ein Rasiermesser.

Ich spürte, wie sich meine Lippen zu einem Lächeln verzogen, und ich hörte mein Lachen im Regen.

Ein Messer ist durchaus erschreckend, wenn man es, scharf und kalt, an der eigenen Kehle fühlt. Auch Feuer kann Angst machen, und die Folterbank. Und ein alter Geist auf der Totenstraße. Das alles lässt einen innehalten. Bis einem klar wird, womit man es zu tun hat. Es sind Mittel und Wege, das Spiel zu verlieren. Man verliert das Spiel, und was hat man verloren? Das Spiel.

Das ist das ganze Geheimnis, und es erstaunt mich, dass es allein mir gehört, dass niemand sonst davon weiß. In jener Nacht, als Graf Renars Männer unsere Kutsche überfielen … Da habe ich das Spiel gesehen und es als das erkannt, was es ist. Auch in jener Nacht gab es ein Gewitter. Ich erinnere mich an das Klopfen des Regens auf dem Kutschendach und den Donner.

Der Große Jan hatte das Dach abgerissen, um uns herauszuholen. Doch ihm war nur Zeit für mich geblieben. Er hatte mich herausgezerrt und in einen Dornenstrauch geworfen, in einen Hakendorn, so dicht gewachsen, dass sich die Männer des Grafen hatten einreden können, ich sei in die Nacht geflohen. Weil sie das dornige Gestrüpp nicht durchsuchen wollten. Aber ich war nicht weggelaufen. Inmitten der Dornen hatte ich gesteckt und beobachtet, wie sie den Großen Jan umbrachten. Ich sah seinen Tod in den gefrorenen Momenten, die mir der Blitz gab.

Ich sah auch, was sie mit Mutter machten, und wie lange es dauerte. Den Kopf des kleinen William zerschmetterten sie an einem Meilenstein. Goldene Locken und Blut. Und ich gebe zu, dass William der erste meiner Brüder war und ich ihn mochte, mit seinen Patschhänden und seinem Lachen. Seitdem habe ich viele neue Brüder bekommen, ziemlich böse noch dazu, und deshalb vermisse ich kaum jemanden, wenn der eine oder andere verlorengeht. Aber damals schmerzte es zu sehen, wie sie den kleinen William zerbrachen, als sei er nicht mehr als ein Spielzeug.

Als die Männer ihn umbrachten, wollte Mutter einfach nicht still sein, und deshalb schnitten sie ihr die Kehle durch. Ich war dumm zu jener Zeit, erst neun Jahre alt, und ich wollte sie beide retten. Aber die Dornen hielten mich fest. Seitdem weiß ich Dornen zu schätzen.

Die Dornen lehrten mich das Spiel und dessen Regeln. Sie ließen mich verstehen, was all diese grimmigen und ernsten Männer, die im Hundertkrieg gekämpft haben, erst noch lernen müssen. Man kann das Spiel nur gewinnen, wenn man weiß, dass es ein Spiel ist. Man lasse einen Mann Schach spielen und sage ihm, jeder Bauer sei sein Freund. Man lasse ihn glauben, beide Läufer seien schnell. Man lasse ihn sich an glückliche Zeiten im Schatten seiner Burg erinnern und die Königin lieben. Und man beobachte, wie er alle Figuren verliert.

»Was hast du für mich, totes Ding?«, fragte ich.

Es ist ein Spiel. Ich werde die richtigen Spielzüge tun.

Ich fühlte den Geist kalt in mir. Ich sah seinen Tod. Ich sah seine Verzweiflung. Und seinen Hunger. Und ich ließ ihn los. Ich hatte mehr erwartet, aber er war nur tot.

Ich zeigte ihm die leere Zeit, den Ort, den meine Erinnerungen mieden. Dorthin ließ ich ihn sehen.

Da floh er. Er lief, und ich verfolgte ihn. Aber nur bis zum Rand des Sumpfes. Denn es ist ein Spiel, und ich werde es gewinnen.

5

Vier Jahre zuvor

 

Für eine ganze Weile schoben die Gedanken an Rache alles andere beiseite. Die erste Folterkammer baute ich in den dunklen Gewölben meiner Fantasie. Ich lag im Heilsaal auf blutigen Laken und entdeckte Türen in meinem Geist, die ich bis dahin nicht gesehen hatte, Türen, von denen ein neunjähriges Kind nicht wissen sollte, wie man sie öffnet. Türen, die sich nie wieder schlossen.

Ich stieß sie weit auf.

Sir Reilly fand mich im Dornenstrauch, keine zehn Meter von den qualmenden Resten der Kutsche entfernt. Fast hätten sie mich nicht gefunden. Ich sah, wie sie die Leichen auf der Straße erreichten. Ich beobachtete sie durch die Dornen, sah den silbrigen Glanz von Sir Reillys Rüstung und das Rot von den Wämsern der ankrathischen Fußsoldaten.

Mutter war leicht zu erkennen, ganz in Seide.

»Heiliger Jesus! Es ist die Königin!« Sir Reilly gab Anweisung, sie umzudrehen. »Vorsichtig! Zeigt Respekt …« Er schnappte nach Luft. Die Männer des Grafen hatten Mutter nicht besonders schön zurückgelassen.

»Sir! Der Große Jan liegt hier, und auch Grem und Jassar.« Ich sah, wie sie Jan umdrehten, dann auch die beiden anderen Wächter.

»Sie sollten besser tot sein!«, zischte Sir Reilly. »Sucht die Prinzen!«

Ich sah nicht, wie sie Will fanden, aber ich wusste, dass sie ihn fanden, denn plötzlich breitete sich Stille unter den Männern aus. Ich ließ mein Kinn auf die Brust sinken und beobachtete die dunklen Blutflecken auf den trockenen Blättern zu meinen Füßen.

»Lieber Himmel …«, murmelte einer der Männer.

»Legt ihn auf ein Pferd, aber vorsichtig«, sagte Sir Reilly. Seine Stimme brach. »Und sucht den Erben!« Mit mehr Nachdruck, aber ohne Hoffnung.

Ich versuchte zu rufen, aber die Kraft hatte mich verlassen. Ich konnte nicht einmal mehr den Kopf heben.

»Er ist nicht hier, Sir Reilly.«

»Sie haben ihn als Geisel genommen«, sagte Reilly.

Irgendwie war richtig, was er sagte. Etwas hielt mich gegen meinen Willen fest.

»Legt ihn neben die Königin.«

»Vorsicht! Geht sanft mit ihm um …«

»Bindet sie fest«, sagte Sir Reilly. »Wir reiten schnell zur Hohen Burg.«

Ein Teil von mir wollte sie ziehen lassen. Ich fühlte keinen Schmerz mehr, nur ein dumpfes Stechen, und selbst das ließ nach. Frieden umgab mich, mit dem Versprechen von Vergessen.

»Sir!«, entfuhr es einem der Männer.

Ich hörte das Klirren und Klappern einer Rüstung, als Sir Reilly näher stapfte und sich etwas ansah.

»Ein Stück von einem Schild?«, fragte er.

»Hab’s im Schlamm gefunden. Das Kutschenrad muss es in den Dreck gedrückt haben.« Die Stimme des Soldaten verklang. Ich hörte ein Kratzen. »Sieht nach einem schwarzen Flügel aus.«

»Eine Krähe«, sagte Reilly. »Eine Krähe auf rotem Grund. Das sind Graf Renars Farben.«

Graf Renar? Ich hatte einen Namen. Das Hoheitszeichen erschien vor meinem inneren Auge, tief eingebrannt von den Blitzen des Gewitters der vergangenen Nacht. Ein Feuer brannte in mir, und der Schmerz von hundert Dornen glühte in jedem Glied. Ein Stöhnen entrang sich meiner Kehle. Ich spürte, wie sich meine Lippen teilten und trockene Haut nachgab.

Und Reilly fand mich.

»Da ist etwas!« Ich hörte ihn fluchen, als die Dornen des Gestrüpps alle Ritzen in seiner Rüstung fanden. »Schnell! Zieht dies zur Seite!«

»Tot«, flüsterte jemand hinter Sir Reilly, als er mich frei schnitt.

»Er ist so bleich.«

Ich schätze, ich bin im Hakendorn beinahe verblutet.

Die Männer holten einen Karren und legten mich darauf. Ich schlief nicht. Ich beobachtete, wie der Himmel dunkel wurde, und dachte nach.

Im Heilsaal schnitten mir Bruder Glen und sein Helfer Inch die Dornen aus dem Leib. Sie hatten die Messer in der Hand, und ich lag auf dem Tisch, als Lundist eintraf, mein Lehrer. Er kam mit einem Buch so groß wie ein Teutonenschild, und dreimal so schwer, wie’s aussah. Lundist war kräftiger, als sein verschrumpelter dürrer Körper vermuten ließ.

»Ich hoffe, du hast die Messer in Feuer gereinigt, Mönch?« Lundist sprach mit dem Akzent seiner Heimat im Äußersten Osten und neigte dazu, die Hälfte eines Wortes unausgesprochen zu lassen, als sollte ein intelligenter Zuhörer imstande sein, die Lücken selbst zu füllen.

»Es ist die Reinheit des Geistes, die Fäulnis vom Fleisch fernhalten wird, Lehrer«, erwiderte Bruder Glen. Er warf Lundist einen missbilligenden Blick zu und machte sich dann daran, die nächsten Dornen herauszuschneiden.

»Trotzdem, säubere die Messer, Mönch. Das Heilige Amt schützt kaum vor dem Zorn des Königs, wenn der Prinz in deinem Saal stirbt.« Lundist legte sein Buch neben mir auf den Tisch, und ich hörte, wie einige Meter entfernt ein Gestell mit Ampullen rasselte. Er schlug das große Buch an einer markierten Stelle auf.

»›Die Dornen des Hakendorn finden oft den Knochen.‹« Lundist strich mit einem gelben Finger über die Zeilen. »›Die Spitze kann brechen und das Fleisch entzünden.‹«

Bruder Glen stieß plötzlich zu, und mir sprang ein schmerzerfüllter Laut aus dem Mund. Der Mönch legte das Messer beiseite und wandte sich an Lundist. Ich sah nur seinen Rücken, den braunen Stoff, der sich an den Schultern spannte, mit dunklen Flecken von Schweiß.

»Lehrer Lundist«, sagte Bruder Glen, »ein Mann deines Standes mag glauben, dass alles Wissenswerte den Seiten eines Buches entnommen werden kann, oder der richtigen Schriftrolle. Das Lernen hat durchaus seinen Sinn, mein Herr, aber bitte halt mir keine Vorträge übers Heilen, nur weil du einen Abend mit einem Folianten verbracht hast.«

Bruder Glen setzte sich durch, und der Wachmann »half« Lehrer Lundist aus dem Saal.

Selbst im Alter von neun Jahren musste ich einen erheblichen Mangel an geistlicher Reinheit gehabt haben, denn meine Wunden entzündeten sich innerhalb von zwei Tagen, und neun Wochen lang lag ich im Fieber, geplagt von dunklen Träumen, an der Grenze des Todes.

Man erzählt mir, wie ich schrie und heulte. Getobt soll ich haben, als Eiter aus den Schnitten quoll, in denen die Dornen gesteckt hatten. Ich erinnere mich an den Gestank der Fäulnis. Er hatte etwas Süßes, eine Süße, bei der man kotzen möchte.

Inch, der Helfer des Mönchs, wurde müde, mich festzuhalten, obgleich er die Arme eines Holzfällers hatte. Schließlich banden sie mich ans Bett.

Von Lehrer Lundist erfuhr ich, dass Bruder Glen nach der ersten Woche nicht mehr zu mir kam, weil ein Teufel in mir stecke, wie er meinte. Wie sonst könne einem Kind so Schreckliches von den Lippen kommen?

In der vierten Woche entkam ich den Stricken, die mich ans Bett fesselten, und setzte den Saal in Brand. Ich erinnere mich nicht an meine Flucht, auch nicht daran, wie man mich im Wald fand. Als sie in den Trümmern suchten, fanden sie die Reste von Inch, mit dem Schürhaken des Kamins in seiner Brust.

Oft stand ich an der Tür zum Jenseits. Ich hatte gesehen, wie man meine Mutter und meinen Bruder durch jene Tür warf, blutig und zerbrochen, und in den Träumen trugen mich meine Füße immer wieder dorthin. Mir fehlte der Mut, ihnen zu folgen; an den Dornen der Feigheit hielt ich fest.

Manchmal sah ich das Land der Toten jenseits eines dunklen Flusses oder auf der anderen Seite einer tiefen Schlucht, von einer schmalen Steinbrücke überspannt. Einmal sah ich die Tür in Gestalt des Portals, das in den Thronsaal meines Vaters führte, aber voller Raureif und Eiter, der aus allen Ritzen drang. Etwas zwang mich, die Hand auf die Klinge zu legen …

Graf Renar hielt mich am Leben. Das Versprechen seiner Pein zertrat meine eigene unter ihrem Stiefel. Hass hält einen am Leben, wenn Liebe versagt.

Und dann, eines Tages, verließ mich das Fieber. Meine Wunden blieben zornig und rot, aber sie schlossen sich. Man fütterte mich mit Hühnersuppe, und meine Kraft kehrte zurück, wie etwas Fremdes.

Der Frühling kam und malte wieder Blätter an die Bäume. Meine Kraft war zurück, aber etwas anderes schien mir genommen zu sein. Es fehlte so sehr, dass ich diesem Etwas nicht einmal einen Namen geben konnte.

Die Sonne zeigte sich, und sehr zu Bruder Glens Verdruss besuchte mich Lehrer Lundist und setzte den Unterricht fort.

Als er das erste Mal kam, saß ich auf dem Bett. Ich beobachtete, wie er die Bücher auf den Tisch legte.

»Dein Vater wird zu dir kommen, sobald er von Gelleth zurückkehrt«, sagte Lundist. In seiner Stimme erklang ein leiser Tadel, der jedoch nicht mir galt. »Der Tod der Königin und des Prinzen William lasten schwer auf ihm. Wenn sein Schmerz nachlässt, kommt er bestimmt, um mir dir zu sprechen.«

Ich verstand nicht, warum Lundist eine Lüge für notwendig hielt. Ich wusste, dass mein Vater keine Zeit an mich vergeuden würde, solange es den Anschein hatte, dass ich im Sterben lag. Ich wusste, dass er erst kommen würde, wenn ihm der Besuch etwas nützte.

»Erkläre mir, Lehrer«, sagte ich, »ist Rache eine Wissenschaft oder eine Kunst?«

6

Der Regen ließ nach, als die Geister flohen. Ich hatte nur den einen besiegt, aber auch die anderen wandten sich zur Flucht und kehrten zu den Tümpeln zurück, in denen sie hausten. Vielleicht war meiner der Anführer gewesen; vielleicht werden Menschen im Tode feige. Ich weiß es nicht.

Was meine eigenen Feiglinge betraf: Es hatte keinen Ort gegeben, zu dem sie fliehen konnten, und ich fand sie leicht. Makin fand ich als Ersten. Wenigstens er kehrte zu mir zurück.

»Du hast es also mit der Angst zu tun gekriegt, wie?«, rief ich ihm zu.

Er blieb kurz stehen und sah mich an. Es regnete nicht mehr so stark wie vorher, aber er stand trotzdem klatschnass da. Das Wasser strömte über seinen Brustharnisch und durch die Beulen und Dellen darin. Wachsam und noch immer nervös blickte er über die Sümpfe zu beiden Seiten der Totenstraße und ließ das Schwert sinken.

»Einem Mann ohne Angst fehlt ein Freund, Jorg«, sagte er, und ein Lächeln fand den Weg auf seine dicken Lippen. »Weglaufen ist nicht schlecht. Zumindest wenn man dabei die richtige Richtung einschlägt.« Er zeigte dorthin, wo Rike mit einem Binsenbüschel rang; der Schlamm reichte ihm schon bis zur Brust. »Die Angst hilft einem Mann, seinen Kampf zu wählen. Du kämpfst gegen alle, mein Prinz.« Und er verbeugte sich dort auf der Totenstraße, mitten im Regen.

Ich warf Rike einen kurzen Blick zu. Maical hatte ähnliche Probleme in einem Tümpel auf der anderen Seite der Straße. Allerdings standen ihm die Probleme bis zum Hals.

»Letztendlich kämpfe ich gegen sie alle«, erwiderte ich.

»Wähl deine Kämpfe«, sagte Makin.

»Ich wähle den Boden, auf dem sie stattfinden«, sagte ich. »Ich wähle den Boden, aber ich laufe nicht mehr weg. Nie wieder. Das Weglaufen ist vorbei, und wir haben noch immer Krieg. Ich werde ihn gewinnen, Bruder Makin. Er wird mit mir enden.«

Er verbeugte sich erneut. Nicht so tief wie beim ersten Mal, aber ich spürte, dass er es ernst meinte. »Deshalb folge ich dir, Prinz. Wohin auch immer.«

Und so folgte er mir, als ich damit begann, Brüder aus dem Sumpf zu ziehen. Zuerst kümmerten wir uns um Maical, obwohl Rike heulte und uns verfluchte. Als der Regen noch mehr nachließ, sah ich den Grauschimmel und den Kopfkarren in der Ferne. Im Gegensatz zu Maical war der Graue so klug gewesen, auf der Straße zu bleiben. Wenn Maical so blöd gewesen wäre, ihn in den Sumpf zu führen, hätte ich ihn im Morast versinken lassen.

Als Nächsten zogen wir Rike heraus. Als wir zu ihm gelangten, hatte der Schlamm beinahe seinen Mund erreicht. Nur sein weißes Gesicht ragte aus dem Tümpel, was ihn aber nicht daran hinderte, uns hingebungsvoll zu verfluchen. Die meisten Brüder fanden wir auf der Straße, aber sechs von ihnen hatte der Sumpf zu schnell verschlungen. Sie waren für immer verloren und bereiteten sich vermutlich darauf vor, die nächste Reisegruppe heimzusuchen.

»Ich kehre zum alten Gomsty zurück«, sagte ich.

Wir waren ein ganzes Stück über die Straße gekommen, und das Licht des Tages hatte uns fast ganz verlassen. Wenn man zurücksah, konnte man den Galgen nicht mehr erkennen; graue Regenschleier verhüllten ihn. Draußen im Sumpf warteten die Toten. Ich fühlte, wie mir ihre kalten Gedanken über die Haut krochen.

Ich forderte die Brüder nicht auf, mich zu begleiten. Keiner von ihnen wollte mitkommen, das wusste ich, und ein Anführer verliert Autorität, wenn er einen Befehl erteilt, den niemand befolgt.

»Was willst du mit dem alten Priester machen, Bruder Jorg?«, fragte Makin. Er bat mich, nicht zum Galgen zu reiten. Er brachte es nur nicht fertig, es mir direkt zu sagen.

»Willst du ihn noch immer verbrennen?« Trotz des Schlamms grinste Rike wieder und freute sich.

»Ja«, sagte ich. »Aber ich kehre nicht deshalb zu ihm zurück.« Und ich ging über die Totenstraße, in die Richtung, aus der wir gekommen waren.

Regen und Dunkelheit umhüllten mich. Ich verlor die auf der Straße wartenden Brüder aus den Augen. Weiter vorn warteten Gomst und der Galgen auf mich. Ich schritt in einem Kokon aus Stille, nur begleitet von den leisen Worten des Regens und dem Geräusch meiner Stiefel auf der Totenstraße.

Ich gebe es jetzt zu: Die Stille machte mir schwer zu schaffen. Es ist die Stille, die mir Angst macht. Die leere Seite, auf die ich meine Furcht schreiben kann. Von den Geistern der Toten steht nichts darauf. Jener Geist hatte mir die Hölle zeigen wollen, aber es war nur eine billige Imitation des Entsetzens gewesen, das ich in die Dunkelheit eines stillen Moments malen kann.

Und dort hing er, Pater Gomst, Priester des Hauses Ankrath.

»Pater«, sagte ich und deutete eine Verbeugung an. In Wirklichkeit aber war ich nicht zum Scherzen aufgelegt. Ich hatte einen dumpfen Schmerz hinter den Augen, jene Art von Schmerz, der Leute töten konnte.

Aus großen Augen sah er mich an, als sei ich ein aus dem Schlamm gekrochener Sumpfgeist.

Ich ging zur Kette, an der der Käfig am Galgen hing. »Gib gut Acht, Pater.«

Das Schwert, das ich zog, hatte keine vierundzwanzig Stunden zuvor den alten Bovid Tor aufgeschlitzt. Jetzt schwang ich es, um einen Priester zu befreien. Die Kette gab unter der Schneide nach. Magie steckte in der Klinge, oder vielleicht irgendeine Teufelei. Vater hatte mir erzählt, dass sich das Schwert seit vier Generationen im Besitz der Ankraths befand und vom Haus Or stammte. Der Stahl war also schon alt gewesen, als ihn zum ersten Mal eine Ankrath-Hand berührt hatte. Es war alt gewesen, bevor ich es gestohlen hatte.

Der Käfig fiel, prallte hart und schwer aufs Pflaster. Pater Gomst schrie und stieß mit dem Kopf gegen das Gitter. Ein blutiges Muster blieb auf der Stirn zurück. Die Käfigtür war mit Draht gesichert, den unser Ahnenschwert, zweimal gestohlen, mühelos durchschnitt. Für einen Moment dachte ich an Vater und stellte mir vor, wie er voller Zorn eine Grimasse schnitt, weil ich eine erhabene Klinge so niedere Arbeit verrichten ließ. Meine Vorstellungskraft ist groß, aber es fiel mir schwer, Gefühl in Vaters steinernes Gesicht zu meißeln.

Gomst kroch aus dem Käfig, so steif und schwach, wie es seinem Alter entsprach. Es gefiel mir, dass er den Anstand hatte, die Jahre auf seinen Schultern zu fühlen. Manche Leute werden mit den Jahren einfach nur zäh.

»Pater Gomst«, sagte ich, »du solltest dich besser beeilen, denn sonst kommen die Toten der Sümpfe und erschrecken uns mit ihrem Stöhnen und Heulen.«

Er sah mich an und wich zurück, als hätte er einen Geist gesehen. Dann beruhigte er sich.

»Jorg«, sagte er voller Anteilnahme. Er war voll davon, es lief ihm aus den Augen, wenn es nicht nur der Regen war. »Was ist mit dir passiert?«

Ich will euch nicht anlügen. Die Hälfte von mir wollte ihm das Messer in den Leib stoßen, so wie beim rotgesichtigen Gemt. Mehr als nur die Hälfte. In meiner Hand juckte das Bedürfnis, das Messer zu ziehen. Der Kopf schmerzte mir davon, als zöge jemand einen Schraubstock an meinen Schläfen fest.

Ich bin als Querkopf bekannt gewesen. Wenn jemand Druck ausübt, drücke ich zurück. Selbst wenn derjenige, von dem der Druck kommt, ich selbst bin. Es wäre leicht gewesen, ihm hier und jetzt den Bauch aufzuschneiden. Leicht und befriedigend. Aber der Wunsch war zu groß. Ich fühlte mich von ihm unter Druck gesetzt.

Ich lächelte und sagte: »Verzeih mir, Pater, denn ich habe gesündigt.«

Und der alte Gomsty, obwohl steif vom Käfig und in allen Gliedern wund, neigte den Kopf, um sich meine Beichte anzuhören.

Ich sprach im Regen zu ihm, leise und ruhig. Aber laut genug für Pater Gomst, und laut genug für die Toten, die in den Sümpfen um uns herum hausten. Ich erzählte von den Dingen, die ich getan hatte, und auch von denen, die ich tun würde. Mit leiser, ruhiger Stimme schilderte ich meine Pläne für alle, die sie hören konnten und wollten. Die Toten ließen uns daraufhin in Ruhe.

»Du bist der Teufel!« Pater Gomst trat einen Schritt zurück und griff nach dem Kreuz an seinem Hals.

»Wenn das nötig ist.« Ich widersprach ihm nicht. »Aber ich habe gebeichtet, und du musst mir vergeben.«

»Eine Abscheulichkeit bist du …«, hauchte der Priester.

»Und noch mehr«, pflichtete ich ihm bei. »Und jetzt vergib mir.«

Pater Gomst fand wieder zu sich, zögerte aber trotzdem. »Was willst du von mir, Luzifer?«

Eine faire Frage. »Ich will gewinnen«, sagte ich.

Er schüttelte verwirrt den Kopf, und so erklärte ich es ihm.

»Manche Männer kann ich mit dem an mich binden, was ich bin. Andere binde ich mit dem, wohin ich gehe und reite. Wieder andere wollen wissen, wer mich begleitet. Ich habe dir gebeichtet. Ich bereue. Jetzt geht Gott an meiner Seite, und du bist der Priester, der den Gläubigen sagen wird, dass ich sein Krieger bin. Sein Werkzeug, das Schwert des Allmächtigen.«

Stille herrschte zwischen uns, gemessen von Herzschlägen.

»Ego te absolvo.« Pater Gomst zwang die Worte von zitternden Lippen.

Seite an Seite gingen wir über die Straße und kehrten zu den anderen zurück. Makin hatte sie Aufstellung beziehen lassen. Im Dunkeln warteten sie, mit einer einzelnen Fackel und der am Kopfkarren hängenden Laterne.

»Es wird Zeit, dass wir aufbrechen, Hauptmann Bortha«, sagte ich zu Makin. »Bis zur Pferdeküste haben wir noch einen weiten Weg vor uns.«

»Und der Priester?«, fragte er.

»Vielleicht machen wir einen kleinen Umweg an der Hohen Burg vorbei und setzen ihn dort ab.«

Meine Kopfschmerzen wurden stärker.

Möglicherweise lag es daran, dass mir ein alter Geist bis ins Mark meiner Knochen gedrungen war, aber diesmal fühlten sich meine Kopfschmerzen an, als schlüge mich jemand mit einem Stock, wie um mich anzutreiben, und darüber ärgerte ich mich immer mehr.

»Ich glaube, wir rasten in der Hohen Burg.« Ich biss die Zähne zusammen, als mir Dolche durch den Kopf stachen. »Wir übergeben den alten Gomsty hier persönlich. Mein Vater hat sich bestimmt Sorgen um mich gemacht.«

Rike und Maical gafften blöd. Der Fette Burlow und der Rote Kent wechselten einen Blick. Der Nubier rollte mit den Augen und tastete mit der einen Hand nach seinen Waffen.

Ich sah Makin an: groß, breit in den Schultern, das schwarze Haar nass vom Regen. Er ist mein Springer, dachte ich. Gomst ist mein Läufer und die Hohe Burg mein Turm. Dann dachte ich an Vater. Ich brauchte einen König. Man kann Schach nicht ohne einen König spielen. Ich dachte an Vater, und es fühlte sich gut an. Nach der Begegnung mit dem Geist war ich nachdenklich geworden. Der Geist hatte mir seine Hölle gezeigt, und ich hatte ihn ausgelacht. Aber jetzt dachte ich an Vater, und es fühlte sich gut an zu wissen, dass ich mich noch fürchten konnte.