cover

Zelda la Grange war fast zwanzig Jahre lang die persönliche Assistentin von Nelson Mandela. Eine junge weiße Frau, geprägt von der rassistischen Politik des südafrikanischen Apartheidregime. Die zunächst als Sekretärin für Mandela arbeitete und schließlich zu einer der engsten Vertrauten jenes Mannes wurde, der ihr jahrzehntelang als Feindbild gegolten hatte. Aus der Schreibkraft wurde eine Frau, die mit Nelson Mandela um die Welt reiste, bei Treffen mit Bill Clinton, Johannes Paul II, Jassir Arafat, Morgan Freeman und Gaddafi dabei war und die ihn bis zu seinem Tod begleitete. Und die wie keine andere den wahren Nelson Mandela kennenlernte. Jene außergewöhnliche Persönlichkeit, die niemanden unbeeindruckt ließ und zugleich überraschend humorvoll war. Eine Hommage an Mandelas inspirierendes Vermächtnis und ein Aufruf, dass es nie zu spät ist, ein besserer Mensch zu werden.

Der Nummer-1-Bestseller aus Südafrika!

ZELDA LA GRANGE, geboren 1970, wuchs während der Apartheid in Südafrika auf. Seit 1992 war sie zunächst in verschiedenen Bereichen als Sekretärin für die Regierung tätig. 1994 begann sie, im Büro des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Südafrikas zu arbeiten. Über 19 Jahre war sie in verschiedenen Funktionen für Nelson Mandela tätig – als Schreibkraft, Privatsekretärin, Office-Managerin, als seine Pressesprecherin und, bis zu seinem Tod, als seine persönliche Assistentin. Seit 2002 arbeitete sie festangestellt für die Nelson Mandela Stiftung. Zelda la Grange lebt in Pretoria.

Zelda la Grange

Good Morning,
Mr. Mandela

Nelson Mandelas persönliche Assistentin erzählt

Aus dem südafrikanischen Englisch
von Ute Brammertz

btb_logo_NEU_schwarz.ai

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
»Good Morning, Mr Mandela« bei Allen Lane / Penguin, London.

1. Auflage
Copyright © 2014 by Zelda la Grange (Pty) Ltd.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Umschlaggestaltung: semper smile, München nach einem Entwurf von Laila Mjøs/laila@mjoes.no
ISBN 978-3-641-15546-9
V002

Besuchen Sie unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de!
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag

Inhalt

Karte

Vorbemerkung der Autorin

Prolog: Zeldina

ERSTER TEIL

»Wenn es nicht gut ist,
lass es sterben«

1970–1994

1

Kindheit

2

Wandel

ZWEITER TEIL

Anbruch eines neuen Morgens

1994–1999

3

Wie ich Mr. Mandela kennenlernte

4

Mitarbeiterin eines Präsidenten

5

Mit einem Präsidenten auf Reisen

6

Wettlauf mit der Zeit

DRITTER TEIL

Türhüterin bei dem berühmtesten Mann der Welt

1999–2008

7

Reisen und Konflikte

8

Zusammenarbeit mit Weltpolitikern

9

Urlaub und Freunde

10

Die größte Wohltätigkeitsveranstaltung meines Lebens

VIERTER TEIL

»Was nun?«

2009–2013

11

Bis zum Schluss bleiben

12

Abschiednehmen

13

Tot weersiens Khulu!

Danksagung

Bildnachweis

Quellen

BILDTEIL

GMMM_Map.eps

Vorbemerkung der Autorin

Im Juni 2013 führte der Sohn des treuen ANC-Aktivisten Oliver Tambo, Dali Tambo, ein Interview mit dem Präsidenten von Simbabwe, Robert Mugabe. Mugabe sagte: Nelson Mandela ist ein zu großer Heiliger. Er hat in seinem eigenen Land Weiße zu Lasten der Schwarzen zu gut behandelt. Manche stimmten dem zu, andere legten Widerspruch ein. Bis zu einem gewissen Grad steckte wohl ein Fünkchen Wahrheit in den Worten des Mannes. Man konnte es durchaus so sehen. Und dennoch hatte Madiba selbst vor langer Zeit in einem Gespräch mit Richard Stengel gesagt, aus dem in Bekenntnisse zitiert wird: »Die Menschen werden den Eindruck haben, dass ich in den Leuten zu viel Gutes sehe. Ich muss mit dieser Kritik leben und habe versucht, mich darauf einzustellen, denn ob es nun so ist oder nicht, es ist etwas, was ich für gewinnbringend halte. Es ist eine gute Sache anzunehmen, auf der Grundlage zu handeln, dass … die anderen Menschen integer und ehrenhaft sind … weil man tendenziell Integrität und Ehrenhaftigkeit anzieht, wenn das die Sichtweise ist, mit der man die Menschen betrachtet, mit denen man zusammenarbeitet.«

Anlässlich des Mugabe-Interviews fühlte ich mich für diese Wahrnehmung, Nelson Mandela habe Weiße zu gut behandelt, irgendwie verantwortlich. Er hat mich tatsächlich gut behandelt, doch ich möchte glauben, dass er stolz darauf war, wie er dieses unbedeutende Leben veränderte. Des Öfteren sagte er, wenn man nur einen Menschen zum Besseren bekehre, habe man bereits seine Pflicht getan. Er hat nicht nur mein Leben verändert, sondern Millionen andere. Er hat viel mehr getan, als von einem einzigen Menschen erwartet werden kann, und vielleicht hat er es dafür doch verdient, als Heiliger gepriesen zu werden.

In einem anderen Gespräch mit Richard Stengel sagte Madiba: »Die eigene Pflicht besteht darin, mit Menschen als Menschen umzugehen, und nicht weil man glaubt, dass sie Engel seien. Und deshalb, sobald man also weiß, dass ein Mensch diese Tugend, aber auch jene Schwäche hat, arbeitet man mit beidem, stellt sich auf diese Schwäche ein und versucht, ihm bei ihrer Überwindung zu helfen. Ich will mich nicht von der Tatsache ängstigen lassen, dass ein Mensch bestimmte Fehler gemacht und dass er menschliche Schwächen hat. Ich kann mich davon nicht beeinflussen lassen. Und deshalb kritisieren [mich] viele Menschen.«

Ich versuche, mir nicht die Frage zu stellen: »Warum ich?« Ich möchte gar nicht erst ergründen, warum Nelson Mandela gerade mich ausgewählt hat. Wenn ich es aber doch tue, kommen mir die oben stehenden Zitate in den Sinn. In unseren gemeinsamen neunzehn Jahren lernte er meine Schwächen kennen, er lernte auch meine Stärken kennen, und er investierte in meine Stärken, um mich zu dem Menschen zu machen, der ich heute bin.

Ich habe ihm beinahe zwanzig Jahre gedient und bin seine persönliche Assistentin gewesen, bis er uns am 5. Dezember 2013 verließ. Im Jahr 2009 beschloss ich, mit dem Schreiben dieses Buches anzufangen, um ihm Tribut zu zollen. Hauptsächlich wollte ich meine Erlebnisse festhalten, weil ich hoffte, dass andere durch diese Geschichte ebenfalls verändert und beeinflusst werden würden. Mein Buch ist deshalb ein Tribut an Khulu, wie ich ihn kannte.

Dies ist nicht seine Geschichte. Es ist meine Geschichte, und ich bin damit zufrieden. Doch die Leser werden vielleicht enttäuscht sein, falls sie erwarten, dass ich allzu viel schmutzige Wäsche wasche. Dem Vertrauen, das mir Nelson Mandela geschenkt hat, werde ich niemals respektlos begegnen. Es gibt keine größere Ehre, die er mir hätte erweisen können – als mir zu vertrauen –, und ich habe vor, dieses Vertrauen für den Rest meines Lebens nicht zu enttäuschen. Die Entscheidung, worüber ich geschrieben und was ich weggelassen habe, basiert auf diesem Vertrauen. Deshalb handelt es sich hier um kein Enthüllungsbuch.

Außerdem ist es weder ein Buch voller großer politischer Einsichten noch eine thematische Analyse seines Lebens. Es ist die einfache Geschichte meiner Erlebnisse mit ihm. Eine der wichtigsten Lektionen, die ich im Laufe der Jahre von diesem großen Mann gelernt habe, und die mir später im Leben noch einmal von seiner Frau Graça Machel bestätigt wurde, lautet, dass man nur einem einzigen Menschen gegenüber Rechenschaft abzulegen hat, und zwar sich selbst. Man muss abends mit den eigenen Gedanken und dem eigenen Gewissen zu Bett gehen, und nach der Niederschrift dieses Buches brauche ich das angenehme Gefühl, auf dem Kopfkissen eines reinen Gewissens zu ruhen. Ich muss ihn stolz machen, denn so sehr es sich auch anfühlt, als wären unsere Leben in den letzten beiden Jahren von Negativität und Aufruhr überschattet gewesen, gibt es da auch eine schöne Geschichte zu erzählen – und ich darf mir eingestehen, dass ich Teil dieser Geschichte bin und es meine Pflicht ist, sie zu erzählen. Vor allem muss ich in meinem Herzen wissen, dass er mit dem, was ich erzählt habe, zufrieden wäre, würde er dieses Buch lesen, und dass er den einzelnen Details zustimmen könnte. Da ich sechzehn der letzten neunzehn Jahre tagein, tagaus mit ihm verbracht habe, habe ich eine Vorstellung davon, was in seinen Augen an die Öffentlichkeit dringen dürfte und was nicht. Und Letzteres gilt es zu schützen.

Das Buch ist eine Sammlung von Anekdoten – manchmal auf meine eigenen Kosten –, die aus einem erfüllten Leben stammen. Da gibt es kein Bedauern, nur Lehren, die zu ziehen sind. Ich bin emotionale Milliardärin, und wenn in meinem restlichen Leben nichts Außergewöhnliches mehr passieren sollte, werde ich dennoch bis zu meinem Todestag mit diesen Erinnerungen zufrieden sein. Ich habe ein reiches Leben geführt. Die meisten Menschen werden das, was ich mit angesehen habe, nicht erleben, und deshalb ist meine Geschichte eine des Wandels, der langsamen Metamorphosen des Geistes und eines Glaubenssystems, bis hin zu meinem heutigen Standpunkt. Der Leser oder die Leserin muss entscheiden, ob es irgendeinen Teil gibt, mit dem er oder sie sich identifizieren kann, oder Lehren, die sie aus meiner Geschichte ziehen können. Die Entscheidung liegt nicht bei mir.

Es wäre auch falsch anzunehmen, ich wäre der einzige oder ein besonderer Mensch um Madiba herum gewesen. Ich hatte eine bestimmte Funktion in seinem Leben, hauptsächlich im Hinblick auf sein öffentliches Leben. Doch es gibt noch viele andere, Haushaltspersonal, Büroangestellte, Sicherheitskräfte und medizinisches Personal, die ebenso wichtige Aufgaben innehatten und auf die er stark angewiesen war. Manche sind in meine Geschichte einbezogen worden, doch ich konnte schlichtweg nicht jedem Einzelnen meine Anerkennung zollen.

Ich habe ausnahmslos mein Bestes versucht – mehr habe ich nicht zu geben. Ich hoffe, ein klein wenig zu Nelson Mandelas Vermächtnis beizutragen, indem ich die Privilegien und Erfahrungen, die mir zuteilwurden, an jeden weitergebe, der offen ist, sie zu empfangen. Wenn ich auch nur ein einziges Leben dadurch verändere, dass ich einen anderen Menschen mit meiner Geschichte berühre, habe ich meine Pflicht getan.

Ich verbleibe, auf ewig verbunden und zu Dank verpflichtet …

Prolog: Zeldina

Es war Anfang der 2000er Jahre. Ich war über dreißig, stand vor der Tür des Präsidentenamtes in Johannesburg und erwartete wie üblich die Ankunft von Nelson Mandela, um ihn zu empfangen, in sein Büro zu begleiten und über die Veranstaltungen des Tages zu unterrichten. Wenn sein Wagen um die Ecke bog, strahlte ich jedes Mal, egal, unter wie viel Druck ich stand. Das Lächeln in meinem Gesicht war voller Liebe und Bewunderung, vielleicht so, wie man beim Anblick der eigenen geliebten Großeltern lächeln würde. Sein Wagen hielt an, die Leibwächter stiegen aus. Wir begrüßten uns und tauschten kurz Höflichkeitsfloskeln, bevor sie Madiba die schwer gepanzerte Wagentür öffneten, damit er aussteigen konnte. Madiba ist Nelson Mandelas südafrikanischer Clanname. Es ist auch der Kosename, mit dem ihn die Menschen liebevoll bezeichnen. Manche nennen ihn Tata, was »Vater« bedeutet, doch die meisten Leute verwenden Madiba, wenn sie über ihn sprechen oder ihn anreden. Ich nannte ihn Khulu, eine verkürzte Version von Tata um’khulu, was »Großvater« heißt.

Während er ausstieg, trafen sich unsere Blicke. »Guten Morgen, Khulu!«, rief ich. Er nannte mich Zeldina. Man reichte ihm seinen Spazierstock, damit er sich beim Aussteigen darauf stützen konnte. Der Stock war aus Elfenbein, ein Geschenk seines guten Freundes Douw Steyn. Für materielle Dinge hatte er sonst nicht viel übrig, doch sein Stock gehörte zu den wenigen Gegenständen, die er schätzte und mit seinem Leben beschützte.

»Guten Morgen, Zeldina«, sagte er, als er aus dem Wagen stieg. Das Gesicht erstrahlte mit seinem üblichen Lächeln, auch wenn ich eine gewisse Reserviertheit bemerkte. Sobald ihm die Leibwächter auf die Beine geholfen hatten, gaben sie ihn an mich weiter. Er stützte sich immer auf seinen Stock und hielt sich mit der linken Hand an meinem Arm fest.

»Wie geht es Ihnen heute Morgen, Khulu?«, fragte ich.

»Mir geht es gut, Zeldina«, erwiderte er zwar, fuhr aber nicht wie üblich fort, indem er sich nach meinem Wohlbefinden erkundigte. Das war ein weiteres Anzeichen dafür, dass ihn etwas bedrückte. Auf dem Weg in sein Büro ließ ich ihm ein paar Augenblicke Zeit, um sich zu sammeln, bevor ich anfing, ihn mit Informationen bezüglich des Tages zu überhäufen. Sobald seine Bürotür geschlossen war, öffnete er sich.

»Wissen Sie, Zeldina, vergangene Nacht hatte ich einen Traum.«

»Ja?«, fragte ich.

»Ich habe geträumt, dass Sie mich verlassen, dass Sie mich im Stich gelassen haben …«, sagte er.

Ich war sprachlos. Ich? Zelda la Grange? Nelson Mandela verlassen? Wie konnte er sich nur vorstellen, dass ich so etwas täte? Damals hatte ich schon fast zehn Jahre für ihn gearbeitet. Was konnte ihm das Gefühl vermitteln, ich würde ihn verlassen? Ganz im Gegenteil, aufgrund meiner frühen Kindheit war doch ich diejenige mit den Verlassensängsten. Ich musste ihn beruhigen. Dazu legte ich meine linke Hand auf seine linke, mit der er sich an meinem rechten Arm festhielt. »Khulu, ich würde so etwas niemals tun, und Sie sollten sich darüber bitte auch nie wieder Gedanken machen. Ich kann Ihnen versichern, dass ich Sie nicht verlassen werde.« Und dann fuhr ich weniger ernsthaft fort. »Außerdem glaube ich sowieso, dass Sie eher mich verlassen oder davonjagen werden, bevor ich Sie verlassen kann.«

Er sah mich an, lachte halbherzig und hob die Augenbrauen. »Das werde ich niemals tun.«

So herzlich war unsere Beziehung. Wir brauchten die gegenseitige Bestätigung. Wir kümmerten uns umeinander. Ich habe diesen Mann, der früher einmal als Volksfeind galt, lieben gelernt. Damals hatte er Angst in uns ausgelöst. Als weiße Afrikaaner im Südafrika der Apartheid aufgewachsen, hatten wir ein Leben lang eben die Menschen unterdrückt, die Nelson Mandela repräsentierte. Er war die Stimme der Unterdrückten und des Freiheitskampfes. Weniger als fünfzehn Jahre nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis stand ich nun hier und versuchte dem Mann, den wir einst verachtet hatten, mein hingebungsvolles Engagement zu erklären.

Apartheid war das System, das die weiße Regierung in den 1940er Jahren in Südafrika eingeführt hatte. Apartheid befürwortete die Vormachtstellung der Weißen und die Unterdrückung der Schwarzen und war ein eindeutiges Gesetzeswerk, das in Südafrika für die Trennung und Segregation von Weißen und Schwarzen sorgte. Die Apartheidsgesetze wurden in Kirchen und Schulen, an Stränden und in Restaurants sowie an all den Orten gewahrt, wo sich die weiße Minderheit durch die Gegenwart schwarzer Menschen eingeschüchtert fühlen könnte.

Dennoch ging ich als Erwachsene den Großteil meines Berufslebens neben Nelson Mandela her – wobei wir uns aneinander festhielten. Ich war ein junges Afrikaanermädchen, dessen Ansichten und Denkweise von dem größten Staatsmann unserer Zeit verändert wurden. Doch für mich war er mehr als mein moralisches Gewissen. Ich hatte gelernt, Zuneigung für ihn zu empfinden – weil er Zuneigung für mich empfand. Er prägte und änderte mein Denken, denn dass er eine weiße, Afrikaans sprechende junge Frau als seine persönliche Assistentin einstellte, war nicht nur beispiellos, es war schlicht undenkbar.

ERSTER TEIL

»Wenn es nicht gut ist,
lass es sterben«


1970–1994

1

Kindheit

Am 29. Oktober 1970 kam ich in Südafrika, in Boksburg, östlich von Johannesburg, auf die Welt und wurde nicht ausgesetzt, sondern sollte es zu etwas bringen, wie die meisten Babys, die in diese Welt hineingeboren werden.

Am gleichen Tag begann für Nelson Mandela bereits sein neuntes Jahr im Gefängnis. Er war seit 1962 inhaftiert und dann im Laufe des Rivonia-Prozesses 1964 des Hochverrats schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Zusammen mit anderen politischen Gefangenen war er auf Robben Island, einer trostlosen Insel vor der Küste von Kapstadt, eingesperrt, weil sie Widerstand gegen die Apartheid geleistet hatten.

Damals arbeitete mein Vater für eine Baufirma, meine Mutter war Lehrerin. Sie waren sehr arm. Ihr einziges anderes Kind, mein Bruder Anton, war bei meiner Geburt drei Jahre alt. Da unsere Eltern weiß waren, genossen wir von Geburt an rechtliche Privilegien. So war es 1970 in Südafrika.

Obwohl die Familien meiner Eltern jeden Dezember denselben Urlaubsort besucht hatten, lernten sich meine Eltern erst in Boksburg kennen, als meine Mutter bereits auf Lehramt studierte und mein Vater bei der Post arbeitete.

Die Familie meines Großvaters stammt von französischen Hugenotten ab, die im Laufe der 1680er Jahre aus dem Süden Frankreichs geflohen waren, um der Verfolgung der Protestanten durch die katholische Amtsgewalt zu entkommen. Die Familie La Grange kam ursprünglich aus einer Gemeinde namens Cabrières in der Gegend von Avignon. In späteren Jahren entdeckte ich diesen Ort für mich und besuchte ihn im Zuge meiner Arbeit für Nelson Mandela zweimal.

Mein Vater war eines von zwei Geschwistern. Seine Eltern lebten in Mossel Bay, einer Küstenstadt an der malerischen Garden Route in der Kapprovinz. Die Schwester meiner Großmutter war die erste zur Apothekerin ausgebildete Frau in Südafrika. Bis zum heutigen Tag besitzt und führt die Familie Scholtz eine angesehene Apotheke in der Stadt Willowmore in der Provinz Ostkap. Folglich war sie eine recht beeindruckende Frau, zu der wir aufgrund ihrer einzigartigen Leistung selbstverständlich aufblickten.

Den Vater meines Dads hatte ich sehr gern. Er hieß Anthony Michael, aber wir nannten ihn einfach »Oupa Mike« (Opa Mike). Er besuchte uns ein paarmal im Jahr und wohnte dann jeweils wochenlang bei uns. Er rauchte Pfeife, und der Geruch des Rauchs störte uns. Immer saß er auf einem besonderen Stuhl und wischte die Hand ständig an der Armlehne ab. Seine Haut war alt und rissig, der Tabak steckte vom Pfeifestopfen in diesen Rissen fest. Wenn er unser Haus verließ, war die Armlehne – sehr zum Verdruss meiner Mutter – jedes Mal schwarz, aber niemand verbot ihm je, im Haus zu rauchen.

Meine Mutter war die Älteste von drei Geschwistern aus der Familie Strydom. Die einzige bekannte Familie mit diesem Nachnamen war diejenige von J. G. Strijdom (manchmal auch Strydom geschrieben), des sechsten Premierministers von Südafrika, der von 1954 bis 1958 im Amt gewesen war. Sein Nachfolger war der »Vater der Apartheid«, H. F. Verwoerd. Als ich als Kind etwas über Premierminister Strijdom lernte, redete ich mir ein, dass wir irgendwie miteinander verwandt wären, auch wenn keine echte Verbindung bestand.

Der Vater meiner Mutter war bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen, als meine Mutter erst zwölf Jahre alt war. Ich fragte sie häufig, ob sie sich noch an die Nacht erinnere, in der sie die Nachricht vom Tod ihres Vaters erhielten. Meist vermied sie, über dieses Thema zu sprechen, sagte jedoch, dass sie sich entsinne, geweckt worden zu sein, als jemand an ihre Haustür klopfte, und dann gehört zu haben, wie meine Großmutter hysterisch weinte.

Meine Großmutter hatte nicht viele Möglichkeiten, was das Aufziehen ihrer Kinder betraf. Sie erledigte Büroarbeit für die South African Railways. Damit war es ihr finanziell unmöglich, drei kleine Kinder allein großzuziehen.

Sie entschied, meine Mutter – da sie die Älteste war – in ein Waisenhaus zu schicken. Das Kinderheim befand sich in Kapstadt, weshalb meine Mutter diese Stadt bis zum heutigen Tag verabscheut. Für sie haftet ihr der Gestank des Verlassenwerdens an.

Meine Ma sah ihre Geschwister und meine Großmutter nur einmal im Jahr während der Ferien im Dezember. Beide Familien, die La Granges wie auch die Strydoms, zelteten während der Dezemberferien in derselben Gegend in der Nähe von Mossel Bay, nämlich in Hartenbos. Doch, wie gesagt, sie wussten nichts voneinander.

Die Kindheitserinnerungen meiner Mutter beschränken sich auf Leid, Vernachlässigung und Traurigkeit. Die Welt litt unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs und erholte sich nur langsam von der Wirtschaftskrise. Meine Mutter bekam diese Folgen, selbst als Afrikaanerkind in den 1940er Jahren in Südafrika, durch Armut zu spüren. Ich bewundere sie sehr dafür, dass sie meiner Großmutter gegenüber keinen Groll hegt, so schwierig die Umstände für meine Großmutter auch gewesen sein mögen.

Grandma Tilly, die Mutter meiner Mutter, war Teil unseres Alltags, obwohl sie meine Mutter als Kind weggegeben hatte. Sie wohnte in unserer Nähe, und ich besuchte sie oft auf meinem Heimweg von der Grundschule, da sie praktischerweise auf halbem Weg zwischen unserem Haus und der Schule lebte. Bevor Grandma Tilly näher zu uns zog, hatte sie auf der gegenüberliegenden Seite der Union Buildings gewohnt. Die Union Buildings auf dem Hügel über Pretoria, der administrativen Hauptstadt Südafrikas, waren von Herbert Baker gebaut worden und dienten als Sitz der Apartheid-Regierung. Imposant, monumental und schön – für meine Familie war es, als wohnte sie gegenüber des Weißen Hauses.

Jeden Sonntag kamen die La Granges und die Strydoms, die Familie meines Onkels, zum Mittagessen in die Wohnung meiner Gran und gingen anschließend auf den gepflegten Rasenflächen der Union Buildings spazieren. Die Union Buildings standen für absolute Autorität, also stiegen wir die Stufen mit großem Respekt hinauf. Meine Cousinen, mein Bruder und ich spielten auf dem Gelände, rollten immerzu lachend die abfallenden Rasenflächen hinunter. Wir waren glückliche Kinder, die im Südafrika der Apartheid aufwuchsen.

Wir waren eine typische privilegierte weiße Familie, die durch gute Schulbildung, den Genuss öffentlicher Dienstleistungen und das Gefühl, Anspruch auf das Land und seine Ressourcen zu haben, von der Apartheid profitierte. Die Apartheid war die politische Lösung unseres Regimes, um Segregation und die Trennung der Rassen, Klassen und Kulturen durchzusetzen.

In den späten 1950er Jahren ernannte der damalige Staatspräsident Hendrik Verwoerd die Apartheid zum »Programm«. »Unser Programm lautet gutnachbarliches Verhältnis«, was heißen sollte, der Afrikaaner kümmere sich um alle Volksgruppen in Südafrika. Doch in Wirklichkeit war die Apartheid eine Methode, Afrikaaner von der Wirtschaft, den Möglichkeiten und dem Reichtum an Bodenschätzen des Landes auf Kosten anderer profitieren zu lassen.

Bis in die Mitte der 1970er Jahre hatte die Apartheid-Regierung einen rassistischen Staat erschaffen, der auf Entscheidungen basierte, die in den Union Buildings getroffen worden waren. Schwarze und weiße Menschen wurden getrennt, und es war ihnen untersagt, über Rassengrenzen hinweg zu heiraten, sich anzufreunden, miteinander Sex zu haben oder in denselben Städten zu wohnen. Dies waren die Bestimmungen des sogenannten Group Areas Act in Südafrika, eines Versuches, Menschen daran zu hindern, sich frei zu bewegen und ihr Leben innerhalb derselben Grenzen zu leben. Schwarze durften nicht mit denselben Bussen fahren oder im selben Meer baden wie Weiße. Aufgrund seiner Apartheidspolitik wurde Südafrika 1974 von den Sitzungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen ausgeschlossen, und im Zuge einer 1977 verabschiedeten Resolution wurde ein gesetzlich vorgeschriebenes Waffenembargo gegen uns verhängt. Doch die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich lehnten den Ausschluss Südafrikas aus der UNO ab, obwohl dieser in etlichen Resolutionen gefordert wurde.

Auch wenn mein Land ein internationaler Außenseiter war, spielten und lachten wir Kinder weiterhin am Sitz der Regierung. Das lag daran, dass mein Volk geschützt war. Geschützt vor Männern wie Nelson Mandela. Menschen wie ihn fürchteten wir – sie waren schwarz und fest entschlossen, die Regierung zu stürzen und die weiße Überlegenheit infrage zu stellen.

Meine Eltern waren beide keine Politiker und arbeiteten auch nicht für die Regierung. Doch wir unterstützten das Regime. Damit waren wir wohl auch Rassisten. Damals entsprachen wir der typischen Afrikaaner-Mittelschichts-Familie: gesetzestreue Bürger und Cheerleader für alles, was Kirche und Regierung vorschrieben. Unser Respekt vor Autorität und die Verbindung zur Niederländisch-reformierten Kirche ersetzten den gesunden Menschenverstand. Wie jede andere Afrikaans-Familie gingen wir ausnahmslos jeden Sonntagmorgen in die Kirche und nahmen an allen damit einhergehenden Aktivitäten teil, um uns als Vorzeigebürger zu präsentieren.

Bei uns zu Hause herrschte Apartheid. Wir lebten die Segregation. All dies war akzeptabel und unumstößlich, nicht nur, weil die Regierung der an der Macht befindlichen National Party es so vorschrieb, sondern auch, weil unsere Kirche es befürwortete.

Schwarz war jeder, der nicht weiß war. Farbige und Inder waren in unseren Augen auch schwarz. »Farbige Menschen«, die im Südafrikanischen als »brown people« bezeichnet werden, stammten von anderen Volksgruppen ab, genau wie die Afrikaaner, aber manche ihrer Vorfahren waren dunkelhäutig. Deshalb wurden sie in Südafrika als »schwarz« eingestuft.

Der weiße Afrikaaner weist einen gemischten Stammbaum auf, mit holländischem, französischem, deutschem und britischem Blut. Obwohl es damals undenkbar gewesen wäre, haben wissenschaftliche Studien mittlerweile ergeben, dass beinahe alle weißen Afrikaaner DNS besitzen, die sich auf schwarze und farbige Vorfahren in Südafrika zurückführen lässt – Fakten, die nicht alle weißen Afrikaaner ohne Weiteres akzeptieren.

Zu Zeiten der Apartheid machte man sich keinerlei Gedanken über solche Dinge, sondern lebte einfach vor sich hin. Ich wusste, dass alle Schwarzen ein Passbuch bei sich tragen und ihre Passbücher ohne besonderen Grund der Polizei vorzeigen mussten, wenn sie angehalten wurden. Ich wusste aber nicht, dass sie sich nur in Gegenden aufhalten durften, zu denen sie laut ihrer Pässe Zutritt hatten. Wenn sie für eine bestimmte Gegend keinen Pass vorweisen konnten, wurden sie wegen Verletzung des Passgesetzes verhaftet und ins Gefängnis geworfen, bevor man sie in ihre eigene Region abschob. Besaß man einen Pass für Johannesburg, konnte man sich nicht in Pretoria aufhalten – zwei knapp dreißig Meilen voneinander entfernte Städte. Auf diese Weise gelang es der Regierung, die Bewegungen der Schwarzen zu kontrollieren.

Laut unserer Kirche waren wir im Recht. Wir handelten »rechtens«. Und ja, es war auch rechts, in der Bedeutung einer rechten Gesinnung. Der ultimative Konservatismus.

Wie die meisten weißen Familien hatten wir eine schwarze Haushaltshilfe bei uns wohnen. Sie hieß Jogabeth. Rückblickend lässt sich eigentlich nur sagen, dass die meisten weißen Kinder meines Alters von Schwarzen großgezogen wurden. Es waren nämlich nicht nur Hausangestellte, sondern auch Ersatzmütter. In meiner Kindheit war Jogabeth bis zu einem gewissen Grad und innerhalb von Grenzen – Apartheidsgrenzen – Teil unserer Familie. Sie lebte in einem Hinterzimmer mit Toilette, aber ohne Badewanne oder Dusche. Sie hatte einen separaten Becher und separates Besteck und durfte »unsere« Sachen nicht benutzen. Ich kann mich zwar nicht erinnern, dass meine Eltern ihr je gesagt hätten, sie dürfe keine unserer Sachen benutzen, aber sie wusste es und wir wussten es. Es blieb unausgesprochen. Dennoch war Jogabeth meine Rettungsleine.

Einen Schwarzen zu berühren war tabu. Abgesehen von dem Umstand, dass man Weiße als überlegen betrachtete, zog man uns in dem Glauben groß, dass Schwarze nicht so sauber wie wir wären, angeblich rochen sie anders, und auch die Beschaffenheit ihrer Haare war anders als bei uns. Man dachte nicht im Traum daran, die Haare oder das Gesicht eines schwarzen Menschen zu berühren. Das war einfach unvorstellbar. Dennoch trug mich Jogabeth auf dem Rücken, als ich noch ein Kleinkind war. Auch wenn ich niemals ihre Haare angefasst hätte, spendeten mir ihre Hände, Arme und ihr Busen jedes Mal Trost, wenn ich trostbedürftig war. Weil sie uns Kinder großzog, war sie in unseren Augen nicht so schwarz wie andere Schwarze. Sie stellte keine Bedrohung für uns dar, sie diente uns – folglich war sie für uns annehmbarer als andere schwarze Menschen.

Ich erinnere mich an viele Gelegenheiten, wenn mein Bruder mich ärgerte und Jogabeth mich trösten musste, nachdem ich die Schlacht verloren hatte. Sie war mein Zufluchtsort, und ich wusste, solange sie sich um mich kümmerte, war ich vor den Schikanen meines Bruders in Sicherheit. Bei solchen Gelegenheiten fand ich damals Trost in ihren Armen, dicht an ihrer Brust.

Als ich zwölf war und mein Vater für die South African Breweries arbeitete, wo er es letztlich bis zum Logistikleiter brachte, spielten politische Unruhen aufgrund der Apartheid zum ersten Mal in meinem Leben eine Rolle. Das Hauptquartier der SAB befand sich im Poyntons Building in der Church Street, Pretoria. Am Freitag, den 20. Mai 1983 sollte mein Vater geschäftlich nach Kapstadt fliegen. Kurz vor 16 Uhr erschütterte eine Bombenexplosion die ganze Stadt Pretoria bis in ihre Grundfesten. Der Vorfall kam sofort in den Nachrichten, und es hieß, die Autobombe sei direkt vor dem Poyntons Building detoniert.

Daraufhin rief meine Mutter sofort bei meinem Dad im Büro an, doch niemand ging an den Apparat. Sie rief gegen 18 Uhr beim Flughafen an, um nachzuprüfen, ob er geflogen war, doch die Flughafenbehörde weigerte sich wie immer, Auskunft über Passagiere zu erteilen. Wir fanden niemanden, der bestätigen konnte, ob sich mein Dad während des Anschlags immer noch in dem Gebäude aufgehalten hatte, ob er es sicher vor dem Zeitpunkt der Explosion verlassen hatte oder ob er möglicherweise zurzeit des Anschlags vorübergegangen oder aus der Tiefgarage gefahren war. In der Nähe des Sitzes seiner Firma hatte er häufig Geschäftsessen in Restaurants, und wir fürchteten schon das Schlimmste. Erst gegen neun Uhr abends, bei seiner Ankunft in dem Hotel in Kapstadt, rief er an, um uns Bescheid zu geben, dass er in Sicherheit sei. Das waren die längsten fünf Stunden meines Lebens. Wir waren erleichtert, dass er unversehrt war. Ich fragte nicht, warum der Widerstand gegen die Apartheid so heftig ausfiel oder derart brutale Formen annahm. Die Gewalt bestärkte mich nur noch in dem Glauben an die Apartheid, und damit an den naturgegebenen Unterschied zwischen Schwarz und Weiß.

Umkhonto we Sizwe (MK), der militärische Arm der Oppositionsorganisation African National Congress, übernahm die Verantwortung für den Bombenanschlag, bei dem 19 Menschen ums Leben kamen – acht Schwarze und elf Weiße. Außerdem gab es mehr als 217 Verletzte. Die Bombe in der Church Street ging mitten im Berufsverkehr hoch. Die beiden an der Planung und Durchführung des Bombenanschlags beteiligten Männer waren ebenfalls ums Leben gekommen, da die Bombe versehentlich zu früh detoniert war.

Umkhonto we Sizwe, der »Speer der Nation«, wurde 1961 gegründet, nachdem Nelson Mandela und andere Gründungsmitglieder des MK entschieden hatten, dass Gewalt in Südafrika zunehmend zur einzigen Möglichkeit wurde, der von der Apartheid-Regierung ausgeübten Gewalt zu begegnen. Da die Regierung Gewalt einsetzte, um den ANC zu bekämpfen und Schwarze durch die Apartheidsgesetze zu unterdrücken, war der MK die Reaktion des ANC auf ebendiese Gewalt. In Nelson Mandelas Rede während der Schlussmomente des Rivonia-Prozesses 1964, als er wegen terroristischer Akte angeklagt wurde, und nachdem er und andere zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden waren, stellte er über den MK fest: »Es wäre unrealistisch und falsch von afrikanischen Führern, weiterhin Frieden und Gewaltlosigkeit zu predigen – in einer Zeit, in der die Regierung unseren friedlichen Forderungen mit Gewalt begegnet.«

Nachdem Mr. Mandela 1962 nach Äthiopien und Marokko gegangen war, um sich militärisch ausbilden zu lassen und Unterstützung für den MK zu sichern, war er zur Gewalt bereit. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob er während seiner Haft wusste, was die Kader des ANC draußen taten, und ob man die Inhaftierten bezüglich solcher Gewaltakte zu Rate zog. 1983 war Oliver Tambo Präsident des ANC. Nelson Mandela war damals bereits fünfundsechzig, verbrachte sein zwanzigstes Jahr in Haft, und die Kommunikation mit Gefangenen war schwierig. Ich fragte ihn später, ob er von dem Bombenanschlag in der Church Street gewusst habe, und er sagte, man habe sie erst nach dem Vorfall informiert.

Der ANC wusste, dass er das rassistische Regime zum Handeln zwingen musste. Zu diesem Zweck würden sie Gewalt anwenden müssen. Die Regierung war nicht bereit, die Apartheid abzuschaffen oder die Lebensbedingungen der Schwarzen zu verbessern, lieber bekämpfte man den schwarzen Widerstand mit Gewalt. Die Reaktion des ANC daraufhin war eine gewaltsame. Sie taten dies, indem sie sich auf strategisch wichtige, für den Staat entscheidende Einrichtungen konzentrierten. Das Poytons Building war von strategischer Bedeutung, da sich darin das Hauptquartier der südafrikanischen Luftwaffe befand.

Im Allgemeinen nahm ich nicht wahr, was im Land vor sich ging, weder die Armut der Schwarzen noch die Gewalt, doch ich wusste, dass wir in getrennten Kokons lebten und einander in einer erbitterten Schlacht bekämpften, weil wir nicht nebeneinander existieren konnten. Aufgrund unserer Lebensweise wurde uns von klein auf eingebläut, sich abzuwenden und wegzugehen, wenn sich einem ein Schwarzer näherte. Man führte keine Unterhaltungen und hatte sogar Angst vor ihnen. Sie waren nicht unsere Freunde. Ich war recht zufrieden mit meinem Leben, wie es war, und wusste von jungen Jahren an, dass wir Türen und Fenster zusperrten, weil wir Angst hatten, nachts von schwarzen Menschen überfallen zu werden. Es kam mir nie in den Sinn, dass uns auch weiße Menschen Schaden zufügen könnten. Immer waren es »Schwarze«. Ich fragte nicht, warum sie uns überfallen könnten oder wer sie waren oder wie ihr Leben aussah. Ich wusste nur, dass sie gefährlich waren.

Sonntags beteten wir feierlich in der Kirche für die Männer, die unsere Grenzen verteidigten. Es war richtig, weil alle anderen es auch taten. Na ja, alle anderen Weißen in meiner Gemeinde. Ich wusste nicht, um welche Grenzen es sich handelte, aber ich wusste, dass sie gegen Schwarze kämpften. Mein Wissen beschränkte sich darauf, dass Weiße die Grenzen vor dem Eindringen weiterer schwarzer Menschen schützten. Wie eigenartig, dass man dann nicht die Frage stellte, welche schwarzen Menschen dies waren. Schützten wir unsere Grenzen gegen das Eindringen weiterer schwarzer Menschen, oder schützten wir unsere Grenzen gegen andere militärische Truppen in der Region, die in Südafrika eindringen mochten, um den ANC zu unterstützen? Man bekam lediglich zu hören: Wir kämpfen gegen schwarze Kommunisten. Ich wuchs in dem Glauben auf, alle Schwarzen wären Kommunisten und Atheisten. Doch sonntags versammelten sich Schwarze in kleinen Gruppen unter freiem Himmel und hielten Gottesdienste ab. Ich ignorierte diesen Anblick und kann mich nicht erinnern, dass mich der Widerspruch zu dem, was man mir beigebracht hatte, je gestört hätte. Als Kind ist es leicht mitzulaufen, wenn man in einer sicheren Umgebung aufwächst. Wäre ich unterdrückt gewesen, ohne eine anständige Schule, ohne ein richtiges Haus, ohne Strom- und Wasserversorgung, ich hätte vielleicht andere Fragen gestellt, und mein Gehirn hätte sich schon in jungen Jahren mit Fragen der Ungerechtigkeit beschäftigt. Aber dem war nicht so.

Außerdem ist mir heute klar, dass sich die Gemeinschaft, in der man aufwächst, für eine bestimmte Lebensart entscheidet. Die Menschen um einen herum, die Erwachsenen, bestimmen, was gesellschaftlich akzeptabel ist und was nicht. Man lebt dieses Leben, ohne dass einem klar wird, dass es jenseits davon auch noch Leben gibt: Themen, Politik, Weltgeschehen und Trends, die Einfluss auf die eigene Welt haben. Wenn man behaglich lebt, stellt man keine Fragen, und ich hatte keinen Grund, infrage zu stellen, was außerhalb unserer vier Wände vor sich ging. Kein Mensch wird als Rassist geboren. Man wird erst durch die Einflüsse um einen herum zum Rassisten. Und ich war mit dreizehn Jahren zur Rassistin geworden. Dieser Rechnung zufolge hätte ich niemals zu der Assistentin werden dürfen, die dann am längsten für Nelson Mandela tätig gewesen ist. Doch genau das geschah.