Alex Cross ist völlig entsetzt. Viele schöne Stunden hat er bei seiner guten Freundin Ellie Cox und deren Familie verbracht, doch jetzt ist ihr Haus der Schauplatz eines blutigen Verbrechens geworden. Und das ist erst der Anfang, auch andere Familien sterben einen blutigen Tod. Noch schlimmer ist es für Alex Cross und seine Partnerin, Detective Brianna Stone, allerdings, als sie die ersten Spuren zu den Tätern finden: Es sind Teenager! Mitglieder einer beinahe militärisch organisierten Straßengang begehen diese grausamen Verbrechen. Angeführt von einem Mann mit besten Beziehungen zur nigerianischen Unterwelt, den sie den Tiger nennen. Als endlich Tigers Verhaftung möglich scheint, verschwindet der Mann spurlos. Der teuflische Killer ist zurück nach Afrika geflohen, und es gibt nur eine Art, wie er seine gerechte Strafe finden wird. Alex Cross muss ihm nach Afrika folgen – und zwar allei
n
…
Autor
James Patterson, geboren 1949, war Kreativdirektor bei einer großen amerikanischen Werbeagentur. Seine Thriller um den Kriminalpsychologen Alex Cross machten ihn zu einem der erfolgreichsten Bestsellerautoren der Welt. Inzwischen erreicht auch jeder Roman seiner neuen packenden Thrillerserie um Detective Lindsay Boxer und den »Women’s Murder Club« regelmäßig die Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten. James Patterson lebt mit seiner Familie in Palm Beach und Westchester, N.Y.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.jamespatterson.com
Liste lieferbarer Titel
Die Alex-Cross-Romane:
Stunde der Rache (7; 35892) – Mauer des Schweigens (8; 35988) –
Vor aller Augen (9; 36167) – Und erlöse uns von dem Bösen (10; 36232) –
Ave Maria (11; 36406) – Blood (12; 36855) – Dead (13; 37204)
Der »Women
’
s Murder Club«:
Der 1. Mord (36919) – Die 2. Chance (36920) – Der 3. Grad (36921) –
Die 4. Frau (36756) – Die 5. Plage (37037) – Die 6. Geisel (37228) –
Die 7 Sünden (geb. Ausgabe, Limes Verlag 2550)
Fire
Thriller
Aus dem Amerikanischen
von Helmut Splinter
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel
»Cross Country« bei Little, Brown and Company,
Hachette Book Group USA, New York.
1. Auflage
Taschenbuchausgabe August 2010 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH, München.
Copyright © by James Patterson, 2008
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
by Blanvalet Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Published by arrangement with Linda Michaels Limited,
International Agents Limited.
Redaktion: Regine Kirtschig
Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (© Dave Pusey, © ostill)
MD ∙ Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-04893-8
V002
www.blanvalet.de
Für Jill und Avie Glazer
Hausfriedensbruch
Georgetown, Washington, D.C.
Die Familie hieß Cox, der Vater war ein sehr erfolgreicher Anwalt, doch das Ziel war die Mutter, Ellie Randall Cox. Der Zeitpunkt war genau richtig, heute Nacht, in nur wenigen Minuten. Der Tag der Abrechnung hätte nicht besser gewählt werden können.
Der fast zwei Meter große, hundertzwanzig Kilo schwere Mörder, bekannt als »der Tiger«, hatte seiner Mannschaft Waffen und ein Gramm Kokain, das sie sich teilen sollten, ausgehändigt, die einzige Anweisung für diesen Abend lautete: Die Mutter gehört mir, den Rest bringt ihr um.
Das sekundäre Auftragsziel war, den Amerikanern Angst einzujagen, die überall ungefragt mitmischen mussten. Er wusste, wie sie zu Hausfriedensbruch, zu ihren geschätzten Familien und zu kaltblütigem Mord standen. Sie hatten so viele Regeln, wie das Leben gelebt werden sollte. Wenn man sie treffen wollte, musste man nur all ihre dummen, heiligen Regeln brechen.
Er machte es sich bequem, während er das Haus von der Straße aus beobachtete. Fensterläden aus Holz im Erdgeschoss zogen horizontale Linien über die Familienmitglieder, die im Innern hin und her liefen, ohne der mörderischen Gefahr gewahr zu werden, die draußen lauerte.
Die Jungs standen ungeduldig neben Tiger, und er wartete auf seinen Instinkt, der ihm sagte, wann sie das Haus stürmen sollten.
»Jetzt«, befahl er. »Auf geht’s!«
Dann begann er, mit nur leichten Bewegungen der Knie aus dem schützenden Schatten eines immergrünen Strauchs so schnell zu rennen, dass seine Schritte kaum mehr zu zählen waren.
Ein einzelner, kräftiger Sprung, und er befand sich auf der Veranda vor dem Haus. Es folgten drei Schläge auf die Haustür, die zu explodieren schien, und schon waren sie drin, die Mörder, fünf an der Zahl.
Die Jungs, keiner älter als siebzehn, drängten nach ihm herein, schossen mit ihren Berettas in die Wohnzimmerdecke, wedelten mit einfachen Jagdmessern und schrien Befehle, die kaum jemand verstand, weil ihr Englisch noch schlechter war als das von Tiger.
Die Kinder schrien wie kleine Ferkel, ihr Vater, der Anwalt, sprang auf und versuchte, sie mit seinem schwammigen, überfressenen Körper zu schützen.
»Du bist echt jämmerlich!«, rief Tiger ihm zu. »Du kannst nicht mal deine Familie in deinem eigenen Haus schützen.«
Der Anwalt und seine zwei Kinder wurden gegen den Kamin gedrängt, der mit Geburtstagskarten für »Mama« und »Meinem Schatz Ellie« und »Herzblatt und Sonnenschein« voll stand.
Der Anführer schob den Jüngsten seiner Jungs nach vorne, denjenigen, der sich den Namen Nike gegeben hatte und einen ansteckenden Sinn für Humor hatte. »Tu’s einfach«, forderte Tiger ihn auf.
Der Junge war elf Jahre alt und furchtlos wie ein Krokodil in einem schlammigen Fluss. Er hob eine Pistole, die viel größer war als seine Hand, und schoss in die Stirn des zitternden Vaters.
Die anderen Jungs johlten zustimmend, feuerten ihre Waffen in alle Richtungen ab, warfen antike Möbel um, zerbrachen Spiegel und Fenster. Die Cox-Kinder klammerten sich weinend aneinander.
Ein besonders gruseliger Junge mit ausdruckslosem Gesicht und einem Sweatshirt der Houston Rockets leerte sein Magazin in den Breitbildfernseher und lud seine Waffe erneut. »Stellt det Haus aufn Kopp!«, rief er.
Schließlich kam die Mutter, »Mein Schatz Ellie«, »Herzblatt und Sonnenschein«, schreiend die Treppe heruntergerannt, um ihre Akata-Babys zu schützen.
»Lasst sie aus dem Spiel!«, schrie sie den großen und sehr muskulösen Anführer an. »Ich weiß, wer ihr seid!«
»Natürlich weißt du das, Mutter.« Tiger lächelte die große, matronenhafte Frau an. Er verspürte nicht den Wunsch, ihr etwas anzutun. Er erledigte nur einen Auftrag. Einen gut bezahlten Auftrag, der für jemanden hier in Washington sehr wichtig war.
Die beiden Kinder wollten zu ihrer Mutter krabbeln. Seine Jungs schossen Löcher ins Polster, als die winselnden amerikanischen Kids wie in einem grotesken Katz-und-Maus-Spiel hinter das Sofa krochen.
Als sie auf der anderen Seite wieder auftauchten, stand Tiger schon bereit, um den quiekenden Sohn mit einer Hand vom Boden hochzuheben. Das Mädchen im Schlafanzug war etwas schlauer und rannte die Treppe nach oben. Ihre rosa Fußsohlen schienen bei jedem Schritt zu leuchten.
»Los, Schatz!«, rief ihr ihre Mutter hinterher. »Spring aus dem Fenster! Lauf! Bleib nicht stehen!«
»Das wird nicht klappen«, klärte Tiger sie auf. »Niemand kommt heute Abend hier raus, Mutter.«
»Tut das nicht!«, bettelte sie. »Lasst sie gehen! Sie sind doch noch Kinder!«
»Du weißt, wer ich bin«, sagte er. »Also weißt du, wie das hier endet. Das wusstest du von Anfang an. Schau dir an, was du dir und deiner Familie eingebrockt hast. Es ist allein deine Schuld.«
Zu spät zur Party
Die am schwierigsten zu lösenden Rätsel sind diejenigen, bei denen man sich dem Ende nähert, weil es nicht genügend Beweise, nicht genügend zu enthüllen gibt, sofern man nicht irgendwie wieder ganz zum Anfang zurückfindet – man muss sozusagen zurückspulen und erneut abspielen.
Ich fuhr im Schoß der Bequemlichkeit und der Zivilisation, meinem einjährigen Mercedes. Ich dachte darüber nach, wie seltsam es war, wieder an einen Tatort zu fahren. Dann war ich da und stieg aus meinem Wagen aus, während ich versuchte, den inneren Konflikt zu lösen, ob ich mich wieder auf die dunkle Seite begeben sollte oder nicht.
Ich fragte mich, ob ich schon zu verweichlicht für diese Art der Arbeit war, ließ meine Zweifel aber wieder fallen. Ich war nicht weich. Wenn überhaupt, war ich zu hart, zu unnachgiebig, zu kompromisslos.
Dann dachte ich, dass zufällige, sinnlose Morde besonders grausam waren, und um einen solchen Mord ging es hier. Davon ging man jedenfalls aus. Das wurde mir gesagt, als ich zu Hause angerufen worden war.
»Ziemlich übel da drin, Dr. Cross. Fünf Opfer. Eine ganze Familie.«
»Ja, das weiß ich. Das hat man mir bereits gesagt.«
Einer der Ersten, der auf den Notruf reagiert hatte, ein junger Polizist namens Michael Fescoe, kam mir vor dem Haus in Georgetown in der Nähe der Universität entgegen. An dieser Uni hatte ich mein Studium begonnen, und ich erinnerte mich aus allen möglichen Gründen gerne an sie, vor allem jedoch, weil sie das Risiko mit mir eingegangen war.
Michael war sichtlich erschüttert, was nicht überraschend war. Wegen eines gewöhnlichen Mordes rief mich das Metropolitan Police Department an einem Samstagabend sicher nicht an.
»Was haben wir bisher?«, fragte ich Fescoe und zeigte meine Dienstmarke einem Streifenpolizisten, der den Tatort bewachte. Schließlich duckte ich mich vorm Haus unter dem leuchtend gelben Absperrband hindurch.
Hübsches Haus, drei Etagen, Kolonialstil auf dem Cambridge Place, einem betuchten Viertel gleich südlich des Montrose Park.
Nachbarn und Gaffer drängten sich auf dem Bürgersteig, hielten sich aber in ihren Schlafanzügen und Morgenmänteln in reservierter Saubermann-Manier in sicherem Abstand.
»Fünfköpfige Familie, alle tot«, wiederholte Fescoe. »Sie heißt Cox. Vater: Reeve. Mutter: Eleanor. Sohn: James. Alle im Erdgeschoss. Töchter Nicole und Clara im zweiten Stock. Überall ist Blut. Sieht aus, als wären sie zuerst erschossen, dann ziemlich übel zersägt und auf Haufen gestapelt worden.«
Gestapelt. Der Klang dieses Wortes gefiel mir nicht. Weder in diesem hübschen Haus noch sonst wo.
»Schon jemand von der Kripo da? Wer leitet die Ermittlung?«, fragte ich.
»Detective Stone ist oben. Sie ist diejenige, die mich gebeten hat, Sie anzupiepsen. Gerichtsmediziner ist noch auf dem Weg. Vielleicht gleich mehrere. Gott, was für ein Abend.«
»Da haben Sie wohl recht.«
Bree Stone war ein leuchtender Stern in der Branche der Gewaltverbrechen und eine der wenigen Detectives, bei der ich keine Einwände hatte, sie als Partnerin zu nehmen – Zweideutigkeit inbegriffen, da wir seit mehr als einem Jahr ein Paar waren.
»Geben Sie Detective Stone Bescheid, dass ich hier bin«, wies ich ihn an. »Ich werde unten anfangen und mich zu ihr nach oben durcharbeiten.«
»Wird gemacht, Sir. Bin schon dabei.«
Fescoe begleitete mich die Verandastufen hinauf und an einem Techniker der Spurensicherung vorbei, der sich an der zerstörten Haustür zu schaffen machte.
»Natürlich gewaltsamer Einbruch«, fuhr Fescoe fort. Er wurde rot, wahrscheinlich, weil er nur das sagte, was offensichtlich war. »Außerdem ist oben im zweiten Stock eine Dachluke offen. Sieht aus, als wären sie dort hinaus geflohen.«
»Sie?«
»Würde ich sagen, ja – in Anbetracht des Schadens, der da drin angerichtet wurde. So was habe ich noch nie gesehen, Sir. Hören Sie, wenn Sie noch irgendwas brauchen …«
»… dann gebe ich Ihnen Bescheid. Danke. Es ist besser, wenn ich das allein erledige. Dann kann ich mich besser konzentrieren.«
Mein Ruf schien Polizisten anzulocken, die auf große Fälle hungrig waren, was seine Vorteile haben kann. Doch jetzt wollte ich den Tatort allein auf mich wirken lassen. Angesichts der finsteren, stahlharten Blicke der Leute von der Spurensicherung, die ich gesehen hatte, als ich von der Rückseite des Hauses gekommen war, wusste ich, dass die Angelegenheit ganz schnell höchst schwierig werden würde.
Es zeigte sich später, dass ich auch nicht annähernd ahnte, wie dramatisch der Mord an dieser Familie tatsächlich war.
Viel, viel dramatischer.
Sie wollten jemandem Angst einjagen, dachte ich, als ich einen hell erleuchteten, freundlich dekorierten Vorraum betrat. Aber wem? Diesen Toten sicher nicht. Nicht dieser armen Familie, die aus weiß Gott welchen Gründen abgeschlachtet worden war.
Das Erdgeschoss erzählte eine finstere, unheilvolle Geschichte über den Mord. Fast jedes Möbelstück im Wohn- und Esszimmer war entweder umgekippt oder zerstört worden oder beides. In den Wänden klafften riesige Löcher, daneben Dutzende kleinerer. Ein antiker Kristallleuchter lag zerschellt auf einem bunten Orientteppich.
Der Tatort ergab keinen Sinn, und was schlimmer war: In meiner Laufbahn als Detective bei der Mordkommission hatte ich dergleichen bisher nicht gesehen.
Ein von Schüssen durchfurchtes Chesterfield-Sofa und eine gepolsterte Sitzbank waren an eine Wand geschoben worden, um Platz vor dem Kamin zu schaffen. Hier waren die Leichen gestapelt worden.
Obwohl sich mit Sicherheit sagen lässt, dass ich im Rahmen meiner Arbeit einen Haufen Mist erlebe, fühlte ich mich angesichts dieses ungeheuerlichen Tatorts wie vor den Kopf gestoßen.
Wie Fescoe angekündigt hatte, waren die Opfer aufgestapelt worden: der Vater, die Mutter und ganz oben der Sohn, alle mit dem Gesicht nach oben. Wände, Möbel und Decke waren mit Blut bespritzt, eine Lache hatte sich um die Leichen gebildet. Diese armen Menschen waren mit scharfen Werkzeugen angegriffen und ihnen waren einige Gliedmaßen abgetrennt worden.
»Jesus Maria«, flüsterte ich. Es war ein Gebet. Oder ein Fluch für die Mörder. Wahrscheinlich beides.
Einer der Fingerabdruckspezialisten flüsterte ein Amen.
Keiner blickte den anderen an. Durch einen Tatort dieses Kalibers beißt man sich allein. Und man versucht, das Haus seelisch wenigstens einigermaßen unversehrt wieder zu verlassen.
Das im Zimmer verteilte Blut legte nahe, dass die Familienmitglieder getrennt angegriffen und dann in die Mitte gezerrt worden waren.
Irgendetwas hatte diese unbändige Wut in den Mördern ausgelöst. Ja, ich stimmte Fescoe zu, dass es sich um mehrere Mörder handelte. Doch was genau war passiert? Was war der Grund für dieses Massaker? Drogen? Ein Ritual? Eine Psychose?
Eine Gruppenpsychose?
Ich legte die spontan strömenden Gedanken beiseite, um sie ein andermal zu bearbeiten. Zuerst die Methode, dann das Motiv.
Langsam ging ich um die Leichen und Leichenteile herum, sorgfältig die Blutlachen meidend. Die Schnittverletzungen schienen in keinem Zusammenhang zu stehen. Die Morde eigentlich auch nicht.
Die Kehle des Sohnes war durchgeschnitten, auf der Stirn des Vaters prangte eine Schussverletzung, und der Kopf der Mutter war auf unnatürliche Weise verdreht, als hätte man ihr den Hals gebrochen.
Ich ging einmal um die Leichen herum, um der Mutter ins Gesicht zu blicken. Sie schien direkt zu mir aufzuschauen, fast hoffnungsvoll, als könnte ich sie noch retten.
Ich beugte mich nach unten, um sie mir genauer anzusehen, bis mir plötzlich schwindlig wurde. Meine Knie wurden weich. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah.
Oh, nein! Oh, mein Gott, nein!
Mir wurde schwarz vor Augen, als ich zurücktrat und auf einem Blutfleck ausrutschte. Um den Sturz abzufedern, streckte ich die Arme aus und zog mit den Handschuhen eine dunkelrote Spur über den Boden.
Mit Ellie Randalls Blut. Nicht dem von Ellie Cox, sondern dem von Ellie Randall!
Ich kannte sie – zumindest hatte ich sie einmal gekannt.
Vor langer, langer Zeit, während unseres Studiums in Georgetown, war Ellie meine Freundin gewesen. Wahrscheinlich war sie die erste Frau gewesen, die ich geliebt hatte.
Und jetzt war Ellie mitsamt ihrer Familie ermordet worden.
Einer der Fingerabdruckspezialisten eilte herbei, um mir zu helfen, doch ich war rasch wieder allein auf den Beinen. Ob ich wegen Ellie unter Schock stand? »Nichts passiert. Mir geht’s gut. Wie heißt die Familie noch mal?«, fragte ich den Spezialisten.
»Cox, Sir. Reeve, Eleanor und James heißen die Opfer im Wohnzimmer.«
Eleanor Cox. Stimmt, jetzt erinnerte ich mich. Ich blickte zu Ellie hinab, während mein Herz raste und sich Tränen in meinen Augenwinkeln bildeten. Sie hatte damals Ellie Randall geheißen, eine gescheite, attraktive Geschichtsstudentin, die an der Georgetown University Unterschriften gegen die Apartheid gesammelt hatte. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass ihr Leben einmal so enden würde.
»Brauchen Sie was?«, fragte Fescoe, der mir ins Haus gefolgt war.
»Äh … besorgen Sie mir eine Mülltüte oder so was, bitte. Danke.«
Ich zog meine Windjacke aus und versuchte, mich damit abzuputzen, bevor ich sie in die Tüte stopfte, die Fescoe mir gebracht hatte. Ich musste in Bewegung bleiben und dieses Zimmer verlassen, zumindest im Moment.
Als ich Richtung Treppe ging, kam Bree gerade herunter.
»Alex? Jesses Maria, was ist mit dir passiert?«, fragte sie.
Ich wusste, wenn ich anfangen würde, ihr die Sache zu erklären, könnte ich nicht wieder aufhören. »Lass uns später darüber sprechen«, wimmelte ich sie ab. »Was ist oben los?«
Sie blickte mich seltsam an, drängte mich aber zu keiner weiteren Erklärung. »Dieselbe üble Geschichte wie hier unten. Zweiter Stock. Zwei weitere Kinder. Ich glaube, sie haben versucht, sich vor den Mördern zu verstecken, hat aber nicht funktioniert.«
Der Blitz eines Fotoapparates geisterte durchs Treppenhaus, als wir hinaufgingen. Alles um mich herum wirkte unwirklich, als stünde ich unter Drogen. Ich befand mich außerhalb des Tatorts und beobachtete mich, wie ich dort umherstapfte. Ellie war umgebracht worden. Diesen Gedanken konnte ich nicht verarbeiten, so oft ich es auch versuchte.
»Kein Blut auf den Treppen oder im Flur«, bemerkte ich in dem Versuch, mich auf die Beweise, auf meine Arbeit zu konzentrieren. Die Dachluke stand offen, und es war eiskalt. Dritter November, der Wetterbericht hatte weniger als minus zehn Grad für die Nacht angekündigt. Selbst das Wetter war leicht durchgedreht.
»Alex?«
Bree wartete im zweiten Stock an der Tür zu einem Zimmer. Sie wich nicht aus, als ich auf sie zuging. »Bist du sicher, dass du mit diesem Tatort zurechtkommst?«, fragte sie leise, damit die anderen sie nicht hören konnten.
Ich nickte und spähte ins Zimmer.
Hinter Bree waren die Leichen der beiden kleinen Mädchen über Kreuz auf einen ovalen Teppich gelegt. Ein weißes Himmelbett war zertrümmert in sich zusammengefallen, als wäre jemand mit Wucht daraufgesprungen.
»Mir geht’s gut«, antwortete ich. »Ich will nur sehen, was hier passiert ist. Ich muss verstehen, was das hier alles zu bedeuten hat. Zum Beispiel, wer, zum Teufel, warum auf diesem Bett herumgesprungen ist!«
Aber ich verstand den Mord an einer fünfköpfigen Familie nicht einmal annähernd. Nicht an diesem Abend jedenfalls. Ich stand ebenso wie alle anderen vor einem Rätsel, was die möglichen Motive der Mörder betraf.
Was die Sache noch geheimnisvoller machte, war etwas, das passierte, nachdem ich bereits etwa eine Stunde am Tatort war. Zwei Beamte der CIA tauchten auf. Sie blickten sich um und gingen wieder. Was hatte die CIA hier zu suchen?
Es war kurz nach drei Uhr morgens, als Bree und ich endlich nach Hause in die Fifth Street fuhren. In der Stille meines Hauses schwebte Alis leises Bübchen-Schnarchen von oben herab. Ein beruhigendes und tröstendes Geräusch.
Nana Mama hatte das Dunstabzugshaubenlicht brennen lassen und einen Teller mit den letzten vier vom Nachtisch übrig gebliebenen Sirupplätzchen in Cellophan eingewickelt. Diese sowie zwei Gläser und eine halbe Flasche Wein nahmen wir mit nach oben.
Zwei Stunden später saß ich immer noch wach mit wirrem Kopf auf dem Bettrand. Bree richtete sich auf und schaltete das Licht ein. Ich spürte ihren warmen Körper hinter mir.
»Hast du überhaupt schon geschlafen?«, fragte sie.
Das war allerdings nicht das, was sie wissen wollte.
»Ich kannte die Mutter. Wir haben zusammen in Georgetown studiert. Wie konnte ihr so etwas nur passieren?«
Bree sog kräftig den Atem ein. »Es tut mir so leid, Alex. Warum hast du das nicht vorher gesagt?«
Ich zuckte mit den Schultern und seufzte. »Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich jetzt darüber reden kann.«
Sie nahm mich in die Arme. »Es ist in Ordnung. Du musst nicht reden, wenn du nicht willst, Alex. Ich bin hier.«
»Sie war meine beste Freundin, Bree. Wir waren ein Jahr lang zusammen. Ich weiß, es ist lange her, aber …« Meine Stimme erstarb. Aber was? Aber es war auch kein Kinderkram gewesen. »Ich habe sie eine Zeitlang geliebt, Bree. Ich bin völlig durch den Wind.«
»Willst du den Fall abgeben?«
»Nein.« Diese Frage hatte ich mir bereits selbst gestellt und die Antwort genauso schnell parat gehabt wie jetzt.
»Ich kann Sampson oder jemand anderen von der Gewaltkriminalität damit betrauen. Wir halten dich ständig auf dem Laufenden …«
»Bree, den hier kann ich nicht abgeben.«
»Den hier?« Sie streichelte sanft meinen Arm.
Ich holte tief Luft. Ich wusste, worauf Bree hinauswollte. »Es geht nicht um Maria, wenn es das ist, was du meinst.« Meine Frau Maria war erschossen worden, als unsere Kinder noch klein gewesen waren.
Ich hatte den Fall erst kürzlich abschließen können. Jahre der Qual und der Schuldgefühle waren vorausgegangen. Doch Maria war meine Frau und damals die Liebe meines Lebens gewesen. Ellie war etwas anderes. Ich vermischte die beiden Frauen nicht. Jedenfalls dachte ich das.
»Okay.« Sie streichelte meinen Rücken, um mich zu beruhigen. »Sag mir, was ich tun kann.«
Ich kuschelte mich mit Bree unter die Decke. »Leg dich einfach hier mit mir hin«, bat ich sie. »Mehr brauche ich im Moment nicht.«
»Das lässt sich machen.«
Kurz darauf schlief ich in Brees Armen ein – für ganze zwei Stunden.
»Ich sehe was, das du nicht siehst, das fängt mit einem Z an«, sagte Bree.
»Da drüben, die Zeitung!«, erwiderte Ali rasch. »Ich sehe sie! Sie ist rosa. Was für eine verrückte Zeitung ist das denn?«
Zur Überraschung und Freude meiner Familie war ich am Morgen nicht zur Arbeit an diesen widerlichen Tatort gegangen, in dieses Haus, in dem ich Ellie und ihre Familie tot vorgefunden hatte. Heute wollte ich die Kinder in die Schule bringen. Eigentlich wollte ich sie an den meisten Tagen in die Schule bringen, doch manchmal konnte ich nicht, und manchmal tat ich es nicht. Doch heute brauchte ich viel frische Luft. Viele lächelnde Gesichter. Und Alis Kichern.
Jannie besuchte die letzte Klasse der Sojourner Truth als Vorbereitung auf die Highschool, während Ali gerade erst in die Schulwelt aufbrach. An diesem Morgen kam mir das Leben wie ein Kreislauf vor, nachdem Ellies Familie ausgelöscht worden war, während meine Kinder prächtig gediehen.
Ich setzte mein bestes fröhliches Papagesicht auf und versuchte, die grausamen Bilder der letzten Nacht beiseitezuschieben. »Wer ist der Nächste?«
»Ich habe was«, meldete sich Jannie und drehte sich mit einem Grinsen zu Bree und mir, das von einem Ohr zum anderen reichte. »Ich sehe was, was du nicht siehst, das fängt mit PUGTEW an.«
»Pugtew? Wie kann denn ein Wort mit Pugtew anfangen«, wunderte sich Ali. Er drehte seinen Kopf bereits wie ein Wackeldackel auf der Suche nach diesem Ding, was auch immer es sein mochte.
Jannie trällerte beinahe ihre Antwort: »P.u.G.t.e.W. Personen unterschiedlichen Geschlechts teilen eine Wohnung.« Sie flüsterte das Wort Geschlecht in unsere Richtung, als wollte sie die Unschuld ihres kleinen Bruders schützen. Doch ich war derjenige, der rot im Gesicht wurde.
Bree klopfte Jannie auf die Schulter. »Hey, wo hast du das denn aufgeschnappt?«
»Cherise J. Sie sagt, ihre Mama sagt, ihr beide lebt, na ja, in Sünde.«
Ich warf Bree über Jannies Kopf hinweg einen Blick zu. Dass dieses Thema früher oder später zur Sprache kommen würde, war ja klar gewesen. Bree und ich waren seit mehr als einem Jahr zusammen, und sie verbrachte eine Menge Zeit bei uns zu Hause in der Fifth Street. Ein Grund war, dass die Kinder sie gerne um sich hatten. Ein anderer Grund, dass es mir genauso ging.
»Ich glaube, du und Cherise J. solltet euch ein anderes Thema suchen, über das ihr reden könnt«, schlug ich vor. »Meinst du nicht?«
»Ach, ist doch in Ordnung so, Daddy. Ich habe Cherise gesagt, ihre Mama soll sich doch an die eigene Nase fassen. Ich meine, selbst Nana Mama steckt die Sache ganz gut weg, und ihr Foto steht im Lexikon schließlich unter dem Eintrag ›altmodisch‹.«
»Du hast ja keine Ahnung, was alles im Lexikon steht«, gab ich zu bedenken.
Doch Bree und ich versuchten schon nicht mehr, uns Jannie gegenüber politisch korrekt zu verhalten, und lachten einfach nur. Jannie befand sich derzeit an einem Scheideweg, an der Kreuzung zwischen Mädchen und Frau.
»Was ist so lustig?«, fragte Ali. »Ich will’s auch wissen.«
Ich hob ihn hoch, um ihn das letzte Stück auf meinen Schultern in die Schule zu tragen. »Das sage ich dir in ungefähr fünf Jahren.«
»Ich weiß es sowieso«, erwiderte er. »Du und Bree, ihr liebt euch. Das weiß jeder. Ist doch nichts Schlimmes. Das ist doch gut.«
»Das stimmt«, sagte ich und küsste ihn auf die Wange.
Wir setzten ihn am Schultor ab, wo sich der Rest der Minisüßen seiner Klasse in einer Reihe aufstellte. »See you later, alligator!«, rief Jannie ihm durch den Zaun zu. »Du bist mein Schatz.«
»In a while, crocodile! Bist auch mein Schatz.«
Da ihr älterer Bruder Damon auf eine Privatschule in Massachusetts ging, wo er sich aufs College vorbereitete, hatten sich die beiden mehr denn je einander angenähert. Am Wochenende schlief Ali oft auf einer Luftmatratze – seinem »Nest«, wie er es nannte – am Fußende des Bettes seiner Schwester.
Wir setzten Jannie an der gegenüberliegenden Seite der Schule ab, wo die älteren Kinder hineinströmten. Sie umarmte uns beide zum Abschied. Ich hielt sie ein bisschen länger fest als gewöhnlich. »Ich liebe dich, meine Süße. Für mich gibt es nichts Schöneres auf der Welt als dich und deine Brüder.«
Jannie blickte sich verstohlen um, ob auch ja niemand zugehört hatte. »Geht mir genauso, Daddy.« Und fast im gleichen Atemzug: »Cherise! Warte!«
Sobald Jannie verschwunden war, hakte sich Bree bei mir unter. »Also, was sollte das?«, fragte sie. »›Du und Bree, ihr liebt euch. Das weiß jeder.‹«
Ich zuckte lächelnd mit den Schultern. »Was weiß ich. Das ist jedenfalls das Gerücht, das gerade umgeht.«
Ich gab ihr einen Kuss.
Und weil das so gut tat, gab ich ihr noch einen.
Um neun Uhr morgens war es vorbei mit dem Küssen. Ich bereitete mich im Daly Building auf die Lagebesprechung zum unangenehmsten Mehrfachmord vor, der mir bisher untergekommen war. Sie wurde im großen Konferenzraum gleich gegenüber meinem Büro abgehalten. Wie praktisch. Alle verfügbaren D-1 und D-2 sowie eine Abordnung aus dem zweiten Bezirk, der den größten Teil von Georgetown abdeckte, wären anwesend.
Mir wollte einfach nicht in den Kopf, dass Ellie das Opfer war. Eins der Opfer.
Sogar die Gerichtsmedizin hatte eine Vertreterin geschickt, Dr. Paula Cook, eine gescheite Ermittlerin mit der Persönlichkeit eines Tapioka-Puddings. Ihre Mundwinkel zuckten, als wir uns die Hand schüttelten. Ich vermute, es war der Ansatz eines Lächelns, also lächelte ich zurück. »Danke, dass Sie gekommen sind, Paula. Wir brauchen Sie bei diesem Fall.«
»Der schlimmste, der mir in meinen vierzehn Jahren untergekommen ist«, sagte sie. »Diese Kinder und ihre Eltern! Mir dreht sich der Magen um. Diese Sinnlosigkeit.«
Paula und ich hatten einen Stapel Tatortfotos mitgenommen, von denen wir jetzt einige im Konferenzzimmer aufhängten. Ich hatte extra großformatige Bilder ausgewählt, damit die Anwesenden nachvollziehen konnten, was ich vergangene Nacht in Georgetown erlebt hatte.
»Dieser Mord könnte ein Einzelfall sein«, begann ich ein paar Minuten später vor der versammelten Mannschaft. »Aber davon werde ich nicht ausgehen. Je besser wir den Fall verstehen, desto eher sind wir darauf vorbereitet, wenn es wieder passiert. Es könnte sein, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt.« Ich dachte, einige der abgestumpfteren Detectives der Mordkommission würden mir nicht zustimmen. Sie würden davon ausgehen, dass ich bereits an zu vielen Serienmorden gearbeitet hatte. Aber im Moment war mir egal, was sie dachten.
In der ersten Viertelstunde erläuterte ich für diejenigen, die in der Nacht nicht am Tatort gewesen waren, die vordergründigen Fakten, bevor ich an Paula übergab. Sie schnellte nach oben und führte uns durch die Bildergalerie an der Wand.
»Die Art der Schnittwunden lässt auf unterschiedliche Waffen schließen, die mit unterschiedlicher Kraft und Technik eingesetzt wurden«, erklärte sie und deutete mit einem roten Laserstrahl auf die Schnitte, Einstiche und Schnittstellen an den abgetrennten Körperteilen.
»Mindestens eine Waffe hatte eine gezackte Klinge. Eine war ungewöhnlich groß – vielleicht eine Machete. Die Amputationen erfolgten in keinem Fall sauber. Eher waren sie das Ergebnis wiederholter Gewalteinwirkung.«
Ein Detective namens Monk Jeffries in der ersten Reihe stellte ein paar ziemlich gute Fragen. »Sie meinen, dies war eine Übung? Die Täter haben so etwas noch nie vorher gemacht?«
»Das lässt sich nicht sagen«, antwortete Paula. »Aber es würde mich nicht überraschen.«
»Ja«, meldete ich mich zu Wort. »Es sieht aus, als hätten sie geübt, Monk.« Ich hatte meine eigene Meinung zu den Morden. »Der Tatort hat etwas sehr Junges.«
»So wie ›unerfahren‹?«, fragte Jeffries weiter.
»Nein, nur jung. Ich rede über die Schnittwunden, das zerbrochene Bett, den Vandalismus im Allgemeinen. Auch über die Tatsache, dass das Verbrechen wahrscheinlich von mindestens fünf Menschen verübt wurde, also von einer großen Gruppe von Eindringlingen. Wenn ich all diese Faktoren miteinander verbinde, erhalte ich eine Reihe von Möglichkeiten: Bandenkriminalität, Kult, organisiertes Verbrechen. In dieser Reihenfolge.«
»Bandenkriminalität?«, fragte ein anderer D-1 aus den hinteren Reihen nach. »Haben Sie je gesehen, dass eine Bande ein solches Massaker anrichtet?«
»Egal ob Bandenkriminalität oder nicht, ein solches Ausmaß an Gewalt habe ich noch nie gesehen«, erwiderte ich.
»Ich wette zwanzig Mäuse auf organisiertes Verbrechen. Wer hält dagegen?«, warf Lou Copeland ein, ein fähiger, aber widerlicher D-1 bei der Abteilung für Kapitalverbrechen. Ein paar seiner Kumpels lachten.
Ich nicht. Ich warf mein Klemmbrett quer durch den Raum. Es knallte gegen die Wand und landete auf dem Boden. Das war untypisch für mich und machte genau aus diesem Grund Eindruck.
Von absoluter Stille umgeben, ging ich zu meinem Klemmbrett, um es aufzuheben.
Bree und Sampson tauschten Blicke, die mir nicht gefielen. Sie waren sich nicht sicher, ob ich mit dem Fall umgehen konnte.
Bree übernahm und verteilte Aufgaben. Wir brauchten Leute, die das Cambridge-Place-Viertel noch einmal abklapperten, die das Labor für eine raschere Bearbeitung traktierten und die alle unsere Quellen auf der Straße nach Infos zur vergangenen Nacht anzapften.
»Für diesen Fall müssen Sie alles geben«, verlangte Bree. »Wir wollen am Abend Antworten auf dem Tisch haben.«
»Was ist mit …?«
»Abgelehnt!«
Alle blickten sich um. Es war Sampson, der gesprochen hatte.
»Sie alle werden weitere Fragen haben. Rufen Sie Stone oder Cross auf ihren Mobiltelefonen an. In der Zwischenzeit gibt es einen Arschvoll Feldarbeit zu erledigen. Dies ist ein großer Fall. Also fangen Sie an! Schlagen wir zu, mit aller Gewalt!«
Der Tiger war der größte und stärkste der zehn muskelbepackten Schwarzen, die auf einem abgenutzten Basketballfeld im Carter Park in Petway auf- und abrannten. Ihm war klar, dass er kein guter Werfer oder Dribbler war, doch das Rebounding beherrschte er wie ein Profi und verteidigte wild entschlossen den Korb, weil er es mehr als alles andere auf der Welt hasste zu verlieren. In dieser Welt hieß es: Wenn du verlierst, stirbst du.
Der Spieler, den er deckte, nannte sich »Buckwheat«, was, wie Tiger gehört hatte, mit einer alten amerikanischen Fernsehserie zu tun hatte, die sich manchmal über schwarze Kinder lustig machte.
Buckwheat störte sich nicht an diesem Namen. Auf dem Basketballfeld war er schnell und ein zuverlässiger Werfer. Er war auch ein Dummschwätzer, wie die meisten jungen Spieler in Washington. Der Tiger hatte gleich zu Beginn seines Studiums in London angefangen, Basketball zu spielen, doch in England hatte es nicht so viele Dummschwätzer gegeben.
»Du spuckst zwar große Töne, aber du wirst verlieren«, sagte Tiger schließlich, als er und sein Gegner Schulter an Schulter das Feld hinaufrannten. Buckwheat wehrte ein Täuschungsmanöver ab und übernahm in der linken Ecke einen Bodenpass. Nach dem anschließenden perfekten Bogenwurf knallte Tiger mit voller Wucht in ihn hinein.
»Mieser Gorilla«, rief der andere, als die beiden in die entgegengesetzte Richtung rannten.
»Meinst du?«
»Verdammt, ich weiß es. Noch ’ne Minute, dann bist du der große Affe, der von der Seitenlinie aus zuguckt!«
Der Tiger lachte, sagte aber weiter nichts. Er erzielte einen Treffer bei einem Rebound, danach lief Buckwheats Mannschaft mit dem Ball einen Steilangriff zur anderen Seite.
Buckwheat fing einen Pass im Lauf ab und raste auf den Korb zu. Er war Tiger einen Schritt voraus und rief »Treffer!«, noch bevor er den Ball von oben durch den Ring pfefferte.
Seine Bewegungen hatten etwas Leichtes, er war graziös und athletisch, als der Tiger ihn mit seinem vollen Gewicht und seiner ganzen Kraft rammte. Der Einsneunzig-Kerl knallte gegen den Pfosten, der den Korb stützte, und ging zu Boden. Blut strömte von seinem Gesicht, als er, alle viere von sich gestreckt, liegen blieb.
»Treffer!«, rief der Tiger und hob beide Arme hoch über seinen Kopf. Er liebte Basketball – welch ein Spaß war es, die großmäuligen Afroamerikaner zu schlagen, die keine Ahnung von der echten Welt hatten.
Auf den Seitenlinien johlten seine Jungs, als wären Michael Jordan und Kobe Bryant ineinandergerannt. Doch er war keiner von dieser Sorte, das wusste er. Er wollte nicht wie Mike oder Kobe sein. Er war viel besser.
Schließlich entschied er täglich über Leben und Tod.
Ein Mann kam auf ihn zu, als er das Spielfeld verließ. Deplatzierter hätte er nicht sein können, da er einen grauen Anzug trug und weiße Haut hatte.
»Ghedi Ahmed«, sagte der weiße Teufel. »Du weißt, wer er ist?«
Der Tiger nickte. »Ich weiß, wer er war.«
»Statuiere ein Exempel an ihm.«
»Und an seiner Familie.«
»Selbstverständlich«, bekräftigte der weiße Teufel. »Und an seiner Familie.«
Ich rief meinen Freund Avie Glazer an und bat ihn um Hilfe. Er leitete das Bandeninterventionsprojekt im dritten Bezirk. Ich erzählte ihm, warum seine Hilfe wichtig für mich war.
»Klar werde ich helfen. Du kennst mich, Alex. Ich habe zwar mehr mit La Mara R, Vatos Locos und den Nordwest-Banden zu tun, aber komm ruhig her und hör dich in der Seventeenth und R Street um, wenn du willst.«
»Hast du Lust, uns zu treffen?«, fragte ich ihn. »Ich schulde dir was. Ich lade dich zu einem Bier ein.«
»Das wären dann wie viele insgesamt? Gefallen und Biere?«
Dies war seine Art einer Zusage. Bree und ich trafen Avie in einem beschissenen, kleinen Billardsalon mit Namen Forty-Four. Der Wirt erklärte, der Name entspreche seinem Alter, als er den Salon eröffnet habe. Avie kannte die Geschichte bereits, hörte aber höflich zu.
»Der Name war so gut wie jeder andere auch«, fuhr der Wirt fort. Mit seiner Mir-egal-Haltung kam er mir wie ein Langzeit-Kiffer vor. Mit Sicherheit riss er sich mit Billard und antialkoholischen Getränken nicht den Arsch auf. Er hieß Jaimie Ramirez, und Avie Glazer hatte mir geraten, ihn ruhig erzählen zu lassen und etwas Rücksicht zu nehmen.
»Haben Sie von den Morden in Georgetown letzte Nacht gehört?«, fragte ich Ramirez, nachdem wir ein bisschen geplaudert hatten. »Von dem Mehrfachmord?«
»Das war eine grausame Scheiße«, stöhnte er und stützte sich auf dem Unterteil einer quer geteilten Tür ab. Eine Zigarette, die im gleichen Winkel geknickt war wie sein Körper, klemmte zwischen seinen stummelartigen Fingern.
Er deutete mit dem Kinn in die Ecke zum Fernseher. »Channel Four ist alles, was ich hier reinkriege, Detective.«
»Wie steht’s mit neuen Spielchen?«, erkundigte sich Bree. »Mitspieler, von denen wir vielleicht noch nichts gehört haben? Jemand, der eine Familie auslöschen würde?«
»Ist schwer, auf dem Laufenden zu bleiben.« Ramirez zuckte mit den Schultern, doch Glazer warf ihm einen strengen Blick zu. »Nun ja, da gibt es tatsächlich Gerüchte.«
Der Blick seiner dunklen Augen zuckte fast unfreiwillig an mir und Bree vorbei. »Afrikaner«, sagte er zu Avie.
»Afroamerikaner?«, bohrte ich nach. »Oder …«
»Afroafrikaner.« Er wandte sich wieder an Avie. »Ey, Toto, kriege ich was dafür? Oder läuft das unter gratis?«
Avie Glazer blickte zuerst zu mir, dann zu Ramirez. »Sagen wir, ich schulde dir was.«
»Was für Afrikaner?«, fragte ich weiter.
Er zuckte mit den Schultern und stieß die Luft aus. »Woher soll ich das wissen? Schwarze Jungs aus Afrika, eben.«
»Englisch sprechende?«
Er nickte. »Ja, habe aber nie mit ihnen geredet. Scheinbar haben sie mit allem Möglichen zu tun – Einbrüche, Nutten, Heroin und bewaffnete Raubüberfälle. Nichts in der Art wie Graffiti sprühen und schnell wegrennen.«
Er öffnete die Glastür eines Kühlschranks und nahm eine Cola heraus. »Jemand Durst? Zwei Dollar.«
»Ich nehme eine«, sagte Glazer. Er drückte Ramirez ein paar Scheine in die Hand, die aber nicht nach Ein-Dollar-Scheinen aussahen.
Schließlich drehte sich Glazer zu mir. »Von euch kassiere ich später ab. Darauf könnt ihr euch verlassen.«
»Afrikaner«, wiederholte Ramirez, als wir zur Tür gingen. »Aus Afrika.«
Dies war der Ort in Washington – oder vielleicht überall auf der Welt –, an dem ich als Letztes sein wollte.
So unglaublich traurig, schaurig und tragisch. So viele Erinnerungen, die bei mir an die Oberfläche gespült wurden.
Ellies Büro befand sich im ersten Stock des Hauses in Georgetown. Es war so ordentlich und penibel organisiert, wie ich mich an Ellie erinnerte, als wir damals geglaubt hatten, uns zu lieben.
Eine Ausgabe von Sidney Poitier Mein Vermächtnis. Eine Art Autobiographie lag aufgeschlagen auf einem Sessel. Ich mochte dieses Buch und erinnerte mich, dass Ellie und ich einen ähnlichen Geschmack gehabt hatten, was Bücher, Musik und Politik betraf.
Alle Rollos waren auf genau dieselbe Höhe nach unten gezogen. Auf dem Schreibtisch befanden sich ein iMac, ein Telefonbuch, ein Kalender und ein paar Familienfotos in Silberrahmen. Das Zimmer hatte eine seltsame Ausstrahlung im Vergleich zum Erdgeschoss, das von den Mördern durchwühlt worden war.
Ich begann mit Ellies Kalender, danach nahm ich mir die Schreibtischschubladen vor. Ich wusste noch nicht genau, wonach ich suchte, nur, dass ich einen klareren Kopf brauchte als vergangene Nacht.
Ich fuhr Ellies Rechner hoch und ging ihre E-Mails durch – den Eingang, die gesendeten Nachrichten und den Ordner mit den gelöschten Mails, wobei ich mich zeitlich rückwärtsbewegte. Ich versuchte, mich so nah wie möglich an den Moment der Morde heranzutasten. Hatte Ellie die Mörder gekannt?
Mir fiel als Erstes eine Nachricht von einem Lektor der Georgetown University Press auf. Sie betraf den Plan zur Fertigstellung für »das neue Buch«.
Ellie hatte an einem neuen Buch geschrieben? Ich wusste, dass sie an der Georgetown University Geschichte gelehrt hatte, doch viel mehr nicht. Wir hatten uns während der vergangenen fünfzehn Jahre lediglich bei einigen Wohltätigkeitsveranstaltungen getroffen. Sie hatte geheiratet, und da ich damals auf nichts und niemanden gut zu sprechen gewesen war, hatte ich einige Kontakte und Kommunikationswege gekappt.
Ich gab ihren Namen in Amazon und Barnes & Noble ein und fand drei Buchtitel. Jedes hatte etwas mit afrikanischer Soziopolitik zu tun. Das letzte, Kritische Verbindung, war vor vier Jahren veröffentlicht worden.
Wo steckte das neue Buch? Gab es Teile des Manuskripts, die ich lesen konnte?
Ich wirbelte herum, um mir die deckenhohen Bücherregale anzusehen, die zwei komplette Wände des Arbeitszimmers einnahmen. Ellie hatte Hunderte von Büchern hier stehen, zudem eine Sammlung von Auszeichnungen und Erwähnungen.
Kinderkunst und gerahmte Fotos nahmen den Rest ein.
Plötzlich blickte ich auf ein Foto von mir.
Es war ein alter Schnappschuss aus unseren College-Tagen. Ich erinnerte mich an die Zeit, sobald ich das Foto sah. Ellie und ich saßen auf der National Mall auf einer Decke. Wir hatten gerade die Abschlussprüfungen hinter uns gebracht. Ab Sommer würde ich ein Praktikum im Sibley Memorial Hospital machen, und ich war dabei, mich zum ersten Mal in meinem Leben zu verlieben. Ellie hatte mir gesagt, ihr gehe es genauso. Auf dem Foto lächelten wir und umarmten uns, es sah aus, als hielte diese Umarmung eine Ewigkeit.
Jetzt stand ich hier in ihrem Haus und fühlte mich auf eine Art für sie verantwortlich, die ich nie für möglich gehalten hätte.
Nostalgisch betrachtete ich das Foto noch einen Moment, dann zwang ich mich in das Chaos der Gegenwart zurück.
Es dauerte nicht lange, bis ich dreihundert getippte Seiten eines Manuskripts mit dem Titel Todestrip gefunden hatte. Der Untertitel lautete: Verbrechen als Lebensart und Geschäftstätigkeit in Zentralafrika.
Als Lesezeichen diente die Kopie eines Flugtickets von Washington nach Lagos in Nigeria und zurück. Ellie war vor zwei Wochen von dort zurückgekehrt.
Ich überflog den Index am Ende des Manuskripts, wo ich den Eintrag »Gewalt, afrikanischer Stil« mit dem Unterabschnitt »Familienmassaker« fand.
Ich blätterte zur entsprechenden Seite und las: »Es gibt Bandenführer in ganz Nigeria und vor allem im Sudan, die sich anheuern lassen. Diese brutalen Männer und ihre Gruppen, die oft aus erst zehnjährigen Jungs bestehen, haben ein unbändiges Verlangen nach Gewalt und Sadismus. Lieblingsziele sind ganze Familien, mit denen sich die Nachricht und die Angst am weitesten ausbreiten. Familien werden in ihren Hütten massakriert und sogar in Öl gekocht, ein Markenzeichen einiger der schlimmsten Bandenführer.«
Ich beschloss, dieses Teilmanuskript mitzunehmen, um es mir kopieren zu lassen. Ich wollte alles lesen, was Ellie geschrieben hatte.
War es das, was zu dem Mord an ihr geführt hatte – ihr Buch?
Als Nächstes starrte ich lange Zeit auf ein eindrucksvolles, ergreifendes Bild von Ellie, ihrem Mann und ihren drei hübschen Kindern.
Die jetzt alle tot waren.
Ermordet hier in ihrem Haus. Wenigstens waren sie nicht in Öl gekocht worden.
Ich warf noch einen Blick auf das Foto von uns beiden auf der National Mall. Jung und verliebt, oder was auch immer wir gefühlt haben mochten.
»Ellie, ich tue für dich und deine Familie, was ich kann. Das verspreche ich dir.«
Was mochte Ellie in Afrika gefunden haben, überlegte ich, als ich das Haus verließ.
War ihr jemand gefolgt?
Alle wussten, dass es Schwierigkeiten gab, aber niemand wusste, welcher Art oder wie schlimm sie waren.
Ein dunkelgrüner Kastenwagen hatte quietschend vor einer schlichten Moschee in Washington, der Masjid Al-Shura, angehalten. Mehr als einhundertfünfzig friedliche Gottesdienstbesucher standen auf dem Bürgersteig davor.
Doch als Ghedi Ahmed die Schützen, mit Kapuzen, schwarzen Gesichtsmasken und flotten Sonnenbrillen getarnt, aus dem Wagen steigen sah, wusste er, dass sie seinetwegen kamen. Sie waren noch sehr jung – die Jungs von Tiger.
Die ersten Schüsse waren nach oben gerichtet. Warnschüsse. Männer und Frauen schrien, einige eilten in die Moschee zurück.
Andere legten sich flach auf den Boden, schützten ihre Kinder, so gut sie konnten.
Mit hoch erhobenen Händen traf Ghedi Ahmed eine Entscheidung und entfernte sich von seiner Familie. Besser, allein zu sterben, als sie mitzunehmen, dachte er zitternd wie Espenlaub.