Hanser E-Book

 

Alfred Brendel

 

Wunderglaube und Mißtonleiter

Aufsätze und Vorträge

 

 

Mit einem Beitrag von Andreas Dorschel

 

Carl Hanser Verlag

 

 

Foto: Maria Majno

 

ISBN 978-3-446-24692-8

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Carl Hanser Verlag München

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Motiv: © Sergtt/Thinkstock

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

 

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

 

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

 

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Inhalt

Jean Pauls Sprachkürze

 

Aus Jean Pauls »Gedanken« I

 

Meine Schallplattenaufnahmen

»Great Pianists«

»Artist’s Choice«

 

Musikleben im Wandel

 

Aus Jean Pauls »Gedanken« II

 

Zweierlei Pianistinnen

1. Katja Andy

2. Joyce Hatto

 

Aus Jean Pauls »Gedanken« III

 

Vielfalt und Dogma. Über Spielgewohnheiten

 

Aus Jean Pauls »Gedanken« IV

 

Kühne Kammermusik

1. Schubert und sein G-Dur Quartett

2. Erweiterung und Synthese. Beethovens

    »Große Fuge und das Quartett op. 130«

 

Aus Jean Pauls »Gedanken« V

 

Kinderorchester

 

Zwischen Grauen und Gelächter.

Einführung in eine Filmserie

Die Filme der Serie

 

Aus Jean Pauls »Gedanken« VI

 

Andreas Dorschel: Brendeliana

 

Nachweise

Jean Pauls Sprachkürze

2013

 

Besonders achtete er die Hefte kurzer, kaum zusammenhängender Sätze höchst schätzenswert.

Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre,

1. Buch, 10. Kapitel

 

Daß Sprachkürze Denkweite gibt, hat Jean Paul in einem wunderbar knappen Aphorismus festgehalten. Seinen eigenen Lesern hat er diese Denkweite selten zugetraut. Nicht nur in den vielhundertseitigen Marginalien zu seinen Romanen hat er diese Denkweite bis ins Uferlose verbalisiert – schon im Duktus des Haupttexts ist Überfülle die Regel, eine Überfülle oft hinreißender Art, von der sein Bewunderer Georg Christoph Lichtenberg in einem kritischen Moment sagte, eine Blüte ersticke darin die andere.

Nicht wenige hochgestellte Damen ließen sich von dieser Blütenpracht betäuben, ohne daß der Dichter dies ausreichend zu schätzen wußte. Ich gestehe, daß ich es vorziehe, seine Blüten einzeln zu besichtigen, staunend daran zu riechen, wenn nicht darüber zu lachen. Denn Jean Pauls schönste Einfälle sind oft jene eines Humoristen. »Der Scherz ist unerschöpflich, nicht der Ernst«, heißt es im »Titan« (Komischer Anhang, Clavis Fichtiana), und an anderer Stelle: »Wenn so zuweilen die Eingeweidewürmer des Ichs, Erbosung, Entzückung, Liebe und dergleichen, wieder herumkriechen und nagen und einer den anderen frisset: so seh’ ich vom Ich herunter ihnen zu; wie Polypen zerschneide und verkehr’ ich sie, stecke sie ineinander. Dann seh’ ich wieder dem Zusehen zu, und da das ins Unendliche geht, was hat man dann von allem?«

Sehr viel, würde ich antworten. Es ist ja nicht nur die Denkweite, die Jean Paul den Lesern eröffnet. Seinem Freund Thieriot schreibt er von der »pikanten Süßigkeit«, sein Leben zugleich zu spielen, zu leben und zu parodieren. Die Resonanz seiner besten Notizen erfaßt ja nicht nur den Verstand. Zu dem aufgeklärten Leser philosophischer und wissenschaftlicher Schriften gesellt sich in ihm der Somnambulist, der Sprachphantast, der von Sprachlust, Sprachmut und Sprachwitz hingerissene, seiner selbst kaum mehr mächtige Sprachspieler, dessen überraschende Verrückung von Wörtern und Sätzen den Funken des Entzückens oft erst herstellt. Der Satz »Shakespear hat alle Karaktere gemalt, einen ausgenommen, seinen« wäre, konventionell formuliert, bei aller Triftigkeit sehr viel weniger reizvoll. Für den Wortlaut der Eintragung »Und der Mensch wäre gern ganz Herz« müßte man allein schon dem »Und« zuliebe Jean Paul beide Hände küssen, oder vielmehr in seinen eigenen Worten zurufen: »Ich wollte, Sie hätten 4 Hände, damit ich öfter küssen könnte.«

Wenn er nicht schrieb, dann las er. Es ist nicht zu schätzen, was von beidem er in größeren Mengen getan hat. Und wenn er beides nicht tat, dann exzerpierte er. Jean Paul war wohl der belesenste Autor seiner Zeit, der aber selbst, wie es heißt, nur wenige Bücher besaß. Hingegen hielt er sich in den späten Bayreuther Jahren in seinem Schreibzimmer einen Wetterfrosch, Mäuse und eine Spinne, die er persönlich mit Fliegen fütterte. Außerdem wimmelten ein Eichhörnchen, sein Hund (ein Spitz mit Namen Alert) und seine Kinder im Raum herum, wenn er sich nicht in die Rollwenzelei zurückzog.

Neben der riesigen Wörterflut seiner Satiren, Romane, Traktate, Visionen, Vorschulen und Erziehungslehren sind seine Aufzeichnungen (»Gedanken«) tausendfacher Beweis dafür, daß seine Feder auch im Biernebel nicht zur Ruhe kam. Zur späteren Verwendung in größeren Zusammenhängen notiert, aber meist fragmentarischer und schnipselhafter als jene Lichtenbergs in den »Sudelbüchern«, sind die gelungensten dieser Notizen Blitze komischer Erleuchtung. Eine Wortschöpfung wie »Mißtonleiter« reißt mehrere Perspektiven zugleich auf: Sie wird einem vom Hörsturz Befallenen nur allzu real erscheinen, blickt aber zugleich prophetisch in die Zukunft. In einer anderen Aufzeichnung sagt uns Jean Paul nämlich: »Wie die Tonkunst zunimmt, wird der Ekel an ewig wiederkommenden Wohllauten und der Überdruß an gewöhnlichen Auflösungen so reich gedeihen, daß man am Ende zu Mißtönen greifen wird.« Spielerisch ist hier die Musik unserer Tage vorausgehört.

Während der berühmte Autor zunehmend »dicker und wilder« wird und ständig neue Richtlinien für das Schreiben erfindet, weiß er dennoch stets um die andere Seite: Das Unbewußte bleibt für ihn »das Mächtigste im Dichten, welches den Werken die gute und die böse Seele einbläset.« In seinen »Gedanken« macht es sich als Spontaneität erster Hand bemerkbar, wobei die Kollision der beiden Seelen im Witz diesem Leser ein Vergnügen bereitet, wie es ernsthafte Sentenzen im Polonius-Ton nie zustandebrächten.

 

Meine Auswahl aus diesen Notizen ist in sechs Abschnitten auf das ganze Buch verteilt.

 

 

Aus Jean Pauls »Gedanken« I

Er würde seinen Regenbogen nur aus 1 Farbe machen, schwarzer.

I/45

 

Herz auf die Fleischwaage legen.

I/149

 

Man sollte geistig die Menschen weniger einteilen in Blinde und Sehende, als in die mit grauem und schwarzem Star.

I/173

 

Er liebt die Weiber bis sogar unter den Heringen und Krebsen.

I/341

 

Ich will mich lieber auf Bergen als in Thälern beregnen lassen.

I/533

 

Wenn die Hebamme den Kopf nicht abreißet, thun’s nachher die Lehrer.

II/23

 

Es gehört schon Muth dazu, seinen Hund auf der Gasse zu prügeln.

II/178

Ihr Herz ist wie ein Großvaterstuhl ausgesessen.

II/279

 

In der Freude geht man nicht gern bergauf.

II/294

 

Der Mensch muß wie eine Kutsche auch hinter sich Fenster haben.

III/14

 

Manche Menschen sind Flügel, zum Spiel im Konzert; manche Klaviere zu einsamem Spiel.

III/140

 

Der Parnaß hat 2 Spitzen, auf der einen wohnen die genialischen Engel, auf der anderen die genialischen Teufel.

III/169

 

Ein halbes Beet im Zuckerfeld der Lust haben.

III/212

 

Einen absüßen zu einem süßen Herrn – er ist eine weiche Zucker-Erbse, sein Kopf ein Hutzucker.

III/228

 

Wenn man immer eine Mandel ist, so muß man sich statt der rauhen Schale noch süß überziehen.

III/230

 

Mädgen: keine Blumen, sondern ein Blumenbeet.

III/245

 

Die Zukunft stört den Schlaf mehr als die Vergangenheit.

III/246

 

Um ihr Herz gar für die Ehe zu braten, müßte man eine Sonne unterschüren.

III/250