Das kann uns keiner nehmen

Über Matthias Politycki

Foto: Mathias Bothor/photoselection

Matthias Politycki schreibt, seitdem er sechzehn ist, und wurde schon mit seinem opulenten Romandebüt als »Formfex im Sprachfels« (Die Welt) gefeiert. Sein Werk besteht heute aus über 30 Büchern, darunter mehrere Romane, Erzähl- und Gedichtbände sowie vielbeachtete Sachbücher und Reisereportagen. Er gilt als großer Stilist und ist einer der vielseitigsten Schriftsteller der deutschen Gegenwartsliteratur. Sieben Jahre nach seinem als »wahrer Monolith« (Stern) gerühmten Roman Samarkand Samarkand erscheint nun ein neuer großer Roman, für den er um ein Haar in Afrika gestorben wäre. Gerettet hat ihn die Liebe einer Frau.

Karten

ir sahen ihn schon vom Kraterrand aus, ein leuchtend roter Punkt zwischen den Zelten, genau dort, wo unser Pfad am Kraterboden enden würde.

Sieben Tage lang hatte ich den Moment ersehnt, da ich endlich allein sein würde mit diesem Berg. Sieben Tage, während es auf den Wanderwegen immer voller geworden war, je höher wir kamen. Im Barafu Camp, 1200 Meter unterm Gipfel, wo die meisten Aufstiegsrouten vor der letzten Etappe zusammenfinden, hatte größerer Trubel geherrscht als auf dem Markt in Arusha, und dann wurde auch noch eine Frau abtransportiert, die nicht einsehen wollte, daß sie die Höhenkrankheit hatte, und lieber hier oben sterben wollte als tausend Meter weiter unten überleben. Schließlich schnallte man sie auf eine Trage, noch lange hörten wir sie schimpfen und schreien.

»Der da unten ärgert sich gerade noch mehr als wir«, versuchte Hamza, den roten Punkt am Kraterboden herunterzuspielen, während er ihn durch sein Fernglas betrachtete. Drei der Zelte seien übrigens die unsern, setzte er das Glas wieder ab. Dann wies er auf zwei weitere Punkte, das seien Mudi und Dede, sie stellten gerade das Toilettenzelt auf. Beim gestrigen Abendessen hatte er ein letztes Mal versucht, auch Paolo und Ezekiel zu überreden, vergeblich, auf die paar zusätzlichen

Nur der Einbruch der Kälte hatte kurz für Ruhe gesorgt. Von einer Sekunde zur andern war’s so still im ganzen Camp, daß ich meinen Puls pochen hörte und den Schmerz im Kopf wieder wahrnahm, ein leichtes Ziehen unter der Schädeldecke. In Gedanken ging ich noch einmal die 25 Jahre ab, die ich gebraucht hatte, um hierherzukommen, und nahm mir fest vor, nicht noch auf den letzten Metern einzuknicken. Schließlich hatte ich noch eine Rechnung mit diesem Berg offen und war entschlossen, sie morgen zu begleichen. Ab Mitternacht brachen die ersten auf, um den Gipfel vor Sonnenaufgang zu erreichen, und von da an hörte man immer wieder Getrappel, wenn die nächste Gruppe an unseren Zelten vorbeimarschierte, ein aufgeregtes Flüstern und Kichern. Wir ließen sie ziehen, heute hatten wir ja nur den Aufstieg zu bewältigen und nicht wie alle anderen – hoffentlich ausnahmslos alle anderen – auch die Hälfte des Abstiegs. Um halb drei fing Hamza im Zelt neben mir zu rascheln an, um vier liefen wir los. Unsre Träger schliefen noch, sie würden sich den Gipfel sparen und direkt zum Crater Camp gehen. Schon nach wenigen Minuten schalteten wir die Stirnlampen aus, der Mond leuchtete uns den Weg.

Als wir um kurz nach acht den Kraterrand bei Stella Point erreicht hatten, war mein Kopfweh verflogen. Unter uns, umbrabraun schweigend und ernst, absolut ernst, lag eine

Der restliche Weg auf dem Kraterrand bis dorthin, wo er sich, beständig sanft ansteigend, zum Gipfel wölbte, von braunroter Asche bedeckt, linker Hand von einem gewaltigen Gletscherfeld markiert, leicht verschwommen dahinter die Ewigkeit. Rechter Hand die schneebedeckten Kraterwände, am Fuß derselben verstreut ein paar Felsen oder Lavabrocken, weiter innen nurmehr Asche und Eis. Kein Vogel im Firmament, keine Fährte am Grund, kein Grashalm im Wind. Um zehn erreichten wir den Gipfel, und als die letzte Gruppe ihre Siegerfotos geschossen und den Rückweg angetreten hatte, waren wir endlich allein. Hamza riß sich die Kleider vom Oberkörper, kletterte auf das Gerüst, das den Gipfel anstelle eines Kreuzes markiert, und streckte die Arme in die Luft – so sollte ich ihn mit seinem Handy fotografieren. Nach zwanzig Minuten gingen wir auf dem Kraterrand weiter, und als wir die Stelle erreicht hatten, wo der Pfad abzweigt, hinab zum Crater Camp, sahen wir ihn.

»Weißt du, was der Unterschied ist zwischen dem und uns?« wollte Hamza die Sache mit Humor nehmen.

»Will’s nicht wissen«, ließ ich mir sein Fernglas reichen, um den roten Punkt meinerseits in Augenschein zu nehmen, »und werde auch morgen nicht drüber lachen.«

Nun war da also ein Kerl im Krater, wo ich mir seit Jahren nichts anderes als leere Landschaft vorgestellt hatte, in der ich meine Vergangenheit begraben wollte. Daß der Berg auf seinen Trekkingrouten von Touristen überlaufen war, hatte ich immer

»Der Unterschied ist: Der da unten ist schon da. Wir könnten immer noch umkehren und absteigen.«

Das kam natürlich nicht in Frage. Im Fernglas beobachtete ich Mudi und Dede, wie sie die Heringe unsrer Zelte mit Felsbrocken sicherten. Dann traten zwei Männer aus einem der fremden Zelte, auf der Plane stand »Safari Porini«, wenig später noch einer aus einem anderen Zelt. Sie gingen zum Gletscher, der in der Mitte des Kraters lag, Hamza behauptete, sie würden ein Stück davon abschlagen, um es zu Teewasser zu schmelzen. Hinter dem Gletscher stieg die Aschelandschaft sanft zu einer Hügelkette an, dahinter verbarg sich der innere Krater. Gewiß war dort alles von derselben feinen Asche überzogen, die auch unseren Weg bedeckte.

»Vielleicht kriegt er ja noch die Höhenkrankheit«, meinte

»Der Kibo schläft nur«, sagte Hamza, »er entscheidet, wen er übernacht bei sich duldet, wen nicht, du kannst es nicht erzwingen.«

»Und er kann jeden Moment erwachen«, fügte er nach einer Weile an, da waren wir schon ein paar Serpentinenwindungen tiefer und mitten im Schnee.

*

»Lecko mio«, begrüßte mich der Kerl in der roten Jacke, der die ganze Zeit über am Ende des Pfades mit demonstrativ vor der Brust verschränkten Armen auf uns gewartet und also auch meinen Sturz mitbekommen hatte. In einer der Kehren war ein Schneebrett unter meinem Tritt abgerauscht und ich rücklings ein paar Meter mit ihm, zum Glück erst im unteren Drittel. Danach hatte ich eine Weile gebraucht, um mir den Schnee aus der Kleidung zu schlagen, zum Schluß wischte ich die Brillengläser trocken und wickelte mir das Tuch um den Kopf, das sich bei meiner Talfahrt gelöst hatte.

»Wie kommt ’n a so a Hornbrillenwürschtl wie du ausgerechnet hierher?«

Er schnaubte verächtlich aus, auch ihm hatte ein bißchen Gesellschaft gerade noch gefehlt. Daß ich einer der Deutschen war, die auf diesem Berg scharenweise unterwegs waren, hatte er offensichtlich erkannt oder unterstellte es ganz selbstverständlich,

»Jetz hat’s eahm d’ Sprach verschlang.«

Er hatte halblange zerzauste Haare, einen buschigen Schnauzbart, der sich beidseits des Mundes bis zum Kieferknochen hinabzog, buschige Koteletten, die genauso tief reichten, alles in Silbergrau. Hals, Kinn, Wangen von Bartstoppeln übersät und jeder Menge Falten – ein Zausel, wettergegerbt, vielleicht Ende sechzig, der immer noch den Rocker geben wollte. Dafür war er allerdings entschieden zu dünn, geradezu spiddelig, und auch zu blaß, noch nie hatte ich einen solch bleichen Menschen gesehen. Eine weiße Sportbrille mit orangerot verspiegelten Gläsern hatte er sich hoch in die Stirn geschoben, die Hände mittlerweile in die Hüften gestemmt, kein Zweifel, er empfand mich ebensosehr als Störenfried wie ich ihn. Als ich mich nach Hamza umsah, begrüßte der gerade die fremden Träger, der Reihe nach schlugen sie die Fäuste aneinander.

»Was hast ’n da für a Windel um dein’ Kopf gwickelt, ha? Oder sprichst du ned mit jedm?«

»Hans!« streckte ich ihm meine Hand entgegen.

»I bin da Tscharli«, ergriff er die Hand und drückte kräftig zu, ließ nicht locker, im Gegenteil, erhöhte den Druck und rückte näher: »Da Windelhans bist’.«

Er lachte kurz auf, es klang hart und bitter, erst danach ließ er meine Hand los. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich die Träger noch immer mit Hamza verbrüderten. Nun kam ein weiterer Mann aus dem Zelt, gähnte, streckte sich, rieb sich die Augen, rief Hamza auf Suaheli einen Gruß zu, anscheinend ein Witz auf dessen Kosten, reihum Gelächter. Nachdem er Hamza nach allen Regeln der Kunst Faust auf Faust

»Mountain doctor«, ergänzte der Kerl.

John grinste, blinzelte in die Sonne und zog sich seine Jacke aus. Auf dem T-Shirt, das er über einem Icebreaker-Unterhemd trug, stand »It’s now! Dr Never«.

»Bist du der Führer von Tscharli?« fragte ich ihn auf Deutsch, John guckte freundlich durch mich hindurch. Bevor ich die Frage auf Englisch hinterherschieben konnte, blaffte mich der Kerl an: Er sei der Tscharli! Und John also der Führer vom Tscharli! Auch für einen Preußen wie mich, »host mi?«.

»Yes, Mister Tscharli«, pflichtete John bei, »big boss.«

Ich sei kein Preuße, versetzte ich, sondern aus Hamburg.

Und er aus Miesbach, erwiderte der Kerl, da hätten wir ja was gemeinsam. Erneut lachte er auf, klopfte mir die Schulter, offensichtlich hatte er seine eigene Form von Humor.

Wieso er ausgerechnet heute hierhergekommen sei? konnte ich mir nicht verkneifen.

»Wei’s wuascht is!« Der Kerl lachte nicht mehr. Er stierte mich drohend an, als erwarte er eine Replik, die er mit einem Faustschlag beantworten konnte. Als sie ausblieb, ließ er locker, grinste in die Runde. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er eine kleine Flasche Jägermeister aus der Jackentasche gezogen, einen Schluck genommen und ganz selbstverständlich an den Mountain doctor weitergereicht hätte. Aber er legte den Kopf nur leicht schief, kniff die Augen zusammen und musterte mich von oben bis unten. Schließlich gab er sich einen Ruck: »Komm, Windelhans, samma wieda guat. Mir kenna ja beide nix dafür.«

*

Kaum war ich drin, wurde’s draußen windstill und heiß. Ich hatte mich auf meinen Schlafsack gelegt; doch die Sonne brannte mit solcher Macht aufs Zelt, daß mir der Schweiß unterm Hemd zusammenlief und ein feiner Schmerz im Kopf zusetzte, direkt an der Schädeldecke. Durch die Zeltplane hörte ich locker mit, wie sich der Tscharli auf geräuschvolle Weise in seinem Toilettenzelt zu schaffen machte, von kommentierenden Zurufen befeuert. Noch aus dem Zelt heraus ließ er wissen, »Problem finished«, und nachdem er den Reißverschluß des Eingangs hoch- und hinter sich wieder heruntergerissen hatte, »Internet Cave finished«.

Internet Cave nannten sie in seiner Mannschaft das Toilettenzelt, Dede und Mudi meckerten begeistert auf. »Did you catch a monkey?« rief John. Anstelle einer Antwort stieß der Tscharli einen Schrei aus und trommelte sich auf die Brust.

Dann redete er in einem fort, ein derb reduziertes Pidgin, vermischt mit bairischen Brocken und Suaheli. Was immer er sagte, wurde gut gelaunt zur Kenntnis genommen und nicht selten mit schallendem Gelächter quittiert, offensichtlich auch verstanden und akzeptiert. Stets pflichtete ihm irgendwer mit »Yes, sir« bei, selbst Hamza, der mich nur beim Vornamen ansprach.

Viel später erst erkannte ich, daß es mit des Tscharlis Suaheli nicht weit her war, er freilich den Tonfall der Sprache sehr gut aufgeschnappt hatte und – zusätzlich zu der Handvoll Wendungen, die er beherrschte – nach Belieben Wörter erfand, was

»High noon, Helicopter, Big Simba hungry!«

»Big Simba hungry«, wiederholte Helicopter.

»Mambu didi!« machte ihm der Tscharli Beine, und die beiden anderen Träger seiner Truppe, Samson und Rieadi, wiederholten den Zuruf unter fröhlichem Gekecker.

Es war nicht auszuhalten. Doch drinnen im Zelt erst recht nicht. Nach einer halben Stunde gab ich auf, zog den Reißverschluß hoch und schloß geblendet die Augen. So viel Sonne an diesem Tag. Ich schob mir die Brille in die Stirn und massierte die Augenhöhlen.

Ein tiefdunkelblauer Himmel und vollkommen leer. Der gefalle ihm nicht, begrüßte mich Hamza. Erst jetzt sah ich, wie sich zwischen den Zacken des Kraterrands die Wolken stauten.

*

Natürlich hatten Hamza und John beschlossen, ihre Gruppen zusammenzulegen und das Mittagessen gemeinsam in einem der beiden Eßzelte einzunehmen. Samson servierte, und als

Es gab Kekse, Honig, Nutella, Bananen, Beuteltee. John aß fast nichts, Hamza umso mehr und der Tscharli wie ein Schwein. Jetzt, da er seine rote Jacke über die Klappstuhllehne gehängt hatte, verströmte er den Geruch von altem Schweiß. Nach dem Essen kramte Hamza sein Meßgerät hervor, das normalerweise morgens und abends zum Einsatz kam, um Puls und Sauerstoffgehalt im Blut zu überprüfen. John tat’s ihm gleich, der Tscharli und ich reichten brav unsre Zeigefinger, die Geräte wurden aufgesetzt, es kam ein ganz klein bißchen Spannung auf.

Nach einer Weile las John die Werte ab: »Pulse 93, oxygen 78. Good.«

Der Tscharli grinste zufrieden, John stellte ihm seine Fragen nur pro forma: Wie’s mit dem Luftholen hier oben sei? Ois easy. Und die Lunge? Dito. Kopfweh? Woher denn. Übelkeit? Schwindel? Geh weida.

»Strong man«, attestierte John.

»Wer ko, der ko«, strahlte der Tscharli.

Er sei bereits als Kind viel in den Bergen gewesen, ließ er mich mit plötzlicher Jovialität wissen, quasi jeden Sonntag mit seinen Eltern, damals hatte er das Wandern gehaßt. Schon allein das dauernde Grüßgott, wenn wer entgegenkam oder überholt wurde.

Zum Glück waren meine Werte kaum weniger gut, der Tscharli pfiff anerkennend durch die Zähne, klopfte mir auf die Schulter, »Werd scho, Hansi«.

Ich sei im Süden aufgewachsen, ließ ich ihn wissen, auch ich hätte am Wochenende mit meinen Eltern in die Berge gemußt.

Kapellen hätten bei unseren Wanderungen keine Rolle gespielt, versetzte ich, meine Eltern seien nicht katholisch gewesen.

»Zuagroaste«, schloß der Tscharli messerscharf, »mei«.

Dann schob er denselben kleinen Finger ins andre Ohr, kratzte sich, bis ihm erneut der Mund offenstand. Hamza sah ihm interessiert zu. John arbeitete die neuen Nachrichten auf seinen drei Handys ab. Der Tscharli kratzte und sah durch mich hindurch, vermutlich in irgendeine dieser Kapellen, auf seine Mutter, die im Dämmer vor dem Altar abkniete, tonlos ein Gebet flüsterte, sich aufrappelte, eine Münze in den Opferstock warf, eine Kerze entzündete, sich bekreuzigte …

»Denn da gäb’s ja auch überhaupts koan Grund, sich drüber lustig z’ macha!« fand der Tscharli wieder in unser Zelt zurück und zum Faden seiner Darlegungen, zog den Finger aus dem Ohr, roch daran und blickte mir fest in die Augen: Die Kerzen für all jene, die uns vorausgegangen, die würden uns, wenn’s soweit sei, den Weg leuchten.

Woraufhin wir eine Weile schwiegen. Offensichtlich war er ein noch seltsamerer Vogel, als ich zunächst vermutet, hatte auch seine eigene Form von Tiefsinn. Wenn er nur nicht immer so schnell zu seiner schrecklichen Form des Frohsinns

»Was tuast ’n da so bedeutungsvoll seufzen, Hansi?«

Ich nippte an meinem Tee und lauschte auf die Zeltplanen, an denen ein kleiner Wind zu zerren begonnen hatte. Notgedrungen tat der Tscharli dasselbe. Erst Samson scheuchte uns auf, der zum Abräumen gekommen und dabei so ungemütlich war, als wolle er uns zum Aufbruch drängen.

Wie wir vor dem Zelt standen, hatte, bei vollem Sonnenschein, ein leichter Schneefall eingesetzt. Der Tscharli rülpste, zog sich die Kapuze in die Stirn und klatschte in die Hände: »Wakala!«

Was soviel wie »Pack ma’s, Burschn, auf geht’s« bedeuten sollte, ich verstand ihn schon ganz gut.

*

Der Krater war von wirbelndem Leben erfüllt und verzaubert. Weil der Wind innerhalb der letzten Minuten kräftig aufgefrischt hatte, fielen die Flocken wie in einer Schneekugel, die man gerade geschüttelt hatte: in leicht kreiselnden Bewegungen, ein Teil der Flocken wurde wieder emporgetragen, schwebte über uns hin, ehe er einige Meter entfernt in verspielten Spiralen zu Boden trudelte. John hielt geradewegs auf den Gletscher zu, dessen Kante als türkisblaue Wand schemenhaft im

Nachdem wir ein paar Fotos am Gletscher gemacht hatten, schien uns die Sonne nicht mehr; anstelle eines heiteren Schneetreibens vor blauem Himmel sahen wir nurmehr Nebel. Trotz der Eile, die nun geboten war, machte John dieselben kurzen Schritte wie Hamza, polepole, selbst hier oben ging es auf diesem Berg nur ganz langsam voran. Gleichwohl war der Saum des inneren Kraters bald erreicht, schweigend standen wir nebeneinander und blickten in den Trichter. Am Rand war er schon von Schnee bedeckt, aber dort, wo er in die Tiefe führte, war er nackt und schwarz, es hätte mich nicht gewundert, wenn Dampf daraus aufgestiegen wäre. Fast alles, was als gegenüberliegender Kraterrand ragte, war bereits durch den Nebel verschluckt.

Weil der Schnee nun nicht mehr fröhlich wirbelte, sondern, vom Wind getrieben, in dichten Fäden schräg zu Boden klatschte, mußten wir erst noch ein Stück auf dem Kraterrand gehen, ehe wir das Kreuz sahen. Ein schlichtes Holzkreuz direkt am Rand des Kraters. Von der ursprünglichen Beschriftung konnte man nur noch ein paar Buchstaben lesen, die keinen Namen ergeben wollten. Es galt einem amerikanischen Touristen, der hier gestorben war; ob man ihn auch hier beerdigt oder im Kraterschlund als verschollen aufgegeben hatte, wußte keiner. So viele Gräber, die es auf diesem Berg gebe – wie sollte man von jedem die Geschichte kennen! Wir standen vor dem Kreuz und wußten nicht weiter. Auf einmal brummelte

Hamza und ich sahen ihm nach, bis er vom Nebel verschluckt war. Er wirkte sehr dünn und zerbrechlich, geradezu hinfällig, manchmal sah es so aus, als ob er im nächsten Moment stürzen würde.

*

Kurz bevor wir zurück im Lager waren, setzte der Sturm ein, er schlug uns den Schnee fast waagrecht ins Gesicht. Irgendwann tauchten die rotweißen Planen unsrer Zelte auf, zur Hälfte eingeschneit, ohne Hamza hätte ich nicht mehr zurückgefunden. Im Mannschaftszelt herrschte angespannte Stimmung. Samson ließ jeden wissen, daß dies nichts als der Anfang sei; erst wenn es wieder still geworden, ganz still, werde’s richtig ernst. Wir könnten froh sein, wenn wir uns morgen früh hier zum Dankgebet versammeln dürften. Der Herr sei mächtig, doch die Götter, die den Kibo beherrschten, seien es nicht minder.

Welche Götter er denn meine? fragte Dede. Schließlich wohne hier oben der Gott der Massai, jedenfalls wenn er nicht gerade auf seinem Hausberg sei, aber auch der Gott der Chagga – und wer weiß, wer noch, das Haus Gottes sei groß.

Das sei es, bestätigte Samson, und wer sich gerade darin aufhalte, wisse kein Mensch je zu sagen. Er war überzeugt, wir hätten beim Aufstieg irgendein Vergehen begangen, das den Gott erzürnt hatte – diesen oder jenen oder wahrscheinlich jedweden Gott, der es zufällig mitbekommen hatte. Obwohl er ein bißchen in die andre Welt hinüberblicken konnte, war Samson

Jedenfalls werde es ein Heidenspaß werden heut nacht, faßte der Tscharli auf seine Weise zusammen. Und das bei minus zwanzig Grad, »mir gangst«.

Minus zwanzig? Woher er das denn wisse?

Das habe er im Orinoco.

Es wurde Zeit, daß diesem Großmaul mal einer das Großmaul stopfte. Aber nein, John und Hamza nickten, minus zwanzig, damit sei zu rechnen.

Schon um vier servierte uns Samson das Abendessen. Zunächst einen Topf mit heißer Knoblauchsuppe. Als er dann Rührei mit einem Stapel verbrannter Toastbrote brachte und den Reißverschluß nicht richtig hinter sich zuzog, bellte ihn der Tscharli an:

»Tür zu, Chef! Oder hast du dahoam an Vorhang?«

Samson verstand kein Wort, begriff indes sofort. Der Tscharli lobte: »Geht doch.«

Mit Negern müsse man immer mal wieder Klartext reden, ließ er mich wissen, kaum daß sich Samson mit seinem »Enjoy your meal, sir« zurückgezogen hatte: Die bräuchten eine starke Hand. Andernfalls würden sie einem bald auf der Nase herumtanzen.

Die bräuchten sie ganz gewiß nicht! platzte mir endlich der Kragen: Und Neger seien es bekanntlich auch keine!

»Respekt!« ließ ich ihn wissen: Was er sich eigentlich einbilde? Die hätten ihn hier hochgebracht, ohne sie würde er nicht mal mehr runterkommen!

Die bekämen mehr Respekt von ihm, stemmte sich der Tscharli ein wenig von seinem Klappstuhl empor und schnappte nach Luft: mehr … mehr Respekt … als von einem dahergelaufnen Klugscheißer wie mir! Offenbar wollte er mir an die Gurgel: Die … die … Neger, jawollja. Oder was ein Samson meiner Meinung nach bittschön sei?

»Ein Afrikaner!« versetzte ich und drückte mich ebenfalls vom Stuhl hoch, klein beigeben würde ich nicht. John hob den Blick kurz von einem seiner Displays und sah mich fragend an. Hamza pulte sich umständlich einen Essensrest aus den Zähnen und schaute weg. Ein, zwei Sekunden schwiegen wir uns alle mit großer Inbrunst an.

»Ja freilich!« ließ sich der Tscharli zurück auf seinen Stuhl fallen und sackte mit einem Pfeifton in sich zusammen, als hätte man ihm den Stecker gezogen: »Was ’n sonst?« Aber ein … Afrikaner sei doch wohl erst recht ein Neger?

»Mit mir sprichst du nicht über Neger!« ließ ich ihn von oben herab wissen, und weil ich wußte, daß es ihm weh tat, betonte ich jede Silbe schön scharf und spitz und stichelnd. Erst dann ließ ich mich ebenfalls wieder auf den Stuhl ab. Um ihn weiterhin von oben herab zu fixieren, saß ich ganz aufrecht und mit durchgedrücktem Rücken, schön korrekt und kompromißlos und bewußt blasiert: »Selbst wenn sich das noch nicht bis Miesbach rumgesprochen haben sollte: Es heißt Afrikaner.«

»Afri-ka-ner …« Der Tscharli gab den abgebrühten

»Verdammte –«

Und ob ich selber nichts als ein Europäer sei? Oder doch ein Weißer? Und ganz eigentlich ein Deutscher, nein, ein feiner Han-se-at, was Besseres?

»– Scheiße!« schlug ich mit der Faust auf den Tisch, daß die Aluteller schepperten: Jetzt reiche es mir, er solle seinen Mund wenigstens beim Essen halten! Und darüber nachdenken, welch reaktionären Stuß er gerade verzapft habe.

Genau so. Es war längst überfällig gewesen. Der Tscharli war so verblüfft, daß er tatsächlich nichts mehr sagte. Er schüttelte nur ab und zu den Kopf, seine Haarsträhnen glänzten im Licht der Funzel wie eine Silbermähne, und dabei ließ er die Luft zwischen den Zähnen herauszischen, was jedesmal einen ziemlich scharfen Ton erzeugte. Der Sturm riß an den Zeltplanen und klapperte mit allem, was er draußen zu fassen bekam. Als sich der Tscharli erhob, wischte er sich mit der Hand übern Mund, dann übern Hosenboden, und bevor er im Dunkel draußen verschwand, steckte er noch mal den Kopf herein:

»Hornbrillenwürschtl, preußisches!«

*

Aus dem Zelt, in dem sich die Träger ihr Nachtlager eingerichtet hatten, drangen anfangs noch ein paar Gesangsfetzen. Dann hörte man lange nichts als den Wind. Ich hatte lediglich Schuhe und Jacke ausgezogen, um in den Schlafsack zu kriechen, und sogar die Mütze aufbehalten. Unsre Wasserflaschen waren

Ich hatte die Gesichtsöffnung meines Schlafsacks bis auf ein kleines Loch zugezogen und lauschte, ob ich irgendetwas hören konnte, was ein Rütteln hätte sein können, hörte aber nur meine eigenen Atemzüge. Aus den anderen Zelten, wo sonst mit Freude geschnarcht wurde, kam kein Laut, offensichtlich lag man überall auf der Lauer und spitzte die Ohren. War da was, draußen? Oja, da war was, ganz sicher war da was. Natürlich war ich nicht abergläubisch, woher denn! Doch so ganz auf sich allein gestellt, jeder in seinem Zelt und die Götter gegen alle, rückten sich die Dinge draußen doch anders zurecht als tagsüber unten im Tal. Da konnte schon was sein. Wenn man sich totstellte, ging es vielleicht weiter, hoffentlich.

Plötzlich hatte ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich riß das Loch so weit auf, daß ich den Kopf hindurchstecken konnte, und schnappte nach Luft wie einer, der am Ersticken ist. Als ich ein rasselndes Stöhnen vernahm, hielt ich erschrocken inne und lauschte nach draußen. Ja, da war was. Oder war’s nur ich selbst gewesen, der so gestöhnt? In ein paar

So lag ich und rang nach Luft. An der Zeltplane über mir hatte sich Rauhreif gebildet, der bald zu einer dünnen Eisschicht gefror. Im Schlafsack war es jetzt so kalt, daß ich permanent meine Gliedmaßen massierte. Wenn ich auf die Uhr sah, war es jedesmal noch Stunden hin bis Mitternacht, die Zeit stand still. Mit einem Mal hörte ich es im Zelt des Tscharli fluchen, »Heilandsack«, sodann rascheln, »Sakra«, hörte, wie er sich nach draußen zwängte, zu seinem Toilettenzelt tappte, sah den Lichtkegel einer Taschenlampe kurz über mein Zelt wischen. Er brauchte eine ganze Weile, um den Reißverschluß zu öffnen, »Imma ’s gleiche Gfrett«, anscheinend war er eingefroren, »Scheißglump, varreckts«, und dann wurde es wieder still, sehr still. Ja, verreck du nur, du Scheißkerl, dachte ich, dann sind wir alle erlöst.

***

Es war die lautloseste und längste und kälteste Nacht meines Lebens. Als gegen sechs Uhr morgens der Reißverschluß meines Zeltes aufgerissen wurde und Samson den Kopf hereinsteckte, wollte ich gar nicht glauben, daß alles überstanden sein sollte. Samson reichte mir einen Becher heißen Tee, und bevor er den Reißverschluß wieder hinter sich zuzog, sagte er halblaut:

»Now you are mountain king, sir.«

*

Schon vor Sonnenaufgang sah man, daß sich die Aschewelt des Kraters übernacht in eine wundervolle Winterlandschaft verwandelt hatte. Im Zwielicht fingen die Felsen der Kraterwände an, rötlich zu schimmern, darüber stand ein blasser Mond. Der Tscharli bedankte sich per Handschlag bei Hamza und John, umarmte erst den einen, dann den anderen. Sie in seiner Nähe zu wissen, habe ihm heut nacht sehr geholfen. Anschließend ging er zum Mannschaftszelt, um sich auch bei den Trägern zu bedanken, erst schüttelte er jedem die Hand, dann umarmte er ihn. Am Ende blieb nur noch ich übrig.

»Samma wieda guat, Hansi«, streckte er mir seine Hand hin, »immerhin hamma jetz wirklich was gemeinsam.« Eine solche Nacht zu überstehen, schweiße »quasi auf ewig« zusammen, »oda ned?«.

Er sah sehr krank und sehr blaß aus, seine Augäpfel schimmerten, als stünde ihm ein Wasser in den Augen. Ich dachte daran, daß ich ihm heute nacht den Tod auf den Hals gewünscht und daß ihm das vielleicht zusätzlich zugesetzt hatte, ein bißchen schäbig und vielleicht sogar schuldig fühlte ich mich schon.

Ob er wenigstens was Ordentliches dagegen habe? fragte ich ihn und ergriff die ausgestreckte Hand.

Freilich hätte er was dagegen. Einen eisernen Willen. Er habe sich den ganzen Berg hinaufgeschissen, nun werde er sich den ganzen Berg wieder hinunterscheißen, »Aus die Maus«.

Es stellte sich heraus, daß er bereits all seine Medikamente genommen hatte – ohne daß sich seine Verdauung im Geringsten beruhigt hatte. Ich fand noch sieben Tabletten Imodium in meiner Reiseapotheke und schenkte sie ihm, am besten nehme er gleich zwei davon.

Um halb sieben ging die Sonne auf, ihre Strahlen fielen auf die Wand, in deren Schneefeld wir gestern abgestiegen waren, die Felsen leuchteten ockerbraun und gelb und rot. Noch immer hatte uns Helicopter nicht zum Frühstück gerufen, anscheinend hatte er Schwierigkeiten, den Kopf wieder klar zu bekommen. Wir standen zwischen den Zelten herum und wärmten uns an unseren Teebechern. Dreihundert Meter über uns ertönte ein erster Gipfeljubel.

»Ready to rumble«, sagte Hamza.

»Jetzt mach ma die Flatter«, sagte der Tscharli.

»Pack ma’s«, sagte John, auf Deutsch.

»Wakala«, sagte ich. Aber man hörte es kaum, so leise sagte ich es.

Das war das erste Mal an diesem Tag, daß wieder gelacht wurde. Wie wir uns anschließend abklatschten und die Fäuste aneinanderschlugen, war ich, den süßen Schmerz in den Knöcheln spürend, dabei. »Alles klar, Herr Kommissar«, rief uns Samson zu, der bereits die Kloschüssel aus der Internet Cave

*

Als wir zwischen den Lavabrocken unsern Weg am Fuß der Kraterwand nahmen, 7:45 Uhr, fing der Schnee zu schmelzen an. Alle paar Minuten wurde hoch über uns gejubelt. Wir waren noch keine hundert Meter vom Camp entfernt, da hielt der Tscharli inne, drehte sich zu mir um und sagte, nein flüsterte mir fast atemlos ins Ohr: daß er sich so, genau so, das Totenreich vorstelle, ganz kalt und still und leer. Daß die Seelen nach dem Tod nirgendwo sonst als ausgerechnet hierher kämen, um sich dem Weltgericht zu stellen. Daß es ihn jetzt schon davor grause, wie es nach dem Sterben nicht etwa vorbei sei, sondern hier oben weitergehe, bis irgendeiner der Götter irgendeine Entscheidung getroffen hatte und die einen zum Jubeln nach oben dürften und die andern hier unten bleiben müßten, in Eis und Hagel und Hitze und … »Hal-le-lu-ja. Host mi?«

Er bemerkte, wie sehr er mich mit seinem Anfall von Vertraulichkeit überrumpelt hatte, legte mir ganz vorsichtig den Arm um den Nacken und sagte nichts mehr. Nach ein paar Sekunden der Stille, die ich auf diese Weise unfreiwillig, doch seltsam innig mit ihm geteilt hatte, fragte er mich in normaler Lautstärke und einigermaßen eindringlich, ob er ausnahmsweise auf mein »Häusl« dürfe, seins sei ja abgebaut. Noch ehe ich antworten konnte, war er unterwegs, wieder sah er von hinten so hinfällig aus, daß ich fast Mitleid mit ihm bekam. Es mußte ihn arg erwischt haben, auch John blickte ihm besorgt hinterher.

John und Hamza gingen mit kurzem Schritt voran, den hier jeder Bergführer hatte, der Tscharli nannte es »Hennadapperln«, die Schrittlänge entsprach kaum mehr als einer Stiefellänge. John telefonierte, Hamza mischte sich gelegentlich ein, anscheinend gab es was zu organisieren. Ich ging hinterm Tscharli, die kleine Deutschlandfahne auf seinem Rucksack im Blick. Dann das kleine Mammut, das als Aufnäher am Ärmel seiner roten Jacke angebracht war. Das Mammut, das in Kniehöhe auf seiner Hose saß. Das Mammut, das auf seinen Stulpen saß. Offensichtlich war er ein Fan dieser Marke. Später sollte er mir berichten, daß er sich seine Ausrüstung in Tansania und Kenia zusammengefeilscht habe, ausschließlich Fakes; wer sich was Echtes von Mammut kaufe, sei selber schuld.

Erstaunlich, wie oft er über einen der herumliegenden Felsbrocken stolperte. Der stolpert über alles, dachte ich. Geht trotzdem ruhig weiter, wie ein Muli. Stolpert, ohne ins Stolpern zu kommen. Oder ist er jetzt schon müde, hat keine Kraft mehr?

Viel später sollte mir der Tscharli erklären, daß Stolpern zum Handwerk gehöre. Wer nicht stolpere, gehe falsch, im Gebirge allemal. Sein Skilehrer habe ihm vor vielen Jahrzehnten eingeprägt, wer nicht mindestens einmal am Tag stürze, fahre verkehrt. Nämlich nicht am Limit. Daran habe er sich fortan gehalten. Wohingegen ich … »Bei aller Liebe, Hansi, du bist und bleibst hoit doch a recht’s Hornbrillenwürschtl. Des merkt a jeder, der hinter dir geht.« Mein Schritt sei immer leicht verzögert, um nicht zu sagen: ängstlich. Ehrlich gesagt, hinter mir herzugehen sei ziemlich anstrengend.

Als der Weg vom Kraterrand weg- und ins leere Innere des Kraters hineinführte, verschwanden auch die Lavabrocken. Wir gingen über die braunrotgraue Asche wie über feuchten Sand, der Tscharli konnte nur noch über seine eignen Füße stolpern. Ich war froh, daß sich unsre Wege bald trennen würden, schätzungsweise schon am Stella Point, es gab ja keinen Grund für die beiden Gruppen, weiterhin zusammenzubleiben.

Unversehens blieb der Tscharli wieder stehen, ich wäre fast auf ihn aufgelaufen. Linker Hand ein Stück von unserem Weg entfernt, in der Mitte des Kraters, war ein Fußballfeld zu sehen.

John und Hamza, die ein paar Schritte von uns entfernt angehalten hatten, grinsten. Der Tscharli drehte sich vertraulich zu mir um: »Der Schmarrn is mir zu groß.«

»Jetz steh ma da wiera Depp«, faßte der Tscharli zusammen. Wir hatten gerade knapp überlebt, andre trafen sich hier zum Kicken.

*

Noch ein paar letzte Schritte in der Stille. Kaum hatten wir den Aufstieg zum Kraterrand hinter uns und Stella Point erreicht, 8:30 Uhr, verwandelte sich der heilige Ort in einen Rummelplatz. Dort, wo ich gestern lediglich in Hamzas Gesellschaft, vom Barafu Camp kommend, gerastet und dann den Weg zum Uhuru Peak genommen hatte, herrschte um diese Uhrzeit der Trubel derer, die den Gipfel noch stürmen wollten, während ihnen andre schon entgegenkamen und versicherten, daß es nicht mehr weit sei. Ein paar Serpentinen unterhalb von Stella Point wurden einige von ihren Bergführern im Zeitlupentempo nach oben geschoben. Anderen hatte man ein quadratisch zugeschnittenes Schaumstoffkissen so übern Hintern geschnallt, daß sie sich überall fallen lassen konnten, ohne sich an den Felsspitzen weh zu tun. Gerade war eine Gruppe Russen angekommen, die Frauen zogen sich erst mal die Lippen nach, indessen sich die Männer bereits lauthals zum Gruppenfoto vor dem Schild »CONGRATULATIONS YOU ARE NOW AT STELLA POINT 5756M« zusammenrotteten.

Ein letzter Blick zurück auf die schaurig-ernste Schönheit

Oh, ich kannte diese Stelle gut, obwohl ich den Kibo gestern das erste Mal bestiegen hatte. Anscheinend hatte jeder Berg eine solche Stelle – oder sogar deren mehrere, verteilt nach physischer und mentaler Stärke derer, die sich in den Kopf gesetzt hatten, ihn zu besteigen. Alles andere am Berg war nur Vorspiel, an dieser einen Stelle kam es darauf an. Da galt es, die Zähne zusammenzubeißen und im Tritt zu bleiben. Oft und oft hatte ich es getan, als hätte ich damit wettmachen können, daß ich’s ein einziges Mal nicht getan – an einem anderen Berg zu anderer Zeit, gewiß! Doch auch diese längst verblaßte Erinnerung war mir während der letzten Tage wieder so klar und scharfgestochen vors innere Auge gerückt, als wäre sie erst ganz frisch und unverheilt. Oh, ich kannte diese Stelle gut.

Etwas weiter unten warteten Träger in violetten Leibchen, die sie über ihre Jacken gestreift hatten, um all jenen einen

Ja, da habe sie immer hingewollt, hatte sie nur mit den Achseln gezuckt: weniger des Berges als der Wolkendecke wegen, die ihn umgebe. Sie habe sich vorgestellt, daß man von diesem Berg aus auf den Wolken bis zum Horizont gehen könne und darüber hinaus, bis ans Ende der Welt und in den Himmel. Aber den Umzug nach Hamburg habe das Poster dann doch nicht überlebt.

Moment mal, hatte ich eine entsetzlich gute Idee gehabt: Da könnten wir doch mal zusammen hinfahren und nachsehen?

Ob wir gemeinsam über Wolken gehen können? hatte Mara gelacht, und damit war die Sache beschlossen gewesen. Wie oft hatte ich meine Idee später verflucht und vor allem, daß ich sie überlebt hatte. Just als ich die Erinnerung an Mara von den heraufziehenden Wolken ein für allemal davontragen lassen wollte – es wurde ja wirklich Zeit –, entschloß sich der Tscharli, aufsteigende Wanderer anzufeuern. Weil sich die nicht aufhalten ließen und schweigend an ihm vorbeizogen, konzentrierte er sich schnell auf die dazugehörigen Bergführer:

»Servus, du … Afri-ka-ner, du! Wumbu-zumbu, der Berg ruft, karibu!«

»No woman«, sagte der Tscharli, nachdem sie Ghettofaust und High Five ausgetauscht hatten.

»No cry«, sagte der Riese. Und nach einer Pause, wahrscheinlich blickten sie einander ganz tief in die Augen: »We are cappuccino.«

»You milk«, pflichtete der Tscharli bei, »me coffee.«

Erst jetzt brachen sie beide in Gelächter aus. Später erklärte mir der Tscharli, er meine alles immer genau so, wie er es sage, ohne jeden Hintersinn. Wenn er Witze über jemanden mache, nehme er ihn besonders ernst. »Dablecken« wolle er niemanden, am allerwenigstens Afri-ka-ner, im Gegenteil, das seien seine Sekundenfreundschaften, andre habe er nicht.

Das Wort »Sekundenfreundschaften« hörte ich von ihm noch öfter, und irgendwann notierte ich’s mir. In diesen Momenten am Berg wäre ich am liebsten sofort wieder losgelaufen, einfach bergab, weg von ihm und allen anderen. Doch jetzt kamen erst mal unsre Träger. Vorneweg Mudi, den iPod an der Gürtelschlaufe. Es lief einer der Hits, die ich Tag um Tag schon beim Aufstieg gehört hatte, Bongo Flava, tansanischer Hip-Hop, und noch immer sang Mudi leise mit.

»Polepole, babu!« rief ihm der Tscharli zu, und auch Mudi

»I don’t like him!« rief der Tscharli den Trägern zu und deutete auf Samson, der sogleich konterte, er möge ihn auch nicht, ganz und gar nicht, und kam, um ihn ausführlich zu umarmen, man hätte glauben können, sie hätten sich wochenlang nicht gesehen. Ich aß ganz langsam meinen Energieriegel, schraubte die Wasserflasche auf, nahm einen kleinen Schluck. Dann zog ich mir das Tuch von der Stirn und wickelte es sehr sorgfältig neu darum herum. Irgendetwas stimmte hier nicht. Auch wenn sie schon wieder alle lachten.