Hanser Berlin E-Book
Helene Hegemann
JAGE ZWEI TIGER
Roman
Hanser Berlin
ISBN 978-3-446-24447-4
© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2013
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Greiner & Reichel, Köln
Schutzumschlag: © Willem Stratmann /StudioAnti™
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
Wer kalkuliert, ist ein Feigling.
Kalkulieren besteht in Gewinn- und Verlustrechnungen.
Sterben ist Verlust, Leben Gewinn.
Wer kalkuliert, beschließt nicht zu sterben, stirbt aber trotzdem.
Der Jäger, der zwei Hasen jagt, verfehlt beide.
Wenn du schon scheitern musst, scheitere glanzvoll.
Jage zwei Tiger.
Written by Laibach, supervised by Chris Bohn, published on CD-booklet »Laibach-Kapitel« (Mute Records Limited 1992); translation by Carl G. Hegemann 1997, this version is authorised by NSK. Laibach is a part of NSK. NSK is the first global state on earth without territory. Printed by permission.
Ich jedenfalls sitze letzte Woche mit Maria beim Vietnamesen, und plötzlich kommt Binky Schweiger um die Ecke und quatscht uns an und freut sich seit Jahrzehnten zum ersten Mal, mich zu sehen, wahrscheinlich weil ich aufgrund meiner neuen Beziehung jetzt irgendwie eine Stufe aufgestiegen bin in ihrem Hierarchiesystem – freudiges Hallo, und plötzlich fängt dieses einfallslose, sich selbst in keinster Weise ihres bei mir überhaupt nicht vorhandenen Status bewusste Babe an, mir zu erzählen, sie sei ja Teil von einer Clique, die regelmäßig Girls Dinner veranstaltet, »das ist so was Ähnliches wie Ladies Lunch«.
Unglaublich. Ich frage also aus purer Höflichkeit, aber bereits megaabgeturnt: Und, wie gestalten sich diese Girls Dinner? Und sie zählt erst mal in einer unerträglichen Tonlage auf, wer da überhaupt zugegen ist, beispielsweise Nazan Merizadi, die Pseudofashion-Teppichhändlerin in ihrer selbstherrlichen Paschamanier, und Jutta Budelmann natürlich, Annette Krupp und Franziska Feuerstein, habe deren korrekte Nachnamen vergessen, auf Letztere mussten dann, weil sie nicht so bekannt ist wahrscheinlich, erst mal große Lobeshymnen gesungen werden, von wegen sie ist ja so süß und tough – blablabla, jedenfalls sei die ganze Scheiße im Endeffekt einfach ein Zusammentreffen verschiedener, dass ich diesen Ausdruck überhaupt noch wiederholen muss, ist grauenhaft, aber es geht an dieser Stelle leider nicht anders: Powerfrauen, die ihren Weg gehen etc., und ich sei herzlich eingeladen.
Weißt du, was das Schlimme war? Dass ich nicht wusste, wie man auf so eine bekackte Ansage reagiert, also vollkommen fehleingeschätzte Geschichte, sie so erwartungsfreudig ob meiner von ihr vorausgesehenen euphorischen Zusage, und ich konnte schlechterdings nichts erwidern, weil ich wahnsinnig geschockt war. Die Crème de la Crème der Scheiße trifft sich da einmal im Monat, vermutlich in soeinem vulgären Bordell wie dem Borchardt, und stilisiert das Ganze als nettes Get-together. Und dann sind sie stolz darauf, mich auf einen Olymp draufzuhieven, freundlicherweise, wo ich aber überhaupt keinen Olymp sehe, sondern eher eine Art aus der Matsche gehobenes Loch. Mein Gott. Mein Gott, wie furchtbar.
Du weißt, dass ich dir das nicht einfach so erzähle und mir aus diversen Gründen ohnehin abtrainiert habe, mich aufzuregen – Aufregung ist kacke, wo wir wieder bei der Diskussion über Stilfragen anlangen, die aus demselben Grund wie die ganze Aufregung bereits in grauer Vorzeit aus unserem Dunstkreis hätte verbannt werden sollen – dieses unangenehme Abfeiern von deren Lokalprominenz wird von mir hier gerade lediglich mit der Absicht dämonisiert, damit eine interessante Grundlage für die Geschichte zu entwickeln, um die es eigentlich geht. Nämlich um Binky Schweigers Tod, sie ist zwei Tage später bei einem Autounfall gestorben. Leider habe ich ein bisschen zu spät erzählt bekommen, dass sie vergangenes Jahr einen Heiratsantrag vom Oberidioten überhaupt, diesem bei ner entgegengesetzt seiner politischen Meinung ausgerichteten Tageszeitung angestellten Bauernaristokraten Arthur, gekriegt hatte, auf den alle Girls ständig so abfahren und der sich jetzt mal, nach drei gezeugten Kindern und langer Zeit der Uneindeutigkeit, auf jemanden festlegen zu wollen schien, nämlich Binky Schweiger – er so auf Knien vor ihr rumgerutscht mit nem Ring und wahrscheinlich auch ner Buttercremetorte, und was macht sie? Nein sagen. Big Time. Mit dem Argument, es tue ihr ja leid, aber sie stehe einfach auf dumpfe Surferboys, die gut im Bett sind, und sonst nichts.
Dies sei ihr posthum als guter Move angerechnet.
Nun zum Unfall. Sie hatte einen Sohn, elf Jahre alt, sein Name ist Kai. Wir haben ihn damals öfters in einer kleinen russischen Bar gegenüber vom Wasserturm gesehen, dort hat er nach der Schule immer Hausaufgaben gemacht und stundenlang Sudoku gespielt. Ein bisschen zu dick, ein bisschen zu unentspannt und ne fette Brille auf der mit unregelmäßigen Sommersprossen bedeckten Nase, unfassbar rührend, vor allem das liebevolle, von großen gegensätzlichen Ansichten geprägte Mutter-Sohn-Verhältnis. Ist ja auch immer super, im 3400-Euro-Lammlederkleid nach Hause zu kommen und sich zurück auf dieses auf Astronomie oder so stehende Kind in Adidas-Jogginghose besinnen zu müssen, auf dem Sofa, kariertes Hemd dazu, gegelter Seitenscheitel, das sich gut mit Technik auskennt. Die beiden waren letzte Woche auf dem Weg nach München, in Binkys Alfa Romeo. Des Kindes Vater scheint dort zu wohnen, und sie musste arbeiten beim Event irgendeines Modeblogs, wo mal wieder zwei aus bayrischen Kaffs stammende Pseudo-Larry-Clarks versucht haben, Christiane F. nachzuspielen, als Fashionstatement also kleine Upperclassgirls in mit roter Farbe gesprenkelte Neubauzimmer stellen und dann abfotografieren, wie eine von denen gerade ne Spritze wegwirft, im Hintergrund am besten noch das Wort »Sex« mit Lippenstift auf ne rohe Betonwand geschmiert. Ganz so schlimm war es wahrscheinlich nicht, trotzdem. Es ging um die in diverse undefinierte Undergroundrichtungen getrimmte Aufpolierung eines Turnschuhlabels, alles supersick, diese inszenierte millionenschwere Guerilla-Idee von Coolheit.
Kai sollte einfach seinen Vater sehen dürfen, der offenbar ein Arschloch ist und reich, weshalb Binky Schweiger, wie wir alle wissen, völlig unterbezahlt, wollte, dass er ihrem gemeinsamen Kind dessen größten Wunsch finanziert: drei Wochen Hawaii und dort mit Delfinen schwimmen. Stilecht. Irgendwo hinter Leipzig auf der Autobahn passierte dann die große Scheiße, nämlich dass Binky unter einer Brücke durchfuhr und genau in diesem Moment ein Vierergespann hysterischer Realschüler auf Jägermeister die glorreiche Idee hatte, einen großen Felsbrocken, nicht unbedingt Felsbrocken, aber zumindest einen großen Stein auf die Autobahn zu schmeißen. Thomas, Nina, Jonas und ein Mädchen, dessen Namen die drei anderen vergessen hatten, kamen gerade aus der Kanubau-AG, waren da alle zehn Minuten aufs Klo gegangen, um sich als Rebellion gegen das Schulsystem auf der Toilette zu besaufen und gegenseitig zu beleidigen – also ein relativ simpler Vorgang. Stein knallt durch Windschutzscheibe direkt auf Binky Schweiger drauf. Das Auto bleibt nicht sofort stehen, sondern rast mit dieser erschlagenen Mutter am Steuer, das dementsprechend außer Kontrolle geraten ist, noch durch die Leitplanke auf ein Stück Wiese, um dort dann endlich anzuhalten.
Hardcore, oder? Aber irgendwie auch geil.
Kai auf der Rückbank, das Ganze hatte ihm natürlich die Sprache verschlagen. Binky lag blutüberströmt über das Steuer gebeugt, ihre Hose war durchnässt, ein Arm in schrägem Winkel irgendwo eingeklemmt. Es dauerte ungefähr dreißig Minuten, bis ein kleiner Ford Fiesta aus der anderen Richtung auftauchte und anhielt. Zwei Mittzwanziger stiegen aus, eine Frau (Tiermedizinstudentin) und ein Mann (lustigerweise Gründer einer Erste-Hilfe-Kurs-Institution am Alexanderplatz, konzipiert für Menschen, die ihren Führerschein machen wollen, aber keinen Bock haben auf Stuhlkreise und sich die Ersthelferscheiße dann vier Stunden beaufsichtigt vor nem Computerprogramm eintrichtern lassen können). Die beiden rannten auf das Auto zu. Kai versteckte sich im Fußraum und gab die komplette Zeit über keinen Laut von sich, weshalb sie ihn zuerst nicht bemerkten, sondern nur Binky nach draußen zerrten, in einer Mischung aus Sensationsgeilheit und Überforderung angesichts des ersten als solches zu bezeichnenden Dramas in ihrem Leben – der Typ so: »Okay, stabile Seitenlage nur, wenn noch irgendwo ein Herzschlag zu lokalisieren ist.« – »Glaubst du, es gibt hier in der Nähe ne Tankstelle mit nem Defibrillator?« – »Nein. Wir müssen sie wiederbeleben, ruf einen Krankenwagen.« – »Wenn du einmal am Patienten dran bist, kommst du da nämlich nicht mehr weg, ist das nicht so? Ist das nicht so ein Psychoding, wo man zurück auf den Trip des natürlichen eindimensionalen Denkens des Tieres, das man mal gewesen ist, geführt wird und nur noch geradeaus kann?«
»Ein andermal, Franziska.«
Innerhalb der nächsten fünf Minuten wurde einige Meter vom Auto entfernt über Binky Schweiger gebeugt herumgenuschelt, Kai konnte nicht genau verstehen, worum es ging. Er erinnerte sich an seinen letzten Traum, in dem er und Binky und alle Leute, die die beiden kannten, vorgekommen waren, Kai hatte einen Vampir und einen Geist gesehen, aber das Element, das ihm den größten Schrecken eingejagt hatte, war seine sich im strömenden Regen zu einem Dinosaurier mit Schuppenkamm entwickelnde Mutter, die mit einer Axt versuchte, ihr eigenes Grab auszuheben. Schlagartig wurde eine esoterische Mega-Ebene zu seinem Bewusstsein dazuaddiert, er alterte in dem Moment der Feststellung seines bedeutenden Verlusts um fünf Jahre, beschloss in seinem neu gewonnenen Reflexionsvermögen, sich von nun an nur noch auf sich selbst zu konzentrieren und deshalb als einzigen Schritt der Selbstverteidigung cool zu bleiben. Aus Neugierde verließ er das Auto. Der deformierten Person, die jetzt nichts anderes mehr für ihn war als eine Ansammlung überlebender Bakterien, wurde von dem Ersthelfer das T-Shirt vom blutüberströmten Leib gerissen, der Typ maß mit seinen Fingern irgendeinen Abstand zwischen zwei Rippengegenden ab und begann laut zu zählen, wie oft er sich noch auf ihrem Herzen abstützen müsse. Als er bei dreißig angelangt war, bestand sein erster Impuls in einem dynamischen Übergang zur Mund-zu-Mund-Beatmung – Binkys Gesicht bestand jedoch nur noch aus Rotz, Blut und verschiedenfarbigen anderen Körperflüssigkeiten, wahrscheinlich quoll auch schon Gehirnmasse aus Löchern, also drehte er sich zu seiner Begleiterin um und teilte der nach einem langen Ausatmen mit: »Ich kann doch meinen Schülern nicht eintrichtern, dass sie Situationen sterilisieren, also im Klartext: ihre eigene Gesundheit als das Wichtigste betrachten müssen, und hier jetzt selber die Infektionen einer Fremden ablecken!«
Die Frau, sowieso schon die ganze Zeit den Tränen nah, nickte verständnisvoll und wandte sich vor lauter emotionaler Überforderung ab. Der Typ machte seine Sportschuhe vernünftig zu und dann mit der Herzmassage weiter, nach neuesten wissenschaftlichen Standpunkten konnte die selbst ohne Beatmung weiterhelfen. Die Frau stand auf. Und genau in diesem Moment bemerkte sie den Jungen.
Wie er da mit nahezu geschwellter Brust neben dem Auto stand und anstatt Mitleid oder Verantwortungsgefühl ausschließlich Staunen in ihr auslöste. Ein dermaßen wissender und straighter Blick, als wäre er gerade selbst gestorben. Die Frau ging einen Schritt auf ihn zu, er einen Schritt nach hinten. Und als Kai realisierte, wie stillos und inadäquat es sein würde, morgen beim Kinderpsychologen das Verhältnis zu seinem Vater mit dem spontan gewählten Abstand zwischen zwei Bauklötzen zu visualisieren, fing er an zu rennen. So schnell und ausdauernd wie nie zuvor in seinem Leben. Von der an die Autobahn angrenzenden Wiese, auf der er es schaffte, den durch tägliches Marathontraining klar im Vorteil befindlichen Ersthelfer abzuhängen, hinein in eine dunkle Pflanzenformation, meterhohe Fichten mit den Sternenhimmel vollständig verdeckenden Kronen, ein unendlich erscheinender Wald, der beeindruckender und angsteinflößender funktionierte als in allen Modefilmen und skandinavischen Elektromusikvideos, wo die Leute immer in fetzigen Kostümen durch die Dunkelheit latschen und der ausgedachte Rahmen dafür beispielsweise eine Krankheit ist, die das Blut grau werden lässt und eine derartige Apathie bei ihnen auslöst, dass sie zurück in die Natur müssen und da mit Glitzerpuder bestäubt in Ekstase geraten, oder Kinder in Piratenkostümen machen sich da auch immer gut, schön in Slow Motion abfilmen, wie die Edeltannen hochklettern, damit dem Regisseur die Möglichkeit gegeben wird, zu heucheln, er wolle damit eine Stellungnahme zum hochinteressanten Thema »Pubertät« erzielen. Egal. Kai fürchtete sich jedenfalls nicht im Geringsten. Er rannte und betrachtete seine Lungenschmerzen als lapidar, bis seine Beine wegknickten und er hustend in einem Matschhaufen liegen bleiben musste. Er drehte sich auf den Rücken, dachte an die Delfine, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und fing an zu weinen.
Er wurde geweckt von kommunikativen Lautäußerungen, die längst keine mehr waren. Vielmehr eine durchdringende Mischung aus Panik, Verzweiflung und Kapitulation. Er spürte seine Beine nicht mehr. Von weitem sah er die Umrisse gebeugter Wesen auf sich zukommen, deren Schreie immer lauter wurden. Es waren Hunderte, einige wenige humpelten, die meisten krochen langsam auf allen vieren oder zogen mit den Armen ihre zerfetzten Rümpfe hinter sich her, alle paar Meter gab eines von ihnen auf und blieb reglos im Laub liegen. Je näher diese Meute träge umherirrender Organismen ihm kam, desto mehr bestätigte sich seine Angst, dass es sich um Menschen handelte und er Teil dieser Verdammnis war. Blutig entstellte Menschen mit halbverwesten Gesichtern, deren Kleider durchnässt und zerrissen waren und von dunklen Malen überzogenes Fleisch offenbarten, er blickte an sich runter und sah Maden an sich nagen. Blattförmige, gabelig gespaltene Riesenwürmer, durch deren milchig durchsichtige Haut ihre sich mit seinem Blut füllenden Mägen schimmerten, sein Körper war nicht mehr eigenständig und geschützt vor der Natur, sie ging in ihn über, die Insekten krabbelten in seine offene Bauchdecke, ohne dass er etwas davon spürte, er konnte es nur beobachten. Die Spitze der geschändeten Menschen näherte sich ihm, es war ein alter Mann, nur noch einige Meter von ihm entfernt. Er trug ein regloses Baby in den Armen, das keine Füße und Hände mehr hatte. Der Mann schrie nicht, aber es liefen ihm Tränen über das Gesicht, und als er Kai entdeckte, kämpfte er mit letzter Kraft darum, ihm zuzuflüstern, er solle weder vor Erniedrigung noch vor Gift fliehen, den Tod gebe es nicht in dieser Welt und man solle ihn deswegen auch nicht fürchten.
Als Kai zum zweiten Mal seine Augen aufschlug, hörte er Vogelgezwitscher, die bedrohliche Dunkelheit war einzelnen, sich durch die Bäume kämpfenden Sonnenstrahlen gewichen. Er wusste, dass er nicht sterben würde. Die Tiere flohen vor ihm, als er sich zu bewegen versuchte. Seine Beine funktionierten, seine Zehen, seine Finger, er konnte seinen Kopf drehen und sich aufrecht hinsetzen. Er dachte: »Alles ist unsterblich«, und er war allein.
2
Er würde für den Rest seines Lebens allein bleiben. Seine Mutter hatte ihm ununterbrochen ein Mantra vorgebetet, dass er davonlaufen müsse, wenn er sich nicht wehren könne, und Feuer oder Vergewaltigung schreien. Er solle brennen, wilder sein als seine Provokateure und zugleich wie ein Renaissancegemälde aussehen, egal, ob er sich vor einer für 800 Euro mit englischen Seidenmalereien tapezierten Betonmauer befinde oder in vergletscherten Kesselmoorlandschaften. Kai konnte laufen, es kam ihm vor, als hätte die Natur seinen erbärmlichen Menschenkörper in ihrer Gewalt, schmerzhaft und unbezwingbar. Trotzdem schützte ihn der verdreckte Wald mit seiner natürlichen Gleichgültigkeit vor einer Realität, in der ihm längst instabile Knochenbrüche mit Polytrauma diagnostiziert und ein mit Pinguinen bedrucktes Nachthemd übergezogen worden wäre, hier zu sein war die einzige Möglichkeit, die Zeit anzuhalten und eine Strategie zu entwickeln, die Scheiße auszuhalten, irgendwie durchzukommen, durch diesen fürchterlichen hellen Tag. Alles war zu hell, es war unerträglich. In seine Beckenknochen liefen aufgrund diverser Gefäßverletzungen gerade ein bis zwei Liter Blut, nebensächlich, kalter Schweiß, zerquetschtes Unterhautfettgewebe in der Breite eines Autoreifens, es war wirklich egal. Ihm fiel eine Geschichte ein, die er oft gehört hatte, als er klein war – von einem erfolglosen Exfreund seiner Mutter, Halbindianer mit einem von Leberflecken übersäten Körper und dunklen Haaren bis zum Arsch. Er hatte Kai andauernd von einem Jungen erzählt, in dessen Körper sich das komplette Universum befand – solange er den Mund geschlossen hielt, war er bloß ein schmächtiges, kleines gehänseltes Kind. Öffnete er ihn jedoch, spielte sich in seinem Hals die komplette Existenz alles je Dagewesenen ab. Dieser in der Nightlifebranche beheimatete Mann hatte eines Nachts zwei spanische Teeniegirls mit nach Hause genommen und war dementsprechend plötzlich weg gewesen vom Fenster, Kai erinnerte sich nicht mal an seinen Namen, realisierte jetzt jedoch endlich, worum es in der Geschichte überhaupt ging. Darum, dass er selbst gleichzeitig das Universum und dessen kleinster Teil war. Und sich alle Menschen permanent im Zentrum dieses Widerspruchs bewegen mussten, um lebendig zu bleiben.
Stundenlang lief Kai durch das hochmystische Ambiente, mit gesenktem Kopf durch das Laub, es war Herbst, bis er etwas Silbernes zwischen den Blättern aufblitzen sah, das den Anschein uneingeschränkter, unberührter Natur zerstörte. Ein in der Erde befestigter Metallhaken, von dem ein diagonal gespanntes, dunkelblaues Seil ausging. Kai konnte vor lauter Botanik nicht sehen, wohin es führte, also kämpfte er sich durch die Büsche. Das Seil endete an einem von vier zwei Meter hohen Masten auf einem kleinen, von Tannen umgebenen Seeufer. Über den Masten hing eine rote Plane, auf die weiße Sterne gedruckt waren, es war ein halb abgebautes Tierzelt mit bunt angemalten, hüfthohen Gittern, die teilweise schon gestapelt auf dem Boden lagen. Ein einziger Ziegenbock graste unangeleint vor sich hin, aus der Ferne ertönte das Meckern seiner bereits weggeführten Kollegen. Wieder Menschenstimmen, von sehr weit weg, relativ hysterisch, jedoch auf einer langweiligeren Ebene als in seinem Traum, sie schienen sich auf Ostdeutsch über Sonderangebote verschiedener Discountsupermärkte zu streiten. Das Bild des allein gelassenen Tiers war surreal, wie es da graskauend stand und Kai anstarrte, umgeben von dieser Käfigruine. Der Großteil des bunten Lacks war abgeblättert, und der sternenbesetzte Zeltstoff hatte Löcher.
Kai befand sich gegen seinen Willen in der Zivilisation. Und zwar in einer, die nichts mit seinem bisherigen Alltag zu tun hatte (in dem er, umgeben von eiweißlastig ernährten, reit- oder Tai-Chi- oder karatebegeisterten Kindern, in die fünfte Klasse einer bilingualen Ganztagsschule gegangen war oder mit seiner Mutter durch mit Kunst behangene Hallen an Menschen vorbei, die Binky immer genervt hatten, weil man anhand der pseudosubversiven Statements ihrer Anziehsachen und Haarschnitte sofort feststellen konnte, aus wie vielen und was für Designklassikern deren Inneneinrichtung bestand, ab und zu noch ein paar kalkulierte Brüche, irgendein bambusmäßiges, aus Bali eingeflogenes Windlicht zum Beispiel, oder ein Motörheadposter zwischen dem Eames-Softpadchair und irgendwas vom Flohmarkt, eine mit Perlmuttknöpfen beklebte Kommode, über der eine Pfauenfeder schwebt, grau gestrichener Beton mit Perserteppichen oder Echtholzparkett, sogenannte Scheißkreativoasen, in denen sich an folkloristischer Kunst geschätzte Einfachheit und Schlichtheit widerspiegelt, und auf keinen Fall Hängeschränke in der Küche). Das, was er unter seiner momentan so verhassten Realität verstand, war an diesem Ort dermaßen jenseits, dass er sich traute, an der Ziege vorbei zum Wasser zu gehen. Die Ziege folgte ihm sogar. Am anderen Ufer des riesigen Sees befanden sich ein paar Villengrundstücke, die mehr oder weniger tot aussahen. Die zum Ufer hinabführenden Hänge waren vom Nebel verdeckt. Weiter nördlich, ein bis zwei Kilometern entfernt, stand eine Neubausiedlung aus drei- bis vierstöckigen identischen Betonklötzen. Kai hatte sich inzwischen langsam den Menschen genähert, zu denen die Stimmen gehörten und die selbst ein Kleinkind den genannten Betonklötzen hätte zuordnen können – im Schutz irgendwelchen Zierstrauchgestrüpps beobachtete er drei Frührentner auf Stoffliegestühlen, der dickste von ihnen komplett nackt, die von zwei um ihr Lager herumtollenden Hunden aus ihrem Gespräch über Kartoffelknödel gerissen wurden. Und quasi hineingetrieben in einen Kampf gegen das andere, die Hunde und deren Besitzer, die ihnen keine Probleme bereiten würden und gerade deshalb ein Grund waren, sich mit großer Aussicht auf ein Erfolgserlebnis gegen sie zu wehren.
Der eine Hund war eher ein Meerschwein, der andere eine sogenannte bayrische Gebirgsschweißdogge in Ponygröße, mit ungestutztem Fell, leicht debil wirkend, das kann man leider nicht anders sagen. Während sich der Frührentner Augen weiteten und sich das ganze Schwergewicht ihrer nackten Leiber in Angriffsstellung brachte, strahlten die Besitzer der Hunde eine Überlegenheit aus, die Kai bereits beim Anblick ihrer sich nähernden Silhouetten aus seinem bisherigen Lebenskonzept warf – das war er ohnehin gerade losgeworden und er selbst dementsprechend in einem sehr porösen Zustand. Das, was er da mitkriegte an Coolness und Andersartigkeit, war wie eine Offenbarung, nicht wirklich zu begründen zwar, aber existent und sich zu einer in dieser möglichen Neuorientierung liegenden Hoffnung entwickelnd. By the way, Kai hatte Schmerzen, extrem vielschichtige, die sich in Intervallen durch seinen Körper zogen und nicht mehr zu lokalisieren waren, aber wenn man jung ist, stirbt man nicht so leicht. Wie seine Mutter immer zu sagen gepflegt hatte. Man stirbt nicht so leicht, wenn man jung ist, und das ganze psychotische und zerstörte Material verwaltet sich dahingehend selbst, dass jede einzelne Zelle danach schreit, am Leben zu bleiben.
Die Hunde rannten jedenfalls zum Wasser, der exaltierteste der Frührentner sprang schwerfällig auf und schrie den Besitzern zu, wo denn die Leinen und die Hundemarken seien und dass er die Polizei rufen werde. Seine zwei Begleiter, in ihren geschlechtsneutralen Cargopants, untermalten dies mit vorwurfsvollem Stöhnen. Es war zum Kotzen. Bei den Hundebesitzern handelte es sich um einen Mann und eine Frau, knapp über zwanzig in gefakten Markensporthosen. Der Mann lachte, rief die Hunde zu sich (»Tequil!, Sunrise!«) und brach einen Ast von einem Busch ab, um ihn in die Richtung der Liegestühle zu schmeißen. Kai wurde aus der Ferne mit der bedeutendsten Armmuskulatur konfrontiert, die ihm je untergekommen war. Im Gegensatz zu seiner Begleiterin war der Mann nicht im Geringsten hübsch, eine zu große, offenbar mehrmals gebrochene Nase, winzige Augen, undefinierbare Haarfarbe. Aber seine derart selbstverständlich durchtrainierte Körperlichkeit, die Haltung, das Lachen und seine Haut, die aus unerfindlichen Gründen im Sonnenlicht glitzerte (ja, glitzerte, Reste von Bodyspray aus dem Drogeriemarkt würde ich mal vermuten, ein Glitzern, das er uneingeschränkt zu seiner natürlichen Physiognomie hätte zählen können) – irre attraktives Alien. Der Frührentner wusste sich ob dieser Provokation nicht anders zu helfen, als die dem Stock hinterherstürmenden Hunde mit einem Handtuch zu verscheuchen. Die Hunde erkannten darin eine Spielaufforderung und versuchten immer hysterischer, das Ende des Handtuchs zu fassen zu kriegen. Der Frührentner begann nach ihnen zu treten. Er erwischte den größeren so hart an der Schnauze, dass er zur Seite geschleudert wurde und sich sekundenlang nicht mehr rührte. Bis er einen unglaublichen Schrei ausstieß, der in ein Winseln überging. Der zweite Hund rannte bellend hin und her, blieb stehen, konnte sich nicht zwischen Knurren und Heulen entscheiden, der Frührentner bekam Schiss. Nicht vor dem Zwerghund, sondern vor dessen merkwürdig glänzendem Besitzer, der auf ihn zurannte. Er versuchte von der Situation abzulenken, mit dem unbeholfenen, sich auf den abgebrochenen Ast beziehenden Satz: »Und jetzt auch noch die Natur kaputt machen, ihr asozialen Spinner! Wo sind eure verdammten Hundemarken?«, woraufhin der Glitzertyp, nachdem er an ihm vorbei zu seinem Hund gerannt war, ruhig (sinngemäß) erklärte, der Busch, von dem er den Ast abgebrochen hatte, sei bereits tot gewesen, er wolle sich weder Respektlosigkeit gegenüber der Natur unterstellen lassen noch respektlos werden gegenüber den Vollidioten, die da mit ihrem LIDL-Einweggrill tagtäglich tonnenweise Müll produzieren und damit die in dieser Gegend lebenden Tiere umbrächten, er habe generell keinen Bock mehr auf diese unfassbar aggressive und gelangweilte Kleinbürgerlichkeit – es tue ihm leid, dass ausgerechnet diese von Gott in Punkten wie Attraktivität, Intelligenz und Charme benachteiligte Gruppe von Leuten für seinen Wutausbruch herhalten müsse, aber er sei zu oft konfrontiert worden mit dieser Scheiße und er hasse die Gegend hier, er hasse die Bevölkerung, er würde am liebsten ihre verfetteten Brustkörbe nach und nach mit zentnerschweren Eisengewichten beladen, bis sie endlich aufrichtig gestünden, asozialer Dreck zu sein, der nichts vom Leben versteht – andernfalls würden nämlich ihre Brustkörbe zerbrechen. Das musste mal gesagt werden.
Zum Ende seines unerwartet gut formulierten Ausbruchs hatte der Hundebesitzer die Stimme erhoben, trotzdem lachte er, genau wie die Frau neben ihm, die ihn beschwichtigend am Arm nahm und mit dem tollen Satz »Hau rein, Pascal!« in die Richtung zog, aus der sie gekommen waren. Im Gehen drehte sie sich noch mal um und schrie der naheliegenderweise konsterniert wirkenden FKK-Konstellation entgegen:
»Haben Sie hier eigentlich ne gottverdammte Nacktliegemarke?«
Normal.
Der große Hund hatte sich zwischenzeitlich berappelt und war nun auf Kai zugerannt in sein Versteck zwischen den Büschen, um dort hinzukacken, einen riesigen Haufen, der drei bunte, elastische Hohlkörper aus Naturkautschuk beinhaltete – zerbissene Luftballons, wie Kai messerscharf kombinierte, er schien sich allen Ernstes in der Nähe eines die ineinanderlaufenden Grauabstufungen bekämpfenden Zirkus zu befinden, er staunte nicht schlecht. Dann fiel ihm ein, dass seine Mutter gestorben war, er seit anderthalb Tagen nichts gegessen oder getrunken hatte, dass vermutlich gerade große Gruppen von Männern systematisch den Wald nach ihm durchkämmten und er nicht ohne bleibende Schäden davonkommen würde, momentan fühlte sich sein Körper nämlich an, als würde er von Eiszapfen durchbohrt. Er gehörte nun also zu der Gruppe ins kalte Wasser geschmissener Kinder, deren Abenteuer ganze Fantasytrilogien füllten. Er erinnerte sich an eine Romanfigur namens Trevor oder so, der im Alter von elf Jahren Wildschweinfallen, Flöße und wetterfeste Waldhütten aus Palmblättern bauen konnte – und begann also mit größenwahnsinnigem Überlebensinstinkt, Stöcke zu sammeln und Ausschau zu halten nach Brombeerbüschen und weggeworfenen Getränkedosen, allerdings nur fünf Minuten lang, dann überwog wieder die Verzweiflung, und er setzte sich vollkommen kraftlos in den Matsch, um dort im Schneidersitz hospitalistisch vor und zurück zu schaukeln. Kai biss sich ziemlich in den Arsch. Er hatte den von der evangelischen Kirchengemeinde angebotenen Pfadfinderclub damals bereits nach der ersten Stunde verschmäht, weil da eh nur alle im Hinterhof im Kreis hatten stehen müssen und Aufgaben gestellt worden waren wie: Der, der am schnellsten Klopapier gefunden und seine Gruppenkollegen damit eingewickelt hat, kriegt ein Diddlblatt zur Belohnung. Bei schlechtem Wetter wurden die Kinder nach drinnen gesetzt und bekamen Weltkugelmandalas, die zu esoterischer Hintergrundmusik von außen nach innen ausgemalt werden sollten. Der Entspannung wegen. Wie zur Hölle konnte es in einer Institution für Survivaltraining bloß um Scheißentspannung gegangen sein, fragte er sich. Wozu hatte er sich im Biologieunterricht stundenlang mit der Bandscheibe des mexikanischen Stirnlappenbasilisken beschäftigt, wozu Kinderkrimis im Fernsehen gesehen mit der moralischen Schlussfolgerung »Fairness siegt«, wozu war es gut für ihn, jetzt, Tischtennis spielen gelernt zu haben oder die vernünftige Herangehensweise an Strukturen auf Mathematikarbeitsblättern, verdammt, statt vorbereitet worden zu sein auf das sich im Moment einstellende Level von Verlust, Verlorenheit und Radikalität, der alles, was ihm bisher begegnet war an Informationen und Lifestylekonstrukten, außer Kraft setzte?
Die Barriere, die man Respekt vor der Gesellschaft nennt, brach gerade ein für alle Mal zusammen, Kai stand auf, wischte den Dreck von seiner Hose, spuckte in die Hände und fuhr sich damit mehrmals durchs Gesicht, um die Spuren seiner bisherigen Odyssee zu beseitigen. Dann rannte er in die Richtung, in die die Zirkusleute gegangen waren.
Zwei Stunden später erfolgte die Erkenntnis, dass er im Kreis gelaufen und wieder an dem Seeufer angekommen war, wo er die Ziege getroffen hatte. Inzwischen waren die Gitter und Masten jedoch weg, nur noch die zerrissene Plane lag da. Von weitem hörte er ein definitiv durch Menschenkörper erzeugtes Rascheln im Gebüsch, Klirren von Metallstäben und eine tiefe Stimme die Songzeile »Motherfucker, it’s a perfect crime« singen, Guns N’ Roses, 1991, das Use Your Illusion-Album, völlig durchgeballert. Als Kai vorsichtig den Geräuschen folgte, sah er plötzlich Pascal wieder, die Metallzäune lässig unter beide Arme geklemmt, die Leine der Ziege an seinem Gürtel festgebunden.
Mit unbeholfenen, aus Indianerfilmen abgeguckten Schleichskills heftete Kai sich sozusagen an Pascals Fersen, eine halbe Stunde lang, bis sie an einem von Grasflächen umrandeten Sandplatz ankamen. In dessen Mitte wurde gerade das Zirkuszelt abgebaut. Es hatte dieselben Farben wie die Stallung am Ufer, Rot und Blau mit weißen Sternen und gefühltem Platz für 600 Personen, 450 Quadratmeter groß, fünfmastig. Mehrere Männer schrien sich Dinge zu, schraubten riesige Haken aus der Erde, kletterten die diagonal zur Zeltspitze hinaufführenden Spannseile hoch, um Schrauben zu lockern oder die Dachplanen aufzurollen. Um das Zelt herum standen Wohnwagen, der größte von ihnen hatte eine Terrasse, von der aus zwei kleine Kinder in Badeanzügen Miniaturhelikopter fernsteuerten. Dort, wo mal die Manege gewesen war, lagen nur noch Sägespäne. Die Frau, die Kai mit Pascal am See gesehen hatte, fegte die Späne zusammen, die anderen sammelten Klappstühle ein und zerlegten Sitztribünen, um sie in einen von drei riesigen schwarzen Lastern zu tragen, die hinter den Wohnwagen standen. Es waren acht Menschen, die routiniert ihre Aufgaben durchzogen und währenddessen in keiner Weise wirkten, als wollten sie je eine Form der Selbstverwirklichung anstreben, die über die Zugehörigkeit zu diesem System hinausging. Wo man auch hinsah, zeichneten sich unter Trainingsanzügen Muskelstränge ab, derentwegen Kais Mutter jahrelang vergeblich Geld für Pilates ausgegeben hatte. Und all diese Leute wirkten verwandt, durch ihre dicken, schwarzen Haare, die Haut einen Ton dunkler als der mitteleuropäische Standard und dazu dann helle Augen, natürlich auf Kai eine Wirkung ausübend, die ihn, zwischen der üblichen sich unter Empathiefassaden tarnenden Asozialität, umhaute.
Abgesehen von gelegentlich rumgebrüllten Kommandos war es still. Bis eine Frau aus einem der Wohnwagen trat, drei weiße Tauben auf der Schulter und zehn bis zwanzig weitere in einem riesigen Bastkorb vor sich hertragend. Sie hatte ein weißes Paillettenkleid mit Tüllrock an, gigantisch, allerdings nur halb angezogen, es war aufgrund des offenen Reißverschlusses bis zur Hüfte runtergerutscht. Unter dieser Abendrobe kam ein billiger, halb kaputter Nylonbody zum Vorschein, der so schlecht saß, dass sich Fettwülste unter den Bündchen hervorquetschten. Extremes Make-up, angeklebte Wimpern, abgesehen davon ziemlich attraktiv. Während sie gleichzeitig die Tauben und den Rest ihres Outfits zusammenzuhalten versuchte, ließ sie Hasstiraden los auf jemanden, der sich noch im Wohnwagen befand – und nach einigen Sekunden herauskam, mit gesenktem Kopf. Ein Mädchen, zur Abwechslung blond.
Ohne sich anzugucken, liefen sie über den Platz und schrien sich an.
»Ey, ich bin keine fünf mehr!«
»Um neun Uhr haste zu Hause zu sein!«
»Neeiheein, mit vierzehn darf man bis zehn raus, halt doch einfach die Fresse, wenn du mit mir redest!«
»Ich möchte aber mit dir kommunizieren, Samantha!«
»Ich aber nicht mit dir, falls du es immer noch nicht verstehst!«
»Warum denn nicht?«
»Darum nicht. Weil du mir halt immer aufn Sack gehst.«
»Das ist aber keine vernünftige Antwort.«
»Du willst ne vernünftige Antwort? Super, bitte: Weil du mich eh nicht verstehst! Und weißt du überhaupt, was Kommunikation heißt, du kannst das doch noch nicht mal gescheit aussprechen!«
»Na und?«
»Lern erst mal mit so Fachdrücken um dich rumzuschmeißen, ey.«
»Fachausdrücken, Samantha.«
»What?«
»Wo, mein liebes Kind, hast du denn jetzt ein Problem, mit mir zu reden?«
Die beiden kamen an dem Wohnwagen mit Terrasse an, Samantha schlüpfte aus ihren Schuhen und knallte die Tür hinter sich zu. Die Frau blieb auf der Terrasse stehen, stellte den Taubenkorb ab und quetschte die Vögel von ihrer Schulter zu den anderen, hysterisches Gurren, sie atmete tief durch und rief dann dem unbeeindruckt weiterarbeitenden Rest der Familie zu: »Früher hätte ich ihr direkt ins Gesicht gehauen, egal ob Anzeige oder nicht, aber die weiß ja, wir dürfen nicht hauen, und deswegen kann die auch so großartig rumprotzen. Was willste mir, tja, wenn du mich schlägst, zeig ich dich an. Das ist heute so. Ist es weltfremd zu behaupten, ich hätte zu viele Rechte genommen gekriegt, als Mutter?«
Es erfolgte, außer dass Samantha zurück auf die Terrasse stürmte und ihrer Mutter ins Gesicht spuckte, um sich dafür eine Ohrfeige einzufahren und schwerstbeleidigt von dannen zu ziehen, mit ausgestrecktem Mittelfinger in die Untiefen des Waldes hinein, keine Reaktion. Ein alter Volvo fuhr vor, aus dem ein Mann ausstieg. Liebes Gesicht, breite Schultern, mehrere Einkaufstüten in der einen Hand, ein totes Eichhörnchen in der anderen. Tequila und Sunrise stürmten auf ihn zu. Anstatt die Hunde zu begrüßen, hielt er demonstrativ das Eichhörnchen von sich weg und teilte allen Anwesenden lächelnd mit:
»Manche denken, es gehe um den simplen Vorgang, eine Straße zu überqueren. Doch ich wusste immer: Es geht ums nackte Überleben!«
Mutter (genervt, aggressiv, über den ganzen Platz): »Gleich gibt’s Essen, beeilt euch!«
Kai saß mal wieder hinter irgendeinem Busch, wo auch sonst in seiner neu eingenommenen Position als minderjähriger Outlawjunge. Beim Gedanken an das eben erwähnte Essen musste er fast kotzen vor Übelkeit, er empfand erschreckenderweise nicht mal Durst – trotzdem das vernunftgesteuerte Gefühl, dass es ihm mit etwas Flüssigkeit besser gehen würde. Von allen Seiten trottete eine unerwartet große Menge Familienmitglieder aller Altersklassen zum Wohnwagen. Der Vater stand währenddessen rauchend auf der Terrasse, klopfte allen auf die Schulter, stilecht, und schien darüber nachzudenken, was nun mit dem matschigen Kadaver in seiner Rechten anzufangen sei. Er schmiss die Zigarette über das Terrassengeländer und das Eichhörnchen, nicht ohne zu zögern, hinterher. Dann ging er als Letzter in den Wohnwagen und zog die Tür hinter sich zu, was Kai als hinreichenden Grund begriff, sich für die nächste halbe Stunde sicher genug zu fühlen, über die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse nachzudenken. Er brauchte Wasser, klarer Vorgang, vor dem Wohnwagen stand ein Trinknapf für die Hunde, den konnte er allerdings nicht erreichen ohne hohes Risiko, durch das Fenster gesehen zu werden. Dann fiel sein Blick auf die immer noch offen stehende Tür des Wagens, aus dem vorhin das Mädchen mit ihrer Mutter getreten war. Er kroch aus dem Gebüsch und um die teilweise noch mit Planen behangenen Zeltmasten zur gegenüberliegenden Seite, zwang sich, die letzten Meter zu rennen, und erreichte die Tür.
Es war dunkel im Wagen, nur die Wärmelampe eines auf zwei Barhockern stehenden Terrariums sorgte für Licht. Zwischen den Barhockern stand ein Aldi-Sixpack mit Energydrinks, Kai leerte zwei davon, und als er aus zwangsneurotischem Reflex lesen wollte, was er da gerade an Glucuronolacton und synthetischen Aromastoffen runtergewürgt hatte, bemerkte er zum ersten Mal, dass er keine Brille mehr trug. Er sah sich nach einem Spiegel um und entdeckte einen, hinter zwei überfüllten Kleiderstangen mit Zirkuskostümen. Er wusste nicht warum, aber er kniff seine Augen zusammen, während er zum Spiegel wankte. Er hatte nahezu Panik davor, sich selbst zu sehen. Nicht seines ramponierten Zustands wegen, sondern eher bezüglich der Scheißangst, von jetzt an ein neuer Mensch sein zu müssen.
Er öffnete seine Augen einen Spalt und realisierte schemenhaft, in diesem Halbdunkel, dass er krass aussah. Mehr wollte er gar nicht wissen. Er guckte weg, sein Blick fiel auf ein an der Wand hängendes Poster von Eminem, für den Kai plötzlich nichts anderes mehr empfand als Respektlosigkeit. Dieser Typ hatte es mit dem Besingen schrecklichster, sein Aufwachsen behindernder Umstände zu ca. zwanzig Millionen verkaufter Platten gebracht. Sehr unvermittelt fing Kai an zu heulen. Das ganze Programm, große Hysterie, kaum Luft kriegen, unglaubliche Rotzeströme auf seinem Hemdkragen, er biss sich so fest in die Hand, dass sie zu bluten begann, und aus seinem Schluchzen entwickelte sich ein »Nein«, das er mehrmals wiederholte, so als könnte seine extreme Abneigung gegen die Situation, in die er geschmissen worden war, irgendeine höhere Instanz davon überzeugen, alles wieder rückgängig zu machen.
So unvermittelt er zu weinen begonnen hatte, hörte er auch wieder damit auf. Aus diesem ganzen Drama gerissen wurde er von dem eindeutigen Gefühl, jemand könnte sich dem Wohnwagen nähern. Er beruhigte sich und zog die Gardinen zur Seite, um aus dem Fenster zu sehen. Samantha lehnte einige Meter entfernt am größten der Zeltmasten, mit dem Rücken zu ihm. Er konnte nicht erkennen, was sie dort machte, bis sie sich umdrehte, im hohen Bogen das tote (inzwischen, vermutlich von ihr selbst, ja mein Gott, das ist die Kompromisslosigkeit der Jugend: ausgeweidete) Eichhörnchen wegschleuderte und sich eine Zigarette anzündete.
Das war das Bild, das Kai für den Rest seines Lebens als Beispiel für maximale Intensität verfolgen würde, das Mädchen, wie es im Gegenlicht des Sonnenuntergangs an diesem (man könnte ihn fast poetisch nennen) Zeltmast lehnte, mit einem paillettenbesetzten Stirnband, barfuß, die eine Hand in durchgebluteten Mullbinden, in der anderen die Zigarette, ein T-Shirt tragend mit der verschnörkelten Aufschrift »Don’t ask me it’s my generation«. Sie sah großartig aus und fühlte sich unbeobachtet. Sie schloss die Augen, als müsste sie eine nur ihr bewusste Form von Radikalität verarbeiten, eine auf sie einprasselnde, anstrengende Kraft, von der kein Mensch, der in diesem Moment älter als vierzehn war, eine Ahnung haben konnte. Dann ging sie weg. Kai wusste sich nicht anders zu helfen, als Lärm zu produzieren, er schmiss, wahllos greifbare Gegenstände durch den Wagen und wartete ab.
3
Als Samantha die Tür aufmachte, lag Kai zusammengekauert hinter den Barhockern. Er wollte gefunden werden. Von schräg unten sah er auf das Terrarium, in dem sich zwei ziemlich große Boa constrictor befanden. Das irritierte ihn kaum, im Gegensatz zu dem am Terrarium angebrachten, in bunter Kinderschrift gestalteten Namensschild. Die Schlangen hießen Marina und Karina. Samantha machte eine Wandlampe an, sah sich um, stellte die herumgeworfene Scheiße (mehrere Maybelline-Jade-Lidschattenduos) wieder hin im vertrauensvollen Glauben, metaphysische Kräfte hätten für den Krach gesorgt, und holte dann ein kleines, unter einem Schmutzwäscheberg verstecktes Kästchen hervor. Seelenruhig. Sie nahm Mundspray und Handcreme raus, legte ihre Zigarettenschachtel rein, setzte sich auf eine Waschmaschine in der Kai gegenüberliegenden Ecke und entdeckte selbigen dann auch relativ schnell, erstaunt zwar, aber unerwarteterweise ohne einen Schrei auszustoßen oder ohnmächtig zu werden. Kai wusste nicht, was er hätte erwidern sollen auf diesen empörten Blick, also blieb er still liegen. Je näher sie ihm kam, desto schwerer wurde sein Atem. Sie ging auf ihn zu wie auf ein verletztes Tier, vorsichtig und mitleidig. Sie war kaum erstaunt. Sie gehörte zu einer Gruppe von Jugendlichen, die am Tag zuvor eine Frau getötet hatten. Und sie spürte, dass der Junge der Sohn dieser Frau war.
Samantha hockte sich neben ihn, starrte ihm lange in die Augen und fragte dann, eher als Übersprungshandlung und weil ihr nichts anderes einfiel, ob er Hunger habe. Kai zuckte, so gut er das in seiner Position hinkriegte, mit den Schultern und kam sich dabei irre bescheuert vor. Sie stand auf und rannte weg, um einige Minuten später völlig außer Atem mit einem riesigen Teller Frikadellen und Kartoffelbrei zurückzukommen, eine Wasserflasche unter den Arm geklemmt. Sie half Kai, sich aufzurichten und etwas zu trinken. Dann versuchte er (der selbst in diesem dramatischen Zustand aufrechterhaltenen Höflichkeit wegen), ein Stückchen Fleisch zu essen, er kriegte es irgendwie runter, auch zwei weitere, bis er plötzlich würgen musste, sein Körper wurde von ihn vollkommen überanstrengenden Rachenraumkontraktionen durchschüttelt, unaufhörlich, bis er nach und nach alles ausgekotzt hatte, was sein Exzess so hergab an Widerlichkeiten. Er empfand nichts anderes mehr als Verwunderung darüber, dass Samantha nicht angeekelt weggesprungen, sondern neben ihm sitzen geblieben war und jetzt, mit der verbundenen Hand, seinen Kopf tätschelte. Er wollte nett sein, weil er sie so unglaublich nett fand, und keuchte eine ziemlich lässig wirkende Frage danach hervor, was mit ihrer Hand passiert sei.
»Ach«, seufzte sie, in ebenfalls eher unverhältnismäßigem Tonfall, »ich bin so scheiße mit dem BMX-Rad von meinem Bruder den Hügel da hinten runtergefahren, und ich wusste aber nicht, dass es keinen Rücktritt hat, und die Vorderbremse war auch kaputt, und dann konnte ich nicht anhalten und hab mich über diesen grünen Zaun sozusagen überschlagen und bin in einen Brennnesselbusch gefallen, da lag halt so eine Art Scherbe drin.«
»Du bist in der Scherbe gelandet, mit der Hand?«, fragte Kai.
»Ja, das tat arschweh. Und weißt du was? Ich glaube sogar, dass die Scherbe bis in den Knochen gegangen ist. Das sind keine wirklichen Schmerzen mehr, aber es fühlt sich auch nicht so richtig normal an, irgendwie, keine Ahnung, tiefer als sonst, eklig, kannst du dir das vorstellen?«
Kai antwortete: »Wahnsinn«, das hatte einer der ehemaligen Boyfriends von Binky Schweiger immer getan, wenn er gerade mal keine komplexe theoretische Erwiderung am Start gehabt hatte. Samantha setzte sich aufrecht hin und fing an zu weinen.
»Das stimmt gar nicht«, schluchzte sie. Und Kai brauchte nicht zu fragen, was Samantha damit meinte, sie redete einfach weiter.
»Ich habe eine Katze. Und diese Katze hat mich immer gemocht, nur heute hat sie mich gebissen. Ich habe ihr ins Gesicht geguckt, und sie sah mich an wie ne Ausgeburt der Hölle, und ich glaube, das war ich, in ihrem Blick, wenn du dir was darunter vorstellen kannst, und ich weiß nicht, was ich mit dieser Feststellung anfangen soll, aber ich glaube, sie musste das tun.«
Kai hatte das dringende Bedürfnis, ihr vom Tod seiner Mutter zu erzählen. Aber seine Stimme versagte, und er konnte seine Augen kaum noch offen halten. Verschwommen nahm er einzelne Episoden von Samanthas Versuch wahr, ihn über den Platz zu ihrem Wohnwagen zu hieven, die nächste konkret von ihm realisierte Situation bestand darin, dass er im unteren Teil eines Doppelstockbettes lag, an ihm vorbei kletterten gerade die beiden Kinder weinend in ihren Badeanzügen eine Leiter hoch, während Samantha ihnen laut keifend einbläute, niemandem von Kai zu erzählen. Dann legte sie sich zu ihm, mit dem Kopf auf seinen Arm, was ihm ziemlich weh tat, aber er sagte nichts. Samanthas Weinen entwickelte sich zu einem bitterlichen Schluchzen, es war nicht zu fassen. Obwohl Kai etwas Derartiges noch nie erlebt hatte und völlig geplättet war von diesen hochinteressanten und unerklärlichen Zusammenhängen, konnte er sich nicht wehren gegen eine alles überblendende, furchteinflößende Müdigkeit, die ihn niederdrückte zusammen mit der absurden Mischung aus Glück und Gefahr, die er gerade zu empfinden begann, und er schlief ein, in dem Wissen, dass es das Falscheste war, was er tun konnte.