Karl Schlögel

GRENZLAND
EUROPA

Unterwegs auf einem
neuen Kontinent

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-24455-9

Alle Rechte vorbehalten

© Carl Hanser Verlag München 2013

Satz: Greiner & Reichel, Köln

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INHALT

EUROPE NOW!

Europe now! Über Ameisenhändler, Billigflieger und andere Europäer – Einen Karlspreis für Eurolines! – Messungen. Beobachtungen eines Europäers von gestern – Grenzland Europa – Die europäische Stadt am Ende?

STIMMÜBUNGEN IN D

Brauchen wir ein Denkmal der deutschen Einheit? – Stimmübungen in D – Jenseits von Marienborn oder Kalter Krieg privat – Um das Deutschlandlied – Bilder einer Ausstellung. Prospekt für ein Museum der Transformationsperiode

RUSSISCHER RAUM

Auf verlorenem Posten? Russlandfreunde und Russlandversteher Jahre nach dem Ende der Sowjetunion 177 – »Russischer Raum«. Raumbewältigung und Raumproduktion als Problem einer Geschichtsschreibung Russlands – Russlands zweite Modernisierung – »Vechi« 1909–2009 – ein Jahrhundertbuch

NEUE NARRATIVE FÜR EUROPA

Asymmetrien der Erfahrung, Asymmetrien der Erinnerung – Topographie des Verlusts: Europäische und deutsche Erfahrungen – Kreisau/Krzyżowa – Narrative der Gleichzeitigkeit oder Die Grenzen der Erzählbarkeit von Geschichte

TEXTNACHWEISE UND ANMERKUNGEN

EUROPE NOW!

Nie ist so ernsthaft, ja leidenschaftlich wieder über Europa gestritten worden wie inmitten der derzeitigen Krise, von der alle wissen, dass es um mehr geht als nur eine Finanz-, Banken-, Schulden- oder Eurokrise: auf dem Spiel steht, was Europa nach 1945 und nach 1989, nach Krieg und Teilung, geworden ist, und es geht um die Frage, wie es weitergehen soll. Es gibt also doch eine europäische Öffentlichkeit, wenn auch ex negativo und unter dem Druck der Krise produziert. Es geht in den Debatten und Entscheidungen nicht mehr um ein »Experiment« oder ein »Projekt«, das man auch sein lassen kann, sondern um die Infragestellung und die Weiterentwicklung eines am Ende des 20. Jahrhunderts erreichten mehr oder weniger gelungenen Zusammenlebens und Zusammenspiels der Völker auf dem europäischen Kontinent. Kaum jemand konnte sich nach dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs vorstellen, mit welcher Härte neue Grenzen gezogen, neue Verwerfungen und Wanderungen ausgelöst werden würden, die den Bewohnern des Kontinents das Äußerste an Zurückhaltung und Selbstdisziplin abverlangen würden. Aber war eine Neubildung Europas nach allem, was hinter ihm lag, einfacher zu haben? Europa war nun nicht mehr nur das bequeme und schöne Zukunftsprojekt, sondern etwas, was auch mit Risiko, Opfern, Verzicht zu tun hatte. Dass Politik und politische Eliten hoffnungslos überfordert sind von einer Situation, die nur von Gesellschaften als ganzen bewältigt werden können, war von Anfang an klar. Niemand hat eine Zauberformel oder ein Rezept – es kann sie auch nicht geben. Und alle wissen, dass es nicht automatisch zu einem Happyend kommen wird. Was es aber gibt, ist eine Erfahrung, die unendlich kostbar ist: die hinter uns liegende Erfahrung der Krisenbewältigung nach 1989 im östlichen Europa. Ja, es gab den Absturz in den Bürgerkrieg in Jugoslawien, dem wir lange hilflos zusahen, es gab aber vor allem die Erfahrung von Millionen von Menschen, die nach dem Zusammenbruch des Systems von heute auf morgen aus ihrer Lebensbahn geworfen wurden und sich neu »aufstellen« mussten. Wenn der Übergang aus dem alten in den neuen Zustand nicht ohne Härten, aber im Großen und Ganzen ohne Gewalt und auf eine zivile Weise abgelaufen ist, dann weil Panikreaktionen und Ausbrüche von gesellschaftlicher Hysterie ausgeblieben sind und die Menschen trotz größter Bedrängnis die Nerven behalten haben. Nicht die utopische Vision, sondern ein Sich-irgendwie-Zurechtfinden in schier ausweglosen Situationen war der Schlüssel zum erfolgreichen Krisenmanagement nach 1989. Das östliche Europa hat eine erstaunliche Resistenz gegen Hysterie und eine erstaunliche Chaos- und Krisenbewältigungskompetenz an den Tag gelegt. Das Tag für Tag von den Bürgern praktizierte Sich-Durchwursteln hat mehr zur Bewältigung der Krise beigetragen als irgendwelche Visionen oder Lehrbuchrezepte. Improvisation war das Gebot der Stunde in einem Augenblick, da die vertrauten Routinen zusammenbrachen. Die molekularen Prozesse und Kriechströme, die Europa aus der Nachkriegsteilung herausführten, haben gezeigt, wie stark eigentlich dieses Europa von unten ist. Und so wird es auch jetzt sein, da auch im westlichen Europa die Abwicklung des alten Zustandes in Gang gekommen ist, und wo es – zugegebenermaßen – viel schwieriger werden wird, Abschied zu nehmen von den hohen Standards, die für selbstverständlich zu halten wir uns in einem langen Goldenen Zeitalter angewöhnt hatten. In Krisensituationen werden nicht nur Ängste mobilisiert, sondern auch Tugenden und Fähigkeiten gefordert, die in ruhigen Zeiten wenig beansprucht worden sind. Es geschehen Dinge, die in gewöhnlichen Zeiten undenkbar wären. Hic Rhodus, hic salta!

Europe now!
Über Ameisenhändler, Billigflieger
und andere Europäer

»Europe now« – das klingt wie: jetzt erst recht! Das ist mir sympathisch. Ich fühle mich aufgefordert, im allgemeinen Krisengerede dagegenzuhalten, nicht einzustimmen in das Wehklagen, das doch zu spät kommt und allzu wohlfeil ist. Aber es klingt auch nach Trotzreaktion, nach dem berühmten Pfeifen im Walde, mit dem sich kleine Kinder Mut machen in finsterer Nacht. Es klingt nach Beschwörung. Aber beschworen wird etwas immer dann, wenn etwas, was nicht oder noch nicht ist, herbeigeredet werden muss. Was aber kann man als halbwegs intelligenter, interessierter und zunehmend auch in Wirtschaftsfragen informierter Mensch zur Eurokrise sagen? Ich habe dazu eine Meinung, aber keinen Durchblick, vor allem aber: ich habe keine Antwort, wie die Krise zu lösen ist. Das ist schlimm, aber auch wieder nicht so schlimm, weil sich herausgestellt hat, dass selbst jene Personen, die an der Spitze der für Finanzen, finanzielle Transaktionen, für die Geheimnisse der Geldzirkulation wie überhaupt für das Wirtschaftsleben zuständigen Institutionen stehen, jenen Durchblick nicht haben. Sie wären sonst vor das Publikum, vor ihre Kunden, vor die Öffentlichkeit getreten und hätten uns mit ihrem Insiderwissen aufgeklärt. Sie hätten als Frühwarnsysteme fungiert, wie man das von kompetenten und mit Spezialwissen ausgestatteten und sich für das Gemeinwohl verantwortlich fühlenden Menschen eben erwartet. Aber die meisten von ihnen waren abwesend, sind verstummt in dem Augenblick, als wir sie dringend gebraucht hätten, um zu begreifen, was vor sich geht. Die Experten haben uns im Stich gelassen, und wir müssen uns auf das Bild verlassen, das wir uns selber machen, ob zu Hause am Schreibtisch, in einem Kolloquium oder am abendlichen Stammtisch am Prenzlauer Berg oder in Charlottenburg. Der Reim, den ich mir gemacht habe, lautet: Es ist offensichtlich, dass »wir« – die Kreditnehmer, die Konsumenten, die Gemeinden, die Angehörigen des Kultur- und Wissenschaftsbetriebes, die Länder, die Bundesrepublik, die Mitglieder der Europäischen Union und der Eurozone – über unsere Verhältnisse leben und dass ein Punkt gekommen ist, wo uns dämmert, dass dieser Zustand zu Ende geht. Das ist eine ziemlich dramatische Einsicht, die Anerkennung eines Ernstfalls, der über uns gekommen ist, aber es ist weder ein Weltuntergang noch ein Untergang des Abendlandes. Was ich zu bieten habe, ist kein archimedischer Punkt, von dem aus die unübersichtliche und daher beunruhigende Lage »in den Griff« oder »auf den Begriff« gebracht werden könnte, sondern nur eine Reihe von Beobachtungen. Man könnte es auch als eine Selbstbeobachtung beschreiben, in der wir erfahren, was der Fall ist und woran wir sind – diesseits von Kassandrarufen, die immer bequem sind, weil sie den Vorteil haben, eindeutig zu sein und, im Unterschied zu einer Gegenwart, die unübersehbar, vieldeutig, offen ist, eben »das Dunkel des gelebten Augenblicks« (Ernst Bloch). Diese Beobachtungen handeln von einem Europa, das im Eurodiskurs nicht vorkommt, und wenn ich davon spreche, dann nicht, weil ich darin, in diesem Diesseits von Brüssel, die Rettung sehe, den »archimedischen Punkt«, sondern weil es zunächst einfach zur Kenntnis genommen werden sollte. Es geht zunächst um nicht mehr als die Ausweitung der Beobachtungszone. Es gibt etwas, was in den Korridoren von Brüssel so wenig zur Kenntnis genommen wird wie in den Rezepten zur Rettung des Euro. Ich verstehe nichts von Konzepten zur Rettung des Euro, aber ich verstehe etwas von dem, was sich in Europa sonst noch tut, und ich traue mir in diesen Dingen auch eine gewisse Urteilskraft zu. Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich, dass »man« in ganz verschiedenen Welten lebt. Wenn ich frühmorgens die Nachrichten höre, in denen die aktuellen Indizes und Zahlen durchgegeben werden – Dow Jones, Nikkei-Index, Nasdaq, Dax, die neuesten Konjunkturberichte, die Firmenabschlüsse –, frage ich mich, für wen diese Botschaften bestimmt sind, wer sie versteht, wer damit etwas anfangen kann, ob wir alle inzwischen schon Aktienbesitzer sind, Eingeweihte, Bonusempfänger, ob es sich wirklich um sinnvolle Informationen handelt oder nicht eher um Hintergrundmusik, Muzak, wie man sie selbst auf den Toiletten von Kaufhäusern und Flughäfen zu hören bekommt, eine Einstimmung in den Sound der globalen Welt, um etwas eher Atmosphärisches. Ich für meinen Teil kann nicht glauben, dass die Entwicklung der menschlichen Arbeit und Geschäftigkeit sich an den hektischen Ausschlägen einer Barometernadel messen lässt und dass ein Betrieb, der gestern noch solide gearbeitet hat, am nächsten Morgen abgestürzt oder sich gar in nichts aufgelöst haben soll. Es kommt mir vor wie eine auf dem Kopf stehende Welt, die mit dem, was ich beobachte, nur wenig zu tun hat. Auf der Matrix, auf der ich analysiere, geht es anders zu und kommt anderes vor.

Am liebsten wäre mir, wenn ich von meinen Messstationen berichten könnte, aber das wären Reisen an Punkte, die zu viel Zeit in Anspruch nehmen, vor allem wenn man die Situationen dann »in dichter Beschreibung« ausleuchtet und analysiert. Ich habe das verschiedentlich gemacht in meinen Reisen über den »Archipel Europa«. Messstationen sind da: Grenzübergänge, Warteschlangen vor den Konsularabteilungen der Schengen-Staaten, Check-in-Schalter, die Veränderung der Immobilienpreise, die Fahrpläne europäischer Busgesellschaften, die Statistik der Grenzbeamten, die Destinationen des Städtetourismus, die Basare, die Berichterstattung von Zeitungen, der Festival- und Kulturbetrieb, die Frequenz von Fähren – jene Kriechströme also, die Europa zusammenhalten.

Um die These vorwegzunehmen: Es gibt ein Europa, das intakt ist und funktioniert, das aber in dem ganzen Krisendiskurs nicht vorkommt. Als Beispiel für die Abwesenheit von Real-Europa im Krisendiskurs-Europa kann man den vor einigen Monaten erschienenen Aufruf von Daniel Cohn-Bendit und Ulrich Beck nehmen, der von zahlreichen, auch von mir geschätzten Prominenten unterzeichnet worden ist.1 Es wurde darin gleichsam als Maßnahme gegen Europamüdigkeit und Resignation in Zeiten der Eurokrise unter anderem ein Europajahr gefordert: Schüler, Studenten, Erwachsene, auch Senioren, sollten sich ein Jahr in Europa betätigen können, eine Art Peace-Corps im Dienste Europas – zum Kennenlernen des Anderen, zur Überprüfung von Vorurteilen, auch um das eine oder andere Sinnvolle zu tun. All das, was Cohn-Bendit und Beck vorgeschlagen haben, gibt es längst – aber nicht als Simulation, sondern im Ernstfall, nicht als pädagogisch-didaktische Veranstaltung, sondern als Lebens- und Berufspraxis, nicht als Unternehmen, das von einer neu zu schaffenden bürokratischen Instanz ins Werk zu setzen ist, sondern als etwas, das von den Leuten selbständig bewältigt werden muss. Europa ist viel weiter, als viele Berufseuropäer annehmen, Europa gibt es wirklich, es muss nicht – auch wenn mit den besten Absichten – erst ausgedacht werden.

Dieses Europa ist auch weiter als die Eurozone, seine Grenzen verlaufen nicht einmal entlang der Schengen-Staaten. Die Europäer blickten beim Eurovision Song Contest sogar auf den Crystal Palace, der in Baku in die Bay des Kaspischen Meeres hinausgebaut wurde, und bekamen so mit, wie es um Architektur, Land und Leute, Menschen- und Bürgerrechte an dieser anderen Grenze Europas steht.2 Fans aus vielen europäischen Ländern waren bei der Fußballeuropameisterschaft zu Zehntausenden an Orten unterwegs, an die sie keine noch so raffinierte Aufklärungsveranstaltung gebracht hätte: So haben sie einen Eindruck bekommen von Charkiw und Donezk, aber auch von der alten Metropole Galiziens, Lemberg, von Kiew, der »Stadt der Städte«, oder von Boomtown Warschau.3 Man könnte dasselbe auch von den Olympischen Spielen in London sagen: dieser gelungenen Show in einer großartigen Stadt, die etwas sagte über die inspirierende und einende Kraft der Kultur, die Menschen – über Europa hinaus – zusammenbringt in Zeiten der Krise und der Not. Aber es geht hier gar nicht um das Aufzählen von Highlights, sondern darum, gewahr zu werden, dass es europäische Ereignisse gibt, auch wenn sie nichts mit dem Europadiskurs im engeren Sinn zu tun haben. Sie stärken oder schwächen den Zusammenhalt der Europäer. Man könnte hier weitere »europäische Ereignisse« von Rang hinzufügen: dass sich nach Jahren der Stille, des Rückzugs in Moskau und anderen russischen Städten »die Gesellschaft« zurückgemeldet hat, einfallsreich, hartnäckig, ihrer Sache sicher – und die Kundgebungen und Spaziergänge wie die Reaktion auf die Prozesse gegen die Frauen von Pussy Riot sind natürlich Ereignisse, die etwas mit der Bildung einer europäischen Öffentlichkeit zu tun haben, auch wenn sie sich außerhalb des Europadiskurses abgespielt haben. Also: Europa ist auch da, wo es nicht als solches wahrgenommen wird. Das gilt noch viel mehr für die Vorgänge, die ich im Folgenden nur kurz andeuten kann:

Die Studenten sind längst unterwegs, vielleicht sogar zu viel unterwegs. Sie kursieren zwischen der Berliner Humboldt-Universität oder der Viadrina in Frankfurt an der Oder und den Universitäten in Krakau, Bergen und Salamanca, die Wiederaufnahme der peregrinatio academica aus dem frühneuzeitlichen Europa. Es handelt sich mittlerweile um Hunderttausende von Erasmus-Studenten, die Jahr für Jahr zirkulieren und die, wenn sie schon keine Seminarscheine erworben haben, so doch lebensweltlich oft Wichtigeres mit nach Hause bringen: Sprachkenntnisse, Freundschaften, Ehepartner. Es gibt niemanden von den jungen Leuten, der nicht vertraut wäre mit dem Netzwerk und den Möglichkeiten der Billigfliegerei. Ryanair, Wizz Air, EasyJet und viele regionale Fluglinien haben ein Netz entstehen lassen, das die Karte Europas und die mental maps in unseren Köpfen dauerhaft verändert. Jeder weiß es aus eigener Erfahrung – ob aus der beruflichen oder bei der Planung des Urlaubs. Man kann natürlich darüber lächeln oder spotten, dass die Söhne der britischen Arbeiterklasse, die in Riga oder Tallinn gelandet sind, nicht einmal wissen, wo sie angekommen sind. Aber irgendwie bleibt doch etwas hängen, und wenn es – neben vielem anderen – nur die Erfahrung von der Grenzenlosigkeit des einen Kontinents ist. Diese Fluglinien gibt es nicht aus pädagogischer, sondern kommerzieller Absicht. Sie bringen einen Gewinn, offenbar für beide Seiten, die Unternehmen und die Kunden. So fliegen sie, wenn Nachfrage besteht, so werden sie eingestellt, wenn diese nicht vorhanden ist. Eine Analyse des Streckennetzes der letzten zehn bis 20 Jahre gäbe uns Auskunft über die attraktivsten Destinationen, über Orte, an denen man etwas holen kann, Orte, die wieder in Bedeutungslosigkeit zurückfallen. Sie sind ein ziemlich guter Indikator für die Neuvermessung Europas. Die Frequenz der Flüge zwischen Schönefeld und den Moskauer Flughäfen sagt etwas über die Intensität des Pendelverkehrs zwischen Moskau und Berlin. Die neuen Destinationen in der Ukraine, die man von München aus erreichen kann, sagen etwas darüber, dass die geschäftlichen Beziehungen florieren. Erstaunt nimmt man zur Kenntnis, dass die Busse von München-Hackerbrücke nach Breslau und Lemberg im Sommer zwei Wochen im Voraus ausgebucht sind, offenbar ist Schlesien und Galizien im Kommen. Die Billigflieger haben Europa irreversibel verändert. Sie haben dafür gesorgt, dass Hunderttausende von Polen zwischen den englischen Midlands und Gdańsk, Poznań, Łódź und Warschau pendeln und neue transnationale Allianzen wachsen. Die Besiedlung ganzer Landstriche ist durch sie in Gang gesetzt worden: die englischen und holländischen Rentner, die im Winter an die spanischen oder bulgarischen Küsten ziehen, oder die Toskanafraktions-Generation, die sich aus Berlin und Köln bis kurz vor Siena oder Perugia fliegen lässt. Die Urlaubszonen sind europäische Zonen par excellence geworden: Im Sand der Strände, wo der Mensch nur Mensch ist, kommen die Europäer sich näher, so war es schon in Zeiten des Kalten Krieges an der kroatischen Küste und an den Ufern des Balaton, und so ist es heute erst recht in Antalya und auf Teneriffa, wo die russische und ukrainische Kundschaft der deutschen längst Konkurrenz machen, im Kampf der Geschlechter und auf dem Immobilienmarkt. Der Kultur- und Kunstbetrieb hat die ästhetischen Konjunkturen und Moden synchronisiert. Wer sich in den Museen, Festivals, Galerien bewegt, bewegt sich in einem Kontinuum des Immer-schon-Bekannten und Immer-wieder-Neuen. Europäisiert und synchronisiert werden die Jubiläen, die Festivals, die Jahrestage: ob 1. September, Oktoberfeste, 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, D-Day, 22. Juni und vielleicht noch der 1. Mai. Synchronisiert werden die Bewegungen, die sich zur Love Parade in Berlin oder Woodstock im polnischen Kostrzyn auf den Weg machen. Europäische Museen, europäische Erinnerungsorte, europäische Kulturhauptstädte – wir sind immer eingebettet – oder sollten wir sagen: wir entkommen der integralen europäischen Kultur nicht mehr. Aber von dieser intakten, funktionierenden Europäizität spricht man nicht, weil sie immer schon vorausgesetzt wird und gar nicht der Rede wert ist. Das gilt im selben Maße für das tagtäglich, wöchentlich, monatlich und Jahr für Jahr aufs neue verfertigte Europa des Verkehrs, des Austausches von Gütern, Personen und Ideen. Man muss sich nur für einen Augenblick vorstellen, was geschieht, wenn die Verkehrsströme, die Europa zusammenhalten und zusammenschweißen, für einen Augenblick, sagen wir für eine Woche, angehalten würden. Das wäre ein Moment des Ausnahmezustandes, in dem die ganze Tragweite jener still funktionierenden Routinen und Praktiken ins Bewusstsein rückte. Es bedarf des Ausbruchs des Vulkans Eyjafjallajökull und der von ihm in die Atmosphäre geschleuderten Asche, um den Flugverkehr zu unterbrechen und Flughäfen in Notaufnahmelager für gestrandete Passagiere zu verwandeln. In solchen Augenblicken wird schlagartig klar, worauf unsere Zivilisation basiert: auf dem stillschweigenden Funktionieren von Routinen, das sonst nicht der Rede wert ist. Der europäische Alltag wird aber eben von jenen Routinen und Praktiken konstituiert und dann auch von den Wahlen, Parlamenten, Kommissionen und dort verabschiedeten Beschlüssen. Die longue durée der Routinen und der sie verkörpernden Infrastrukturen ist making of Europe in Permanenz. Kein Europa ohne Spediteure, keine europäische Kultur des 19. Jahrhunderts ohne Eisenbahn, keine europäische Kultur des 21. Jahrhunderts ohne Low-Budget-Flyer und Internet. Überall entstehen neue Achsen, neue metropolitan corridors, neue hubs – auch und trotz der Krise. Die Kommissionsmitglieder, die in der Meisterung der Eurokrise versagen, besteigen nach ihrer Sitzung den TGV, der sie in einer oder drei Stunden zurück nach Amsterdam oder Paris bringt. Die Ware, die von Rotterdam nach Moskau befördert wird, trifft just in time ein trotz des Schlagabtausches über den geplanten Raketenschutzschild. Daher wäre die Verschmelzung von russischen und europäischen Eisenbahnstrecken – die fällige Angleichung von Schmal- und Breitspur – ein geradezu epochaler Fortschritt, weitaus bedeutsamer als alle Nato-Erweiterung, von der niemand weiß, wofür und wogegen sie eigentlich noch gerichtet sein soll. Neue Korridore verzahnen Länder und lassen Städte zu Nachbarstädten werden: Paris-Köln, Paris-London, Mailand-Rom, Wien-Budapest, Berlin-Warschau – die transeuropäischen Netzwerke sind vor vielen Jahren von den Brüsseler und Straßburger Europäern vorausschauend geplant worden. Die Geographie von Nähe und Ferne ist in Bewegung geraten: Meisterwerke der Ingenieurskunst wie die Brücke zwischen Kopenhagen und Malmö, der neue Sankt-Gotthard-Tunnel, die Brücken über den Bosporus sind wie Scharniere, Klammern, die Europa fester denn je zusammenbringen. Und es funktioniert offensichtlich.

Man muss ja nur durch Berlin gehen, die Stadt, die dabei ist, sich wieder in Form zu bringen, Fluchtpunkt der Jugend, Fluchtpunkt der europäischen Klub- und Künstlerszene, Anlegeort für überflüssiges und flüchtiges Kapital, pleasure ground für Leute, die viel Zeit haben, aber nicht so viel Geld, wie man es in London oder Moskau braucht, um über die Runden zu kommen.4 Rückkehr Berlins in die europäische Umgebung, vor allem die östliche, und Rückkehr der Europäer in diese so lange aus Raum und Zeit herausgefallene Stadt. Es gibt Regionen in Europa, die längst nicht mehr funktionieren würden ohne ständigen Transfer von Energie, Manpower, Können. Jeder in Berlin kennt jemanden, der schon einmal einen polnischen Handwerker gehabt hat. Die Aushilfskräfte, die man heute bei der Organisation jeder Gartenparty antrifft, sind vielsprachig. Sie kommen aus Lettland, dem Kaliningrader Gebiet, aus der Bukowina. Es kann sein, dass die Truppe, die zur Renovierung einer Wohnung anrückt, vier verschiedene Pässe hat. Die Kalkulationen der Versicherungssysteme rechnen längst mit den Pflegekräften, die jetzt nicht mehr aus Korea, sondern aus dem östlichen Europa kommen. Jeder stellt seine eigenen Beobachtungen an, über die russischen Kinderfrauen, die sich um den Nachwuchs der Moskauer Mittelklasse, der in Wilmersdorf aufwächst, kümmern, über die russischen Kunden in Fitness-Studios und Spas, die ungeniert und lautstark ihre Geschäfte abwickeln. In Bürgerbüros in Charlottenburg hat man manchmal den Eindruck, dass Russisch schon zweite Amtssprache ist, was bei 200000 bis 300000 russischsprachigen Bewohnern der Hauptstadt kein Wunder ist. Dabei gibt es Orte mit noch größerer Dichte: Baden-Baden, Karlsbad, Kitzbühel, Antibes. So etwas hat es nicht einmal zu Zeiten des vorrevolutionären Tourismus und nicht einmal zu Zeiten der russischen Emigration in den 1920er Jahren gegeben.

Handelt es sich hier nur um Exotica, oder macht man hier nur so viel Aufhebens, weil Berlin so lange und anders als Paris oder London aus der internationalen Zirkulation herausgefallen ist? Vielleicht. Aber ich erzähle hier von diesen Erscheinungen, weil sie alle für sich Gegenanzeigen zum Niedergang Europas und Indikatoren für die Wiederverknüpfung oder auch für die Neubildung eines schwer beschädigten Kontinents sind. Für mich bleibt das Ende der Spaltung Europas und die Arbeit an ihrer Überwindung das große Ereignis des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Auch auf dem Hintergrund der ganz neuen Szenarien, die wir seit dem 11. September 2001 und der arabischen Revolution kennengelernt haben. In meinen Augen ist die Finanzkrise von 2008 Teil II der großen Abwicklung, die 1989 begonnen hat. In Abwicklung Teil I waren wir im Westen nur Zuschauer, in Teil II sind wir selber an der Reihe. In Abwicklung Teil I konnten wir kommentieren und uns einbilden, wir seien die Herren des Verfahrens, jetzt merken wir, dass es Kräfte gibt, die mächtiger sind als Machthaber, und dass sich Dinge abspielen, die sich nicht in den Intervallen von Legislaturperioden bemessen lassen, sondern einer longue durée gehorchen, über die nicht wir, sondern andere verfügen. Den Rat, den wir meinten anderen geben zu können, können wir jetzt selber gebrauchen. Vieles, was jetzt geschieht, ist wie ein Déjà-vu. Wir haben das schon einmal gesehen: wie eine Antwort nach der anderen sich als Ausrede herausgestellt hat, wie sich Rezepte als Scheinrezepte erwiesen haben, wie die Herren des Verfahrens mit einem Mal am Ende ihres Lateins angekommen waren und sich ihre Ratlosigkeit eingestanden. Das war die Stunde der »Helden des Rückzugs« (Hans Magnus Enzensberger), die Stunde, in der »die sich selbst beschränkende Revolution« (Jadwiga Staniszkis) und nicht die pathetische Geste zählte.5 Vieles heute erinnert an die Erschöpfung einer politischen Klasse, die in die Jahre gekommen und von Erschöpfung und Auszehrung gezeichnet ist. Es ist eine Zeit, in der Blasen platzen und sich Augenblicke häufen, in denen Könige mit einem Mal nackt dastehen, wo es den Leuten wie Schuppen von den Augen fällt. Blasen, nicht im Sloterdijkschen Sinne, sondern eher im Sinne von Aufgeblasenheit, Irrealwirtschaft, Fiktion, Spekulation. Noch immer werden Spiele aufgeführt, wo sich die Kontrahenten etwas vormachen oder meinen, sie könnten sich und dem Publikum etwas vormachen. Das sind die Gestikulationen und die Faxen, die man sich erlaubt, solange der Ernstfall noch nicht eingetreten ist. Aber irgendwann platzen die Blasen, die gefälschten Doktortitel, die ungedeckten Kredite, die Meisterwerke, die den Markt überfluten, die Wellnesscenter in der Mark Brandenburg und die Flughäfen, die nur errichtet, dann aber nicht in Betrieb genommen werden können, weil sie mit fremdem, geborgtem Geld gebaut worden sind. Wir alle haben unser eigenes Griechenland und unsere eigenen Investitionsruinen, gebaut im Vertrauen, dass es immer so weitergeht wie bisher. Die Korruption, die immer eine der anderen, vor allem eine des anderen »Systems« war, tritt jetzt ganz nah vor Augen. Das ist die Situation, in der das Vertrauen erodiert und die Selbstverständlichkeiten aufhören, selbstverständlich zu sein.

Diese Situation, in der ein Staat am Ende ist, in der eine herrschende Klasse abdankt und sich zurückzieht, in der Führungsmannschaften in Rente gehen – ein wahrer Fortschritt in der Humanisierung der Politik am Ende des 20. Jahrhunderts, das sonst mit Säuberungen und Hinrichtungen gearbeitet hat –, hat es 1989 auf vielfältige Weise gegeben. Man kann 1989 und danach studieren, wie Gesellschaften, denen die politische Klasse abhanden kommt, in der der Staat Bankrott gemacht hat, in denen die politischen Eliten desertiert sind, zurechtkommen mit gänzlich neuen Situationen. Für viele war es das Ende, fast ein Ende der Welt. Auch 1989ff. ging eine Welle von Selbstmorden durch die Länder des Ostblocks. Auch 1989ff. gingen Lebenspläne zu Bruch und zu Ende. Hunderttausende mussten sich neu orientieren, sich neu aufstellen, wie man so sagt, sie mussten neu Tritt fassen. Die »sozialen Unkosten« dieser Revolution lassen sich kaum bemessen. Es ging darin das Lebenswerk einer ganzen Generation – mit Verlierern und Gewinnern – in die Brüche. All das kann und soll hier gar nicht dargestellt werden, sondern es geht mir um einen Punkt: Wie bewältigen Gesellschaften Krisen, ohne dass es zu einem Krieg aller gegen alle kommt? Was geschieht, wenn es keinen Meister und keinen Masterplan mehr gibt und die Ratlosigkeit allgemein geworden ist? Viele im Westen – und nicht nur dort – waren auf ein atomares Armageddon gefasst, nicht aber auf den Absturz Jugoslawiens in den Krieg und die kaukasischen Kriege in Russland. Solange diese Geschichte der kontrollierten Demontage, des kontrollierten Rückbaus des sowjetischen Imperiums nicht dargestellt, nicht erzählt ist, werde ich weiterhin von einem »Wunder« sprechen. Ich möchte hier nur ein paar Facetten hervorheben, die in meinen Augen dazu beigetragen haben, dass die östlichen Europäer die Abwicklung des alten Zustandes irgendwie auf eine nichtkatastrophische Weise bewältigt haben. Diese Erfahrungen sind wertvoll, auch wenn man sie nicht wiederholen kann.

Im Gegensatz zur vorherrschenden Meinung von der Apathie und Passivität der unter staatssozialistischen Verhältnissen sozialisierten Bürger springt ins Auge, dass diese Bürger, von ihrem Staat im Stich gelassen, sich in Bewegung gesetzt haben. Auf den Zusammenbruch der Versorgung in den 1980er Jahren haben sie mit Selbsthilfe, mit dem Übergang zum einfachen Waren- und Naturalientausch reagiert. Sie haben nicht gewartet, dass das Manna vom Himmel fällt. Der Schwarzmarkt, der in der Endzeit des ancien régime zu einer allgemeinen Erscheinung in den Hauptstädten des Ostblocks geworden war, war die wie immer in Krisen und Zusammenbrüchen bewährte Instanz, die das Überleben und den gesellschaftlichen Zusammenhang aufrechterhielt – wie in Deutschland nach 1918 oder 1945. Der Schwarzmarkt war aber auch die Embryonalform des Marktgeschehens und der Marktplatz der Geburtsort für die Regeneration des Urbanen – ob auf dem Platz vor der Lubjanka in Moskau, dem Plac Defilad vor dem Kulturpalast in Warschau oder dem »Polenmarkt« auf dem Potsdamer Platz, der dem Fall der Mauer bekanntlich vorausging. Es war die Selbstversorgung, die Naturalwirtschaft, der Tauschhandel, der das Auseinanderfallen des gesellschaftlichen Zusammenhangs verhinderte, und daher ist das Aufkommen des Basars, der Shoppingtouristen und Ameisenhändler in den 1980er und 1990er Jahren mehr als eine marginale Erscheinung. Auf ihnen taten künftige Unternehmer ihre ersten Schritte, über sie nahm die geschlossene Gesellschaft von einst Kontakt auf mit der weiten Welt draußen, auf ihnen akkumulierten sich erst die kleinen, dann die größeren Kapitalien, sie waren erste Schulen der Weltläufigkeit. Die Transformationsforschung, die sich mehr an die Rezepte der Chicago- oder Harvard-Boys oder an die nicht verlässlichen offiziellen Statistiken hielt, hat die Bedeutung dieser Plätze für die Krisenbewältigung und für die Verwandlung des Landes nie verstanden. Die Märkte und Basare – im Warschauer Stadion, in Budapest, in Łódź, in Bukarest oder in Urumtschi in Sinkiang – waren große Schulen und Akkumulatoren des learning by doing. Diese Phase ist längst beendet, und dort, wo einmal der größte Jahrmarkt Europas war, steht jetzt das Nationalstadion Polens, der Schauplatz der Fußballeuropameisterschaft.6 Dies ist zugleich ein Lehrstück über die Evolution von Formen: vom wilden Basar, vom Schwarzmarkt zum symbolisch-repräsentativen Schauplatz der Nation. Das Netzwerk von Märkten und Basaren ist für mich ein Indikator für die durch die Mangelökonomie des realen Sozialismus immer wachgehaltene Übung in Improvisation. Der Sozialismus erzog zur Findigkeit, hielt die Instinkte wach und brachte den Leuten bei, ihre unterforderten Talente zu gebrauchen. Das half in Augenblicken, wo alles auseinanderfiel, in Augenblicken der Anomie und Anarchie. Funktionierende Gesellschaften mit ihren hochdifferenzierten arbeitsteiligen und jedem Bedürfnis nachkommenden Apparaten sind nicht nur krisenanfällig, sondern legen auch die Instinkte lahm, lähmen Wachheit und Geistesgegenwart. Wir sind in ordentlichen Verhältnissen aufgewachsen, wo für jeden Fall vorgesorgt ist, und wir fallen gleichsam aus allen Wolken, wenn es zu Störungen kommt, weil uns die Geistesgegenwart abhanden gekommen ist. Für die Bürger des ehemaligen Ostblocks war das Organisieren von etwas etwas Selbstverständliches, immer bereit zu sein, sich in eine Schlange einzureihen mit einem Einkaufsnetz, das eben auch »Awoska«, »Vielleichtchen«, hieß. Das ist ein spezielles Management der Zeit und der eigenen Aktivitäten. Man ist auf alles gefasst. Daher sind jene Hunderttausende und Millionen, die man in den 1990er Jahren unterwegs sehen konnte, Indikator für eine ungeheure Energie, für Selbsttätigkeit: die Ameisenhändler, die zwischen Istanbul und Minsk kursierten, die Shoppingtouristen, die zwischen Odessa und Palermo unterwegs waren, zwischen Jekaterinburg und Tientsin. Grenzen, die einst verwaist waren, wurden zu Kontaktzonen und Basargelände – so an der deutsch-tschechischen Grenze, so zwischen Triest und Gorizia, so an der deutsch-polnischen Grenze entlang der Oder. Auf den Weg hatten sich nicht irgendwelche Abenteurer gemacht, sondern Ingenieure, die ihren Job verloren hatten, Familienväter, die für ihre Kinder sorgen mussten. Statt wie bisher zur Arbeit zu gehen, fuhren sie nun dreimal im Monat die Strecke Wuppertal-Kaunas, um Gebrauchtwagen zu überführen, die Frauen fuhren jede Woche im Bus von Kaunas nach Warschau, um dort im Stadion ihre Plastiktüten mit Bernstein abzusetzen. Es ist ganz falsch, diese improvisierten Bewegungen nur als ökonomische Veranstaltungen zu sehen. Das war vieles zugleich: die Erfahrung einer grenzenlosen Welt, der Schock des Konsumismus, der einherging mit der Erfahrung, dass alles auch seinen Preis hat, das Eintreten in eine Zone, in der gilt: Time is money, Eintritt in eine Welt, in der niemand mehr Zeit hat, in der der Stress regiert und es keine Ruhepause mehr gibt in einem unerbittlichen Wettbewerb. Schule der Weltläufigkeit, zugleich einer Höflichkeit, die aus der Distanz geboren ist, und einer Rücksichtslosigkeit, die bis an die Grenzen des Erlaubten geht. Reisebüros gehörten zu den Boombranchen der Nach-Wende-Zeit, und ihre Umsätze sagten etwas über Freiheitsdrang, neu gewonnene Mobilität, Sich-ins-Bild-Setzen und Sich-Umsehen in der Welt. Reisen als Form der Aufklärung im Fluge. Die Aufklärung kommt auf leisen Sohlen, unmerklich, zwischen den Zeilen und nicht im hohen Ton, obwohl es auch das gibt: auf internationalen Symposien und Konferenzen über Europa als »System von Werten« und dergleichen mehr. Die Aufklärung über das andere und erweiterte Europa kommt in den Anzeigen von Ryanair, als die neue Verbindung zwischen Rzeszów und Frankfurt/Hahn eröffnet wird: Rzeszów, das ist Galizien, das ist die Geschichte einer Landschaft, die im Schatten von Krieg und Nachkrieg verschwunden ist. Ryanair bringt Galizien mit einer halbseitigen Anzeige in der F.A.Z. zurück ins allgemeine Bewusstsein. So ist es mit den Plakaten an den Litfaßsäulen, die in Berlin für Air Baltic und für ein Wochenende in Riga werben oder für Städtereisen, die nach Krakau, Danzig oder Brüssel gehen: Immer sind es zugleich Crashkurse und Einladungen in uns fremd gewordene Geschichten und Kulturen. Es ist dieses Hin und Her und seine Verstetigung, die Entwicklung von neuen Korridoren und Parcours, die Neukartierung und Neuvermessung Europas, die den Kontinent hat zusammenwachsen lassen, physisch und mental. Es waren diese Kriechströme, von denen kaum jemand Notiz nahm, die den Kontinent wieder zusammengefügt und wieder in Form gebracht haben. Es ist eine unverzeihliche Beschränktheit, die Neubildung Europas einzig als das Werk großer Männer oder auch großer Frauen darzustellen und jene elementaren Kräfte, die wirksam gewesen sind, zu übersehen.

Wenn es einen Grund für Zuversicht in Sachen europäischer Einigung gibt, dann, weil es Anhaltspunkte für die Fähigkeit zur Krisenbewältigung in der Vergangenheit gab. Die Frage ist, ob die westlichen Europäer die Abwicklung des ihnen so vertrauten, aber unhaltbar gewordenen Zustandes so ruhig bewältigen werden, wie dies den östlichen Europäern gelungen ist. Vieles spricht dagegen. Die Westeuropäer, vor allem die der Kernzone, sind krisenunerfahren und krisenentwöhnt, sieht man von zeitweiligen Rezessionen und Phasen zeitweilig gestiegener Arbeitslosigkeit ab. Sie mussten nicht lernen zu improvisieren, denn ihr Staats- und Gemeinwesen war in der Regel wohlorganisiert, zuverlässig, berechenbar. Dienstleistungen und Infrastruktur sind hoch entwickelt, so hoch, dass sie besonders anfällig sind für Störungen. Die Effizienz und Verlässlichkeit der Institutionen und Apparate nähren die Vorstellung, alles sei jederzeit machbar und lasse sich per Knopfdruck steuern. Für jeden Fall gibt es einen Plan B. Es kann einem nie etwas passieren. Wie wird eine Gesellschaft, die sich auf so hohem Niveau über so lange Zeit auf die Verlässlichkeit und Intaktheit ihrer Routinen zu verlassen gelernt hat, wie kann eine solche Gesellschaft mit einer Situation fertig werden, in der die bisher gültigen Rezepte entwertet werden, in der sich der Entscheider und Macher Ratlosigkeit bemächtigt, mit einer Situation also, in der nicht mehr nur Routine, sondern Improvisation, nicht Vertrauen auf das Bewährte, sondern Geistesgegenwart für das Unvermutete gefragt sind? Es gibt keine Rezepte, aber vielleicht Anhaltspunkte, Verhaltensregeln für den Ernstfall. Was jetzt so schockierend neu ist, ist seit längerem schon im Gange. Das Ende des Sowjetsystems, das Ende des Ostblocks hat Migrationen ausgelöst, Städte im Norden, die nicht mehr zu halten waren, sind aufgegeben worden – die innereuropäischen Migrationen setzen sich fort, jetzt sind andere an der Reihe. Ganze Berufsgruppen haben sich bei der Abwicklung des Ostblocks aufgelöst – es gab zu viele Lehrer in Weltanschauungsfragen und zu wenig Juristen. Etwas Ähnliches findet jetzt weiter westlich oder südlich statt. Die Planökonomie hatte ihre eigene Fata Morgana gebaut, unökonomisch, verschwenderisch, sinnlos. Die Spekulation weiter westlich und weiter südlich hat ganze Landschaften mit Autobahnen durchzogen, die ins Nirgendwo führen, und Städte, die nichts mehr als Geisterstädte sind, in den Sand gesetzt. Die rechtsstaatliche Ordnung und der Egoismus der vielen, der zum Vorteil aller werden sollte, haben auch im Westen nicht vor einer »Ökonomie der Verantwortungslosigkeit« (Rudolf Bahro) bewahrt. Die Krise ist bekanntlich die Stunde der Wahrheit, und die Desillusionierung als Verlust von Illusionen ist eine Form der Selbstaufklärung. Sie war daher unvermeidlich, und man muss ihr fast dankbar ein. Sie hat nur etwas zum Vorschein gebracht, was bisher verborgen war und was ans Tageslicht und ins Bewusstsein zu bringen nicht einmal unsere Experten und Frühwarnsysteme vermocht haben. Ich sehe keine Lösung weit und breit. Ich bin erstaunt, wie banal und hausgestrickt selbst die Darstellungen und Deutungen der Profis sind, die man in Talkshows hören und sehen kann. Auf Anhieb kann man die Simplifikatoren und Demagogen erkennen. Für sie gibt es kein Problem, daher ist ihre Option der kurze Prozess. Wenn man etwas lernen konnte aus der Abwicklung des alten Zustandes, dann war es, dass kurze Prozesse und heroische Gesten zu nichts führen. Ich halte die defensive Fahrweise, das Sich-Einstellen auf die je andere Seite, die Vermeidung von Panik und Hysterie für eine Errungenschaft unserer europäischen Kultur. Solange es keine überzeugenden Antworten gibt, muss man sich tastend vorwärtsbewegen, abwägen, ruckartige Bewegungen vermeiden, Zeit gewinnen. Der angemessene Bewegungsmodus ist nicht der kurze Prozess oder das visionäre Projekt, sondern muddling through, Sich-Durchwursteln. Demagogen, die alles auf eine Karte setzen wollen, sollte man keine Chance bieten. Aber auch das ultimatistische und alarmistische Gerede – als sei das Ende des Euro das Ende Europas – steht nur einer Bestandsaufnahme dessen, was ist, im Wege. Dass wir alle mit eingezogenen Köpfen dasitzen und darauf gefasst sind, dass etwas passieren kann, ist ein gutes Zeichen, ein Zeichen dafür, dass Europa, das dekadente Europa Raymond Arons, reif geworden ist.7 Kommt Zeit, kommt Rat, wenn es denn einen gibt.

(2012)

Einen Karlspreis für Eurolines!

Die Geschichte der Haupt- und Staatsaktionen wird nicht aufgehoben durch eine Geschichte von unten. Solche Oppositionen muten wie Spielchen aus der Vergangenheit an. Das haben wir hinter uns, denn wir wissen, dass die binären und dichotomischen Strukturen unzulässige Vereinfachungen sind. Wir wollen den Diskurs der Mächtigen nicht dekonstruieren und ein angeblich authentisches Anderes – das Volk, die Gesellschaft – beschwören. Kurz: Es gibt keinen Gegenpol, keinen archimedischen Punkt, von dem aus die Geschichte jetzt neu erzählt werden oder gar auf den Begriff gebracht werden könnte. Sie ist offen, und was ich anbieten kann, sind ein paar Blicke und Beobachtungen aus der Perspektive, die sich mit der Zeit als meine herausgebildet hat. Sie bietet keinen Überblick, weil ich einen Beobachtungspunkt auf mittlerer Höhe bevorzuge – nicht auf dem Aussichtspunkt, wo gewöhnlich Strategien entworfen werden, aber auch nicht im Getümmel ganz unten, das seine eigene Befangenheit und Betriebsblindheit produziert. Sie bietet keine Schlüsse und schon gar keine Lehren, sondern nur panoramatische Ansichten, deren Kenntnis manchmal aber hilfreicher ist als ein Rezept, das auf Ahnungslosigkeit beruht. Also: Dem historischen Augenblick und dem Ereignis soll nicht die longue durée als das Wahre gegenübergestellt werden, eher als das Komplementäre. Es geht um mehr Aufmerksamkeit für Aspekte des Lebens, die aus verschiedenen Gründen vernachlässigt werden: weil sie nicht spektakulär-reißerisch genug sind oder weil die Wahrnehmungsorgane für diese Dinge zu sehr verkümmert sind.

Der Paris-Moskau-Express oder
Einübung in die Grenzüberschreitung

Es ist wahr, dass der Mauerfall überraschend kam, auch für die Feinfühligsten, aber es gab Vorbereitungen und Einübungen, die jenen Augenblick dann haben möglich werden lassen. Dazu gehören die semantischen Verschiebungen in der politischen Rhetorik des führenden Personals, Zugeständnisse, die einen Jahrzehnte zuvor noch den Kopf kosten konnten, Symbolpolitik, die auf Entschärfung längst obsolet gewordener Frontbildungen abzielte. Alles zusammengenommen, stellte sich jene Konstellation her, in der das Ereignis dann – gleichsam wie von selbst – möglich wurde. Zu diesen Voraussetzungen gehören auch Praktiken der Einübung in das Neue, Ungewöhnliche, in den Fall der Mauer vor dem Fall der Mauer am 9. November.

In meiner Erinnerung verbindet sich die Empfindung, dass 1989 die alte Zeit abgelaufen war, nicht mit dem Mauerfall am 9. November – jene Nacht, so »wahnsinnig« sie war, war nur die Beglaubigung. Hier wurde nur sanktioniert, was schon entschieden war – vorher und anderswo. Ich verbinde mit dem Ende der Epoche andere Daten, andere Orte, ein anderes Personal. Sie kommen in den allerneuesten Meistererzählungen nicht vor.

Dem Fall der Mauer ging eine lange Arbeit der Erosion und Zermürbung voraus. Sie ist für mich verbunden mit den Bewegungen des Ost-West-Express, auch Paris-Moskau-Express genannt. Irgendwann in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre verwandelte sich dieser Zug in einen Shuttle zwischen Moskau und Westberlin, und der Bahnhof Zoologischer Garten verwandelte sich von einem exotischen Fernbahnhof in einen großen Umschlagplatz des in Gange kommenden Ost-West-Ameisenhandels. Bahnhof Zoo, ein Erinnerungsort Westberlins par excellence, Endstation von jungen Leuten, die sich aus Westdeutschland absetzten, Studenten, allerlei fahrendes Volk, letzter Fernbahnhof, über den die Insel mit dem Rest des Kontinents verbunden war, Durchgangsstation für Züge mit exotischen Aufschriften – Warszawa-Hoek van Holland-London Victoria Station, Paris-Moskau, Oostende-Leningrad, Aachen-Kiew –, aber ansonsten eine Endstation für viele, die aus der Bahn geworfen waren, deren Geschichte Christiane F. in »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« erzählt hat, immer mehr vergammelt, Biotop von Junkies und Prostituierten, ein Bahnhof, den viele Westberliner ihr Lebtag lang gemieden hatten. Aber Mitte der 1980er Jahre passierte hier etwas, nicht Weltgeschichte, sondern jene molekulare Bewegung, aus der auch Weltgeschichte gemacht wird. Studenten der Dritten Welt, vorzugsweise der Moskauer Patrice-Lumumba-Universität – angehende Ingenieure, Agronomen, Architekten, Wasserbauspezialisten –, nutzten die neue Reisefreiheit, das Privileg ihrer Pässe und den Sonderstatus der »Selbständigen Einheit Westberlin«, in der nicht westdeutsches, sondern alliiertes Recht galt, um die Insel zu besuchen. Es bedürfte einer »dichten Beschreibung« jenes Vorgangs, der hier nur dem Augenschein und der Erinnerung nach aufgerufen werden kann. Es scheint ein gutes Geschäft gewesen zu sein, sonst hätte es nicht stattgefunden. Mit ihren Devisen, zu denen sie eher Zugang hatten als sowjetische oder polnische Bürger, deckten sie sich in Westberlin ein mit Waren, die besonders gefragt waren: Unterhaltungselektronik, Kühlschränke, modische Accessoires, auch Bücher. Zurück in Moskau wurden die in Westberlin gekauften Waren mit einem bestimmten Aufschlag weiterverkauft. Die Nachfrage war unbegrenzt, man konnte damit nicht nur sein Studium finanzieren, sondern vielleicht sogar wohlhabend werden. Am anderen Ende entwickelte sich eine Basarstadt. Die ganze Kantstraße bis hinauf zur Neuen Kantstraße verwandelte sich ab Ende der 1980er Jahre bis weit in die 1990er Jahre hinein in einen einzigen Basar. Ein Elektronikgeschäft reihte sich ans andere, die Ware wurde auf dem Trottoir aufgestellt, Export-Import-Firmen schossen bald aus dem Boden, ein nicht abreißender Strom von Käufern zwischen Bahnhof Zoo und Kantstraße. Zuerst kamen die Studenten der Lumumba-Universität – Schwarzafrikaner, Mosambikaner, Kubaner –, später auch die Russen und endlich auch die »neuen Russen« mit ihren Cafés, Immobilien, Spielhöllen, Modegeschäften. Westberlin erwachte unsanft aus seinem Inseldasein.1 »Anwohner« beschwerten sich, dass es in der einst so ruhigen Kantstraße laut geworden sei, dass man sich seinen Weg bahnen müsse durch die Berge von Verpackungskartons und Einkaufswägelchen. Das Neue kam als Unordnung, die Boulevardzeitungen spielten mit der alt-neuen Angst der Westberliner vor Unsicherheit und Chaos. Ein neuer Kriminalitätsdiskurs setzte ein. Auf der Kantstraße wurden plötzlich Sprachen gesprochen, die man in Westberlin jahrzehntelang nicht gehört hatte. Auf dem Fernbahnsteig kam es zu Szenen, die man seit Flüchtlingszeiten nicht mehr erlebt hatte: Gebirge von Kartons und Gepäckstücke, die alle in die Schlafwagenabteile bugsiert werden mussten. Aber es handelte sich nicht nur um Meisterleistungen der Logistik. Es bildeten sich neue Routinen aus. Neue mental maps – Kantstraße, Westberlin als neue Adresse – bei den Bewohnern des Ostblocks, aber auch eine Gewöhnung der Westberliner Insulaner, dass es noch eine Welt außerhalb Westdeutschlands und Mallorcas gab. Das Ende Westberlins als einer Insel war am sinnfälligsten gekommen, als Tausende von Polen die gottverlassene sandige Fläche des Potsdamer Platzes in einen gigantischen Marktplatz verwandelt hatten. In jenen Tagen begann die Neubildung der Stadt, die bis dahin Westberlin hieß. All das war Einübung in eine neue Mobilität, in die Veralltäglichung der massenhaften Grenzüberschreitung, die bis dahin ein Abenteuer der wenigen gewesen war. Die andere Zeit kam nicht auf Tigerpranken, nicht einmal auf Katzenpfoten, sondern fast unmerklich auf den Wägelchen der Ameisenhändler. Sie wanderten unter der Mauer hindurch, bevor sie fiel. Sie übergingen sie, als sie noch stand. Sie fuhren an den Grenzbeamten vorbei, als diese noch schwerbewaffnet zwischen der Reichstagsruine und dem Bahnhof Friedrichstraße patrouillierten und nicht ahnten, dass die Mauer vor ihren Augen sich aufzulösen begann. Bis heute gibt es am Bahnhof Zoologischer Garten kein Denkmal für die unbekannten Ameisenhändler von der Lumumba-Universität. Stattdessen soll ein Freiheitsdenkmal genau dort errichtet werden, wo sich buchstäblich gar nichts ereignet hat (ich glaube, es ist die Schlossfreiheit vor dem gesprengten Schloss und dem abgeräumten Palast der Republik).

Der Polenmarkt am Potsdamer Platz oder Der Basar als Neugründung der Stadt

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