Monica Davis

 

OUTCASTS

 

Teil 1: Lost Island

Inhalt

 

Jugend-Dystopie

 

Eine Insel, 300 Ausgestoßene, unzählige Gefahren …

 

Die Polkappen sind geschmolzen, der Meeresspiegel angestiegen. Landfläche ist knapp, daher gibt es in den neuen Verwaltungszonen strenge Regeln, um das Überleben zu sichern.

Die siebzehnjährige Kate wohnt in der kleinen Stadt Welltown, errichtet auf einem Berg im ehemaligen England, umgeben von Wasser. Sie fühlt sich sicher in dem diktatorischen System und erwartet eine vorbestimmte Karriere als Senatorin. Alles könnte perfekt sein, wäre da nicht ihr Mitschüler Liam, in den sie sich verliebt hat. Doch der junge Mann schlägt sich auf die falsche Seite, und Kate ist gezwungen, ihn auszuliefern.

 

Ein Jahr später …

 

Outcasts – so werden Menschen genannt, die auf »Lost Island«, einer Strafkolonie, um ihr Überleben kämpfen. Als Verbannte der Gesellschaft dürfen sie nie wieder in eine Verwaltungszone zurückkehren.

Nach Liams Verhaftung muss Kate eine harte Prüfung bestehen, um Senatorin werden zu dürfen. Auf der Insel soll sie den Verstoßenen »Wolf« ausspionieren, um herauszufinden, wo die Rebellen ihren Unterschlupf haben. Kate traut ihren Augen kaum, als sie dort den Jungen wieder trifft, den sie einmal heiraten wollte. Niemand hat ihr gesagt, dass ihr Liam dieser Wolf ist.

Was wird geschehen, wenn er erfährt, dass sie ihn einst verraten hat?

 

Ein Roman über die zarte erste Liebe und eine düstere Zukunft.

 

Ca 200 Taschenbuchseiten. Alle Teile sind bereits erschienen: Lost Island, Welltown, Secret City und Newtown.

 

Glück durch Bestimmung, Wohlstand durch Lenkung, ein gutes Leben durch die Familia.

Prolog – Ein Jahr zuvor

 

Kate konnte es kaum erwarten, das Klassenzimmer zu verlassen, und Liam anscheinend auch nicht. Er saß am Nebentisch und hatte ihr heute mehrmals Zettelchen mit seinen Plänen fürs Wochenende zugeschoben. Er wollte mit ihr zum Lesen in die Bibliothek, zum Picknick in den Park und am Abend …

Ihr wurde heiß bis in die Haarspitzen. Sie sollte um acht Uhr auf sein Zimmer kommen, denn Pierre, sein Mitbewohner, lag wegen einer Blinddarmentzündung auf der Krankenstation.

»Nur zum Reden«, flüsterte ihr Liam zu. Seine Augen funkelten vergnügt, während er sich eine lange braune Strähne hinters Ohr strich. Wenn er grinste, so wie jetzt, bildeten sich immer diese süßen Grübchen in seinen Wangen, und die ließen ihre Knie butterweich werden. Zum Glück saß sie gerade.

Wie gerne sie ihn besuchen und einmal völlig ungestört mit ihm sein wollte – doch es war verboten! Sie könnte ihren Job als Schülersprecherin verlieren. Sie musste für alle stets ein Vorbild sein, denn auf diesem Internat gab es noch strengere Regeln als draußen. Es grenzte schon an ein Wunder, dass sie die Mauern überhaupt verlassen und in den angrenzenden Park gehen durften, der zum Gelände des Familia-Hauptsitzes gehörte und das Schulgelände mit dem Regierungssitz verband. Kate durfte sogar täglich in den Park, weil sie eine Sonderstellung innehatte, und die wollte sie um nichts auf der Welt missen. Diese kleinen Freiheiten bereicherten ihr Leben.

»Nun denn«, sagte ihr Politiklehrer Mr Judd, ein grauhaariger, hagerer Mann, und die Klasse stand auf. Zwanzig Schüler in weißen Uniformen verbeugten sich und sprachen die Parole ihrer Verwaltungszone: »Glück durch Bestimmung, Wohlstand durch Lenkung, ein gutes Leben durch die Familia.«

»Wir sehen uns dann am Montag wieder.« Mr Judd klemmte sich seine Tasche unter den Arm und verließ den Raum. Die Schüler schlossen sich ihm an, Kate blieb. Ihre Aufgabe war es, die Tür abzusperren, sobald alle gegangen waren. Daher schlenderte sie zum Fenster, öffnete es und ließ sich die warme, salzige Brise um die Nase wehen. Sie liebte den Blick über das Eiland, die Nachbarinseln und das dunkelblaue Meer, auf dessen Oberfläche sich die Sonne spiegelte.

Liam stellte sich dicht neben sie. »Ich fühle mich immer frei und beinahe schwerelos, wenn ich von hier oben über die Stadt schaue.« Er sprach leise, damit niemand ihn hören konnte. So etwas zu sagen war nicht ungefährlich, auch wenn das wahrscheinlich niemand falsch verstehen würde. Liam war jemand, der sich an die Regeln hielt. Meistens.

»Ja, es ist wunderschön hier.«

Das Internat befand sich auf einem Berg im ehemaligen England – so hatte das Gebiet vor der Großen Flut geheißen. Die neue Stadt Welltown wurde jedoch erst vor hundert Jahren auf dieser Erhebung errichtet und war ihre Heimat. Kate war froh, in dieser Kolonie leben zu dürfen, nicht allen war so viel Glück vergönnt. Etwa 20000 Menschen arbeiteten hier, umgeben vom Meer. Die anderen Siedlungen, die zu ihrer Verwaltungszone gehörten, waren durch lange Brücken oder Wasserwege, auf denen Fähren fuhren, miteinander verbunden. Kates Eltern saßen im Senat der Familia, Liams Vater hingegen arbeitete als Mechaniker auf Construction, einer anderen Insel, auf der überwiegend Heli-Porter gebaut wurden.

Liam warf einen Blick über die Schulter, dann griff er nach Kates Hand. »Was meinst du, würden wir heute tun, wenn der Meeresspiegel nicht angestiegen wäre und es die Alte Welt noch gäbe?«

Schnell sah sie selbst zurück. In den meisten Räumen dieser Stadt waren Kameras installiert, damit die Familia immer alles beaufsichtigen konnte, um den Frieden zu wahren; doch das Objektiv war nicht auf sie gerichtet, sondern zeigte zur Tür. Davor gingen mehrere Schüler vorbei, die sich auf ihre Zimmer zurückzogen. Gut, sie waren einen Moment unbeobachtet, daher wandte sie sich ihm zu und hob den Kopf, da er größer war als sie. Deshalb hatte sie sein markantes Kinn, das er fein säuberlich rasiert hatte, und seine schön geschwungenen Lippen vor Augen. »Ich weiß nicht, was wir dann tun würden. Bestimmt auch zur Schule gehen.«

»Ich würde gerne Skifahren.«

Kate runzelte die Stirn. »Was?«

»Die Menschen haben sich früher Bretter unter die Füße geschnallt, die hießen Ski, und damit konnten sie schneebedeckte Berge hinunterrutschen. Stell dir vor, hier würde es schneien, ich würde das sofort ausprobieren.«

Kate lachte. »Ernsthaft? Das sieht bestimmt lustig aus. Was du alles weißt.«

Er verbrachte entweder viele Stunden mit Sport, was man ihm auch anmerkte, denn er besaß eine schlanke, ansprechende Figur, oder in der Bibliothek, um alte Bücher zu wälzen. Die Zeit vor der Großen Flut hatte es ihm besonders angetan, wusste Kate. Liam hatte auch nur Zutritt zu dem abgesperrten Bereich, weil er ein Referat über das 20. Jahrhundert halten und dabei die Vorteile aufzählen sollte, die ihre neue Regierung bot. Kate war stolz auf ihn. Er war sehr intelligent und hätte auch das Zeug zum Senator.

Schnee … »Was würde ich dafür geben, dieses weiße Zeug einmal zu sehen.« Seit der Großen Flut hatte sich alles für die Menschen verändert, die Alte Welt gab es seit Äonen nicht mehr. Durch den Ausstoß von zu viel Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen hatte sich die Erde laufend erwärmt. Hinzu waren die verstärkte Intensität der Sonnenstrahlung, Sonnenstürme und vulkanische Aktivität gekommen, die die Weltmeere über Jahrzehnte aufgeheizt hatten. Der massive Temperaturanstieg führte schließlich dazu, dass die Gletscher und Polkappen innerhalb weniger Jahre schmolzen und sich der Meeresspiegel drastisch hob. Jahreszeiten gab es nicht mehr, ganzjährig herrschte fast dasselbe Klima: Es war feucht und warm; die Prognosen einer neuen Eiszeit hatten sich als falsch erwiesen.

Menschen waren auf höher gelegene Ebenen evakuiert worden; in ärmeren Ländern oder auf Inseln, die schnell überspült wurden, waren Millionen ertrunken oder hatten versucht, sich auf schwimmende Inseln und Schiffe zu retten. Hungersnöte brachen aus, weil zu wenig Platz für Menschen und Nahrungsanbau existierte. Krieg tobte jahrelang in den wenigen Trockenzonen, und es waren noch einmal sehr viele Menschen gestorben.

Da nicht rechtzeitig alle nuklearen Anlagen wie Kernkraftwerke abgeschaltet werden konnten und Tsunamis über weite Landesteile fegten, erklärte man riesige Landflächen zur radioaktiv verseuchten Sperrzone. Dort lebten heute nur noch wenige kranke und missgebildete Menschen. Lediglich in den Verwaltungszonen war eine dauerhafte und gesunde Existenz möglich, und dieses Zusammenleben auf engstem Raum forderte eben seinen Tribut. Strenge Regeln mussten eingehalten werden, damit diese Gemeinschaft existieren konnte und nicht wieder Krieg ausbrach. Der Lebenslauf jedes einzelnen war vorherbestimmt, Nahrungsmittelrationen genau zugeteilt – alles wurde von der Familia streng geregelt. Auf dem Internat bekamen die zukünftigen Bürger alles beigebracht, bevor sie in die Gesellschaft entlassen wurden. Daher sahen die meisten Schüler ihre Eltern auch nur an wenigen Tagen im Jahr. Selbst Kate, die ihre Eltern öfters besuchen durfte, weil sie quasi nebenan arbeiteten, kam das Internat manchmal wie ein Gefängnis vor.

Liam drückte ihre Hand. »Noch elf Monate, bevor wir heiraten und zusammenleben können. Ich glaube, ich drehe bald durch.« Er grinste sie an, woraufhin sich Kates Magen verkrampfte. Sie hatte es ihm noch nicht erzählt.

»Wir wissen doch gar nicht, ob sie unseren Antrag genehmigen.«

»Ich will aber kein Konstrukteur wie mein Vater werden. Ich will unterrichten, an diesem Internat!«

»Die Familia hat das nicht für dich vorgesehen.«

Sein Gesicht verdüsterte sich. »Ich werde kämpfen, um Lehrer werden zu können und um dich heiraten zu dürfen, Goldlöckchen. Und auch wenn ich kein Lehrer werde – warum sollte ich dich nicht trotzdem heiraten dürfen? Was haben denn unsere Berufe mit der Ehe zu tun?«

Liams Eigensinn erstaunte sie immer wieder. Er musste aufpassen, was er tat oder sagte, oder er könnte alles verlieren. Und sie musste aufpassen, sich nicht von ihm in den Abgrund reißen zu lassen. Er bedeutete ihr jeden Tag mehr, sodass sie ihm seine Schwächen verzieh. Das war nicht gut.

»Ich mag nicht, wenn du mich Goldlöckchen nennst«, sagte sie gespielt verschnupft und starrte in seine wunderschönen Augen. Wahrscheinlich war er ein Magier oder ein Dschinn und hatte sie längst verzaubert, weil sie ihm ständig alles durchgehen ließ. Liam las ihr in der Bibliothek – in einer Ecke, die die Kameras nicht erfassen konnten – Märchen vor, und »Aladin und die Wunderlampe« war ihre Lieblingsgeschichte. Niemand durfte erfahren, dass sie diese Bücher zu ihrer Privatunterhaltung nutzten. Sie sollten nur der Recherche über die Alte Welt dienen. Diese letzten Relikte hütete die Familia wie Schätze.

»Doch, du liebst es, wenn ich dich Goldlöckchen nenne.« Schmunzelnd wickelte er sich eine ihrer langen blonden Strähnen um den Finger. Kate war eine der wenigen mit blondem Haar in Welltown, was sie für viele zu etwas Besonderem machte. Die meisten Menschen hatten braunes oder schwarzes Haar, rot fand sich auch nur noch selten. Vielleicht hatte sie deshalb die Stelle als Schülersprecherin ergattert. Ihre Mitschüler liebten und bewunderten sie, dabei war sie kaum anders als der Rest.

Kate fühlte sich nicht wohl, beobachtet zu werden, wenn sie so dicht an Liams Seite stand und eine Kamera in der Nähe war. Daher trat sie einen Schritt zurück, sodass er sie loslassen musste, und musterte ihn und seine weiße Schuluniform von oben bis unten. Er war in den letzten Monaten regelrecht in die Höhe geschossen. »Hörst du eigentlich mal auf zu wachsen? Du solltest dir eine neue Uniform aus der Kleiderkammer holen, die hier wird dir langsam zu klein.«

»Das mache ich am Montag.«

Erneut wandte sie sich dem Fenster zu. Die Schüler hatten den Raum längst verlassen, dennoch wollte sie nicht gehen. Es war schön, mit Liam am Fenster zu stehen.

»Hat dein Vater auch schon mal ein Frachtschiff gebaut?«, fragte sie, um über irgendwas zu reden, während sie zum Fuß des Berges blickte. Dort befand sich ein großer Hafen, in dem es vor Schiffen wimmelte. Die Wasserwege waren nicht ungefährlich, denn einige Stellen lagen nicht tief genug und die Dächer der versunkene Städte ragten teilweise aus den Fluten. Taucher bargen noch heute wichtige Materialien. Vielleicht wäre das auch ein Job, der Liam Spaß machen könnte? Den würde die Familia bestimmt eher zulassen, als seinen Wunsch, Lehrer zu werden.

Ein Zickzackweg führte vom Hafen hinauf bis zur Schule und dem Hauptsitz der Familia, der sich daneben anschloss. Diese zwei Gebäude aus rotem Sandstein sahen aus wie Herrenhäuser des 15. Jahrhunderts. Davor lag der kleine Park, und zu beiden Seiten des geschlängelten Weges ragten hohe Häuser in den Himmel. Dazwischen befanden sich Zahnradbahnen, Sessellifte oder Gondeln, die sich über den ganzen Berg zogen, damit Personen oder Waren überall hinkamen. Breitere Straßen und Fahrzeuge gab es auf dieser Insel nicht, dazu reichte der Platz nicht aus.

Liam stützte den Ellbogen auf das Fensterbrett und legte das Kinn auf die Faust. »Dad baut nur Heli-Porter.«

»Nur?« Überrascht wandte sie sich ihm zu. »Das klingt, als wärst du nicht stolz auf ihn. Helis sind unsere wichtigsten Transporter!« Die Quadrocopter konnten mehrere Tonnen bewegen.

»Ich bin stolz auf ihn, aber ich will mehr erreichen. Für mich, für uns.« Er richtete sich auf, spähte zur Kamera und griff wieder nach ihrer Hand. »Komm heute Abend zu mir, damit ich dich endlich mal küssen kann. Ich muss wissen, wie deine Lippen schmecken.«

Der plötzliche Themenwechsel riss Kate fast von den Füßen. Ihr Herz raste und Hitze schoss in ihr Gesicht. Küssen? Sie hatte sich schon oft ausgemalt, wie sich der erste Kuss anfühlen würde, doch vor einer Heirat sollten sie nicht einmal daran denken!

»Pst, Liam!« Sie warf einen weiteren Blick zur Kamera, die sich nun in ihre Richtung drehte. Hastig wichen sie auseinander, und Kate flüsterte: »Nimmst du deine Tabletten schon wieder nicht?«

Als er zwinkerte, wusste sie die Antwort. »Liam! Du musst sie nehmen, sie tun uns gut!«

Alle Schüler bekamen jeden Tag zum Frühstück ein individuell abgestimmtes, pflanzliches Hormon. Es schwächte die natürlichen Triebe, die gerade in der Pubertät bei den Jungs zu Aggressionen führen konnten. Außerdem milderte es bei den Mädchen Menstruationsbeschwerden. Die Familia empfahl die Einnahme der täglichen Dosis auch nach der Schulzeit.

»Ich will dich mit allen Sinnen genießen, Goldlöckchen«, raunte er. »Außerdem kann ich mich beherrschen, schließlich bin ich kein Höhlenmensch.«

»Unsere Zimmer werden auch überwacht, du Schlaumeier.« Sie grinste schief. »Dir wird nichts anderes übrig bleiben, als dich zu beherrschen.«

Er stellte sich so hin, dass die Kamera nicht seine Lippenbewegungen aufzeichnen konnte, und sagte leise: »Ich habe die Kamera manipuliert. Die Familia wird nur sehen, wie ich brav an meinem Schreibtisch sitze und lerne.«

»Liam, wenn das herauskommt!« Sie wollte ihn am liebsten rütteln, bewunderte jedoch sein technisches Verständnis. Er war so verdammt klug.

»Es ist unser letztes Schuljahr, Kate. Dann werden wir endlich achtzehn sein und …«

»Die Familia möchte, dass ich Senatorin werde«, unterbrach sie ihn.

Starr blieb er stehen und schien sogar das Atmen vergessen zu haben. »Wann hast du das erfahren?«

»Gestern. Ein Brief lag auf meinem Schreibtisch.« Sie hatte es ihm schon heute Morgen beim Frühstücken im Speisesaal erzählen wollen, sich aber nicht getraut, obwohl es eigentlich immer klar war, dass sie in die Fußstapfen ihrer Eltern treten würde, wie fast alle hier.

»Na ja, das kam nicht wirklich überraschend, oder?« Er blinzelte ein paar Mal, anschließend lächelte er. »Wenn du erst im Senat sitzt und ich Lehrer bin, können wir vieles besser machen.«

Er war solch ein Optimist. »Du … bist nicht schockiert?«

»Nein. Vielleicht ist das einfach ein Wink des Schicksals.«

Sie waren die letzten Überlebenden nach der Großen Flut und hatten dafür zu sorgen, dass ihre Rasse nicht ausstarb und es stetig weiterging. Daher bestimmte die Familia ihr Schicksal, aber Kate biss sich auf die Zunge und sagte nichts.

»Vertraust du mir?«, fragte er verschwörerisch, während sie das Fenster schloss. Sie mussten hier raus, oder die Familia würde sich fragen, was sie noch so lange im Klassenzimmer machten.

Schwach nickte sie. Dieses teuflische Funkeln in seinen Augen bedeutete nichts Gutes.

Kate sperrte ab und schob den Schlüssel tief in die Hosentasche. Sie musste ihn im Sekretariat abgeben, bevor sie zum Mittagessen ging.

Liam stand dicht hinter ihr. »Möchtest du mich wirklich heiraten?«

Ihr Gesicht erhitzte sich erneut und sie sah hastig auf den Boden. »Das weißt du doch.«

»Dann komm in einer Stunde in den Computerraum. Da sind alle noch beim Essen, niemand wird uns stören.«

»Was hast du vor?« Würde er sie dort küssen wollen? In der Schule waren keine Intimitäten erlaubt, schließlich sollten sie sich auf das Lernen und ihre Ausbildung konzentrieren. Nicht ohne Grund wurden die Jungs mit besonders viel Sport bei Laune gehalten, damit sie ausgeglichener waren.

»Ich muss dir etwas Wichtiges zeigen«, sagte er.

Nun hatte er sie neugierig gemacht. »Ich werde kommen«, versprach sie und lief lächelnd davon, um den Schlüssel abzugeben. Liam brachte Abwechslung in ihre strukturierten Tagesabläufe. An seiner Seite würde es ihr wohl nie langweilig werden, und das war einer der Gründe, warum sie ihn liebte.

 

***

 

Liam vertraute Kate. Daher konnte er es kaum erwarten, bis sie endlich im Computerraum auftauchte. In dem sterilen weißen Zimmer war es nicht so gemütlich wie in der Bibliothek, wo es ebenfalls Computer gab, aber wegen Wartungsarbeiten liefen hier die Kameras nicht. Er wusste das, weil er einfach über alles im Bilde war, was an diesem Internat passierte, denn er hatte sich in das Schulnetz gehackt. Seine leichteste Übung.

Er setzte sich auf den Stuhl und schaltete den Computer an, wobei er ständig einen Blick zur Tür warf. Tat er wirklich das Richtige? Seit Wochen wollte er Kate von seiner Entdeckung erzählen, war sich aber nicht sicher gewesen.

Nein, Kate würde nichts verraten; seine zierliche Elfe hatte ein gutes Herz, das noch nicht vollständig von den Parolen der Familia verdorben war. Er kannte sie schon die gesamte Schulzeit, denn sie waren von Beginn an in einer Klasse gewesen, und er hatte miterlebt, dass sie sich für Schwächere einsetzte und ihre eigene Vorstellung von Gerechtigkeit hatte. Dieselbe wie er, auch wenn ihr das wohl nicht bewusst war. Wegen ihrer Eltern, die beide der Familia als Senatoren dienten, war sie von Geburt an tiefer mit den Strukturen verwurzelt als er, und an der Schule bekamen sie regelrecht eine Gehirnwäsche verpasst. Deshalb wunderte er sich, dass Kate, genau wie er, einen Teil ihrer Persönlichkeit bewahrt hatte.

Lächelnd erinnerte er sich, wie sie vor drei Jahren heimlich einen Vogel unter ihrem Bett gesund gepflegt hatte, der gegen die Scheibe ihres Zimmers geflogen und sich den Flügel angebrochen hatte. Sie hatte nur ihm davon erzählt, und niemand hatte etwas mitbekommen, weil Kate als Schülersprecherin ein Einzelzimmer hatte. Wahrscheinlich hätte die Familia nichts dagegen gehabt, dass sie den Vogel pflegte, es hätte ihr jedoch Kates Mitgefühl aufgezeigt, und das war etwas, das ein Mitglied der Familia nicht haben sollte. Sachlicher Verstand und Rationalität waren das Einzige, das zählte.

Oder als sie den achtjährigen Peter vor zwei Jahren erwischt hatte, wie er mit Kreide freidenkerische Parolen an die Hauswand schrieb. Da hatte sie ihn nicht an die Familia verraten, sondern gemeinsam mit ihm die Schmierereien entfernt, bevor sie entdeckt wurden. Der Junge wäre vielleicht in ein Erziehungslager gekommen, und Kate hatte den Gedanken daran nicht ertragen können und ihre eigene Reputation riskiert.

»Hi«, sagte sie, als sie wie ein Engel zur Tür hereinschwebte.

»Hi«, antwortete er und grinste sie wahrscheinlich schon wieder dämlich an, aber er konnte nicht anders. In Kates Anwesenheit musste er ständig grinsen und sein Herz flatterte wie verrückt.

Er kannte sie lediglich in der legeren weißen Uniform, den langen Hosen und dem Hemd, das sie alle trugen, und dennoch war sie für ihn das schönste Wesen auf Erden. Ihr Lächeln war einfach umwerfend, und ständig malte er sich aus, die Hände und seine Nase in ihren langen blonden Haaren zu vergraben.

Nein, er würde nichts machen, was Kate gefährdete, niemals. Die Familia wiegte sich in Sicherheit, sie hielt es für unmöglich, dass sich einer der Schüler gegen das System auflehnte oder gar das interne Computernetz infiltrieren konnte. Was Liam ihr zeigen wollte, würde keinen von ihnen in Gefahr bringen. Er würde ihr nur schnell beweisen, dass es da draußen tatsächlich eine Gruppe gab, die nicht so dachte wie die Familia: die Freigeister. Liam hatte sie lange für einen Mythos gehalten, ein Konstrukt der Familia, das ihnen demonstrieren sollte, was mit untreuen Regierungsanhängern passierte – doch es gab diese Widerstandsbewegung wahrhaftig!

»Was wolltest du mir denn zeigen?«, fragte sie und stellte sich neben ihn.

Am liebsten hätte er sie auf den Schoß gezogen, aber das war zu gefährlich. Es könnte jederzeit jemand hereinkommen, schließlich durften die Schüler die Computer für ihre Hausaufgaben nutzen. Das Internet war auf das Schulnetz begrenzt, nicht einmal E-Mails an die Eltern waren von diesen Rechnern aus möglich. Alle Briefe mussten erst von der Familia abgesegnet werden. Doch Liam hatte einen Weg gefunden, die virtuellen Mauern des internen Netzwerks zu durchbrechen und war auf eine sehr interessante Seite gestoßen. Die der Freedom Fighter.

»Weißt du noch, wie uns vor ein paar Wochen, als wir im Park waren, so seltsame Symbole an einigen Papierkörben aufgefallen sind?«

Kate nickte. »Ja, du meinst diese aufgesprühten Bäume, in denen je ein Vogel saß?«

»Genau. Ich habe im Internet danach gesucht. Daraufhin bin ich auf diese Seite gestoßen.« Er drehte den Bildschirm zu ihr, sodass sie die Sprüche darauf lesen konnte.

Kate schlug sich die Hand vor den Mund und ihre Augen wurden groß. »Liam, das sind freidenkerische Parolen!«

Er verfolgte, wie sie die Zeilen las:

Wir sind für ein selbstbestimmtes Leben.

Niemand darf uns die Berufswahl oder den Partner vorschreiben.

Wir sind gegen totale Überwachung.

Wir dulden keine Kameras in unseren Wohnungen!

Wir wollen nicht, dass unsere Telefongespräche abgehört und unsere E-Mails durch einen Wortfilter geschleust werden.

Wir sind gegen ein Strafgeld, wenn eine Frau der Unterschicht mehr als ein Kind bekommt.

Besonders der letzte Satz führte Liam vor Augen, was ihn an diesem System störte. Er gehörte zwar zur Mittelschicht, doch warum sollte sich nur die Oberschicht, zu der auch Kate angehörte, unbegrenzt fortpflanzen dürfen? Die Familia wollte jedwedes Verbrechen ausrotten und begründete es damit, dass weniger intelligente Menschen ein höheres Aggressionspotential besaßen.

Wer würde denn die Drecksarbeit erledigen, wenn es nur noch Denker gäbe? Ts, da wollten sie die menschliche Rasse vor dem Aussterben bewahren, aber Land und Ressourcen nur denen zur Verfügung stellen, die es verdienten? Waren Bauern, Service- und Reinigungskräfte weniger wert als andere Menschen? Was würden die hohen Herren denn ohne diese Leute machen?

»Himmel, Liam, schalte das ab! Wenn jemand kommt und die Familia herausfindet …«

»Genau das ist es, Kate. Du hast Angst vor ihnen! Niemand sollte sich vor seiner Regierung fürchten müssen.«

»Ist das etwa ein geheimes Netzwerk, über das die Freigeister kommunizieren?« Hektisch blickte sie sich um. »Aber …«

»Es ist keiner hier, Kate, und die Schulcomputer werden nicht überwacht. Zumindest dieser nicht.« Er setzte ein zuverlässiges Lächeln auf, doch sein Magen schmerzte. Hatte er sich in Kate getäuscht? Er sah ihr an, was sie dachte: dass er sie in Gefahr brachte.

Ihre angespannte Miene lockerte sich etwas. »Du hast den Computer manipuliert?«

»Nur ein paar Modifikationen vorgenommen.« Tief atmete er durch und fuhr sich durchs Haar. »Ich bin nicht dumm, Kate. Ich weiß, was ich tue. Und ich mache das für uns, für alle. Wir könnten viel selbstbestimmter leben, wenn sich ein paar Dinge ändern würden. Wäre es nicht schön, wenn sich jeder aussuchen dürfte, wen er heiraten und welchen Job er machen darf?«

»Schon, aber dann würde vielleicht wieder ein Krieg ausbrechen. Zu viele Freiheiten sind nicht gut für uns, wir brauchen Regeln und Strukturen.«

»Das sagt die Familia; ich nenne es: Einschränkungen. Doch was sagt dein Herz?«

Sanft lächelnd schüttelte sie den Kopf.

»Siehst du, du brauchst es nicht einmal auszusprechen. Ich merke dir an, dass du so denkst wie ich.« Er hoffte es für sie beide. »Es muss sich ja nicht viel verändern. Nur ein bisschen was, nach und nach. Zum Wohl aller.«

»Du bist ein Träumer und ein unverbesserlicher Optimist«, sagte sie schmunzelnd, beugte sich zu ihm herunter und küsste ihn auf die Nasenspitze. »Und jetzt mach das aus, bevor uns jemand erwischt.«

Er löschte den Browserverlauf, schaltete den Computer ab und zog Kate auf seinen Schoß, sodass sie seitlich auf ihm saß. Hoffentlich erwischte sie niemand, aber er konnte nicht anders, musste sie bei sich haben. »Hast du mich eben geküsst, Kate Edwards, du zuckersüße Rebellin?« Liam spürte die Wärme ihrer Haut durch den dünnen Stoff ihrer Uniformen und genoss ihr Gewicht auf seinen Oberschenkeln.

»Ich … das war nur … eine unüberlegte Reaktion!« Ihre Wangen färbten sich tiefrot. Sie war einfach anbetungswürdig.

Vorsichtig schloss er die Arme um ihre Taille und vergrub die Nase in ihrem langen Haar, wie er es schon seit Ewigkeiten tun wollte. »Dein Unterbewusstsein hat dir befohlen, mich zu küssen.«

Geräuschvoll räusperte sie sich und fragte leise: »Was willst du denn jetzt machen?«, immer die Tür vor Augen. Liam wettete, dass sie beim kleinsten Geräusch aufspringen würde, doch er wollte sie noch länger halten.

Ich will dich jetzt richtig küssen, dachte er, vermutete jedoch, dass Kate nicht darauf angespielt hatte. Deshalb antwortete er: »Ich möchte Lehrer werden und den Schülern andere Werte vermitteln.«

»Daran darfst du nicht einmal denken, Liam.«

Er musste es bei Kate subtiler angehen. Auch wenn er spürte, dass sie ihn liebte und zumindest ein bisschen so dachte wie er, durfte er nichts riskieren. Kate hatte Angst, was nicht verwunderlich war. Ihre Eltern hatten sie streng nach den Regeln der Familia erzogen und die Schule tat den Rest dazu.

Er würde einen Weg finden müssen, sie zum Umdenken zu bewegen und ihr die Angst zu nehmen. Vielleicht sollten sie erst einmal versuchen, dass sie heiraten durften. Dann würde sie Senatorin werden und er könnte es mit viel Geschick, Liebe und Einfühlungsvermögen schaffen, dass sie ihre Sichtweisen änderte. Kate könnte im Senat so viel bewegen. Vielleicht brauchte sie noch etwas Zeit.

»Okay«, sagte er schließlich. »Ich werde diese Seite nicht mehr öffnen.« Nicht, wenn Kate dabei war.

Sie atmete tief durch und lächelte ihn an. »In dir steckt ja noch ein vernunftbegabtes Wesen. Die Pubertät hat dir wohl das Gehirn vernebelt.«

»So wird es sein.« Er grinste sie mehrere Sekunden lang an, danach zog er ihren Kopf zu sich und küsste sie direkt auf den Mund.

Aufkeuchend drückte sie die Hände gegen seine Brust, aber als er zärtlich an ihren Lippen knabberte, ließ sie sich gegen ihn sinken und erwiderte den Kuss.

Liam war im Himmel. Allein dafür hatte es sich gelohnt, Kate in den Computerraum zu locken, endlich kam er dazu, von ihr zu kosten. Alles Weitere würde sich auch noch ergeben. Sie beide würden die Welt verändern, da war er sich sicher.

Kapitel 1 – Wiedersehen

 

»Du musst dir einen Beschützer suchen, um zu überleben«, sagte Prudence bereits zum zweiten Mal und musterte Kate vom gegenüberliegenden Platz stirnrunzelnd. Besorgnis spiegelte sich in ihren grünen Augen.

Kate saß mit der jungen Senatorin in einem separaten Teil des Gefangenentransporters, und ihr war jetzt schon ganz schlecht, was nicht an diesem Heli-Flug lag. Kate hatte schreckliche Angst, und Prudence’ Worte hallten ununterbrochen durch ihren Kopf: Beschützer suchen … überleben … Plan einhalten, oder die Familia wird dich finden … Wenn du nicht zurückkommst, werden sie dich töten … Du musst stark bleiben, Kate …

Prudence Clearwater war eine Rückkehrerin; vor ein paar Jahren hatte sie es geschafft, Lost Island zu verlassen. Damals war sie wenig älter als Kate jetzt gewesen und hatte für die Familia wichtige Informationen gesammelt. Genau wie ich es nun tun muss. Die Senatorin hatte lediglich einen Mittelfinger eingebüßt, als sie zwischen die Fronten zweier rivalisierender Banden geraten war, ansonsten ging es ihr gut.

Das alles hatte Kate gerade erst erfahren. Niemals zuvor hatte sie von der Strafkolonie oder den Outcasts gehört. Diese Ausgestoßenen hatten so schwere Verbrechen begangen, dass sie nie wieder ein Teil der Gesellschaft werden durften.

Prudence’