Der Arzt vom Tegernsee
– 30 –

Von der leiblichen Mutter verstoßen

Laura Martens

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-014-9

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Franzl stieß schwanzwedelnd seine Schnauze in einen Grashaufen, der am Ufer des Tegernsees lag, dann wich er knurrend zurück, legte Oberkörper und Vorderpfoten flach auf den Boden und kläffte herausfordernd.

»Schon gut, mein Dicker.« Dr. Eric Baumann bückte sich nach dem Ball, der in den Grashaufen gefallen war, und warf ihn ein paar Meter weiter.

Franzl sprang so schnell auf, daß er fast das Gleichgewicht verloren hätte. Mit fliegenden Ohren jagte er dem Ball nach, ergriff ihn mit der Schnauze und rannte zurück. Mit einem herausfordernden ›Wuw‹ legte er ihn seinem Herrchen zu Füßen. Seine Rute bewegte sich so schnell wie ein Propeller.

»Nein, Franzl, jetzt reicht’s«, sagte Eric. »Zu Hause erwartet dich ein voller Futternapf und mich mein wohlverdienter Feierabend. Der Tag ist anstrengend genug gewesen.« Er hob den Ball auf, wischte ihn im Gras ab und steckte ihn in die Hosentasche. Für Franzl ein deutliches Zeichen, daß das Spiel zu Ende war. Ergeben rannte er in Richtung Doktorhaus voraus.

Wie Eric versprochen hatte, erwartete Franzl ein gefüllter Futternapf, nur aus dem wohlverdienten Feierabend wurde nichts. »Herr Binder hat angerufen«, sagte Katharina Wittenberg, die Haushälterin des Arztes, kaum, daß dieser mit Franzl den Korridor betreten hatte. »Seine Frau hat heftige Herzschmerzen.«

»Karin Binder?« fragte Eric. Er nahm den Ball aus der Hosentasche und ließ ihn in Franzl’s Spielzeugkiste fallen, die unter der Treppe stand.

»Ja.« Katharina nickte. »Ich weiß, in acht von zehn Fällen schreit Frau Binder Feuer, bevor es überhaupt brennt, aber man kann ja nie wissen…«

»Genau das ist es«, meinte Eric aufseufzend. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, daß er zu den Binders gerufen wurde und sich dann herausstellte, daß Karin Binder nur Blähungen hatte. Es handelte sich bei ihr um eine sehr nette und hilfsbereite Frau, nur machte sie leider aus jeder Mücke einen Elefanten. Er warf einen Blick auf den Küchentisch, wo schon alles für ein gemütliches Abendessen bereitstand. »Ich fahre am besten gleich«, entschied er. »Vermutlich bin ich in spätestens einer Stunde zurück.«

Die Binders wohnten am anderen Ende von Tegernsee, im Nelkenweg. Gleich, als er in die Straße einbog, sah er den großen Möbelwagen, der vor dem Haus stand, das dem der Binders gegenüberlag. Eine schwarzhaarige Frau, die er auf etwa vierzig schätzte, gab einem der Möbelpacker Anweisungen. Hinter ihr am Gartenzaun lehnte ein zierliches Mädchen. Es schaute sich nicht um, sondern blickte starr zu Boden. Die Kleine machte einen so verlorenen Eindruck, daß Eric sie am liebsten in die Arme genommen hätte.

Der Arzt hielt vor dem Haus der Binders. Im selben Moment kam aus der anderen Richtung ein weiterer Wagen. Er bog in die Auffahrt ein. Larissa Binder, Karins Schwägerin, stieg aus. Sie ging Dr. Baumann entgegen. »Ist jemand bei uns krank?« fragte sie besorgt und reichte ihm die Hand.

»Ihre Schwägerin hat offenbar Herzschmerzen«, erwiderte er und hätte fast aufgelacht, als er sah, wie um Larissas Mund ein spöttisches Lächeln huschte.

Larissa wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment öffnete sich die Haustür, und ihr Bruder erschien mit seinem Töchterchen auf dem Arm. »Gut, daß Sie da sind, Herr Doktor«, meinte Wolfgang Binder und reichte seiner Schwester das Kind. »Ich habe meiner Frau gesagt, daß sie sich hinlegen soll. Hoffentlich ist es nichts Ernstes.«

»Es wird so ernst wie beim letzten Mal sein«, bemerkte Larissa, entschuldigte sich jedoch sofort. »Tut mir leid. Du weißt, wie sehr ich Karin mag. Ich finde es nur verrückt, wegen jedem Kratzer nach dem Arzt zu rufen.«

»Du hast gut reden, Larissa«, antwortete Wolfgang Binder gereizt. »Es kann nicht jeder so eine robuste Gesundheit haben wie du.« Er wies zur Treppe. »Bitte, Doktor Baumann.«

Eric kannte die Binders gut genug, um zu wissen, daß die kleinen Wortgefechte zwischen den Geschwistern überhaupt nichts zu bedeuten hatten. Beide waren einander herzlich zugetan, zudem vertrug sich Larissa ausgezeichnet mit ihrer Schwägerin. Er hatte selten eine Familie kennengelernt, in der einer so für den anderen eingestanden wäre.

Larissa wollte gerade dem Arzt und ihrem Bruder mit Lea ins Haus folgen, als sie plötzlich Schritte hinter sich hörte. Sie wandte sich um.

Die junge Frau, die beim Möbelwagen gestanden hatte, kam die Auffahrt herauf. Sie zerrte das kleine Mädchen hinter sich her. Auf den ersten Blick erkannte Larissa, daß mit dem rechten Fuß der Kleinen etwas nicht zu stimmen schien. Er wirkte irgendwie verdreht.

»Bitte, verzeihen Sie, wenn ich störe«, sagte die Fremde, sah jedoch nicht Larissa, sondern nur Lea an. »Ich wollte mich vorstellen. Meine Tochter und ich ziehen heute abend Ihnen gegenüber ein.« Sie streckte die Hand nach Lea aus, ließ sie jedoch gleich wieder sinken, als sie bemerkte, daß das Mädchen sich fester an seine Tante klammerte. »Mein Name ist Maria Siegle.« Sie schob ihre Tochter nach vorn. »Und das ist Jennifer. Sie wird bald vier.«

Larissa stellte sich und Lea vor. »Ich würde Sie gern hereinbitten, Frau Siegle, leider ist es heute abend etwas ungünstig«, fügte sie hinzu. »Meine Schwägerin fühlt sich nicht wohl. Mein Bruder mußte den Arzt rufen.«

»Nun, da wir jetzt Nachbarn sind, haben wir sicher noch jede Menge Gelegenheit, miteinander zu sprechen«, erwiderte Maria. »Es ist schön, daß ein Kind in Jennifers Alter in der Nähe wohnt.« Sie lächelte Lea zu. »Du bist ein süßes, kleines Ding. Und was für schöne blonde Löckchen du hast.« Die junge Frau seufzte laut auf. »Mit Jennifers Haaren ist leider nicht viel anzufangen. Gleich wie man sie auch wäscht und bürstet, sie hängen wie Stroh an ihr hinunter.«

Jennifer zog die Schultern zusammen. Sie schien noch kleiner und schmäler zu werden, als sie es ohnehin schon war.

»So etwas sollten Sie nicht sagen, Frau Siegle«, meinte Larissa ärgerlich und stellte Lea zu Boden. »Außerdem hat Ihre Tochter sehr schöne Haare.« Sie berührte die Wange der Kleinen. Jennifer hob den Kopf. Ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, dann starrte das Mädchen erneut zu Boden.

»Ich habe eine Schaukel im Garten«, sagte Lea zu Jennifer. »Und ein Planschbecken, in das mein Papa Wasser füllen kann. Soll ich es dir zeigen?« Sie ergriff Jennifers Hand.

»Wie wäre es mit morgen?« fragte Larissa. Sie wandte sich an Jennifer: »Morgen darfst du dir Leas Sachen anschauen. Natürlich nur, wenn deine Mama einverstanden ist.«

»Jennifer kann jederzeit zu Ihnen kommen«, versicherte Maria schnell. »Jetzt will ich Sie natürlich nicht länger aufhalten.« Sie umfaßte das Händchen ihrer Tochter. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, wünschte Larissa. Sie wartete, bis Mutter und Tochter das Grundstück verlassen hatten, bevor sie mit ihrer Nichte ins Haus ging.

Dr. Baumann kam mit Wolfgang aus dem ersten Stock. Lea rannte ihnen entgegen. »Ist meine Mama sehr krank?« fragte sie. »Muß sie im Bett bleiben?« Einen Finger im Mund, schaute sie zu ihnen auf.

»Nein, deine Mama kann morgen wieder aufstehen«, versicherte Dr. Baumann und hob das kleine Mädchen hoch. »Du mußt sehr, sehr lieb zu ihr sein.«

Lea nickte. »Ich werde ihr etwas vorsingen, damit sie besser einschlafen kann«, versprach sie.

»Dann geh schon immer zur Mama«, forderte Wolfgang sie auf. Er wandte sich an seine Schwester: »Mit Karin ist alles in Ordnung. Ihre Schmerzen kommen vom Rücken. Vermutlich hat sie sich mit der Gartenarbeit etwas übernommen.«

Larissa verzichtete darauf, eine spöttische Bemerkung zu machen. Sie wollte ihren Bruder nicht verärgern, zumal sie ahnte, wie unangenehm es ihm war, Dr. Baumann völlig unnötig gerufen zu haben. »Ich werde ihr von unseren neuen Nachbarn erzählen«, sagte sie und reichte dem Arzt die Hand. »Danke, daß Sie sofort gekommen sind. Immerhin hätte es doch etwas Ernstes sein können.«

»Wollen wir froh sein, daß es nicht an dem ist«, entgegnete Eric. »Einen schönen Abend noch, Frau Binder.«

»Ihnen auch«, wünschte Larissa und folgte ihrer Nichte die Treppe hinauf, während Wolfgang den Arzt nach draußen brachte.

Lea hatte sich im Schneidersitz auf das Bett ihrer Mutter gesetzt und sang mit ihrer feinen, klaren Stimme ›Alle Vöglein sind schon da‹. Ihr kleines Gesicht wirkte so ernst und angespannt, als würde sie sich große Sorgen machen. »Die Mama will nicht einschlafen, Tante Larissa«, beschwerte sie sich vorwurfsvoll, als die junge Frau ins Zimmer trat.

»Deine Mama wird noch nicht müde sein.« Larissa setzte sich ebenfalls aufs Bett und zog Lea zu sich auf den Schoß. »Was machen deine Schmerzen?« fragte sie mit leicht spöttischem Unterton ihre Schwägerin.

»Mach dich nur über mich lustig.« Karin zog einen Schmollmund. »Mir ging es wirklich nicht gut. Meine Brust hat bei jedem Atemzug weh getan. Jetzt ist es etwas besser.«

»Und da dachtest du gleich an einen Herzinfarkt?«

»Es hätte der Beginn eines Herzinfarktes sein können.« Karin verzog das Gesicht. »Sei froh, daß es ein Fehlalarm gewesen ist, sonst müßtest du neben deiner Arbeit auch noch meine Familie versorgen.«

»Du spielst ein verdammt gefährliches Spiel, Karin. Es ist nicht gut, immer gleich Zeter und Mordio zu schreien. Irgendwann wirst du allen Ernstes Hilfe brauchen, und dann glaubt man dir nicht mehr. Wenn…«

»Erzähl meiner Mama von Jennifer und der Frau«, fiel ihr Lea ins Wort und rutschte vom Schoß ihrer Tante.

»Ach ja, wir haben neue Nachbarn«, sagte Larissa. »Ich weiß nicht so recht, was ich von Frau Siegle halten soll, ihre Tochter macht jedenfalls einen ziemlich verschüchterten Eindruck. Sie ist so alt wie Lea.«

Nachdenklich runzelte sie die Stirn. »Lach mich nicht aus, ich habe den Eindruck, als würde Frau Siegle ihre Tochter nicht gerade lieben. Jennifer wirkt auf eine seltsame Art und Weise verwahrlost.«

Karin lachte auf. »Und wer hört jetzt die Flöhe husten?« fragte sie. »Mir wirfst du vor, immer gleich Zeter und Mordio zu schreien, aber du bist nicht anders.« Sie setzte sich auf. »Nachdem mir also nichts weiter fehlt, werde ich jetzt erst einmal dafür sorgen, daß Lea ins Bett kommt. Außerdem hast du mir noch nicht gesagt, wie es bei dir gelaufen ist?«

»Wie am Schnürchen«, erwiderte Larissa und stand auf. »Meine Auftraggeber sind jedenfalls mit der Kinderparty sehr zufrieden gewesen. Wie es aussieht, werde ich in Zukunft jede Party bei ihnen ausrichten dürfen.«

»Ich hätte nie gedacht, daß ein Partyservice so gut laufen könnte.« Karin schwang die Beine über den Bettrand. »Manchmal hast du wirklich gute Ideen.«

»Freut mich, daß du es einsiehst«, meinte Larissa und verließ das Schlafzimmer, um sich in ihrer eigenen Wohnung, die im Dachgeschoß des Hauses lag, erst einmal umzuziehen.

*

Karin Binder wollte sich eben an die Buchhaltung ihrer Schwester setzen, als Lea aus dem Garten kam. »Mir ist es so langweilig, Mama«, klagte die Kleine. »Können wir nicht auf den Spielplatz gehen?«

»Ich hasse Tage, an denen der Kindergarten ausfällt«, stöhnte Karin auf. »Wie machen das nur Mütter, die außer Hause berufstätig sind?«

»Vermutlich müssen sie sich Urlaub nehmen«, meinte Larissa. Sie war damit beschäftigt, eine große Geburtstagstorte zu verzieren, die am Abend abgeholt werden sollte.

Bis vor einem Jahr hatte sie als Köchin in einem Tegernseer Hotel gearbeitet, dann war das Haus nach dem Tod des Besitzers verkauft worden und sie hatte ihre Arbeit verloren. Ihr Bruder hatte die Idee mit dem Partyservice gehabt. Sie richtete Familienfeste, Geschäftsessen und Partys aus. Manchmal wurde sie auch nur zum Kochen in die Häuser gebeten, wenn man sich einmal etwas Besonderes leisten wollte. Ihre Schwägerin erledigte einen großen Teil des Schriftverkehrs und auch ihr Bruder half mit, wenn Not am Mann war und er Zeit hatte.

»Die Buchhaltung kann ich auch morgen noch machen«, entschied Karin. »Oder hast du etwas dagegen, Larissa?«

»Was sollte ich dagegen haben?« fragte die junge Frau. »Viel Spaß.« Sie reichte Lea einen Löffel mit Schokoladencreme. »Sag mir, ob sie gut schmeckt.«

Lea leckte den Löffel ab. »Prima«, erklärte sie und rieb sich ihr Bäuchlein. »Hast du auch richtige Schokolade, Tante Larissa?« Sie stellte sich auf Zehenspitzen, um auf den Arbeitstisch der großen Küche zu schauen, die sie im Souterrain eingerichtet hatten.

»Da.« Larissa gab ihr ein dünnes Schokoladenblatt. »Und nun ab mit dir.«

»Danke.« Lea schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.