Er schwor, sie zu beschützen. Aber das Versprechen kann sie beide zerstören …
Bailey Jones konnte sich und eine andere Geisel aus den Fängen eines brutalen Killers befreien – des »Todesengels«, wie sich der Killer selbst nannte. Doch nach ihrer Flucht verschwand Baileys Mitgefangene plötzlich spurlos. LOST-Agent Asher Young wird der Fall übertragen. Bailey fühlt sich augenblicklich zu dem charismatischen und geheimnisvollen Ex-SEAL hingezogen.
Aber Asher kann nicht zulassen, dass seine wachsenden Gefühle für Bailey ihn von seinem Job ablenken. Er will nicht, dass die Dämonen seiner Vergangenheit auch sie heimsuchen. Doch nur sie ist es, die seine Albträume lindern kann. Bailey hat die Mauern des toughen Soldaten längst durchbrochen, aber die Gefühle, die er für sie hat, sind genauso dunkel und gefährlich wie die Vergangenheit, der er versucht zu entgehen.
Als immer mehr Frauen Opfer des Todesengels werden, muss Asher den brutalen Killer stoppen. Doch der Serienkiller setzt alles daran, sein nächstes Opfer in seine Gewalt zu bringen: Bailey …
Der neue packende Romantic-Suspense-Liebesroman der New York-Times-Bestseller-Autorin Cynthia Eden – erotische Spannung und atemberaubender Thrill jetzt bei beHEARTBEAT.
New York Times Bestsellerautorin Cynthia Eden schreibt düstere Romantic Suspense und sexy Paranormal-Romance-Romane.
Sie gehörte bereits drei Mal zu den Finalisten des RITA® Award – sowohl in den Kategorien Romantic Suspense als auch Paranormal Romance. Seit 2005 ist sie Vollzeitautorin und hat bislang über 70 Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht.
CYNTHIA EDEN
TAKEN
EISKALTE JAGD
Aus dem amerikanischen Englisch
von Sabine Neumann
beHEARTBEAT
Digitale Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Für die Originalausgabe
Copyright © 2016 by Cindy Roussos
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Taken
Originalverlag: Avon Books
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2018 Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Julia Funcke
Lektorat/Projektmanagement: Anne Pias
Übersetzung: Sabine Neumann
Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde
unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: wtamas
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-5407-2
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Dieses Buch widme ich meinen Leserinnen – meinen wundervollen, fantastischen Leserinnen.
Tausend Dank für eure Unterstützung. Viel Spaß beim Lesen.
Zuallererst danke ich all den talentierten Mitarbeitern bei Avon. Es ist mir ein Vergnügen, mit euch allen zusammenarbeiten zu dürfen!
Außerdem möchte ich meiner liebenswerten und scharfsinnigen Agentin Laura für ihren immer goldrichtigen Einblick danken.
Es macht mir so viel Spaß, die LOST-Bücher zu schreiben, und ich hoffe, dass meinen Leserinnen die Geschichten auch weiterhin gefallen werden. Es wird Zeit für neue Rätsel und Wendungen … und einige alte Bekannte tauchen auch wieder auf.
Bailey Jones wollte nicht sterben. Nicht so. Nicht gefesselt, gefoltert und mutterseelenallein in diesem verdammten Verschlag. Sie spürte ihre Finger nicht mehr. Eigentlich hätte ihr das Angst machen müssen – diese schreckliche Taubheit –, aber Angst hatte sie schon lange nicht mehr. Stattdessen war sie außer sich. So verdammt wütend. Wie hatte das passieren können? Wie hatte ihr das passieren können? Und warum, warum ließ das Arschloch, das sie gefangen hielt, sie nicht einfach gehen?
Sie lag mit dem Gesicht auf dem rauen Holzboden der Hütte und zerrte an dem Seil, mit dem ihre Handgelenke gefesselt waren, aber es lockerte sich nicht. Vor einiger Zeit hatten ihre Handgelenke geblutet, da war sie sich sicher. Aber hatten sie inzwischen aufgehört? Vielleicht blutete sie noch immer – entweder aus den Wunden an den Handgelenken oder aus den zahlreichen Stichverletzungen, mit denen ihr ganzer Körper übersät war. Bailey wusste es nicht.
Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie jetzt seit fast drei Tagen in dieser Hütte lag. Das Licht, das von draußen in den Raum fiel, verriet ihr, ob es gerade Tag oder Nacht war. Ihre Lippen waren rau und aufgesprungen, und sie hatte Halsschmerzen – vom Schreien und vor Durst. Der Bastard, der sie hier festhielt, hatte ihr nur ein paar winzige Schlucke Wasser gegeben. Und nichts zu essen. Nicht das winzigste bisschen. Keine Möglichkeit, auf die Toilette zu gehen.
Nur Schmerz.
Sie kroch langsam über den Fußboden, bewegte sich wie ein Wurm vorwärts. Wenn sie nur auf die andere Seite des Raumes gelangen könnte, wo die Tür war. Wenn sie diese Tür erreichte, konnte sie entkommen.
Ihr Entführer hatte einen Fehler begangen. Nachdem er sie das letzte Mal mit dem Messer bearbeitet hatte, hielt er sie für bewusstlos. Das hatte Bailey schnell gelernt: Er hatte nur Spaß daran, ihr wehzutun, wenn sie bei Bewusstsein war. Wenn nicht … hatte er auch keine Lust mehr, sie zu verletzen. Er liebte es, sie leiden zu sehen. Liebte es, zu hören, wie sie ihn anflehte.
Elf Messerstiche … er hatte laut mitgezählt. Nach diesen elf hatte er aufgehört, völlig außer Atem, am ganzen Körper zitternd. Und als er innegehalten hatte …
Habe ich einfach so getan, als wäre ich nicht mehr bei Bewusstsein. Und der Freak mit der Skimaske ist aus dem Raum gestürmt. Er war so in Eile gewesen, dass er die Tür hatte offen stehen lassen. Sie hatte sich vom Bett auf den Boden fallen lassen – und jetzt würde sie aus dieser Hütte verschwinden. Ihre Wut gab ihr die Kraft, die sie brauchte, um weiterzukriechen. Sie würde die Tür erreichen. Hier rauskommen und …
Ihr Shirt blieb an einem Nagel hängen. Sie hatte ihn noch nicht mal gesehen, aber als sie weiterrobbte, spürte sie seinen Kopf, der groß und rund aus dem Holzboden herausragte. Vor Aufregung ging ihr Atem noch schneller. Bailey drehte sich so, dass das Seil, mit dem ihre Handgelenke gefesselt waren, den Nagel berührte. Dann versuchte sie krampfhaft, die Fesseln damit zu durchtrennen. Arbeitete immer hektischer und verzweifelter. Ihr Atem kam viel zu schnell, und ihre Lippen fühlten sich immer trockener an, ihre Zunge immer geschwollener.
Ich schaffe es hier raus. Ich werde entkommen.
Die ersten vierundzwanzig Stunden hatte sie geglaubt, in einem Alptraum gefangen zu sein. Das alles für ein Riesenmissverständnis gehalten. Es war einfach nicht möglich, dass sie hier gefesselt und geknebelt in dieser dreckigen Hütte lag. In der Gewalt eines kranken Freaks mit einer Skimaske, der immer wieder mit seinem Messer auf sie einstach und lachte, wenn sie schrie. Das konnte ihr einfach nicht passieren.
Nicht … ihr.
Sie hatte die Berichte im Fernsehen verfolgt in den letzten Wochen. Berichte über Frauen, die in den Bergen North Carolinas verschwunden waren. Tragische Geschichten. Ihre armen Familien, die um Hinweise flehten. Sie hatte sie gesehen, und sie hatte Mitleid empfunden. Trauer. Aber …
Diese Frauen waren Fremde für sie gewesen. So etwas geschah nur Menschen, die man nicht kannte. Bemitleidenswerten Menschen, die man im Fernsehen sah.
Nicht mir. Das kann nicht mir passieren.
Aber es war passiert.
Und ich habe keine Familie, die im Fernsehen um meine Rückkehr fleht. Keine verzweifelten Eltern … ich habe sie schon vor langer Zeit verloren.
Und jetzt hatte Bailey Angst, in dieser kleinen Hütte ihr eigenes Leben zu verlieren.
Eben war sie doch noch an der Uni gewesen – hatte ihren Mittwochabend-Geschichtskurs für Erstsemester gehalten. Den letzten Kurs vor den Semesterferien. Sie war zum Auto gegangen, die Finger fest um den Schlüsselbund geschlungen, und dann – dann hat er mich niedergeschlagen. Mitgenommen. Und ich bin in der Hölle aufgewacht.
Das Seil um ihre Handgelenke löste sich. Bailey schluchzte laut auf, als die Taubheit nachließ und sie ihre Finger wieder spüren konnte – den Schmerz.
Einen stechenden, brennenden Schmerz. Aber sie biss sich sofort auf die Unterlippe vor Angst. So fest, dass ihr Blut das Kinn hinuntertropfte.
Hatte er sie gehört?
Würde er zurückkommen?
Bailey hielt inne und wartete mit angespanntem Körper. Wartete mucksmäuschenstill. Sie hörte leise Schritte, und ihr Herz verkrampfte sich.
Er kommt. Er hat mich gehört. Er …
Dann ertönte ein Schrei. Der Schrei einer Frau, der in der Hütte widerhallte. Laut und lang und verzweifelt. Voller Schmerz. Bailey biss sich noch fester auf die Unterlippe. Es war nicht sie, die da schrie. Es war jemand anderes. Oh Gott, der Freak mit der Skimaske hatte noch eine Frau in dieser Hütte.
Ich bin nicht allein. Es gibt noch ein zweites Opfer.
Als ihm der Spaß an Bailey vergangen war, als sie sich bewusstlos gestellt hatte, hatte er seine Aufmerksamkeit einfach der anderen Frau zugewandt.
Bailey fuhr hoch. Ihre Finger waren steif und zitterten, als sie versuchte, ihre Füße von den Fesseln zu befreien.
Der Schrei erstarb.
Ihre Nägel brachen ab, und ihre Finger wollten ihr einfach nicht gehorchen.
Noch ein Schrei –
Und das Seil lockerte sich. Bailey sprang auf die Füße und versuchte loszulaufen, aber ihre Beine gaben nach, und sie stürzte zu Boden. Also kroch sie, hievte sich selbst in Richtung Tür. Sie musste zu dieser anderen Frau gelangen. Musste ihr helfen. Bailey griff nach der Tür, schob sie mit der rechten Hand ein bisschen weiter auf. Ihr Atem dröhnte so laut in ihren Ohren, dass sie Angst hatte, der Mann würde es hören.
Sieht so aus, als hätte ich die Angst doch noch nicht hinter mir gelassen. Vielleicht werde ich das nie.
Draußen im Flur erkannte sie zwei weitere Türen. Eine war geschlossen. Die andere stand offen.
Die Schreie kamen aus dem Raum hinter der geschlossenen Tür.
Er ist mit ihr da drin.
Dieses Mal gelang es Bailey, aufzustehen. Auf zitternden Beinen bewegte sie sich auf die geschlossene Tür zu, stützte sich dabei an der Wand ab. Sie brauchte eine Waffe. Irgendetwas, womit sie sich gegen diesen Bastard zur Wehr setzen konnte.
Der nächste Schrei war so laut, dass sie sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
»Hilfe! Bitte, helft mir!« Die Frau brüllte. Schluchzte. Flehte. »Oh Gott, bitte! Hilfe!«
Und dann hörte Bailey das Lachen. Das gleiche höhnisch kichernde Lachen, das der Bastard von sich gegeben hatte, als er sie mit dem Messer bearbeitet hatte. Als sie dieses grauenhafte Geräusch hörte, konnte Bailey nicht mehr klar denken. Stattdessen übernahmen primitive Instinkte ihren Körper. Sie stürzte vorwärts und riss die Tür auf. »Lass sie in Ruhe!«, bellte sie.
Er stand mit dem Rücken zu ihr. Auf dem Bett vor ihm lag eine Frau. Er hielt ein Messer in der Hand. Ein blutverschmiertes Messer. Dasselbe Messer, mit dem er zuvor mit so viel Freude auf Bailey eingestochen hatte.
»Bist du gekommen, um ihr zu helfen?«, flüsterte er, noch immer mit dem Rücken zu Bailey. Er flüsterte immer, wenn er sprach. »Ah, Bailey? Du willst ihr also helfen?«
Die Frau auf dem Bett bewegte sich nicht.
Bailey stürzte sich auf ihn. Sie hatte keine Waffe, und in diesem Raum gab es nichts, was sie stattdessen hätte benutzen können. Keine Lampe. Keinen Tisch. Das einzige Möbelstück war das Bett – das Bett, auf dem die Frau lag. Also griff Bailey ihn mit ihrem Körper an. Mit all ihrer Kraft. Und stieß dabei einen kehligen Schrei aus.
Er fuhr herum, stach mit dem Messer nach ihr, aber sie hielt nicht inne. Die Klinge schlitzte ihren linken Arm auf, als sie gegen ihn prallte und sie beide zu Boden gingen.
Im Fallen verlor er das Messer, und es rutschte über den Holzboden.
»Du Schlampe«, krächzte er an ihrem Ohr. »Dafür wirst du bezahlen …«
Sie war jetzt auf ihm und rammte ihm mit aller Kraft das Knie in den Unterleib. Als er aufheulte, verzogen sich ihre blutigen Lippen zu einem Lächeln. Endlich bekam er mal zu spüren, wie sich Schmerzen anfühlten.
Aber dann holte er aus, und seine Faust traf ihre rechte Wange. Sie fiel nach hinten, rollte über den Boden.
Bailey hörte hektische Schritte auf dem Holz. Die Frau auf dem Bett – sie war aufgestanden und rannte zur Tür hinüber. Sie war nicht gefesselt gewesen wie Bailey, bewegte sich schnell und geschickt. Bailey sah ihre langen dunklen Haare, ihre blasse Haut, ihr blaues Shirt –
»Warte«, stieß Bailey krächzend hervor. »Bitte –«
Lass mich nicht allein.
An der Tür zögerte die Frau für den Bruchteil einer Sekunde. Hoffnung keimte in Bailey auf. Ja –
Dann drehte sich die Frau um und rannte weiter. Schaute nicht noch einmal zurück.
Er lachte wieder. Ihr Entführer. Ihr Mörder?
»Du hast versucht, mich aufzuhalten …«, flüsterte er. »Oh, süße Bailey. Ich werde dir zeigen …«
Seine Hände schlossen sich um ihren Hals. Er trug Handschuhe. Sie spürte das glatte Leder an ihrer Haut. So weich. So sonderbar weich, als er anfing, sie zu würgen.
»Ich kann so weitermachen, bis du bewusstlos bist …«
»H-H…« Sie versuchte, um Hilfe zu rufen. Versuchte, die Frau zurückzurufen, aber seine Hände schnürten ihr die Luft ab.
»Und dann werde ich dich wieder fesseln. Mein Messer schärfen … und dir damit die Haut durchschneiden …« Aus dem Augenwinkel sah Bailey die Klinge auf dem Boden funkeln. Sie streckte die rechte Hand danach aus. Das Messer war so nahe. So verdammt nahe …
»Bist du immer noch froh, dass du versucht hast, sie zu retten? War sie dein Leben wert?«
Die andere Frau war verschwunden. Bailey hörte keine Schritte mehr im Flur.
»Ich werde mich um dich kümmern«, versprach er, während vor ihren Augen schwarze Punkte tanzten. »Und um sie.«
Das Messer. Es lag direkt da drüben. Sie musste irgendwie drankommen …
Er drückte fester zu. Keine Luft. Keine Hoffnung. Kein verdammtes Messer.
Sie konnte es nicht erreichen. Aber mit letzter Kraft hob Bailey den Arm und riss ihm die Maske vom Gesicht.
Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Nein, Bailey … nein …« Und er wirkte beinahe traurig … als er ihr immer fester die Luft abschnürte.
Bailey riss die Augen auf. Schnappte verzweifelt nach Luft. Wieder und wieder. Ihre Lunge brannte, und sie hustete und keuchte.
Ich lebe. Ich bin noch immer am Leben.
Sie streckte die Hände aus und fühlte – Erde.
Es roch nach feuchtkaltem Erdboden, und als sie sich panisch aufsetzte, spürte sie einen brennenden Schmerz. Ihre Arme taten weh, ihr Bauch und –
Das ist eindeutig Erde. Ihre Finger schlossen sich um die weichte, feuchte Masse, und als sie den Kopf hob, sah Bailey den Sternenhimmel. Tausende von Sternen. Ich bin nicht mehr in der Hütte.
Aber sie konnte sich nicht daran erinnern, diesem Bastard entkommen zu sein. Er hatte sie gewürgt. Die andere Frau war abgehauen, aber nicht sie. Er hatte sie festgehalten.
Und … dann hatte er sie in eine Grube geworfen? Sie setzte sich auf, aber sie konnte das obere Ende nicht erreichen. Das Loch war zu tief. Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Beine gaben unter ihr nach, und als sie sich am Rand der Grube festhielt, rieselte feuchte Erde auf sie nieder.
In der Ferne hörte sie Hundegebell, und Panik stieg in ihr hoch. Gehörten die Hunde ihm? War das ein neues Spiel? Würden die Hunde sie angreifen?
Bailey hielt sich eine Hand vor den Mund, aus Angst, loszuschreien. Ihre Finger rochen nach feuchtem Dreck. Ihre Zunge fühlte sich in ihrem Mund so dick und geschwollen an. Der Alptraum wollte einfach nicht aufhören. Er wurde immer schlimmer.
Das Gebell wurde lauter. Kam näher. Die Hunde würden sie kriegen. Würden sie sich auf sie stürzen und sie in Stücke reißen?
Sie rollte sich in der Mitte der Grube zu einer Kugel zusammen, versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Wenn sie sich nicht bewegte und keinen Ton von sich gab, würden die Hunde sie vielleicht in Ruhe lassen. Sie würden verschwinden, und sie würde irgendeinen Weg hier raus finden. Sie würde entkommen.
Die andere Frau … wo ist sie hin? Was ist mit ihr passiert?
Aber die Hunde verschwanden nicht. Sie wurden immer lauter. Kamen immer näher.
»Hier drüben ist was!«, rief eine Männerstimme. »Erde. Oh, verdammt! Ein Haufen Erde! Könnte eine Leiche sein!«
Sie hob den Kopf.
»Kommt mit den Taschenlampen her!« Eine andere Männerstimme. »Folgt den Hunden!«
Die Hunde …
Vielleicht sollten sie ihr gar nichts tun. Vielleicht sollten sie sie finden. Vielleicht war die andere Frau entkommen und hatte Hilfe geholt. »H-Hilfe …«, flüsterte sie.
Nein … aus ihrem Mund war kein Ton gekommen. Sie hatte versucht zu flüstern, aber es war ihr nicht gelungen. Ihr Hals war zu rau. Ihr Mund zu trocken.
Das Licht von mehreren Taschenlampen zuckte über die Grube, in der sie lag. Nicht in die Grube hinein, sondern darüber hinweg. Da oben waren Leute. Sie mussten zu ihr herunterschauen.
»H-Hilfe …« Noch so ein lautloses Flüstern. In ihrem Inneren schrie sie. Brüllte um Hilfe. Aber sie konnte nicht sprechen. Sie versuchte wieder aufzustehen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Nicht mehr. Hatte sie zu lange nichts getrunken? Nichts gegessen? Hatte sie zu viel Blut verloren?
Ihre Hände krallten sich in den Erdboden. Schaut hier runter! Seht mich an! Guckt hierher!
Ein greller Lichtkegel erfasste ihr Gesicht und blendete sie so stark, dass sie sich wegdrehen musste.
»Sie – sie lebt! Wir haben hier drüben eine Überlebende!« Die Männerstimme überschlug sich fast vor Aufregung – eine Stimme mit einem starken Südstaatenakzent. Und dann war der Mann neben ihr. Er war in die Grube gesprungen und streckte die Hände nach ihr aus.
Sie zuckte zurück.
»Alles ist gut«, beeilte er sich zu sagen. »Ich bin Polizist. Deputy Wyatt Bliss. Sie sind in Sicherheit … wir kümmern uns um Sie.«
Bailey wollte ihm glauben.
Weitere Lichtkegel fielen auf sie. So hell. Sie sah hoch und erkannte die Umrisse mehrerer Leute – Männer und Frauen, die sich um die Grube versammelten.
»Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?« Der Deputy zog seine Jacke aus und hielt sie ihr hin. War es kalt? Sollte sie die Jacke nehmen?
Erst jetzt merkte sie, dass ihre Zähne klapperten.
Sie nahm die Jacke nicht. Ihre Finger würden ihr sowieso nicht gehorchen, und es war anstrengend genug, die Augen offen zu halten.
»Ihr Name, Miss«, wiederholte er mit leiser, mitfühlender Stimme. »Wie heißen Sie?«
»B-B…« Bailey. Aber sie konnte nicht sprechen. Dieses erbärmliche Krächzen war das Einzige, was sie hervorbrachte.
Das Licht seiner Taschenlampe fiel auf ihren Hals, und er stieß einen Fluch aus.
Aber da sprangen schon weitere Männer zu ihnen in die Grube. Einige davon mit Taschenlampen. Sie hoben sie hoch und hievten sie nach oben. Jemand trug sie ein paar Schritte, und dann – dann lag sie auf einer Art Trage. Bailey reckte den Hals und blickte zurück. Da hinten waren so viele Lichter, und die Hunde waren ganz in der Nähe. Sie jaulten.
Sie sah die Grube, aus der sie sie befreit hatten. Ein großes, breites, tiefes Loch. Mit einem gigantischen Haufen Erde und einem Spaten daneben.
War das mein Grab?
»Alles wird gut«, sagte eine Frauenstimme neben ihr. Bailey zuckte zusammen, als eine sanfte Hand ihre Schulter berührte. »Sie sind in Sicherheit.«
Sie fühlte sich aber nicht wie in Sicherheit.
»Ich bin Rettungssanitäterin«, fuhr die Frau fort. »Und ich werde mich um Sie kümmern. Ich …« Sie verstummte. »Ist das alles Ihr Blut?«
Bailey blickte an sich hinunter. Ihr Shirt war komplett durchnässt. Dunkelrot, wie sie im Licht der Taschenlampen feststellte. Rot und dreckverschmiert. Aber war das alles ihr Blut? Ich glaube schon. Bailey nickte.
Es roch nach Asche. Asche und Feuer. Was brennt hier? Sie drehte den Kopf, als sie in den Krankenwagen geschoben wurde. Und da sah sie das Feuer. Riesige rote Flammen, so hell und heiß. Aber … war das die Hütte? Ihr Gefängnis?
»Wegen des Feuers kam die Polizei her«, erklärte die Sanitäterin, die ihre blonden Haare zu einem Dutt geknotet trug. »So haben wir Sie gefunden.« Die Tür des Krankenwagens schloss sich. »Wir haben zuerst die Leichen entdeckt …«
Nein, nein …
»Und dann Sie.«
Neben der blonden Frau sah Bailey einen weiteren Sanitäter. Einen rothaarigen Mann mit Sommersprossen. Er lächelte sie an. »Sie sind in Sicherheit.« Das sagten sie ihr immer wieder. Aber es stimmt nicht. Ich bin nicht in Sicherheit. Sie musste ihnen von der anderen Frau erzählen. Sie mussten sie finden.
Bailey griff nach der Hand des Rothaarigen. Drückte sie, so fest sie konnte.
»Was ist?« Er sah sie fragend an. »Sagen Sie mir, wo es wehtut.«
Es tat überall weh, aber darum ging es nicht. »Fr…au …«, stammelte sie tonlos. Sie hatte einfach keine Kraft, um zu sprechen.
Seine blauen Augen starrten sie unverwandt an.
»Fr…au …« Sie formte das Wort erneut mit ihren Lippen und zitterte dabei am ganzen Körper. »Noch ein … Opf… Opf…er …«
Seine Augen wurden untertassengroß. »Es hat noch ein Opfer überlebt?«
Sie nickte.
»Er hatte da noch eine weitere Frau?«
Sie nickte wieder.
»Jesus!« Er stürzte an ihr vorbei und riss die Tür des Krankenwagens auf. »Die Hunde sollen weitersuchen! Irgendwo da draußen ist noch eine Frau!«
Baileys Kopf sackte zurück. Sie hatte es geschafft. Sie würden die andere Frau finden. Sie würden auch sie retten.
Sie würden sie finden.
Das Martinshorn schrillte los.
Und Bailey schloss die Augen.