Was auch immer früher war: Jetzt zählt nur dieser eine Augenblick
Nichts wie weg hier – das ist Taras erster Gedanke, als sie nach Silvester nackt in Maxims Bett aufwacht. Sie hätten niemals miteinander schlafen dürfen, das weiß auch Maxim, denn Tara ist die beste Freundin seiner Schwester und er würde sich nie verzeihen, sie zu verletzen.
Doch später so zu tun, als ob nichts gewesen wäre, ist schwieriger als gedacht. Denn bei jedem Blick, jeder Berührung klopfen ihre Herzen wie verrückt und sie schaffen es nicht, die Anziehung zu ignorieren. Maxim ist der Überzeugung, nicht gut genug für Tara zu sein, denn er hat vor Jahren etwas verloren, dass sich nie mehr ersetzen lässt. Was er nicht weiß: Auch Tara versteckt sich nur hinter ihrem geregelten Leben, um die Dunkelheit in ihrem Inneren auszuhalten. Haben sie gemeinsam die Kraft, die Vergangenheit zu überwinden?
Tara & Maxim
Roman
Forever by Ullstein
forever.ullstein.de
Originalausgabe bei Forever
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der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Dezember 2018 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
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zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-396-4
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Für alle, die trotzdem an die Liebe glauben.
Nein, nein, nein. Das durfte nicht wahr sein. Mit ungläubigem Blick und wachsender Panik musterte ich den Mann, der neben mir im Bett lag. Nackt.
Ich kniff die Augen zusammen und unterdrückte den Fluch, der mir auf der Zunge lag. Vielleicht träumte ich ja noch oder der Alkohol hatte letzte Nacht so viele Gehirnzellen getötet, dass ich nun halluzinierte. Aber warum zur Hölle sollte mein Unterbewusstsein mir ausgerechnet das Bild von Maxim vorgaukeln?
Blinzelnd öffnete ich wieder die Augen. Als Maxim sich bewegte, hielt ich die Luft an. Nein, das hier war definitiv kein Traum und auch keine Halluzination. Verdammt! Wie viel hatte ich letzte Nacht denn bitte getrunken, dass ich mit Maxim im Bett gelandet war? Ausgerechnet ihm, dem einzigen Mann, der absolut tabu war?
Nicht nur, dass er jedes Wochenende eine andere Frau abschleppte und wir ihn deshalb schon gefühlte hundertmal mit dem Spitznamen Campusschlampe aufgezogen hatten. Er gehörte auch zu meinem Freundeskreis, was ihn automatisch auf die schwarze Liste setzte. Nicht, dass ich tatsächlich eine Liste über die Männer führte, mit denen ich niemals schlafen würde, doch wenn es eine gäbe, dann stünde Maxims Name an oberster Stelle. Da spielte es auch keine Rolle, dass er der attraktivste Mann war, den ich kannte. Er war tabu. Punkt.
Denn eines hatte ich meiner besten Freundin versprochen: Ich würde nie, nie, niemals mit ihrem großen Bruder schlafen.
Oh Gott, Hanna würde mich umbringen! Bei dem Gedanken an meine Mitbewohnerin begann mein Kopf unangenehm zu pochen.
Mein Blick wanderte zurück zu Maxims nacktem Rücken. Um seine Hüfte lag eine mintgrüne Bettdecke und als ich daran dachte, was sie vor mir verbarg, wurde mir heiß. Ich unterdrückte ein Stöhnen und hätte mir am liebsten an den Kopf geschlagen.
Ausgerechnet ich, die sich in der Regel von Männern so weit es ging fernhielt, hatte an Silvester nichts Besseres zu tun gehabt, als sich zu betrinken und dann die schlechteste Wahl für einen One-Night-Stand zu treffen, die es nur gab. Nicht, dass der Sex mit Maxim schlecht gewesen wäre.
Im Gegenteil, die Bruchstücke an Erinnerungen, die ich hatte, waren leider sehr lebhaft und Maxim log nicht, wenn er damit prahlte, dass er seinen zahlreichen Eroberungen die Nacht ihres Lebens bescherte.
Okay, stopp.
Ich musste aufhören darüber nachzudenken, wie gut er küsste und wie wundervoll sich seine Lippen auf meinen angefühlt hatten. Ganz zu schweigen von seinem Körper, der sich vor wenigen Stunden an mich gepresst hatte, als gäbe es kein Morgen. Zu meinem Pech gab es den allerdings und er war kein bisschen sexy oder aufregend. Er war einfach nur beschissen.
Plötzlich bewegte sich Maxim erneut und die Decke rutschte noch ein Stück tiefer. Himmel! Ich hielt unwillkürlich den Atem an. Mein Herz begann zu rasen und trotz der stechenden Kopfschmerzen gelang es mir einen klaren Gedanken zu fassen. Zwar nur einen, doch der war kraftvoll genug, um mich aus meinem benebelten Zustand zu holen.
Ich musste hier weg! Und zwar so schnell und leise wie möglich.
Vorsichtig krabbelte ich aus dem Bett, bemüht keine plötzliche Bewegung zu machen, und griff nach meinem schwarzen Slip, der neben dem Bett auf dem Fußboden lag. Bei dem Anblick der zerstreuten Klamotten, die wir in unserem Rausch überall im Zimmer verteilt hatten, begann mein Kopf zu glühen.
Ich fand mein Kleid zwischen Luftschlangen und goldenem Glitzerkonfetti, auf das Hanna bestanden hatte. Sie hatte die Silvesterparty seit Wochen geplant und es mit der Deko wie üblich übertrieben. Es grenzte fast schon an ein Wunder, dass Maxim ihr seine Wohnung überhaupt zur Verfügung gestellt hatte, aber bei ihm war der meiste Platz und sein Mitbewohner war quasi nie da. Außerdem hatte Hanna ein Talent dafür, ihren großen Bruder um den Finger zu wickeln.
Mit einer fahrigen Bewegung schlüpfte ich in mein schwarzes Kleid, das mir auf einmal viel zu kurz vorkam. Irgendwo musste auch noch eine dünne Strickjacke liegen, aber die Angst, dass Maxim aufwachen könnte, war schlimmer als in der kalten Januarluft zu frieren. Leise verließ ich das Schlafzimmer. Als ich die Tür hinter mir schloss, atmete ich erleichtert auf.
Ich griff nach meinem Wintermantel, der über dem Sofa im Wohnzimmer lag, und ignorierte die Pappbecher und Flaschen, die überall standen und mich stumm dazu aufforderten, aufgeräumt zu werden.
Die Wohnung war ein einziges Chaos. Essensreste, benutzte Sektgläser und Luftschlangen bildeten ein buntes Durcheinander. Ich wandte mich von dem Chaos ab und schlüpfte in meine schwarzen Stiefel, deren laute Absätze ich im Stillen verfluchte.
Auf Zehenspitzen schlich ich aus der Wohnung.
Zu meinem Glück wohnte Maxim nur zwei Straßen weiter und ich brauchte keine fünf Minuten zu unserer WG. Doch auf diesem kurzen Weg gab es genügend Leute, die am ersten Januar um acht Uhr morgens unterwegs waren. Was sie wohl über das Mädchen dachten, das mit zerzausten Haaren, verschmiertem Make-up und einem schicken Kleid durch die Straßen schlich? Ach, wem wollte ich etwas vormachen? Es war ziemlich offensichtlich, wie meine letzte Nacht verlaufen war.
Ich ignorierte das freundliche Winken unserer Nachbarin von gegenüber, die uns irgendwann im letzten Sommer zu ihrem achtzigsten Geburtstag eingeladen hatte.
Mit hochgezogenen Schultern beschleunigte ich meine Schritte und atmete erleichtert auf, als ich unsere Haustür erreichte. Ich zerrte den Schlüssel aus der Manteltasche, glücklich darüber, dass ich ihn nicht verloren hatte.
Leise betrat ich unsere Wohnung, wobei ich unwillkürlich den Atem anhielt, was lächerlich war, denn so wie ich Hanna kannte, befand sie sich gerade in einem komaähnlichen Zustand.
»Aha, da bist du ja.«
Verdammt, Hanna!
Meine Mitbewohnerin stand an unseren Küchentisch gelehnt und musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen.
Vor Schreck wäre mir fast der Schlüssel aus der Hand gefallen, doch in letzter Sekunde schloss ich meine Faust darum und hielt mich an dem kleinen Metallstück fest, als könnte es mich wie durch ein Wunder weg von hier bringen. Weit weg. Am besten irgendwohin, wo es warm war und es keinen Alkohol oder heiße Brüder gab, die alles durcheinanderbrachten.
»Wo warst du letzte Nacht?«
Eine einfache Frage, auf die ich aber keinesfalls antworten wollte. Mist! Das hatte mir gerade noch gefehlt.
»Ich war … also … mmh.«
»Oh mein Gott, du warst wirklich bei einem Kerl, oder? Und du hattest Sex.«
Wie machte sie das nur? Es war gruselig, wie oft sie mit ihren Vermutungen richtiglag. Noch bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte, stahl sich ein Grinsen auf ihr Gesicht.
»War es wenigstens gut?«
Ich zwang mich einmal tief einzuatmen, bevor ich meinen Mantel ablegte. »Kaffee. Ich brauche Kaffee. Und eine Dusche.«
»Na schön, spring du unter die Dusche, ich kümmere mich um den Kaffee und dann will ich alles über letzte Nacht wissen. Jedes Detail.« Hanna blickte mich so erwartungsvoll an, dass ich nur ein schwaches Nicken zustande brachte. Dann flüchtete ich in das Badezimmer.
»Mist«, fluchte ich, als ich die Tür geschlossen hatte und hastig aus dem Kleid schlüpfte.
Normalerweise schlief Hanna nach einer Nacht wie der letzten bis mindestens zwölf Uhr. Warum musste sie ausgerechnet heute zu der Frühaufsteherin werden, die sie nie gewesen war?
Ich stellte das Wasser an und versuchte vergeblich nicht an die letzten Stunden zu denken. Der Abend hatte so harmlos begonnen. Wir hatten uns alle bei Maxim in der Wohnung getroffen. Hanna, Ella, Finn, Noah, Maxim und ich. Es war der übliche kleine Kreis gewesen und wir hatten wie bereits letztes Jahr an Silvester Pizza bestellt und alte Disney-Filme geschaut. Ich würde es Hanna durchaus zutrauen, daraus noch eine Tradition zu machen. Sie schaffte es jedes Mal, selbst die Jungs davon zu überzeugen, dass es eine tolle Idee war, mit ihr Der König der Löwen zu schauen. Und das, obwohl sie jedes Lied mitsang. Laut und schräg.
Nein, während Hakuna Matata war noch alles in Ordnung gewesen. Der Ärger fing an, als immer mehr Leute kamen und wir unseren gemütlichen Filmmarathon beenden mussten. Irgendwann hatte Ella mich zu einer Runde Beer Pong herausgefordert, was absolut untypisch für sie war, aber offenbar war Silvester genau dafür da. Dass man Dinge tat, die vollkommen gegen das übliche Verhalten sprachen.
Für gewöhnlich konnte ich nämlich sehr gut einschätzen, wie viel Alkohol ich vertrug, aber zwischen den zahlreichen Bechern Bier, dem Sekt zum Anstoßen um Mitternacht und den Tequila Shots, zu denen Hanna mich überredet hatte, musste ich die Kontrolle verloren haben.
Mein Verstand hatte sich verabschiedet und meinem Körper die Kontrolle überlassen, der leider ganz genau gewusst hatte, was er wollte. Nämlich ausgerechnet Maxim.
Wenn Hanna länger geblieben wäre und nicht Finn, sondern ich darauf bestanden hätte, sie nach Hause zu begleiten, wäre die Nacht völlig anders verlaufen. Aber das brachte mir jetzt auch nichts.
Verdammt. Ich hatte wirklich mit Maxim geschlafen. Während mein Verstand mir sagte, dass das eine absolut hirnrissige, schwachsinnige und alkoholverschuldete, dumme Idee war, flippte ein kleiner, schwacher Teil in mir gerade aus vor Freude. Denn wenn ich ehrlich zu mir war, so ehrlich wie ich es Hanna oder irgendjemand anderem gegenüber nie sein würde, dann hatte ich mich schon immer gefragt, wie es sich anfühlte, Maxim zu küssen, ihn zu berühren, ihn zu spüren …
Eine plötzlich einsetzende, laute Melodie aus der Küche ließ mich aus meinen Gedanken schrecken. Hanna hatte die Musik laut aufgedreht und Taylor Swifts Stimme schallte durch die Wohnung. Ich verstand es einfach nicht. Wie konnte man nur auf so eine Musik stehen?
You belong with meee … Hannas schräge Stimme gesellte sich zu Taylors Gesang und ich stellte seufzend das Wasser ab. Dann würde ich mich mal den Fragen meiner besten Freundin stellen. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, was ich ihr über letzte Nacht erzählen sollte. Die Wahrheit kam jedenfalls nicht infrage.
»Also, wer war es?« Erwartungsvoll blickte mich Hanna an.
Wir hatten es uns auf der Couch in unserem winzigen Wohnzimmer gemütlich gemacht und hielten beide eine Tasse Kaffee in der Hand.
»Ähm …« Verzweifelt suchte ich in meinem Kopf nach einer angemessenen Antwort. Dein Bruder? Wohl kaum!
»Du weißt ja wohl noch seinen Namen, oder?« Mit hochgezogenen Augenbrauen musterte mich Hanna voller Skepsis. Ich konnte ihre Reaktion verstehen, schließlich war es absolut untypisch für mich überhaupt einen One-Night-Stand zu haben. Wäre es sie gewesen, die erst morgens nach Hause kam, hätte mich das hingegen nicht überrascht.
Hannas Einstellung Männern gegenüber war zum Missfallen ihres Bruders relativ, ähm, offen. Maxim konnte es nicht ausstehen, wenn Hanna über ihre neusten Männergeschichten sprach oder er mitbekam, wie sie gerade flirtete. Dabei war er nicht besser.
Verflucht, jetzt waren meine Gedanken schon wieder zu ihm gewandert.
»Erde an Tara!« Hanna wedelte mit einer Hand vor meinem Gesicht herum.
»Es war keine große Sache, Hanna. Nichts worüber es lohnenswert wäre zu reden.«
»Also war es doch nicht so gut?« Sie sah mich zweifelnd an und ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht mit der Wahrheit herauszuplatzen. Doch ich wusste nur zu gut, dass Hanna außer sich wäre, wenn sie je erfahren würde, bei wem ich die Nacht tatsächlich verbracht hatte.
»Nein«, murmelte ich und vermied einen weiteren Blick in ihre Richtung. Stattdessen trank ich einen Schluck Kaffee und versuchte ihre gerunzelte Stirn zu ignorieren, die ich im Augenwinkel nur allzu deutlich wahrnahm.
»Ach, ich werde schon noch dahinterkommen, wer der geheimnisvolle Unbekannte ist.«
»Mmh«, murmelte ich in die Tasse und betete im Stillen darum, dass Hanna so gnädig war und das Thema fallen ließ.
Auf einmal ertönte ein dumpfes Geräusch aus Hannas Zimmer. Irritiert hob ich den Kopf.
»Hast du etwa jemanden bei dir?«, flüsterte ich fassungslos darüber, dass sie das nicht schon längst erwähnt hatte.
»Ähm, ja.« Hanna grinste und trank einen großen Schluck Kaffee, bevor sie sich vom Sofa erhob.
»Es ist aber nicht Finn, oder?«
Ich erinnerte mich daran, dass er Hanna nach Hause gebracht hatte, weil sie, ähnlich wie ich, ein paar Tequila Shots zu viel getrunken hatte.
»Was? Nein, natürlich nicht!« Empört schüttelte sie den Kopf, als wäre es das Absurdeste der Welt, dass sie Finn mit zu sich nehmen würde. So wie die beiden ständig umeinander schlichen, hätte es mich allerdings nicht gewundert.
»Und wer ist es dann?«
»So ein Typ, dessen Nummer ich von einer Party habe. Ich muss ihn betrunken angerufen haben, denn er stand letzte Nacht plötzlich vor unserem Haus.«
»Oh Mann.« Leicht vorwurfsvoll sah ich sie an, aber ich konnte nichts gegen das kleine Grinsen in meinem Gesicht tun. So etwas brachte auch nur sie fertig. Oder ihr Bruder. Bevor meine Gedanken in eine Richtung wanderten, in der sie nichts verloren hatten, stand ich auf.
»Na ja, ich schau mal lieber nach was er macht, das klang gerade nämlich als wäre er aus dem Bett gefallen und vom Fußboden ist es nicht mehr weit bis zur Wohnungstür. Du weißt ja, ich stehe nicht unbedingt auf Gesellschaft am Morgen.«
Zwinkernd drehte Hanna sich um. Mit der Kaffeetasse in der Hand beeilte ich mich, in meinem Zimmer zu verschwinden.
Kurz darauf hörte ich, wie jemand durch das Wohnzimmer ging und dann die Wohnungstür mit einem lauten Knall zuschlug.
Hanna war eine Meisterin darin, die Männer um ihren Finger zu wickeln, nur gelang es ihr nicht immer sie am nächsten Morgen auf eine charmante Art wieder loszuwerden. Genau genommen, schmiss sie ihre Besucher meistens ziemlich dreist aus ihrem Zimmer.
Ich stellte meine Kaffeetasse ab und kroch unter die Bettdecke, die wunderbar weich war. Völlig übermüdet kuschelte ich mich mit einem zufriedenen Seufzen in mein Kissen.
»Hanna! Mach die Musik leiser.« Ich vergrub meinen Kopf in den Händen, während ich vergeblich versuchte, Hannas Stimme zu ignorieren, die Walking on sunshine aus vollem Hals mitträllerte. »Hanna!«
Ich riss die Zimmertür auf und fand Hanna tanzend in unserer Küche. Als sie mich sah, streckte sie mir eine Tasse Kaffee entgegen und stellte die Musik ab.
»Sorry, Tara, ich bin gerade erst aufgestanden und habe ein bisschen gute Laune gebraucht. Du sagst doch immer, es ist wichtig, gut in den Tag zu starten.«
Mir gerunzelter Stirn schaute ich auf die große Uhr, die über unserem Herd hing. Es war viertel nach zwölf und ich saß seit acht Uhr an einem Artikel für die Wochenklatsch, den ich spätestens morgen abgeben musste. Die Zeitschrift erschien wöchentlich und dementsprechend hoch war der Zeitdruck.
Seufzend setzte ich mich an unseren kleinen Küchentisch, der eigentlich nur ein Klapptisch aus Holz war, an dem gerade so wir beide Platz hatten.
»Was ist denn los? Du wirkst seit Tagen gestresst.«
»Ich weiß.«
»Okay, da hilft wohl nur eins.« Hanna griff grinsend nach meiner Hand.
»Ich bin jetzt echt nicht in der Stimmung zu tanz…«
Mit einer schnellen Bewegung wirbelte Hanna mich herum und zog mich ins Wohnzimmer.« »Na los, beweg dich!« Sie begann auf und ab zu hüpfen, was ein bisschen irre und gleichzeitig ziemlich witzig aussah.
»Okay, schön.« Schulterzuckend schloss ich mich Hannas Zappelei an.
Die letzten Tage waren anstrengend gewesen. Ich hatte angefangen mir einen Lernplan zu erstellen, da die Prüfungen in fünf Wochen anstanden und ich bis dahin noch einige Vorlesungsfolien und Lektüren durcharbeiten musste.
Aber das war es nicht, was mich am meisten gestresst hatte. Natürlich nicht. Eine Woche war seit Silvester vergangen und Maxim hatte sich öfter in meine Gedanken geschlichen, als er sollte. Erst gestern hatte ich mich auf dem Weg zur Bibliothek dabei ertappt, dass ich mich ständig umschaute, aus Angst, Maxim könnte mir über den Weg laufen. Dabei würde ich ihn früher oder später sowieso sehen.
»Mach dir nicht immer so viele Gedanken, Tara!« Atemlos blieb Hanna stehen und hielt sich ihre Seite.
»Das sagst du so leicht, ich muss die nächsten Wochen viel lernen und nebenher noch Artikel schreiben, das ist verdammt stressig!«
»Ach, du wirst das schon packen. Tust du doch immer. Niemand fängt so früh mit lernen an wie du und es schreibt auch niemand so viele Einser, also hör auf Stress zu machen, wo keiner ist!«
Hanna warf mir ein aufmunterndes Lächeln zu und einmal mehr wünschte ich mir, ich könnte mir eine Scheibe von ihrer Unbekümmertheit abschneiden. Sie machte sich nie Stress wegen Prüfungen und es kümmerte sie auch nicht groß, wenn ihre Noten mal nicht die Besten waren.
»Du hast recht. Ich weiß auch nicht, weshalb ich mich so anstelle.«
»Oder hat es vielleicht gar nichts damit zu tun, dass du viel lernen musst, sondern es betrifft den Unbekannten von Silvester?«
»Gott, hör auf damit.«
»Womit denn?«
Mit einem unschuldigen Lächeln blickte mich Hanna aus ihren blauen Augen an, wobei ich ihr die Unschuldsmiene keine Sekunde lang abkaufte.
»Damit in meinen Gedanken herumzustochern, das nimmt langsam unheimliche Ausmaße an.«
»Ha! Wusste ich doch, dass dich das noch beschäftigt.«
»Es hat nichts zu bedeuten, das habe ich dir doch gesagt.«
»Rede dir das ruhig ein, Süße. Ich kenne dich. Du hast viel zu viele Prinzipien, um einfach so bedeutungslosen Sex zu haben. Das passt nicht zu dir.«
»Jaja, ich würde wirklich gerne weiterreden, aber ich muss los in die Plauderecke. Vielleicht komm ich da mit meinem Artikel weiter.«
»Alles klar, wir setzen das Gespräch wann anders fort.«
Sie zwinkerte mir zu, als ich das Wohnzimmer verließ und in mein Zimmer ging, um meine Sachen zu holen.
»Ach, Tara, du bist heute Abend hier, oder? Es wollten noch paar Leute vorbeikommen. Es ist schließlich Freitag, da musst selbst du mal eine Pause machen.«
»Wer kommt denn alles?«
Ich versuchte die Frage beiläufig klingen zu lassen, aber natürlich interessierte mich nur eine Person.
»Die Üblichen, nehme ich an.«
»Okay, ja ich bin da.«
»Super.«
Ich nickte schwach und schnappte mir meinen Laptop. Schnell steckte ich ihn in den braunen Lederrucksack, den ich letztes Jahr von meiner Mutter geschenkt bekommen hatte.
Ein kurzer Stich durchzuckte mich, wie immer, wenn ich an sie dachte und natürlich meldete sich prompt auch das schlechte Gewissen, weil ich mich schon viel zu lange nicht bei ihr gemeldet hatte. Morgen, nahm ich mir vor und verschob damit das längst überfällige Alles-prima-mach-dir-keine-Sorgen Telefongespräch mit meiner Mutter zum gefühlt hundertsten Mal.
»Bis später, Hanna!«
Ich verließ die Wohnung und lief in Gedanken versunken durch die Straßen. Wie sehr ich tatsächlich wieder mal vor mich hin träumte, merkte ich erst, als ich plötzlich vor meinem Lieblingscafé stand und beinahe gegen die Glastür gelaufen wäre.
Ich schüttelte den Kopf über mich selbst und stieß schwungvoll die Tür auf. Ich brauchte dringend noch einen Kaffee, wenn ich in den nächsten Stunden etwas zu Papier bringen wollte.
»Oh hallo, dich haben wir schon eine Weile nicht mehr gesehen!« Neela, die ein Semester über mir studierte, winkte mir freundlich zu.
»Hey, ja wird mal wieder höchste Zeit.«
Lächelnd schaute ich mich in dem gut besuchten Café um. Die Plauderecke lag nicht weit vom Unigelände entfernt, weshalb hier überwiegend Studenten anzutreffen waren. Als ich das Café vor eineinhalb Jahren zum ersten Mal betreten hatte, war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Von allen Cafés hier in Lilberg war es mit Abstand mein liebstes. Das lag vor allem an den verglasten Scheiben, die den großen Innenraum in ein helles Licht tauchten, und der liebevollen Deko. An den Wänden hingen Uhren und Schilder im Retro Look mit lustigen Sprüchen und Lebensweisheiten. Die Möbel waren getreu dem Vintage-Motto eine bunte Mischung aus Holzstühlen, Sesseln und Sofas.
Ich steuerte einen kleinen Tisch in der Ecke am Fenster an. Wie so oft hatte ich Glück, dass hier noch niemand saß. Es war seltsam, aber mein Stammplatz war fast jedes Mal frei. Als stände ein unsichtbares Schild dort: reserviert für Tara. Vielleicht hatte ich bei dieser einen Sache auch einfach mal Glück oder es war Karma, wobei ich nicht wüsste, mit welchen Taten ich mir den perfekten Eckplatz zum Schreiben verdient hätte.
Ich stellte den Cappuccino ab, packte meinen Laptop und mein geliebtes Notizbuch aus, dessen buntgemusterter Einband bereits mit zahlreichen Kaffeeflecken bedeckt und somit eindeutig als meins gebrandmarkt war.
Es juckte mich in den Fingern, es aufzuklappen und an dem Poetry-Slam-Text weiterzuarbeiten, den ich vor wenigen Tagen angefangen hatte, aber Patrick, der Chefredakteur, würde mir wirklich den Kopf abreißen, wenn ich ihm den Artikel morgen nicht lieferte.
Was tun gegen den Winterblues? Wie Sie sich die kalte Jahreszeit versüßen!
Ich starrte auf den einfallslosen Titel. Was hatte Patrick sich dabei nur gedacht? Die Wochenklatsch richtete sich an Frauen über vierzig, die einen Alltag lebten, der mir nicht nur völlig fremd, sondern auch alles andere als erstrebenswert war. Aber ich konnte bei dem Magazin neue Erfahrungen sammeln und tun was ich liebte: schreiben. Für gewöhnlich gab Patrick mir auch interessante Themen, aber diesmal hatte er es wirklich nicht gut mit mir gemeint.
Seufzend griff ich nach dem Cappuccino und nahm einen großen Schluck.
Die nächsten zwei Stunden stellte ich eine Liste mit Tätigkeiten zusammen, die im Winter Spaß machten, oder auch nicht, aber das würde Patrick entscheiden müssen. Als ich den Rohentwurf für den Artikel abschickte, graute mir bereits vor seiner Rückmeldung, aber ich war einfach nur froh, die Sache zumindest vorerst hinter mich gebracht zu haben.
Ein Blick auf mein Smartphone verriet mir, dass es bereits später Nachmittag war. Ich überlegte, direkt nach Hause zu gehen, bevor die anderen eintrudelten, aber dann schlug ich doch den Weg zur Bibliothek ein, um mich zumindest einem der zahlreichen Bücher zu widmen, die unsere Dozenten empfohlen hatten.
Während ich durch die Straßen lief, versuchte ich krampfhaft nicht daran zu denken, dass Maxim höchstwahrscheinlich heute Abend auch kommen würde. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. In den letzten Tagen war ich mehrmals kurz davor gewesen, ihm zu schreiben, aber dann hatte ich es doch gelassen.
Ich war nicht naiv oder blöd, ich wusste, dass es für Maxim nicht ungewöhnlich war, eine Frau für eine Nacht bei sich zu haben und sich dann nie wieder zu melden. Nur gehörte bisher keine davon zu seinem Freundeskreis. Oder war die beste Freundin seiner Schwester.
Würde er einfach so tun, als wäre nichts passiert? Ich verdrehte die Augen über mich selbst und schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verdrängen.
Energisch zog ich die schwere Tür zur Bibliothek auf, bereit mich in meinem Lernstoff zu versenken, bis die Erinnerungen an die Silvesternacht endlich Ruhe gaben.
Mit schnellen Schritten sprang ich die Treppe runter ins Untergeschoss und knallte im nächsten Moment gegen jemand, der plötzlich um die Ecke kam. Fluchend griff ich nach meinem Rucksack, der mir bei dem Zusammenprall von der einen Schulter gerutscht war, und blickte auf, um dem Fremden meine Meinung zu sagen. Doch aus meinem offenen Mund drang kein Laut.
Ein blaues Augenpaar funkelte mich amüsiert an. Verzweifelt suchte ich in meinem Gehirn nach Worten, egal welchen, aber offenbar hatte es ausgerechnet jetzt beschlossen, auf Stand-by zu schalten.
Wie von selbst wanderte mein Blick über Maxims Gesicht, den Dreitagebart, der ihm viel zu gut stand, seine vollen Lippen, die vergessen geglaubte Erinnerungen weckten, und glitt über seinen dunkelblauen Pulli, unter dem sich, wie ich wusste, ein muskulöser Oberkörper verbarg.
»Hi, Tara.«
Maxim musterte mich mit schräg gelegtem Kopf. Seine Lippen hatte er zu einem Grinsen verzogen und ich hatte den starken Eindruck, dass er diese Situation absolut genoss.
»Hi«, brachte ich nach einer viel zu langen Pause hervor und wünschte mir im selben Moment, dass sich ein Loch unter mir auftun würde, in dem ich versinken konnte.
»Wenn du dich am Morgen nicht so vorsichtig hinausgeschlichen hättest, wäre das hier vielleicht nicht so peinlich.«
Fassungslos blickte ich ihn an. Hatte er das gerade wirklich gesagt?
»Echt jetzt, Maxim? Was hättest du getan, wenn ich geblieben wäre? Mir Frühstück ans Bett gebracht?« Ich lachte kurz auf, so absurd war die Vorstellung.
»Okay, nein, du hast recht. Das wäre seltsam gewesen.«
»Ach was.«
»Hast du, also, hast du es Hanna erzählt?« Auf einmal war die Überheblichkeit aus seinem Gesicht verschwunden. Für einen Moment sah er beinahe ängstlich aus, was ich ihm nicht verdenken konnte.
»Natürlich nicht! Sie darf das auf keinen Fall erfahren.«
»Gut.« Erleichtert atmete Maxim aus.
»Hör mal, ich weiß, dass das nicht hätte passieren sollen und es wäre mir wirklich recht, wenn wir so tun könnten, als na ja, wäre das nicht passiert«, schlug ich zögerlich vor.
Nachdenklich musterte mich Maxim. Sein Blick jagte mir einen Schauer über den Rücken und ich zwang mich, woanders hinzuschauen. Er brauchte ja nicht auch noch zu merken, dass sein Anblick mich nervös machte. Mieser, verräterischer, hormongesteuerter Körper.
»Ich werde es niemandem erzählen, Tara, aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich diese Nacht einfach so vergesse. Und mal ehrlich, das kannst du doch auch nicht.«
Ich schnappte nach Luft, schon wieder sprachlos über seine direkten Worte.
»Wir sehen uns später.« Er zwinkerte mir zu und schob sich an mir vorbei. Ich schaute ihm nach wie er die Stufen hochsprang und aus meinem Sichtfeld verschwand.
Nach dieser Begegnung war an Lernen sowieso nicht mehr zu denken. Also holte ich nur ein paar Bücher ab und machte mich direkt auf den Heimweg. Dabei schimpfte ich die ganze Zeit leise vor mich hin. Dieser eingebildete, selbstverliebte Idiot! Ich kannte ihn seit einem Jahr und ja, wie vielen anderen Mädchen auch, war mir durchaus aufgefallen, dass er ein sehr attraktiver Mann war. Aber irgendwann hatte ich meine Schwärmerei abgelegt. Warum ließ er mich jetzt plötzlich nicht mehr kalt?
Ich war immer stolz darauf gewesen, nicht zu den Frauen zu gehören, die einem Typen wegen seines Aussehens völlig verfielen. Oder weil der Sex mit ihm so gut gewesen war. Argh! Ich würde noch durchdrehen.
Am liebsten wäre ich jetzt sofort eine Runde laufen gegangen, aber ich wusste, dass Hanna bereits auf mich wartete und unsere Freunde in wenigen Stunden vor der Tür stehen würden. Inklusive Maxim.
Kurz darauf war unsere Wohnung erschreckend voll und meine Gedanken kein bisschen leiser geworden.
»Tara! Alles klar?«
Ella musterte mich argwöhnisch, während ich vergeblich versuchte, mir ein überzeugendes Lächeln auf die Lippen zu zaubern.
Ella war ein Mensch, dem man unmöglich etwas vormachen konnte.
»Ja, alles gut, ich bin nur etwas müde.«
Ich vermied es, sie anzuschauen, denn dann würde sie sofort wissen, dass das nicht stimmte.
Wir standen in der Küche, wo Hanna neben uns gerade eine Schüssel mit Chips richtete. Die Jungs hatten es sich in unserem winzigen Wohnzimmer gemütlich gemacht und unterhielten sich über irgendwelche Sportergebnisse.
»Was haltet ihr von einer Runde Activity?«
Hanna verließ mit den Chips die Küche und ignorierte den schwachen Protest von Finn und Maxim.
»Wir schauen auf keinen Fall wieder irgendeine dämliche Zombie Serie«, schob Hanna warnend hinterher.
»Meinetwegen, aber dann will ich mit Ella in ein Team, die kann wenigstens gut Begriffe erklären im Gegensatz zu dir.«
Maxim sah seine Schwester herausfordernd an und Hannas schnippische Erwiderung ließ nicht lange auf sich warten.
»Mir ist jede Team-Einteilung recht, solange die zwei nicht in einem sind«, murmelte ich.
Ella nickte. »Ja, da bin ich ganz deiner Meinung.«
»Ella? Tara? Spielt ihr mit?«
»Geh nur, ich komm gleich.« Ich machte eine Kopfbewegung in Richtung Wohnzimmer und ignorierte Ellas skeptischen Blick.
Als sie zu den anderen ging, atmete ich tief durch und schloss für einen Moment die Augen.
Bisher lief der Abend ganz gut. Es war mir gelungen, um Maxim einen Bogen zu machen, aber irgendwann würde es jemandem auffallen, dass ich nur das Nötigste mit ihm sprach. Ich musste mich unbedingt in den Griff kriegen und aufhören, mich wie ein alberner Teenager zu benehmen.
»Es ist nur Maxim, kein Grund sich so anzustellen«, murmelte ich leise. »Er ist nur der große Bruder deiner besten Freundin. Niemand besonderes, du kriegst das hin, Tara.«
»Was genau tust du da?«
Erschrocken riss ich meine Augen auf und erstarrte. Maxim stand in der Tür und betrachtete mich mit einem amüsierten Blick.
»Ich …« Verzweifelt suchte ich nach Worten, doch wieder einmal ließen sie mich im Stich. Ausgerechnet mich, der sie beim Schreiben so treu ergeben waren.
»Schon gut, ich führe auch manchmal Selbstgespräche. Allerdings vor dem Spiegel. Du weißt schon, um mir mehr Selbstbewusstsein und Mut zuzusprechen.«
»Haha. »Als ob du das nötig hättest. Dein Ego platzt doch fast schon, so viel wie du von dir hältst.«
»Autsch, das klang fast ein bisschen gemein. Aber wie du weißt, hat das große Ego durchaus seine Berechtigung, es ist schließlich nicht das einzig Große an mir.«
»Oh mein Gott.« Fassungslos schüttelte ich den Kopf. »Du bist echt unglaublich.«
»Ich weiß.« Er zwinkerte mir zu. Schon wieder.
»Du musst damit aufhören«, beschwor ich ihn und versuchte, mich an ihm vorbei durch die Tür zu drängen, doch er hielt mich am Arm fest. Seine Hand brannte sich durch den dünnen Stoff der Bluse, die ich trug, und ich konnte meine Augen nicht länger abwenden.
Er war mir gefährlich nah und ohne es zu wollen, glitt mein Blick über sein Gesicht und blieb an seinen vollen Lippen hängen.
»Womit muss ich aufhören?«, fragte er leise und seine sanfte Stimme verursachte mir eine Gänsehaut.
»Damit.«
Ich riss mich von ihm los und trat hastig einen Schritt zurück.
»Womit genau?«
Er kam auf mich zu und ich wich zurück, bis ich mit dem Rücken an den Kühlschrank stieß.
»Mit dem Flirten«, flüsterte ich, während sein intensiver Blick mich in den Bann zog. Es war unmöglich, sich seinen blauen Augen zu entziehen.
Maxim streckte eine Hand aus und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Ich hielt unwillkürlich den Atem an, als seine Finger über meine Haut glitten.
»Und damit, mich anzufassen.«
»Und wenn ich das nicht will?«
»Wir brauchen noch mehr Chips.«
Hannas laute Stimme ließ die Spannung, die in der Luft lag, so schnell und effektiv platzen wie es auch eine Nadel bei einem Luftballon gekonnt hätte. Sofort wich Maxim von mir zurück.
Mit einer beiläufigen Geste öffnete er unseren Geschirrschrank und griff nach einem Glas. Ohne mich noch mal anzuschauen, verließ er damit wortlos die Küche.
Mit weichen Knien und hundert Fragezeichen im Kopf starrte ich ihm nach.
»Tara?« Hanna baute sich mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht vor mir auf.
»Ich glaube, ich werde krank«, murmelte ich. Tatsächlich fühlte sich mein Magen gerade etwas durcheinander an.
»Oh nein, brauchst du irgendwas?«
»Was? Nein, nein, es wird gleich wieder gehen.«
»Oookay.«
»Lass uns zu den anderen gehen«, schlug ich vor.
Ich verließ die Küche und setzte mich neben Ella, die zum Glück weit genug von Maxim entfernt saß.
»Spielen wir noch eine Runde?«
Hanna war mir gefolgt und schaute jetzt hoffnungsvoll in die Gruppe, erntete aber nur ein entschiedenes Kopfschütteln.
»Heb dir das lieber für deine zukünftigen Schüler auf.«
Finn warf ihr ein Lächeln zu, das sie vermutlich besänftigen sollte, sie aber nur dazu veranlasste, die Augen zu verdrehen.
»Ihr seid echt Spielverderber.«
»Du hast ja keine Ahnung, wie viele Stunden ich in den letzten Jahren mit meinen Schwestern spielen musste«, rechtfertigte sich Finn.
»Ich wünschte tatsächlich, meine Schwester würde mit mir noch spielen. Sie wird viel zu schnell erwachsen, letzte Woche hat sie mir erzählt, dass sie jetzt einen Freund hat.« Ella verzog das Gesicht, als wäre das ihr persönlicher Albtraum.
Nachdenklich lauschte ich den Erzählungen meiner Freunde. In jedem Wort, mit dem sie sich über ihre Geschwister aufregten, schwang unendlich viel Liebe mit. Als Kind hatte ich mir immer eine Schwester oder einen Bruder gewünscht. Jemand, der mir zur Seite stand und sich mit mir zusammentat, wenn meine Mutter mal wieder einen neuen Typen anschleppte. Bis auf meine Oma Claudi hatte es niemanden gegeben, von dem ich mich wirklich verstanden gefühlt hatte. Mit einem Geschwisterkind wäre meine Jugend möglicherweise völlig anders verlaufen. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen und es hätte Jack nie gegeben.
Ich war ein Idiot. Das war zwar nichts Neues, aber diesmal hatte ich mich wirklich selbst übertroffen. Tara. Von allen Frauen, die es in dieser verdammten Stadt gab, musste ich es ausgerechnet mit einer der wenigen treiben, die tabu waren. Dabei ging es nicht nur darum, dass ich Hanna versprochen hatte, die Finger von ihren Freundinnen zu lassen.
Ich wusste ja selbst, dass das eine absolut schlechte Idee war. In dem letzten Jahr war es mir gelungen, die Anziehung, die Tara auf mich ausübte, zu ignorieren, aber offensichtlich war diese Zeit endgültig vorbei und das war absolut beschissen.
Nach ihr hatte ich mich von Mädchen wie Tara ferngehalten. Sie war zu gut. Zu nett. Seit ich sie kannte, hatte ich nur ein einziges Mal mitbekommen, dass sie sich mit einem Kerl getroffen hatte. Sie brachte es als Einzige von uns fertig, sich schon Wochen vor den Prüfungen in die Bibliothek zu setzen und von Hanna wusste ich, dass sie einen Ordnungszwang hatte, weshalb sie manchmal stundenlang die WG putzte. Wer tat so etwas schon freiwillig? Wie sie es überhaupt mit meiner Schwester aushielt, war mir ein Rätsel.
»Mach schon, Alter. Ich will hier nicht ewig rumstehen.«
Ich griff nach den Hanteln, die Finn mir ungeduldig hinstreckte.
Meine Gedanken waren in den letzten Tagen bereits viel zu oft zu Tara gewandert. Oder besser gesagt zu ihren Beinen. Oder ihren … Okay, ich musste damit aufhören! Dass ich mich noch viel zu gut an Taras nackten Körper erinnerte, war keine Hilfe.
Sie hatte etwas an sich, das mich anzog, und die Tatsache, dass sie verbotenes Terrain war, machte mich nur noch mehr an. Es war so einfach sie in Verlegenheit zu bringen und die leichte Röte, die ihr ins Gesicht stieg, wenn ich ihr zu nahekam, war zu niedlich.
»Ey, ich glaube, es wird Zeit zu wechseln.« Finn schaute argwöhnisch auf mich herab. Schulterzuckend erhob ich mich von der Bank und machte ihm Platz.
Nach dem Training wartete ich vor dem Fitnessstudio auf Finn, der meinte, noch die Nummer einer der Frauen klarmachen zu müssen, die sich auffallend oft in unserer Nähe herumgedrückt hatten. Es war so lächerlich offensichtlich gewesen, dass wir uns nach wenigen Minuten wissend angegrinst hatten. Das passierte schließlich nicht zum ersten Mal. Im Gegenteil, ich wusste nicht, wie viele Frauen ich nach dem Training schon zu einer Party eingeladen hatte, die dann bei mir zu Hause im Bett geendet hatte.
»Da bist du ja endlich.«
Finn kam mit einem breiten Grinsen im Gesicht auf mich zu, was keinen Zweifel daran ließ, dass er sein Ziel erreicht hatte.
»Jaja, du kannst deine Sprüche für dich behalten. Du bist doch nur neidisch, weil sie nicht an dir interessiert war.«
»Neidisch? Ha, als ob ich das nötig hätte.«
»Ach ja? Wie lange ist das mit der einen aus deinem Kurs her? Du weißt schon, die große Schwarzhaarige mit den großen –«
»Ja, danke, du brauchst mich nicht daran zu erinnern. Die hat danach total den Terror geschoben.«
»Das war noch vor Weihnachten, oder? Also vor einem Monat? Mann, was ist los? Du lässt nach!«
Finn stieß mir grinsend gegen die Schulter, was ich mit einem gespielten Seufzer quittierte.
Tatsächlich hatte ich seither die Finger von Frauen gelassen. Bis auf Tara. Es war gerade mal zwei Wochen her, dass die Silvesternacht so eskaliert war und auf eine völlig unerwartete Weise geendet hatte. Trotzdem kam mir die Zeit wie eine verdammte Ewigkeit vor.
»Du brauchst etwas Ablenkung, so untervögelt wirst du irgendwann anstrengend. Heute Abend steigt bei Noah eine Party, bist du dabei?«
»Klar bin ich dabei. Ist wohl wirklich etwas lange her, dass ich es so richtig habe krachen lassen«, erwiderte ich betont locker.
Vielleicht hatte Finn recht und eine Party war genau das, was ich jetzt brauchte. Denn wenn ich mich mit etwas auskannte, dann darin, meine Gedanken mit Alkohol zu betäuben. Ich war ein Meister der Ablenkung und Tara würde ich heute Nacht aus meinem Kopf verdrängen.
Ein paar Stunden später stand ich mit einem Bier in der Hand in Noahs Wohnung, über deren Größe wir uns alle schon mehrfach gewundert hatten. Ich wusste, dass sein Vater als angesehener Rechtsanwalt ordentlich Kohle machte, aber dass er die so bereitwillig in die Bude seines Sohnes steckte, war mir doch ein Rätsel. Vermutlich hatte er nicht den blassen Schimmer, wie oft Noahs Wohnung von einer feierwütigen Menschenmasse belagert wurde. Denn obwohl das Jurastudium ihm viel abverlangte, kannte ich niemanden, der so oft Party machte wie Noah.
Ich bahnte mir einen Weg aus der überfüllten Küche ins Wohnzimmer, in dem Elektro Beats viel zu laut aus den verhältnismäßig schlechten Boxen schallten.
»Na, hast du Spaß?«
Ich drehte mich um und hob meine Augenbrauen. Die Stimme gehörte zu einer hochgewachsenen Blondine, die sich gerade an meinen Arm hängte und mich aus großen, blauen Augen schmachtend anschaute. Das Glitzern darin war verführerisch, ebenso wie ihre vollen Lippen, die sie zu einem aufreizenden Lächeln verzogen hatte.
Blitzschnell glitt mein Blick über ihr eng anliegendes schwarzes Kleid, das ihre Rundungen perfekt in Szene setzte. Und es waren Rundungen, die es wert waren, dass meine Augen länger auf ihnen verweilten.
»Bisher nicht so sehr, aber mein Gefühl sagt mir, dass der Spaß erst noch losgeht.«
Ich zwinkerte ihr zu und als eine sanfte Röte in ihre Wangen stieg, war es um mich geschehen. Sie war genau mein Typ. Auffallend hübsch, selbstbewusst, aber nicht zu forsch.
Ich legte einen Arm um ihre Schulter und bemerkte mit einem zufriedenen Grinsen ihr schüchternes Lächeln. Oh ja. Sie passte ganz genau in mein Beuteschema.
»Hier drinnen ist es so laut, etwas frische Luft auf dem Balkon tut bestimmt gut.«
Sie nickte nur und ließ sich bereitwillig von mir durch die Menschenmenge dirigieren.
Auf dem kleinen Balkon angekommen, schlug uns ein eisiger Wind entgegen. Das Mädchen drängte sich enger an mich und ich legte einen Arm um ihre Schulter.
Es waren außer uns noch ein paar andere Leute auf dem Balkon, aber ich beachtete sie nicht weiter. Mit dem Mädchen an meiner Seite steuerte ich auf die dunklere Ecke des Balkons zu, wobei ich ihr mit einer Hand sanft über den Arm strich. Ein Schauer durchfuhr ihren Körper, eine Reaktion, die auch an mir nicht spurenlos vorbeiging.
Ich positionierte sie so, dass sie mit dem Rücken zu dem Geländer stand und mich anschauen musste. Ihr Blick war neugierig und sehnsüchtig zugleich, eine Mischung, die ich gut kannte. Ich legte eine Hand an ihre Hüfte, woraufhin sie einen kleinen Schritt auf mich zukam. Die schüchterne Röte war von ihren Wangen verschwunden und als sie eine Hand in meinen Nacken schob, war klar, dass wir hier keine weiteren Worte brauchten.
Mit einem zufriedenen Seufzen lehnte ich mich nach vorne und legte meine Lippen auf ihre. Das Mädchen reagierte sofort. Sie fuhr mit ihrer Hand in meine Haare und zog mich noch enger an sich. Als sie ihre weichen Lippen öffnete und ihre Zungenspitze neckend über meine fuhr, verlor ich die Beherrschung.
Ich vergrub eine Hand in ihren Haaren, während ich mein Knie langsam zwischen ihre Beine schob. Sie stöhnte leise auf, ein Geräusch, das mir durch und durch ging. Verdammt, sie fühlte sich gut an.
Ein sanfter Vanilleduft stieg mir in die Nase und hüllte mich in eine warme Wolke des süßen Vergessens. Unsere Zungen umkreisten sich und als ich ihre Hände unter meinem Shirt spürte, presste ich mich enger an sie. Sie musste spüren, wie sehr ich sie wollte, so hart war ich inzwischen.
Oh ja, ich hatte wirklich etwas Ablenkung gebraucht. In meinem Kopf machte sich eine angenehme Leere breit und meine Gedanken verstummten.
Auf einmal löste sich das Mädchen von mir. Mit zurückgelegtem Kopf schaute sie mich nachdenklich an. Der Ausdruck in ihren Augen gefiel mir nicht. Da war zu viel Neugierde, zu viele Fragen.
»Bevor das hier weitergeht und ich mit zu dir komme, muss ich zumindest wissen, wie du heißt.«
Ich schaute sie an. »Ich bin Maxim. Und du?«
Ich hielt sie weiter eng umschlungen, während ich wartete, dass sie antwortete und wir endlich da weitermachen konnten, wo sie aufgehört hatte.
»Rate.« Sie grinste mich herausfordernd an und ich konnte mir nur mit Mühe ein Augenverdrehen verkneifen. Warum taten Frauen das nur? Die Stimmung war perfekt, ich wollte sie und sie mich. Das war mehr als offensichtlich. Warum um alles in der Welt musste sie denn jetzt anfangen zu reden?
»Keine Ahnung, Anna?« Ich nannte den nächstbesten Namen, der mir in den Sinn kam.
»Nein« Sie lachte auf, als hätte ich einen Witz gemacht. »Ich heiße Leah.«
Ich erstarrte. Es war, als hätte jemand einen Eimer mit eiskaltem Wasser über mir ausgeleert. Mein Körper versteifte sich und ich taumelte zurück.
Fünf Jahre. Fünf Jahre und ihr Name reichte immer noch aus, um mich völlig aus der Fassung zu bringen.
»Maxim? Alles in Ordnung?«
Ich hörte ihre Stimme nur gedämpft und als eine Hand nach meinem Arm griff, schüttelte ich sie unsanft ab.
»Ich muss hier weg.«
Der Bass der viel zu lauten Musik dröhnte in meinen Ohren, während ich nach meiner Jacke suchte. Ich entdeckte sie auf einer Couch, auf die ich sie vorhin achtlos geworfen hatte.
Ohne auf meine Mitmenschen zu achten, bahnte ich mir einen Weg zur Wohnungstür. Ich musste hier raus. So schnell wie möglich.
Mein Herz raste und die Sicht vor meinen Augen verschwamm.
Fluchend riss ich mein Smartphone aus meiner Hosentasche. Es gab nur eine Person, die ich jetzt anrufen konnte. So sehr ich es auch hasste, mich schwach und hilflos zu fühlen, ich wusste inzwischen, dass ich es in diesem Zustand nicht alleine nach Hause schaffen würde.
»Hanna? Ich brauche dich!«
Ich hörte ein Rauschen und gedämpfte Musik, dann wieder Hannas Stimme.
»Kannst du mich heimfahren?« Meine Stimme klang furchtbar. Ich räusperte mich, doch das Zittern blieb.
Ich beschrieb ihr den Weg, dann ließ ich meinen Kopf auf meine Knie sinken.
Zusammengekauert auf dem Bordstein wartete ich, bis meine kleine Schwester mich holen kam. Ich wusste nicht, wann ich mich das letzte Mal so erbärmlich gefühlt hatte.
»Es tut mir leid«, murmelte ich leise.
»Ich bin ein Wrack, Hanna. Schau mich doch an. Nach all den Jahren … Ich bin ein verdammtes Wrack.«
Ich lehnte mich zurück und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit. Über uns waren vereinzelt ein paar Sterne zu sehen.
Ein Campingausflug im Sommer. Hanna, Leah und ich. Wie wir stundenlang in den Nachthimmel schauten und nach Sternenbildern suchten.
Langsam beruhigte sich mein Herzschlag und die Panik ebbte ab.