MIRKO BEETSCHEN
BEL VEDER
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Lektorat: Thomas Gierl
Coverfoto: Schweizerische Nationalbibliothek, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege (EAD): Archiv Photoglob-Wehrli
Foto Nachsatz: Mirko Beetschen
e-Book: mbassador GmbH, Basel
ISBN epub: 978-3-7296-2238-8
ISBN mobi: 978-3-7296-2239-5
www.zytglogge.ch
Mirko Beetschen
Bel Veder
Roman
Für Stéphane
Vorwort des Herausgebers
Das nachfolgende Dokument protokolliert Ereignisse, die so unglaublich sind, dass ich mich entschlossen habe, es zu veröffentlichen und einer weiteren Leserschaft zugänglich zu machen. Mich selbst verfolgt die Geschichte, seit ich sie das erste Mal gelesen habe. Das Manuskript – im wahrsten Sinne des Wortes, denn es ist von Hand verfasst – stammt aus dem Nachlass eines gewissen Dr. Arthur Hoffmann, zum Todeszeitpunkt am 11. Dezember 1963 wohnhaft in Thun, und muss während Jahrzehnten unberührt und ungelesen in dem alten Registerschrank gelegen haben. Letzteren hatte Anna de Nerval-Hoffmann, die älteste Tochter des Verstorbenen, geerbt und in ihrer Villa in Cologny bei Genf aufbewahrt – wie es scheint, ohne ihn je zu öffnen. Ich entdeckte das kleine moosgrüne Metallmöbel während meines Besuchs der ‹Fête de la Brocante›, welche alljährlich im September im mittelalterlichen Seeländer Städtchen Le Landeron stattfindet. Der Besuch dieses Antiquitäten- und Trödelmarktes gehört für mich seit vielen Jahren zu den Höhepunkten jener frühen Herbsttage, denen diese süß melancholische Endstimmung des Sommers eigen ist.
Erst wenige Tage zuvor hatte ich mein neues Büro in der Berner Altstadt bezogen und schlenderte mit der vagen Hoffnung, auf einen alten Globus oder etwas ähnlich Dekoratives zu stoßen, durch die ausladend dargebotene Ware. Ich sah mich an diesem einen Stand besonders aufmerksam um, ansonsten hätte ich das Schränkchen in der hintersten Ecke einer ganzen Reihe von Möbeln und Kuriositäten wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen. Den Händler kannte ich seit vielen Jahren und hatte bei ihm schon das eine oder andere Stück erworben. Als er mich vor dem Registerschrank kauern sah, kam er herüber und erzählte mir, was er darüber wusste.
Er habe Anna de Nerval-Hoffmanns Liegenschaft am Genfersee im Auftrag eines Neffen der Verstorbenen erst kürzlich geräumt und dabei etliche Preziosen geborgen. Der alte Registerschrank liege ihm dabei besonders am Herzen – natürlich –, denn er sei nicht nur ein reizvolles Relikt aus vergangenen Bürotagen, versicherte er mir, sondern immer noch voller Schriftlichkeiten eines gewissen Dr. Arthur Hoffmann, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Thun als Notar tätig gewesen sei. Er habe die Papiere stichprobenweise auf ihre Authentizität hin überprüft, aber nicht im Detail gesichtet – es seien schlicht zu viele. Sie seien jedoch mit Sicherheit mehr als 60 Jahre alt, und er wolle das Möbel samt Inhalt verkaufen– als Schatzkiste sozusagen.
Mit der Schläue eines alten Marktfuchses hatte er dem Objekt meines Gefallens mit seiner kurzen Rede nicht nur historischen Tiefgang verliehen, sondern auch die dem Schriftsteller inhärente Neugier und Forschungslust geweckt. Die Unterlagen aus der Vergangenheit begannen, noch bevor ich sie zu Gesicht bekommen hatte, meine Fantasie zu reizen. Kurz, ich erstand das Schränkchen und hievte es mit Hilfe des Händlers auf einen Handkarren, mit dem ich es zum Auto am Rande des Marktes schleppte. Noch am selben Abend setzte ich mich in meinem Büro vor den grünen Schrank, öffnete die oberste der drei Schubladen und begann mit der Durchsicht der Papiere.
Der Großteil erwies sich als enttäuschend inspirationsfrei. Selbstverständlich hatte der gewissenhafte Dr. Hoffmann keine Akten mit heiklem oder pikantem Inhalt hinterlassen – die waren sicherlich bei einem Partner oder Nachfolger seiner Kanzlei gelandet oder anderenfalls geschreddert worden. Was ich stattdessen vorfand, waren schnöde Rechnungen, Quittungen, Anleitungen für längst obsolet gewordene Bürogeräte sowie die trockene Korrespondenz des Notars mit diversen Ämtern.
Erst in der untersten Schublade stieß ich auf das Dokument, in eine vergilbte Kartonmappe gepackt und mit einer Schnur zusammengezurrt, welches ich in der Folge transkribiert und korrigiert wiedergebe. Es handelte sich um einen beachtlichen Stapel loser, von Hand beschriebener Blätter – unnötig zu erwähnen, dass ich als Literat sogleich die Hoffnung hegte, auf ein unentdecktes Manuskript gestoßen zu sein, zumal es mit dem vielversprechenden Titel ‹Bel Veder› überschrieben war.
Ganz oben auf dem Stapel fand sich ein gefalteter Briefbogen, der folgende kurze Notiz der Person enthielt, die diese Seiten offensichtlich verfasst hatte (auch wenn sie ihren Namen nicht verrät, scheint mir nach der Lektüre die Autorenschaft klar – doch ich will hier nichts vorwegnehmen und lasse Sie selbst urteilen):
Sollten diese Zeilen jemals einen Leser finden, so will ich ihm versichern, dass sich die hier beschriebenen Ereignisse wahrhaftig zugetragen haben, so wahr mir Gott helfe. Ich mag den einen oder anderen Satz zu einem zierenden Knoten gebunden haben, dieser ändert jedoch nichts an den Begebenheiten, denen sie entspringen. Zur Authentifizierung meines Berichts sollen die schriftlichen Zeugnisse beitragen, derer ich glücklicherweise habhaft war. Ich habe sie – wo immer sie die Geschehnisse direkt oder indirekt betreffen – abgeschrieben und ungekürzt wiedergegeben. Die Originale liegen bei.
Tatsächlich entdeckte ich in derselben Schublade eine zweite Mappe, welche ein altes Tagebuch sowie ein kleines Bündel Briefe enthielt. Nun war ich vollends neugierig geworden und begann zu lesen, zuerst noch etwas zäh, da ich mich an die altertümliche Handschrift gewöhnen musste, doch schon nach zwei, drei Seiten in zügigerem Tempo.
Ich blieb an diesem Abend noch mehrere Stunden in meinem Büro sitzen und las. Zuerst auf dem Fußboden vor der offenen Metalllade, später auf dem einzigen Stuhl im Raum, und als der Hahn des nahen Glockenturms zwei Uhr morgens krähte, sammelte ich den Packen Papier zusammen, eilte nach Hause und las dort bis fünf Uhr früh weiter, bevor mich die Geschichte völlig ermattet aus ihrem Bann entließ.
Der Inhalt des Dokuments war derart abstrus und seine Autorin zugleich so erpicht darauf, es als Aufzeichnung wahrer Geschehnisse verstanden zu wissen, dass ich den nächsten Tag, Sonntag, mit der Überprüfung der Briefe und des Tagebuchs – sie machten mir einen echten Eindruck – sowie der erneuten Lektüre des Manuskripts zubrachte. Dieses Mal schrieb ich mir Namen und Orte heraus, die ich auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen wollte.
Ich kann nicht erklären, welcher Teufel mich ritt (die Versicherung eines Schriftstellers respektive von dessen Erzähler, dass seine Aufzeichnungen ein Protokoll realer Geschehnisse und keine Fiktion sind, ist ein in der Literaturgeschichte hinlänglich bekannter Kniff), doch ich hatte das Bedürfnis, die Vorkommnisse entweder zu verorten, oder sie unmissverständlich ins Reich der Fiktion zu verbannen.
Ein inneres Gefühl hatte es mir bereits gesagt: Meine Nachforschungen der folgenden Tage erhärteten sämtliche Fakten, die ich dem Bericht entnehmen konnte. Es deutet somit alles darauf hin, dass er tatsächliche Geschehnisse wiedergibt. Ob sich diese im Detail wie beschrieben zugetragen haben, lässt sich nicht feststellen, doch es besteht kein Zweifel, dass die darin erwähnten Personen existiert haben und die Ortschaften real sind. Einzig das alte Hotel im Berner Oberland steht nicht mehr: ‹Bel Veder›. Es brannte 1970 vollkommen nieder; die letzte Besitzerin kam dabei ums Leben. Bei den Aufräumarbeiten fand man ihre Überreste – sowie die nicht identifizierten Skelette von vier weiteren Menschen, die offenbar schon seit Jahrzehnten in einem Kellerraum gelegen hatten.
Wie sich die Ereignisse im Jahre 1946 tatsächlich zugetragen haben, ob man dem Bericht Glauben schenken will, muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich meinerseits habe genügend Beweise gefunden und glaube, dass es sich so abgespielt hat wie beschrieben. Ich habe lange gezögert, bin jedoch zum Schluss gekommen, an dieser Stelle auch den Vorfall zu erwähnen, der mich zwar erschüttert, in meiner Überzeugung jedoch bestätigt hat.
Es war vor einigen Tagen. Ich saß zu später Stunde über der letzten korrigierten Fassung dieses Berichts, als mein Blick zum Gartenfenster wanderte, und ich meinte, mein Herz müsse stehen bleiben. Hinter der Scheibe starrte mich ein alter bärtiger Mann an. Sein Gesicht im Schein meiner Arbeitslampe war hager und bleich, sein Blick stechend. Ich war wie gelähmt, wusste nicht, wie lange er schon dort gestanden hatte. Wir sahen einander stumm an. Dann drehte er sich um und verschwand. Als ich mich endlich wieder rühren konnte und zum Fenster lief, lag der Garten verlassen da.
Ein Obdachloser, der zufällig über das Grundstück streunte? Ein verwirrter Mann, der aus einem Heim entflohen war? Vielleicht – die Stadt ist voll von eigentümlichen Gestalten … Ich meine jedoch, es war ein anderer Besucher. Aber auch das überlasse ich Ihnen.
Noch etwas. Dies ist keine Gutenachtgeschichte.
Der Herausgeber, Bern 26. Oktober 2017
Erster Teil:
Heimkehr
1. Finsteralp
Mit einem lauten Knacken zerbrach die alte Scheibe unter ihren Knöcheln, das Klirren des berstenden Glases zerschnitt die Stille mit messerscharfen Kanten. Erschrocken zog Eleanor ihre Hand zurück. Sie sah auf ihre Fingerrücken, wo sich mehrere weiße Schnitte rot verfärbten und Bluttropfen bildeten, bevor sie einen raschen Schritt weg von der Tür machte. Wie ein lautloser Seufzer schlug ihr aus dem Loch abgestandene Luft entgegen; das alte Hotel schien widerwillig zu erwachen. Sie hatte die Totenruhe dieses Ortes gestört, fuhr es Eleanor durch den Kopf, als sie einen weiteren Schritt nach hinten machte. Durch den plötzlichen Lärm hatte sich die Atmosphäre verändert, die wieder eingekehrte Stille schien ihr auf einmal feindlich, bedrohlich.
Das Gebäude war ihr schon aus der Distanz kalt und verlassen erschienen, die Stille des Ortes abweisend. Es dämmerte bereits. Mit klopfendem Herzen tastete sich Eleanor die breiten, von Unkraut überwucherten Steinstufen hinab, ohne dabei die mit Glaszacken bewehrte Öffnung in der Tür aus den Augen zu lassen. Als sie endlich Kies unter ihren Schuhen spürte, musste sie sich zwingen, nicht loszulaufen. Stattdessen wandte sie sich langsam ab und war im Begriff, ihre Schritte zu beschleunigen, als sie hinter sich ein Geräusch hörte. Eleanor erstarrte und hielt den Atem an. Kurz war es still, dann wurde im Innern des Hotels ein Riegel geschoben, es knirschte, und die Tür ächzte in ihren Angeln. Eleanor fuhr herum, und ihre Haare stellten sich auf.
Der unversehrte Türflügel hatte sich geöffnet. Der Drang, zu fliehen und so viel Distanz wie möglich zwischen sich und das Hotel zu bringen, übermannte sie beinahe. Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen, gestand sie sich nun endgültig ein. Trotzdem blieb sie stehen, zwang sich, den Moment auszuhalten. Sie blinzelte und meinte, im Halbdunkel des Gebäudeinneren einen Schemen zu erkennen. Dann löste sich eine Gestalt aus den Schatten und trat ins graue Licht des zu Ende gehenden Tages. Eleanor sog scharf Luft ein und schlug die Hände vor den Mund.
«Daddy?», flüsterte sie, als ihr toter Vater auf sie zutrat.
Bis zu diesem Moment hatte Eleanor das Hotel für so verlassen gehalten wie den Wald, in dem sich Violet offenbar immer noch befand. Es musste beinahe eine Stunde her sein, seit sie als einzige Passagiere aus der Bahn gestiegen waren, welche sie vom Tal hier hochgebracht hatte. «Endstation», hatte der Fahrer in seinem eigenwilligen lokalen Idiom verkündet, als er ihre von außen verschlossene Wagentüre öffnete. Violet war sofort aus dem Zug geklettert und hatte angefangen, sich in der neuen Umgebung umzusehen. Als Eleanor ihr zögerlich folgte und in das Schotterbett hinabstieg, blies ihr ein unerwartet kalter Wind entgegen. Sie machte ein paar zaghafte Schritte auf das winzige Bahnhofsgebäude zu und stieß einen spitzen Schrei aus, als der Fahrer ihr Gepäck, eine voluminöse Stofftasche, neben ihr auf den Boden plumpsen ließ. Als sie sich ihrer Manieren besonnen hatte, war der Mann bereits um die Ecke des Zuges verschwunden, und ihr gemurmeltes «Danke» wurde von einer Böe fortgetragen.
Sie drehte sich um und sah Violet neugierig den Bahnhof inspizieren. Ein Holzschild, dessen Buchstaben der Witterung zum Opfer gefallen waren, wies auf den einzigen erkennbaren Pfad, der hinter dem Stationsgebäude über eine sanft ansteigende Wiese führte und zwischen dunklen Tannen verschwand. Der Himmel war überzogen, das Licht des späten Nachmittags grau, und der Weg in den Wald ein schwarzes Loch. Noch konnten sie umkehren und mit der Bahn in das Bergdorf hinunterfahren, in dem sie auf halber Strecke angehalten hatten und wo alle anderen Passagiere ausgestiegen waren, nicht ohne ihnen misstrauische, ja zum Teil feindselige Blicke zuzuwerfen. Sie könnten morgen früh wiederkommen, bei Tageslicht und bestimmt freundlicherem Wetter, überlegte Eleanor. Doch gerade als sie den Entschluss gefasst hatte, Violet zum Zurückfahren zu überreden, hörte sie, wie sich der Zug hinter ihr in Bewegung setzte, und als sie sich umsah, war er bereits vom Bahnhofsgebäude weggefahren und hatte Fahrt aufgenommen.
«Nein», flüsterte Eleanor, und die Angst legte sich wie eine kalte Hand um ihren Hals. Sie fühlte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, wischte sich mit dem Ärmel ungeduldig darüber und wandte sich wieder um. Violet schlenderte scheinbar völlig sorglos um den Bahnhof herum und verschwand um die Ecke. Rasch nahm Eleanor ihre Tasche auf und folgte ihr.
Als sie die Wiese erreichte, sah sie Violet bereits am oberen Ende des Weges stehen, genau dort, wo dieser in die Schatten des Waldes überging. Eleanor schluckte, presste die Lippen fest aufeinander und marschierte los.
«Warte!», rief sie Violet hinterher. Diese blickte über ihre Schulter und bedeutete ihr, sich zu beeilen.
Wenigstens haben wir einander, dachte Eleanor.
Das Innere des Waldes war weniger düster, als sie es erwartet und es von außen den Anschein gemacht hatte. Die Bäume standen nicht so dicht, ließen Raum für kleine Lichtungen. Eleanor fiel das Fehlen jener Laubbäume auf, die sie aus ihrer Heimat kannte. Die Tannen, die den größten Teil des Waldes ausmachten, waren ihr zwar vertraut, doch dazwischen standen einzelne Exemplare einer anderen Gattung, deren Nadeln sich gelb verfärbt hatten. Trotz des grauen Wetters verliehen diese Bäume ihrer Umgebung einen goldenen Schimmer.
Nach ein paar Dutzend Metern zweigte ein schmaler Pfad vom Hauptweg ab und verlor sich zwischen den Büschen. Violet ging daran vorbei, und während Eleanor ihr folgte, sah sie sich mehrmals vergeblich nach einem Wegweiser um. Sie hoffte, dass sie richtig gingen und sich nicht verlaufen würden. So viel Natur waren sie nicht gewohnt.
Sie gelangten an eine steile Böschung, an welcher der Weg quer nach oben verlief und von einem Holzgeländer gesichert wurde. Auf halber Höhe machte er einen scharfen Knick und führte in entgegengesetzter Richtung weiter. Violet schien den Anstieg mühelos zu meistern, während Eleanor ihr keuchend folgte. Die Erhebung im Terrain erlaubte ihr indes einen Blick über die niedrigeren Bäume und Sträucher hinweg tiefer in den Wald. In der Ferne, ungefähr an der Stelle, wo der kleine Seitenweg abgezweigt war, tauchte zwischen den Büschen etwas auf, das Eleanor im ersten Moment für ein Tier hielt, sich gleich darauf aber als starres, steinernes Gebilde entpuppte. Eine Skulptur? Sie kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen, konnte jedoch nur die vage Form eines Körpers erkennen. Was hatte diese mitten im Wald zu suchen?
Violet war bereits oben angekommen, und Eleanor beeilte sich aufzuschließen. Am Ende des Hanges ging der Boden abrupt in einen ebenen Teil über. Hier stand eine ganze Gruppe der hübschen gelben Bäume, und Eleanor stellte staunend fest, dass diese ihre Nadeln fallen ließen, als sie mit ihrer freien Hand einem Ast entlangstrich. Dahinter verlor sich der Weg mäandernd zwischen dem Buschwerk, und die Tatsache, dass sich hier gleich mehrere Seitenpfade auftaten, bestätigte Eleanor in der Vermutung, dass sie sich in einer Art Lustwäldchen befanden, einem Ort, der die Hotelgäste einst wohl zum Entdecken und Flanieren eingeladen hatte.
Als sich Eleanor von dem Baum abwandte, sah sie, dass Violet ein paar Meter weiter vorne dabei war, den Hauptpfad zu verlassen und einen der bekiesten Nebenwege einzuschlagen. Der Wald dort sah freundlicher aus, als ob die Sonne ihn erhellte. Es hatte grüne Büsche und weitere Gelbnadelbäume, wie sie Eleanor innerlich bereits nannte, und sie verspürte auf einmal den Wunsch, ebenfalls einen kurzen Abstecher zu machen und diese eigenartigen Waldwege zu erkunden. Sie stellte die schwere Tasche ab und folgte ihrer Zwillingsschwester.
Nur etwa eine Viertelstunde später hatte sich ihre Stimmung ebenso verfinstert wie der Wald um sie herum. Wütend beschloss sie, auf den Hauptweg zurückzukehren. Sollte Violet doch zusehen, wo sie blieb!
Eleanor hatte sie in dem Augenblick verloren, als sie dem grässlichen Ungetüm von Elefanten in die leblosen Steinaugen geblickt hatte. Als sie sich endlich hatte losreißen können und sich umgedreht hatte, war Violet zwischen den Bäumen verschwunden gewesen. Nervös hatte Eleanor nach ihr gerufen, war um das steinerne Untier herumgelaufen und hatte in die verworrenen Fluchten des Waldes geblickt, ohne die vertraute Gestalt zu entdecken. Violet hatte nicht auf ihr Rufen reagiert, und Eleanor konnte sie auf keinem der näheren von Unkraut überwucherten Kieswege entdecken, die sich zwischen weiteren ominösen Steinskulpturen, Gruppen von Tannen und gelben Bäumen verloren.
Als sie sich wieder der Stelle näherte, an der sie ihre Tasche abgestellt hatte, hüpfte ihr Herz, als sie dort jemanden hinter den Baumsilhouetten vorbeigehen sah, und sie wollte gerade den Namen ihrer Schwester rufen, als sie realisierte, dass sie es nicht sein konnte – Violet trug ein helles, geblümtes Kleid, während die fremde Person dunkel angezogen war. Eleanor blieb stehen und beobachtete, wie die Gestalt – eine Frau, wie sie an der Kleidung erkannte – rasch den Pfad entlang schritt und den Hang hinunter Richtung Bahnstation verschwand.
Der Anblick eines anderen Menschen in diesem Wald beunruhigte und tröstete Eleanor gleichermaßen, doch sie wartete ein, zwei Minuten, bis sie sich wieder in Bewegung setzte.
Es war typisch für Violet, sie in einem solchen Moment im Stich zu lassen, dachte Eleanor; immer, wenn es darauf ankam, war sie auf sich alleine gestellt. Violet hatte ein beeindruckendes Mundwerk, wenn es um das Schmieden von Plänen ging, seien sie noch so verrückt. Natürlich steckte auch sie hinter der Idee für diese Irrfahrt. Niemals hätte Eleanor die Reise selbst initiiert, geschweige denn alleine angetreten. Ihre Schwester war so selbständig wie eigensinnig – das pure Gegenteil von Eleanor, wie die Leute gerne betonten.
Ein plötzlicher Wind fuhr durch das Dickicht, und sie fröstelte. Sie zog das graue Wolljäckchen enger um ihren Oberkörper und fühlte sich in diesem abgeschiedenen Waldstück in den Bergen klein und verloren. Wie zum Trotz beschleunigte sie ihre Schritte und wischte sich energisch über die Augen, aus denen schon wieder Tränen hervorzuquellen drohten. Ihre Tasche schwang hin und her, als sie dem Pfad folgte und den melancholisch herunterhängenden Ästen der mächtigen Koniferen auswich. Das bange Gefühl, das sie seit ihrer Abreise von zu Hause begleitete – manchmal nur ein Kitzeln im Bauch, beinahe angenehm, bisweilen aber auch eine Pranke, die ihre Brust schmerzhaft umschloss – und das sie so noch nie erfahren hatte, weil es in ihrem Leben bislang keinen Anlass dafür gegeben hatte – Heimweh! –, bemächtigte sich ihrer. Die Bilder, die vor ihrem inneren Auge auftauchten, konnte sie mit ihren schmalen, blassen Knöcheln nicht einfach wegwischen.
Sie dachte an Baltimore zurück, sah die von rußigem Backsteinrot und neuen Fassaden aus Stahl und Glas gesäumten Strassen, die sich in den letzten Jahren mit immer mehr Automobilen gefüllt hatten, die elegant gekleideten Geschäftsmänner, die über die breiten Gehsteige hasteten, von wichtigem Termin zu wichtigem Termin, die sirrende Hektik in den Häuserschluchten, die prächtig illuminierten Kaufhäuser und die schwindelerregend hohen Bürohäuser der City – kurz, das irrlichternde Panoptikum einer Großstadt im Aufbruch.
Seit sie in ihrem eigenen Apartment in der Innenstadt wohnte, dem Vorstadtmief ihres Elternhauses endlich entflohen – mein Gott, sie war schon vierunddreißig, und doch, nun vermisste sie auch ihr Elternhaus, ihre Mutter, die nach Schmierseife duftende Küche, ihr gemütliches Zimmer unter dem Dach, in dem sie 33 Jahre lang geschlafen und geträumt, gelitten und gelebt hatte –, hatte sie es ihrer Schwester gleichgetan und war Teil dieses glamourösen Stadtlebens geworden. Ein kleines, fein geschliffenes Rädchen, so sah sie sich, das seine Aufgabe effizient erledigte, eine Sekretärin im Dienste eines größeren Ganzen, hübsch gekleidet, gewissenhaft und höchst motiviert ihr wunderbares Land einer noch glanzvolleren Zukunft entgegenführend. Es ging aufwärts, man spürte es überall. Der Krieg war vorbei, und er war gewonnen, dank ihrem Land, das einen so heldenhaften Part in der ganzen schrecklichen Angelegenheit gespielt hatte. Und die Jahre zuvor, als die Wirtschaft ihres Landes ihre schwärzesten Jahre durchlitten hatte, vorbei nun, weggefegt in den stürmischen Zeiten, welche die Welt neu geformt hatten, und weggearbeitet durch den steten Fleiß und die Innovationskraft ihres Volkes.
Und hier war sie also, fern von dieser vertrauten, wohlwollenden Heimat, im Herzen des alten Kontinents, im Land ihres Vaters, eindrücklich in der Tiefe seiner Geschichte, doch dem Fortschritt Amerikas, wie es ihr schien, meilenweit hinterherhinkend. Sie und Violet hatten den Weg ihres Vaters zurückverfolgt, über den Atlantik in fünf Tagen, und wie eine Drohung stets die schwarzweißen Bilder von Unglücksfahrten und ausgebrannten Schiffskörpern vor Eleanors innerem Auge. Während sich Violet wer weiß wo, wie und mit wem amüsierte – die erste Klasse machte ihren Passagieren den Seetransfer zur verschwenderischen Vergnügungsfahrt, und Eleanor wurde das Gefühl nicht los, dass mit der ‹Queen Elizabeth› ein Stück der Stadt New York losgebrochen war und sich tanzend und glitzernd der Alten Welt näherte –, klammerte sich Eleanor an die Reling, als ob es das letzte Stück Realität wäre, und blickte abwechselnd bug- und heckwärts auf der Suche nach Land. Wenn Besatzungsmitglieder sie ansprachen, ihr Hilfe anboten, errötete sie und schüttelte den Kopf. Selbst der Schiffsarzt suchte sie einmal auf, um ihr die Angst zu nehmen und die Vorzüge der warmen Schiffssalons mit ihren Zerstreuungsmöglichkeiten zu preisen, doch vergebens. Nur als der Kapitän höchstpersönlich vorbeikam und sie am Arm zum Nachtessen an den ‹Captain’s Table› führte, ließ sie es geschehen, trank zwei Gläser Wein mit der illustren Gesellschaft aus Herren und Damen der feinen Klassen Amerikas und Europas und unterhielt sich sogar mit einer älteren New Yorkerin, die zu ihrem Sohn nach London reiste und Baltimore kannte, da ihr mittlerweile verstorbener Ehemann dort längere Zeit gearbeitet und sie mit ihm zwölf Jahre lang in der Stadt gewohnt hatte. Das Gespräch spann sich für Eleanor zu einem Band in die verlassene Heimat, die ihr hier so nichtig und fern schien, holte, wenn auch nur für kurze Zeit, die Realität ihres richtigen Lebens in die unwirkliche Welt des Dampfers, der irgendwo im Niemandsland zwischen Zuhause und Ferne festgefroren zu sein schien.
Während des Banketts sah sie sich immer wieder verstohlen nach Violet um, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Erst spätabends, zurück in ihrer Kabine, schwärmte ihre Zwillingsschwester von ihrem in jederlei Hinsicht spannenden Tag und schalt sie für ihre Zurückhaltung am ‹Captain’s Table›. Eine solche Gelegenheit dürfe man nicht an sich vorüberziehen lassen, ohne diesen oder jenen interessanten Kontakt zu knüpfen, gerade wenn unverheiratete Männer am Tisch saßen oder solche, deren Ehefrauen im Heimathafen warteten. Sie lachte, als Eleanor entrüstet den Mund öffnete, und behauptete, dies sei ‹Terra Franca› oder treffender ‹Aqua Franca›, da gälten andere Regeln. «Du weißt nicht, was dir entgeht», höhnte sie, als sich Eleanor abwandte, das Laken eng um ihren Körper geschlungen, wie um sich vor den Argumenten der anderen zu schützen, und das Licht löschte.
Der Wald fand ein jähes Ende, und weil Eleanors Wut auf ihre Schwester ihre Schritte beschleunigt hatte und sie ihren Blick auf den vom Zwielicht nur noch tückisch gezeichneten Weg gerichtet halten musste, blieb sie abrupt stehen, als sie aufschaute. Sie ließ ihre Tasche zu Boden fallen und starrte mit offenem Mund: Am anderen Ende einer erst sanft, dann immer steiler ansteigenden und von einzelnen Felsbrocken durchzogenen Wiese thronte das Hotel.
Ein Schloss! Das war ihr erster Gedanke, als ihr Auge vom Ende des Hanges die Fassade emporkletterte. Über dem Eingangsgeschoss, das sie von ihrer Warte aus nur zum Teil sehen konnte, türmten sich Reihe um Reihe unzählige Fenster, ein paar wenige offen, der Großteil hinter Holzläden verborgen. Dazwischen gab es tiefe Nischen und Ecken, vorspringende Säulen und Geländer, Balkone, von denen geheimnisvolle Türen führten, und über allem ein von weiteren Fenstern durchsetztes, steiles Dach, das sich an einer Seite zu einem runden, wie von Winden geschliffenen Turm wölbte. Im ersten Augenblick schien ihr das Gebäude ein märchenhafter, alten Büchern entstiegener Palast zu sein, wie es da so majestätisch in der Landschaft saß, doch schon auf den zweiten Blick weckte das Gebäude Erinnerungen an die ehemals mächtigen Herrenhäuser in Baltimore, von denen heute so manches hinter hohen Eisenzäunen und alten Bäumen verlotterte. Das Hotel hatte eine Haut aus Schindeln, die an vielen Stellen hässliche Löcher aufwies. Dazwischen waren Scheiben zerborsten und Fensterläden hingen schief oder fehlten komplett. Einer der Balkone schien keinen Boden mehr zu haben, bei einem anderen fehlte das Geländer. Neben dem pompösen Bau schob sich ein zweites, etwas unauffälligeres Gebäude hervor, doch hier wie dort fehlte jegliches Anzeichen menschlicher Präsenz, nirgends brannte Licht. Die ganze Anlage machte einen traurigen, verlassenen Eindruck.
Besorgt sah Eleanor in den Wald zurück. Wenn sich Violet nur etwas beeilen würde, sodass sie sich diesem gewaltigen, düsteren Komplex nicht allein zu nähern brauchte! Sie war versucht, erneut nach ihrer Schwester zu rufen, traute sich dann in so unmittelbarer Nähe des Hotels aber doch nicht. Sie wartete ein paar Minuten, in denen das Licht zusehends schwand, bevor sie ihr Gepäck seufzend ergriff und sich an das letzte Stück des Weges machte, der in einem weiten Bogen über die Wiese führte. Dabei hielt sie immer wieder inne und blickte zu dem Hotel hoch, in der Hoffnung, irgendwo möge ein Licht angehen.
Oben angekommen, blieb sie stehen und wartete, bis sich ihre Atmung von der Anstrengung erholt hatte. Dabei sah sie sich erneut nach ihrer Zwillingsschwester um, doch das offene Gelände zwischen ihr und dem Wald lag verlassen da. Nur die Schatten der einbrechenden Nacht krochen langsam aus dem Unterholz und folgten ihr. Rasch wandte sie sich wieder dem Hotel zu, dessen Fassade sich nun über sie zu beugen schien. Noch immer war nirgends ein Lebenszeichen auszumachen, und Eleanor betete innerlich, dass sich der Notar nicht getäuscht hatte.
Sie musste sich einen Ruck geben, bevor sie zu der halbrunden Steintreppe hinüberging. Sie stellte ihre Tasche ab, schritt zögerlich die Stufen hinauf und blieb vor der großen, in der oberen Hälfte mit Glaspaneelen versehenen Eingangstür stehen. Sie suchte nach einer Klingel, einem Glockenzug oder einem Klopfer, konnte jedoch nichts entdecken. Mit den Händen das fahle Licht abschirmend versuchte sie, durch das Glas ins Innere zu blicken. Der alte Schmutz auf den Scheiben sowie die Dunkelheit dahinter verunmöglichten jedoch, dass sie irgendwas erkennen konnte.
Ob sie einfach eintreten sollte? Nein, zuerst würde sie es mit Höflichkeit versuchen. Sie pochte behutsam gegen eine der Glasscheiben, doch es war, als ob das Hotel den Klang verschluckte.
Wenn du gehört werden willst, schalt eine innere Stimme, musst du dich schon richtig bemerkbar machen.
Sie klopfte kräftiger, und das Glas zerbrach unter ihren Knöcheln.
Wie versteinert stand Eleanor vor der Gestalt, die aus dem Gebäudeinnern getreten war, und wiederholte noch einmal heiser: «Daddy?»
Ihr Gegenüber hatte im Türrahmen innegehalten, stützte sich mit einer Hand gegen das Holz und starrte sie an. Ihr Herz hatte, so schien es ihr, einen Augenblick aufgehört zu schlagen, bloß um nun mit doppelter Kraft in ihrer Brust zu hämmern. Zugleich setzte ihr rationales Denken wieder ein und versicherte ihr, dass dies nicht ihr Daddy war, nicht sein konnte, denn ihr Vater war vor 30 Jahren gestorben und wäre, sollte er tatsächlich noch leben, jetzt ein alter Mann. Der Fremde schien hingegen nur einige Jahre älter als sie selbst zu sein, und nun, da er in das welkende Tageslicht getreten war, sah sie deutlich, dass er ihrem Vater zwar glich, sich diese Ähnlichkeit jedoch auf die groben Züge beschränkte: das dunkelblonde, kräftige Haar (er trug es länger als ihr Vater), die gerade geschnittene, etwas breite Nase sowie das markante Kinn.
Einen schrecklichen, zugleich aber auch freudigen Moment lang hatte sie wirklich geglaubt, der Mann in der Tür sei den vergilbten Fotografien entstiegen, die ihre Mutter in einer nach Mottenkugeln riechenden und mit geblümtem Papier eingefassten Schachtel aufbewahrte und die sich die kleine Eleanor zusammen mit ihrer Schwester nur an ganz besonderen Tagen und nur gemeinsam mit der Mutter hatte ansehen dürfen. Doch im Gegensatz zu ihrem Vater, von dem Eleanor nur wenige Erinnerungen geblieben waren, von denen sie nicht einmal wusste, ob es echte waren oder Bilder, die sie sich aus den Erzählungen ihrer Mutter zusammengeschustert hatte, war der Fremde vor ihr aus Fleisch und Blut.
Aus meinem eigenen Fleisch und Blut, schoss es ihr durch den Kopf, und sie wurde sich der merkwürdigen Situation gewahr, in der sie sich befanden, einander anstarrend, ohne dass jemand etwas sagte, und sie besann sich auf ihren Anstand. Sie senkte ihren Kopf und brach somit den Blickkontakt, hustete verlegen und zwang sich, wieder eine Stufe zu erklimmen, sodass sie ihm die Hand entgegenstrecken konnte. Er ergriff sie nach kurzem Zögern. Sein Händedruck war warm, etwas feucht, doch irgendwie freundlich.
«Eleanor Dumont», stellte sie sich vor, und der andere drückte ihre Hand wie zur Bestätigung. Sie meinte zu sehen, wie seine Pupillen sich weiteten, seine Augen sich misstrauisch verengten, doch dann erhellte ein warmes Lächeln die Züge des Fremden, der ihr zugleich doch so vertraut erschien.
«Es freut mich außerordentlich, Eleanor», sagte er, immer noch ihre Hand haltend. «Ich bin Victor … Victor Dumont.»
Eleanor versuchte dem Händedruck mit Festigkeit zu begegnen.
«Willkommen im Hotel ‹Bel Veder›», sagte Victor auf Deutsch, und ganz plötzlich hatte die Situation etwas Feierliches. Wie sie dastanden in dieser fremden Bergwelt, zwei Gleichnamige, an der Schwelle zu etwas Neuem, und in Eleanors Innerem tat sich ganz kurz etwas auf, gab den Blick frei auf Grosses, Vergangenes, in dem der Name ‹Bel Veder› wie in einem enormen Gewölbe nachhallte.
Victor ließ ihre Hand los, und der Augenblick war vorbei. Er sah sie weiterhin an, das Schweigen zwischen ihnen war mit Spannung aufgeladen, bevor einer das Offensichtliche mit Worten festmachte.
Eleanor räusperte sich, nicht sicher, was sie von ihrem Namensvetter halten sollte, der zu schmunzeln begonnen hatte, hob zögerlich die Hände und ließ sie gleich wieder an ihre Seite zurückfallen, wo sie sich wie zwei ängstliche Kinder an ihrem Mantel festklammerten.
«Wir sind verwandt», brachte sie schließlich mit leiser Stimme und einem schiefen Lächeln hervor.
«Sieht ganz so aus», erwiderte Victor und begann laut zu lachen.
Sie blickte ihn bestürzt an, bevor sie zögerlich mit einstimmte, und im nächsten Moment wurde sie gepackt und fand sich in einer festen Umarmung mit ihrem neugefundenen Verwandten wieder. Sofort versteifte sie sich, schob ihre Schultern schützend nach vorne, damit der Körperkontakt zu dem Fremden – ihrem Cousin, tadelte sie sich selbst – ziemlich blieb. Sie fand sein Benehmen reichlich rüpelhaft, wollte gerade protestieren, als er sie schon wieder losgelassen hatte und strahlend ansah.
«Sind Sie alleine von der Bahnstation hochgekommen?»
Eleanor fühlte, wie das Blut ihr ins Gesicht schoss. Rasch wandte sie sich ab und tat, als suche sie den Weg nach jemandem ab. Violets Nichterscheinen war ihr äußerst peinlich.
«Sie ist noch im Wald», nuschelte sie und deutete vage auf die düstere Wand, die der Forst am Ende der Wiese bildete.
«Na dann kommt sie bestimmt auch gleich», antwortete Victor, und Eleanor nickte.
«Unsere Cousine aus Deutschland ist übrigens gestern eingetroffen.»
Noch jemand, den ich kennenlernen muss, dachte Eleanor und war zugleich froh, dass der Ort nicht so einsam war, wie es den Anschein gemacht hatte.
«Sollen wir nicht reingehen? Es ist ziemlich kühl.» Victor nahm sie beim Arm und zog sie sanft Richtung Tür.
«Mein Gepäck …»
«Oh, natürlich.» Er ließ sie los, eilte die Treppe runter und nahm ihre Tasche auf.
«Und nun», schnaufte er, während er die Stufen in drei großen Schritten nahm und Eleanor – die den Moment genutzt hatte, um unauffällig ein Taschentuch aus ihrer Rocktasche zu ziehen, es auf die feinen Schnitte auf ihren Fingerrücken zu drücken und sich dabei noch einmal nach ihrer Schwester umzusehen – mit der freien Hand durch die halboffenstehende Tür schob, «zeige ich Ihnen unser Hotel!»
«Das ist die Lobby», sagte ihr Cousin, ließ Eleanors Tasche auf einen dicken roten Teppich gleiten und machte eine ausladende Geste, den aufwirbelnden Staub um sich herum ignorierend.
Anstelle der völligen Dunkelheit, die sie im Gebäudeinnern erwartet hatte, war das Zwielicht hier nur minimal düsterer als draußen, und Eleanors Augen brauchten bloß wenige Sekunden, um sich daran zu gewöhnen. Durch die Scheiben in der Tür sowie die hohen Fenster zu beiden Seiten drang sterbendes Tageslicht in den Raum, legte sich wie ein Schleier über Wände, Böden und Mobiliar und wurde erst in der Tiefe des Raumes von den Schatten verschluckt.
Ihr Cousin sah sie erwartungsvoll an. Sie versuchte zu lächeln. Erwartete er, dass sie in Begeisterung ausbrach? Wieder vermisste sie die Anwesenheit ihrer Schwester, die bestimmt einen angemessenen Gesichtsausdruck aufgesetzt und ein paar kluge Fragen gestellt hätte. Violet schlug sich bei sozialen Begegnungen mit einer Nonchalance, die in Eleanor gleichermaßen Bewunderung wie Neid auslöste.
So ließ sie ihren Blick pflichtbewusst durch den hohen, von mehreren Säulen gestützten Raum gleiten, als eine Bewegung ihre Aufmerksamkeit weckte. An einer Wand ganz hinten im Raum schwebte ein helles Rechteck in der Dunkelheit. Als sie ihre Augen etwas zusammenkniff, um besser zu sehen, glaubte sie, ein Fenster zu erkennen und in dem Raum dahinter zwei Gestalten. Sie hielt den Atem an und trat instinktiv näher an ihren Cousin heran. Als auch die beiden Schemen zusammenrückten, begriff Eleanor ihren Irrtum. Der Spiegel hing über einem großen offenen Kamin und neigte sich leicht nach vorne, sodass sich darin ihre Widerbilder vor der helleren Eingangstüre abzeichneten.
Sie riss ihren Blick los. In der Ecke rechts der Feuerstelle konnte sie eine breite Treppe in die obere Etage verschwinden sehen. Weiter vorne machte sie eine geschlossene Tür aus, in deren beiden Flügel wie glänzende Fischaugen je ein kleines rundes Fenster eingelassen war, durch das, dachte sie, jemand sie in diesem Augenblick beobachten konnte. Gleich zu ihrer Rechten, neben dem Eingang, versammelte sich eine Gruppe Sofas und Sessel um einen weiteren Kamin, der zwar kleiner, aber so wie Eleanor es im fahlen Licht erkennen konnte, aus einem rötlichen Marmor gehauen und reich verziert war.
Immer noch suchte sie nach Worten, einer Freundlichkeit, die sie ihrem Cousin sagen konnte. Sie drehte sich zur anderen Seite. Rund um eine ornamentale Säule standen einige niedrige Samtsessel, dazwischen filigrane Blumenständer, von denen die knochenweißen Überreste verdorrter Pflanzen verloren in den Raum ragten und ihr in einem unmerklichen Luftzug zuzuwinken schienen, ihr heimliche Zeichen machten, die gähnende Öffnung, die sie in der Wand dahinter erblickte, zu durchschreiten und den in völlige Schwärze getauchten Nebenraum zu betreten – alleine. Eleanor erschauerte und drehte sich zu Victor um. Kurz erfasste sie ein Gefühl von Panik, als sie ihn nicht mehr neben sich stehen sah, doch da tauchte er auch schon hinter einer der Säulen wieder auf. Der weiche Teppich, der die Mitte der Halle bedeckte, hatte seine Schritte ebenso verschluckt, wie er ihre dämpfte, als sie eilig zu ihm aufschloss.
«Das ist die Rezeption», sagte er, als er eine Holztheke erreichte, die sich im hinteren linken Teil der Lobby befand. Er fuhr mit der Hand über die Oberfläche. Neben der Rezeption führte eine weitere mit Bullaugenfenstern ausgestattete Tür in die Tiefen des alten Hotels. Sie zwang sich, nicht nach einem Gesicht hinter den runden Gläsern zu suchen und sich stattdessen auf ihren Cousin zu konzentrieren. Dieser hatte ein Brett angehoben, das mit Scharnieren an der Theke befestigt war und als Absperrung diente, und schlüpfte hinter den Tresen.
Er beugte sich mit hochgezogenen Brauen und vornehm in die Luft gestreckter Nase, die Hände auf der Theke gespreizt, zu ihr hinüber und fragte mit spitzem Mund: «Welches Zimmer darf’s denn sein, Madame?»
«Zimmer?», kicherte Eleanor, froh, einer Meinungsbekundung vorerst entgangen zu sein.
«Natürlich! Sie befinden sich in einem wunderbaren Berghotel, das Ihnen über 80 Schlafräume zur Auswahl stellt. Wünschen Sie denn eher Süd- oder Gletschersicht? Herbstwälder oder ewiges Eis? Darf’s ein Einzel- oder ein Doppelzimmer sein?»
Victor richtete sich auf, bedeutete Eleanor wie ein Magier, der gleich einen besonders verblüffenden Trick darbieten würde, zu warten und klaubte einen Schlüssel mit klobigem Anhänger aus einem der Fächer, welche die Wand hinter ihm wie hölzerne Waben zierten.
«Wie wär’s mit der Turmsuite?», präsentierte er ihr den Schlüssel mit überschwänglicher Geste und ließ ihn verheißungsvoll über der Theke baumeln.
«Das», sagte eine klare, dunkle Frauenstimme vom Eingang her, bevor man eine Tür ins Schloss fallen hörte, «finde ich keine gute Idee.»
Eleanor fuhr herum. Vor dem Dämmerlicht, das durch die Fenster fiel, konnte sie lediglich eine graue Silhouette ausmachen, die gemessenen Schrittes durch den Raum auf sie zukam, sich eines Mantels entledigte, diesen über einen Sessel warf und schließlich eine Teppichlänge von Eleanor entfernt stehen blieb. Nur widerstrebend, so schien es, wichen die Schatten von der Gestalt, und als Eleanor sie endlich richtig sehen konnte, erkannte sie auch warum: Die Dame, die vor ihr stand, war komplett in Schwarz gekleidet. Es musste sich dabei um die Frau, die ihr im Wald begegnet war, handeln.
«Claire?», sagte Victor von seinem Platz hinter der Rezeption etwas atemlos.
«Je connais bien mon nom, chéri», antwortete sie und zwinkerte Eleanor verschwörerisch zu.
Was für eine Erscheinung, dachte diese bewundernd. Die Dame, die sie in ihrem anmutigen Auftreten ein bisschen an ihre Schwester Violet erinnerte, trug ihr schwarzes Haar zu einem Chignon hochgesteckt. Das glänzende, taftartige Gewebe des eng anliegenden und bis unter die Knie hochgeschlitzten Rocks spielte, als sie sich wieder in Bewegung setzte, um die Beine seiner Trägerin. Darüber zurrte ein Gurt die Bluse aus demselben Stoff zu einer Wespentaille, die durch die kecken Schulterpolster noch betont wurde. Schon von Weitem blitzten ihre schwarz umrandeten Augen katzenartig.
Selbstsicher und ohne jegliche Eile näherte sie sich und blieb dicht vor Eleanor stehen, ihr Blick erwartungsvoll und auch etwas streng.
«Willst du uns nicht vorstellen, Victor?», fragte sie ohne ihre Augen von Eleanor abzuwenden. Ein amüsiertes Lächeln umspielte ihre Lippen und tanzte hoch zu ihren Augen. Eleanor senkte ihre verlegen.
«Oh. Ja. Natürlich», beeilte sich dieser zu sagen, hob die Absperrung an und trat hinter dem Tresen hervor. «Das ist meine Cousine Eleanor aus Amerika. Sie ist soeben angereist – ihr müsst euch an der Bahnstation verpasst haben.»
Kurz, ganz kurz nur meinte Eleanor, dass es Claire die Sprache verschlagen hatte, dann murmelte diese jedoch mit einem ungläubigen Lächeln: «Mais, ce n’est pas vrai.»
Eleanor, die kein Französisch verstand, schloss, dass sich die Dame über ihre unerwartete Ankunft wunderte.
«Sie sind tatsächlich gekommen», fuhr Claire auf Deutsch fort und musterte dabei Eleanors Gesicht intensiv. Dann streckte sie plötzlich ganz förmlich ihre Hand aus, und Eleanor ergriff sie automatisch.
«Enchantée», sagte Claire, deren Händedruck warm und selbstsicher war. «Ich bin Claire Maurant – die Verlobte Ihres ehrenwerten Cousins.» Ihr Deutsch war von einem leichten französischen Akzent durchzogen.
«Es freut mich», haspelte Eleanor, immer noch verlegen, und war froh, als Claire ihre Hand wieder freigab.
«Eleanor», sagte Claire langsam, ließ die drei Silben auf ihrer Zunge zergehen. Und dann noch einmal, leiser, «Eleanor».
Die Angesprochene begann sich unter Claires bohrendem Blick zu winden und sah hilfesuchend zu Victor, doch dieser achtete nicht auf sie, sondern beobachtete seine Verlobte.
«Wir haben Sie ehrlich gesagt nicht erwartet», teilte Claire mit, und Eleanor erkannte leisen Tadel in ihrer Stimme. «Es wäre anständig gewesen, wenn Sie sich angemeldet hätten.»
«Oh, es war mir nicht bewusst … Ich habe diesen Brief bekommen und dachte, dass jemand … ich meine … Sie oder …» Sie deutete verlegen auf Victor.
«Keine Sorge», versicherte dieser, kam zu ihr und legte eine Hand auf ihren Rücken. Eleanor fühlte, wie ihr Körper erstarrte. «Wir hatten ja keinerlei Möglichkeit, im Vorfeld miteinander zu kommunizieren», fuhr er an seine Verlobte gewandt fort.
«Doch, über den Notar», beharrte Claire, bevor sie die Achseln hob. «Aber das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Sie sind hier, und nun machen wir das Beste daraus.»
Sie lächelte Eleanor an. «Als Erstes sollten wir Ihnen ein Zimmer suchen», sagte sie leise in die Hände klatschend und wandte sich der Rezeption zu.
Eleanors Puls beschleunigte sich. Bestimmt teilten sie ihr und ihrer Schwester eigene Zimmer zu, was Violet wahrscheinlich recht wäre, doch Eleanor wollte keinesfalls alleine schlafen.
«Ist es möglich, ein Doppelzimmer zu bekommen?» Die Frage schlüpfte wie etwas Verschrecktes aus ihrem Mund, das unter den Möbeln und Teppichen des Raumes Schutz suchte.
«Aber natürlich!», erwiderte Claire, die ebenso wie vor wenigen Minuten Victor vor dem Schlüsselregal stand und überlegte. «Leider fehlen bei einigen Zimmern die Schlüssel», sagte sie, den Rücken Eleanor zugewandt. «Die haben wir noch gar nicht gesehen. Bei anderen hat Victor Schäden festgestellt.» Sie wandte sich Eleanor zu: «Möchten Sie gerne ein Zimmer mit Bad, oder darf es auch eines sein, bei dem sich das Badezimmer auf der Etage befindet?»
Eleanor zögerte. Wäre es anmaßend, ein eigenes Bad zu wünschen? Wieso teilten sie ihr nicht einfach eines zu, sodass sie nicht zu entscheiden brauchte. Was würde Violet wollen?
«Du kannst ruhig eines der neueren Zimmer mit Bad nehmen», sagte Victor und trat an die Rezeption. «Wir haben uns für ältere Zimmer ohne Bad entschieden, aber nur, weil sie uns besser gefallen haben. Und das Etagenbad brauchen wir ja mit niemand anderem zu teilen.»
Eleanor spürte, wie die beiden sie ansahen und auf eine Antwort warteten. Violet würde ganz bestimmt ein eigenes Bad bevorzugen.
«Ich denke, ich werde dann ein neues Zimmer nehmen. Wenn das keine Umstände macht.»
«Aber nein», sagte Claire und lächelte sie an. «Chéri, du wirst deine Cousine doch auf ihr Zimmer begleiten, nicht wahr?»
«Natürlich. Es gibt ein paar hübsche Schlafzimmer im zweiten Stock, die ich bereits gelüftet und ein bisschen entstaubt habe.»
Claire nickte zufrieden.
«Und die Heizkörper», fuhr Victor fort, «sollten in den neuen Zimmern auch funktionieren – ich habe sie, wo ich konnte, bereits aktiviert und entlüftet.»
Noch einmal hob er das Brett an, trat hinter die Rezeption und nahm nach kurzem Überlegen drei Schlüssel aus ihren Fächern.
«Vergiss die Bett- und Frotteewäsche nicht», ermahnte ihn Claire, während sie auf die Treppe im hinteren Teil der Lobby zusteuerte, «ich sehe euch dann beim Abendessen.»
«A plus tard», antwortete Victor ihr, kam hinter der Theke hervor und ging an Eleanor vorbei auf die rechte Bullaugentüre zu.
«Müssen wir nicht auch nach oben?», fragte diese verwundert.
«Doch», antwortete er und stieß einen Flügel der Schwingtüren auf, «aber dein Zimmer ist im anderen Gebäude.»
2. Brief von Claire Maurant an Jerôme Maturin1
Finsteralp, Dienstag, 29. Oktober 1946
Lieber Jêrome
Letzte Nacht hatte ich wieder diesen merkwürdigen Traum. Du weißt schon, denjenigen, den ich kurz vor meiner Abreise zum ersten Mal träumte. Wie immer begann er damit, dass ich durch einen langen von Spinnweben verhangenen Korridor gehe. Ich komme an verschlossenen Türen vorbei und höre, wie sie sich hinter meinem Rücken öffnen. Ich wage nicht, mich umzuschauen, spüre aber, dass da jemand ist. Ich will schneller gehen, versuche, möglichst keinen Lärm zu machen. Der Korridor scheint mit jedem Mal länger zu werden. Zugleich weiß ich, dass ich seinem Ende immer näherkomme und dass mich dort etwas Schreckliches erwartet. Letzte Nacht meinte ich, in der Ferne einen rötlichen Schimmer auszumachen.
Kannst Du dir das Gefühl vorstellen? Du willst fliehen, weil Dich etwas verfolgt, doch der einzige Weg führt Dich an einen Ort, den Du um keinen Preis erreichen willst. Mein Traum ist eine klassische Tragödie, in der es für die Heldin keinen Ausweg gibt. Mein Schicksal ist vorherbestimmt, meine Geschichte geschrieben.
Ich höre Dich lachen, Jerôme!
Du weilst nicht seit fünf Tagen auf der Finsteralp, Dich plagt nicht seit fünf Tagen derselbe Traum. Du weißt, wie wenig ich auf Omen, Aberglauben und dergleichen gebe, aber wenn ich aus diesem Traum erwache, dauert es jedes Mal seine Zeit, bis ich wieder komplett in der Realität zurück bin. Wahrscheinlich ist diese verdammte Höhenluft schuld daran. Vielleicht macht mich auch bloß die Tatsache verrückt, in dieser gottverlassenen Gegend festzustecken. Kahle Felsen, Wälder und einsame Matten, soweit das Auge reicht. Als Stadtmensch muss man hier ja verkümmern.
Ich bin nur froh, dass das Hotel so hübsch ist und man sich darin einigermaßen wohlfühlen kann. Es ist freilich etwas in die Jahre gekommen, und es gibt einigen Erneuerungsbedarf. Auf der anderen Seite stößt man in jeder Ecke auf Kunstwerke und Antiquitäten, zum Teil ganz exotische Stücke. Victor meint, deren Wert sei beträchtlich. Wenn man so durch die Säle schreitet, kann man sich gut vorstellen, dass hier einst die Haute Volée aus Europa ein- und ausgegangen ist. Ein Bergpalast für die Reichen und Reisenden.
Jetzt, da der Krieg zu Ende ist, werden die Leute wieder Zeit haben und in die Alpen reisen. Davon ist auch Victor überzeugt. Du solltest ihn übrigens sehen – er ist vollkommen hingerissen von diesem Hotel. Ständig kommt er mit irgendwelchen Objekten und Büchern an, die er gefunden hat. Viele Räume sind verschlossen, und ich glaube, er verbringt die meiste Zeit damit, Schlüssel zu suchen und auszuprobieren. Er hat die alte Heizung wieder zum Laufen gebracht, ersetzt überall Glühbirnen, putzt und hat die kleine Küche im Erdgeschoss funktionstüchtig gemacht, damit er dort kochen kann. Die Hauptküche befindet sich einen Stock tiefer und ist gigantisch! Victor ist ganz fasziniert davon. Ich finde sie scheußlich – all diese alten Maschinen und weißen Kacheln, sie erinnern mich an einen Operationssaal. Oder eine Metzgerei.
Wenn Victor nicht gerade irgendwo in den Tiefen des alten Kastens zu Werke ist oder Bücher wälzt, beschäftigt er sich damit, die Umgebung zu erkunden. Einmal bin ich mitgegangen – Victor wollte mir eine Stelle zeigen, von der man eine noch bessere Aussicht als vom Hotel aus haben soll – und prompt hat es auf halbem Wege angefangen zu regnen. Wir haben sogleich kehrtgemacht, doch bis wir zu Hause ankamen, war ich bereits bis auf die Haut durchnässt. (Ist Dir aufgefallen, dass ich soeben ‹zu Hause› geschrieben habe?)