Henning Köhler

Schwierige Kinder
gibt es nicht

Plädoyer für eine Umwandlung
des pädagogischen Denkens

Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe

Statt eines Vorworts

Teil 1: Schwierige Kinder gibt es nicht

1. «Erziehung» – das Ende eines Großprojekts?

2. Von Psychodetektiven und pädagogischen Mechanikern

Intermezzo: Der kleine Angsthase. Oder: Ist Kay ‹gestört›?

3. Für eine Pädagogik des Herzens

4. Der «werterkennende Blick».Oder: Warum Eltern Eingeweihte sind

5. Erziehungskunst – was ist das?

6. Steht die Auslöschung der Kindheit bevor?

7. Die Zukunft der Kindheit und die Zukunft der Erde

Teil 2: Aphoristisches in Ausführung der Kindheitsidee. Erziehungskünstlerische Übungswege

1. Die Kindheitsidee als Kulturfaktor

2. Menschen oder Pflaumen?

3. Von der Selbstüberschätzung des Erziehers. Oder: Wie steht es mit der Bescheidenheit?

4. «Verstehende Bewahrheitung»: Schützen, Begleiten, Trösten, Heilen (die Achse)

5. Das Kind im Weltzusammenhang

6. Die «Pathologie des gemeisterten Lebens» und die Kraft des Staunens

7. Fähigkeitenkeime – der «poetische Weg»

8. Kein Kind ist böse

9. Hoffnung und Tragik. Oder: War Beethoven ein Fehlschlag?

Zum Schluss …

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Ich widme dieses Buch Hans Müller-Wiedemann.

Vorwort zur Neuausgabe

Als dieses Buch 1997 erstmals erschien, hätte wohl niemand – am wenigsten ich selbst – geglaubt, dass es sieben Auflagen erreichen würde. Anfangs war häufig zu hören, mit so etwas könnten vielleicht Liebhaber hochtrabender Essayistik etwas anfangen, nicht jedoch ratsuchende Eltern, Erzieher und Lehrer. Ein Satz machte die Runde: «Schwierige Kinder gibt es nicht, schwierige Bücher schon.» Ich fürchtete, einen Ladenhüter produziert zu haben. Doch die Sorge war unbegründet. Das Buch fand Anklang, sorgte für Diskussionsstoff, erhielt überwiegend positive Rezensionen (auch von nichtanthroposophischer Seite) und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Die Mainstream-Medien ignorierten es erwartungsgemäß. Dort feiert man Autoren wie Bernhard Bueb und Michael Winterhoff. Außerdem haben anthroposophisch orientierte Verlage von vornherein einen schweren Stand. Dies umso mehr mit Büchern gewollt unpopulären Charakters.

Natürlich bezog ich auch Prügel. Vor allem aus den eigenen Reihen kamen bitterböse Briefe. Sie richteten sich nicht nur gegen dieses Buch, sondern verdammten meine ganze Denkrichtung. Sogar öffentlich wurden vernichtende Anschuldigungen erhoben. Teilweise habe ich mir das selbst zuzuschreiben. Der Tonfall einiger meiner Publikationen ist, zugegeben, streckenweise unnötig provokant. Dennoch glaube ich eine gewisse Berechtigung reklamieren zu dürfen für den heiligen Zorn, der mich zuweilen überkam (und bis heute überkommt). Die allgemeine Verständnislosigkeit gegenüber unangepassten, «verhaltensoriginellen»* Kindern war und ist deprimierend. Auch in der Waldorfwelt. Das vorliegende Buch gehört zu denen aus meiner Feder, die eine Debatte darüber anstoßen sollten.

Mancherorts bildeten sich Lesekreise, die den Text, statt ihn wegen gewisser Schwierigkeitsgrade beiseite zu legen, von Anfang bis Ende durcharbeiteten. Genau das hatte ich beabsichtigt: keinen der üblichen Erziehungsratgeber zu schreiben, sondern ein Arbeitsbuch, welches sich erst bei gründlichem Studium erschließt. Im gesamten zweiten Teil geht es eigentlich nur noch darum, einen Übungsweg für Pädagogen zu skizzieren, der auch ein Übungsweg des Denkens ist.

Zu der Zeit, als das Buch entstand, legte ich großen Wert darauf, den «erweiterten Kunstbegriff» (Joseph Beuys) auf pädagogische Fragen anzuwenden, mehr noch: zu zeigen, dass die «Kindheitsidee» ihn einschließt und umgekehrt. Beuys befeuerte mich einst ungemein* und bedeutet mir bis heute viel. Mein Anliegen war und ist, den Archetypus des KINDES und das Urbild der Sozialen Plastik zusammenzuschauen. Trotzdem gehöre ich nicht zur engeren Beuys-Gemeinde, verspüre grundsätzlich keine Neigung, irgendeiner Weltanschauungsgemeinde beizutreten. Meine Lehrmeister sind die Kinder. Niemand kann sie mir ersetzen. Auch Steiner nicht.

Bedarf Letzteres einer Erläuterung? Wenn ich Anthroposoph bin, dann einer von der Sorte, die sich mit Vergnügen dem Risiko des Selberdenkens aussetzen. Steiner regt mich in besonderer Weise an, gewiss. Aber ich stehe nicht unter seiner Fuchtel. Wie soll man, frei nach Goethe, die Phänomene sich selbst aussprechen lassen, wenn einem immer schon jemand diktiert hat, was sie sagen werden?

Zwei verstorbenen Persönlichkeiten, beide Autoren dieses Verlags, verbinden sich in meinem Bewusstsein auf unterschiedliche Weise mit dem vorliegenden Buch: der Arzt und Heilpädagoge Hans Müller-Wiedemann und der Philosoph und Meditationslehrer Georg Kühlewind. Hans war mein großes Vorbild. Seinen Ansprüchen wollte ich genügen – und konnte es ihm nie sagen. (Daher die Widmung.) Georg gewann nach der Lektüre sofort den Eindruck, er und ich müssten in Verbindung treten, was dann 1999 auch geschah und dazu führte, dass sich eine enge Geistesfreundschaft zwischen uns entspann, die bis zu seinem Tod währte und darüber hinaus fortbesteht.

Eine neue Generation junger Eltern, Erzieher, Lehrer, Heilpädagogen etc. macht sich auf den Weg. Sie waren noch Kinder, als dieses Buch 1997 erstmals erschien, und mögen nun prüfen, ob es ihnen antiquiert oder zukunftstauglich erscheint. Inhaltlich habe ich keine Veränderungen vorzunehmen, würde jedoch heute einige Passagen anders schreiben: besonnener, leiser, unprätentiöser. Nun ja, man lernt dazu. Das ist gut so, hinterlässt aber auch eine leise Betrübnis. Mit der Illusion, die pädagogische Welt mal eben aus den Angeln heben zu können durch feurige Reden, lebte es sich ganz gut.

Frühjahr 2014

Henning Köhler

*Ich mag die Bezeichnung «verhaltensoriginell nicht besonders, aber sie ist immer noch besser als «verhaltensauffällig, denn wir können ja nicht im Ernst «Verhaltensunauffälligkeit» zum Ideal erheben.

*Das kommt vor allem zum Ausdruck in meinem philosophischen Buch Vom Ursprung der Sehnsucht.

Statt eines Vorworts

Gedicht über das Erschrecken

(an Jessica und andere)*

Der Hügel hinter dem Haus,

ich weiß es von dir,

ist der Kopf einer reglosen Riesin,

die vornüber hinfiel und traumfern

die Erde durchatmet

seither. Ihr Leib

ist in zahllosen Herbsten

zerfallen und

steigt und sinkt in den Birken.

Wind und Steine in ihrem Haar.

Du weißt, was sie träumt,

wir wissen es nicht. Du flüsterst

mit den Grillen,

dich führt der Salamander;

in Vollmondnächten

muss jemand bei dir sein, sonst

gehst du und kommst nicht zurück.

Drei Maschinenvögel

stürzen brüllend westwärts,

ins bewölkte Rot

des verdämmernden Tages,

drei heulende schwarze Geschosse

tauchen

in den Abendfarbentraum

über dem Wald,

wir sehen gelangweilt zu;

für das dreifache rasende Nichts

haben wir Namen und Gründe,

für deine Angst

nicht

und werfen einander, wir Lügner,

wissende Blicke zu.

Wer sieht noch gestrauchelte Riesen

am Rande der Straßen und kennt

ihre Träume. Ein Kind,

das sie kennt, presst die Fäuste

gegen die Schläfen und schreit:

du, aus deiner Andacht gerissen,

Grillenkind,

kennst keine Namen und Gründe

für das alltägliche Inferno;

der Atemgesang

deiner reglosen Riesin;

Salamanderkind,

das Wiegenlied, das ihr Leib war

und in den Birken steigt und sinkt,

ihr heimliches Trostlied

vom Blühen und Welken

verlässt dich; der Klang

ihres auf- und niederströmenden

Lebens – Grünklang:

Stille-Freude-Klang –

ist geronnen zum Augenscheingrün;

Ab-Bild nur noch, An-Blick, Gegenstand:

die winddurchflüsterte Anmut

der Gehölze, in denen

sie träumt.

Jetzt siehst auch du nur den Abglanz

und hörst nur den Nachhall der Dinge;

jetzt stehst auch du, in dieser Sekunde,

draußen

vor dem himmelhohen Spiegel,

willst fliehen, Salamanderkind,

eine andere Flucht als deine gewohnte,

weißt nicht wohin, Grillenkind, fällst,

und ich hebe dich auf,

was soll ich auch tun.

Wir erbarmen uns deiner

und wollen dir helfen,

ein Mensch zu werden;

das ist uns’re Lüge

für unerwünschte Gäste;

ich nenne dich heimlich Mensch-trotz-

allem: trotz allem was der Mensch

dem Menschen raubte; Zu-früh-

Mensch, Zu-spät-Mensch,

ich weiß nicht,

ich weiß nur: du bist heller,

als es der Spiegel ertrüge,

blicktest du länger als eine Sekunde

hinein; schön gegen alle Vernunft,

Mensch gegen alle Regeln des Maskenspiels;

in dieser Verletzlichkeit

sind wir nicht wohnhaft,

da werden wir zu kalten Gönnern

und zwingen dich in unser

Drachenblutbad.

*Ich betreute J. in einem Kinderheim. Sie geriet in furchtbare Panik, wenn Düsenflugzeuge über uns dahinrasten. Es waren Wesen für sie. Als ich das Gedicht für J. schrieb, war sie zwölf Jahre alt.

Teil 1
Schwierige Kinder gibt es nicht

1.«Erziehung» – das Ende eines Großprojekts?

Warum gibt es heute so viele ‹schwierige› Kinder? Was kann man tun? Liegt es an den Kindern? Liegt es an der falschen Erziehung? Oder an den Zeitverhältnissen? Eltern, Lehrer und Erzieher schwanken zwischen Selbstvorwürfen, wechselseitigen Schuldzuweisungen und Anklagen gegen gesellschaftliche Missstände. Die einen beklagen den Zerfall sittlicher Werte und wünschen sich frühere Zeiten zurück; andere sagen, man müsse endlich die alten ‹humanistischen› Wertmaßstäbe abschütteln, die im 20. Jahrhundert ihre Untauglichkeit hinlänglich bewiesen hätten. Die ‹Kulturrevolutionäre› der sechziger, siebziger Jahre seien im Grunde tief konservativ gewesen: Neuromantiker im Avantgardistengewand, vergeblich bemüht, die Mythen ‹Freiheit› und ‹Würde› gegen den unerbittlichen Vormarsch des homo oeconomicus zu verteidigen.

Eine rückwärts gerichtete, neokonservative Kulturkritik mit unüberhörbaren reaktionären Nebengeräuschen steht der postmodernen Alles-okay-(Fahr-)Lässigkeit gegenüber; jene will Zucht, Ordnung, Patriotismus, Pflichtbewusstsein und Ehre, kurzum: die sprichwörtlichen bürgerlichen Sekundärtugenden wieder in den Rang pädagogischer Leitmotive erheben; diese lässt es von sich abprallen, wenn ihr vorgehalten wird, sie erzeuge einen «neuen konformistischen Einheitstyp» (Horst-Eberhard Richter)* des geld-, mode-, medien- und sexappeal-besessenen Konsumkids. Na und? Wozu gegen den Zeitgeist rebellieren, wenn man sich vergnüglich mit ihm arrangieren kann? Was nützt denn, so wird gefragt, das Gefasel von Selbstverwirklichung, Realitätssinn, Sozialfähigkeit und so weiter im Zeitalter der Persönlichkeitszersplitterung? Das ehrwürdige unteilbare ‹Ich› habe ausgedient, der postmoderne Mensch sei ein ‹Ensemble› von Identitäten, die Nichtunterscheidbarkeit zwischen gegebener und virtueller Realität längst ein Faktum, die telekommunikative Entsinnlichung zwischenmenschlicher Beziehungen, das heißt das Belangloswerden der Ich-Du-Erfahrung, nicht mehr rückgängig zu machen.

Es scheint sich, was die Vormacht in den meinungsbildenden Medien angeht, eine Gabelung des Hauptstroms in diese beiden großen Richtungen anzudeuten: auf der einen Seite die unkritische, technologieverliebte und hedonistische «große Koalition der Einverstandenen» (Marianne Gronemeyer) einschließlich ihres ‹esoterischen› Flügels,1 wo man sich darüber mokiert, dass in der Erziehungslandschaft immer noch die alten Hüte der libertären Moderne (‹Kreativität›, ‹Autonomie›, ‹Humanismus› und so weiter) getragen und den Kindern moralisierend übergestülpt würden (der Kampfbegriff ‹political correctness› wird nicht zuletzt gegen eine sozial engagierte Eltern- und Lehrerschaft gerichtet, die unbeirrt an gewissen menschlichen Idealen festhält); auf der anderen Seite das neu-konservative Rollback, wo man ebenfalls das Feindbild von der libertären Moderne pflegt, allerdings nicht wegen deren moralischem Übereifer, sondern ganz im Gegenteil wegen der durch sie angeblich hervorgerufenen sittlichen Verwahrlosung. Schuld ist jedenfalls der Mythos von Freiheit und Selbstbestimmung, darin sind sich die Protagonisten des «Okay-Spiels» (Richter) mit den pädagogischen Antiquitätenhändlern einig.

Eine große, schweigende, gleichwohl betroffene Menge beobachtet diese Debatten mehr oder weniger verständnislos und versucht, den Alltag mit den Kindern irgendwie zu meistern; man wendet sich ratsuchend an Fachleute, durchstreift die unübersichtliche, widersprüchliche Erziehungshilfeliteratur, die bekanntlich Hochkonjunktur hat, und wird das beklemmende Gefühl nicht los, dass der ganze veröffentlichte Meinungsstreit eigentlich nur um die Alternative kreist: rückwärts oder vorwärts in die Katastrophe? ‹Zeitgeistkonforme› Erziehung, die den ganzen Plastik-, Fernseh-, Comic-, Trivialpop- und Computerstumpfsinn mit einem lässigen ‹So-ist-nun-mal-die-heutige-Welt› einfach hinnimmt oder gar freudig begrüßt, erspart den Kindern weiß Gott kein Leid, sondern treibt sie zielstrebig in die Verstörung. Aber auch das realitätsferne, auf in Wahrheit nie dagewesene Idyllen rekurrierende Gegenkonzept ist – entgegen einer lange und intensiv gehegten Hoffnung – kein zuverlässiger Schutz vor Unruhe, Angst, Bekümmerung, seelischer Erschöpfung und Orientierungslosigkeit, vor jenen kindlichen Seelennöten also, deren geradezu epidemische Ausbreitung unbestritten ist. Die Idylliker, von denen ich jetzt spreche, haben – wohlgemerkt – nichts mit den eingangs erwähnten autoritären Umtrieben im Sinn, sondern man erkennt sie an einer durchaus sympathischen, aber wenig fruchtbaren Neigung, durch Verniedlichung der Welt, manchmal bis hart an die Grenze des – wenn auch ‹barmherzigen› – Betrugs, die Erziehungsfrage lösen zu wollen.2

Antipädagogische Experimente (‹die beste Erziehung ist Nichterziehung›) haben sich längst als ebenso untauglich erwiesen wie Rückgriffe auf das restriktive Arsenal der ‹schwarzen› Pädagogik. Die orthodoxe Linke ist gescheitert mit ihrer volkspädagogischen Großoffensive. Der ideologische Zugriff auf die arbeitende Bevölkerung hat das Erziehungsproblem nicht, wie man hoffte, nebenbei miterledigen können. Die antiautoritäre Linke rückte zwar das Kind (und nicht den gesellschaftlichen Menschenmaterialbedarf) in den Mittelpunkt pädagogischen Denkens, was nicht genug gewürdigt werden kann, kam jedoch in praxi nicht darüber hinaus, konventionelle Formen zu konterkarieren. Ihr libertäres (auf Selbstbestimmung gerichtetes) Konzept hatte keine philosophisch-menschenkundliche, geschweige denn spirituelle Basis, und so kam es, dass man freiheitliche Erziehung damit verwechselte, von den Kindern schon im Nachahmungsalter Partnerschaftlichkeit und Selbstverantwortung zu erwarten: eine neue Variante pädagogischer Willkür. Alexander S. Neills Ideen einer freiheitlichen Erziehung wurden, wie er selbst beklagte, als Aufforderung zur programmatischen Vernachlässigung missverstanden. Aber auch dem authentischen ‹Summerhill‹-Projekt fehlte ein konsequent über das materialistische Menschenbild hinausweisender Begründungszusammenhang, ohne den die Erziehungsfrage unvermeidlich ins Leere läuft.3

Zusammenfassend muss festgestellt werden: Am Ende des 20. Jahrhunderts, das oft als «Jahrhundert des Kindes» apostrophiert wurde (rückverweisend auf Ellen Keys 1902 erschienenes gleichnamiges Buch, das damals ähnliches Aufsehen erregte wie sechzig Jahre später Neills Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung), stehen wir pädagogisch wieder ganz am Anfang. «Kassandra sitzt mitten unter den Unzufriedenen, ob sie nun Eltern, Lehrer oder Schüler heißen», schreibt J. Fritz-Vannahme. Er will sagen: Katastrophenstimmung macht sich breit. Übertreibung? Augenscheinlich nicht. Gronemeyer proklamiert «das Scheitern der Schule», Neil Postman sieht «das Ende der Erziehung» gekommen, Winfried Dobertin erklärt den «Bildungsnotstand». «Behaltet bitte die Nerven!», ruft Hartmut von Hentig erschrocken in den anschwellenden Chor der Unheilverkünder. «Erziehung war immer ein fundamentaler, persönlicher, sehr schwer kalkulierbarer Auftrag an die Erwachsenen. Folglich leiden die Erwachsenen auch immer an ihren pädagogischen Misserfolgen. Angesichts der Größe der Aufgabe ist das ganz natürlich.» Wohl wahr. Erziehungsverantwortung verträgt sich nicht mit dem Konzept ‹Lebensqualität light‹. Kinder sind keine Luxusartikel, keine Statussymbole, keine Vorzeigeobjekte, kein Privatvergnügen. Wer ihnen gerecht werden will, braucht ein gewisses Maß an Leidens- und Verzichtsfähigkeit, muss bereit sein, sich mit den eigenen Schwächen auseinanderzusetzen, Lebensgewohnheiten und Einstellungen zu überprüfen, von Selbsterziehung nicht nur zu reden, sondern sie zu leisten. Wenn Panik ausbricht, deutet dies nicht selten darauf hin, dass pädagogischer Ehrgeiz im Spiel ist. Nichts könnte jedoch widersinniger sein, als Erziehung wie ein unternehmerisches Projekt zu betreiben, nämlich sich von bestimmten Erfolgsabsichten leiten zu lassen, unverhohlene oder verhohlene Kosten-Nutzen-Erwägungen in Anschlag zu bringen, auf eine ‹lohnende› Schlussbilanz zuzuarbeiten. Leider ist ausgerechnet dieser Widersinn heute eine Art stillschweigende Vereinbarung zwischen der Gesellschaft, den pädagogischen Institutionen und den Haupterziehungsbeauftragten, den Eltern. Es sei ein «berechtigtes Kalkül», lese ich im Magazin ZEIT-Punkte (2/1996), Reformen des Schulwesens unter dem Gesichtspunkt «Vorteile im verschärften internationalen Wettbewerb» einzuleiten. Erziehung als Projekt des bürokratisch-industriellen Komplexes?

Diese (milde ausgedrückt) pädagogisch verfehlte bildungspolitische Marschrichtung findet ihre Entsprechung im Kleinen überall dort, wo sich Erziehung an den destruktiven, kindheitsfremden ‹Idealen› der Konkurrenz- und Konsumgesellschaft (Macht, Besitz und Genuss auf Kosten anderer; sexuelle Attraktivität; sorgloses, beschwerdefreies Leben und, insoweit es alledem dienlich ist, intellektuelle Aufrüstung) orientiert. Wollte jemand bestreiten, dass diese Präferenzen postmoderner Lebensplanung ‹kindheitsfremd› sind, müsste ihm entgegengehalten werden, er habe es bisher versäumt, sich einem Kind auch nur ein einziges Mal mit wachem, anteilnehmendem Interesse zuzuwenden. Damit die heranwachsenden Generationen, so wird gesagt, dem «Standort Deutschland» im internationalen Wettbewerb Macht, Ansehen und Wohlstand sichern können, muss der heranwachsende Einzelne für den immer härteren Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze und Privilegien gerüstet, kurz: mit allem ausgestattet werden, was erforderlich ist, um sich im erbarmungslosen Wettstreit der Egoismen zu behaupten. Erziehung als Herzensbildung (gewiss kein unzeitgemäßes Anliegen!) bleibt dabei auf der Strecke. Wer spricht noch davon, dass tief in jeder Kinderseele ein humanitärer Impuls als nach Bewusstwerdung und ‹schönen Taten› drängende, latente Idealkraft schlummert: ein gewissermaßen in die Menschengestalt eingeschriebenes Elementarbedürfnis, die eigene Entwicklung an diejenigen Kräfte der Kulturentwicklung anzuschließen, die auf soziale Gestaltungen im Zeichen praktizierter Liebe zustreben?

Dies ist, wie zu zeigen sein wird, kein frommer Wunschtraum, sondern eine anthropologische Konstante. Im Grunde beruhen alle Versionen pädagogischen Ehrgeizes auf der Verkennung dieser Tatsache. Wo das Kind zum Projekt der Erwachsenen degradiert und ‹erzieherisch› zugetrieben wird auf ein ‹gelungenes› Ergebnis nach Maßgabe eines vorgegebenen Erfolgsmodells, ist es in seiner Eigenschaft als verkörpertes Liebeswesen beständiger Misshandlung ausgesetzt, auch wenn die ‹streng wissenschaftlich› sich dünkende Entwicklungspsychologie davon nichts hören will. Gesellschaftlicher und privater Ehrgeiz greifen ineinander und erzeugen eine Atmosphäre, in der Kinder, die das ‹Erfolgsmodell› konterkarieren, als lebendige Missgeschicke betrachtet werden.

Wir stehen nun vor der bemerkenswerten, gewiss nicht zufälligen Tatsache, dass sich diese lebendigen Missgeschicke unaufhaltsam vermehren und allmählich dem erziehungswissenschaftlichen Diskurs eine ganz unvorhergesehene, für den internationalen Wettbewerb wenig vorteilhafte Richtung geben. Die Kindheit selbst revoltiert gegen den Prototyp Kind aus materialistisch-marktwirtschaftlicher Serienfertigung. Diesbezüglich stehen wir nicht nur wieder am Anfang, sondern vor einer (im Unterschied zur reformpädagogischen Euphorie der letzten Jahrhundertwende) neuartigen Situation. Ist das ‹Projekt› zum Scheitern verurteilt?

* Autorennamen in Klammern verweisen auf das Literaturverzeichnis am Ende des Buches.

2. Von Psychodetektiven und pädagogischen Mechanikern

Wir müssen aufmerksam werden auf eine in den Zeitverhältnissen begründete, uns alle einschließende Bewusstseinsgefährdung, die ihren Ausdruck darin findet, dass die Fremdheit zwischen Erwachsenenwelt und Kindheitswelt immer größer wird. Wenn man heute «eigentlich bei jedem Kinde eine Rettung zu vollziehen hat» (Rudolf Steiner, GA 296), so rührt dies her von der tiefen Erschrockenheit der Kinderseelen in einer Kultur, die sich abschottet gegen den Zustrom aus Kindheitsquellen – womit, wie wir sehen werden, bestimmte Bewusstseinsqualitäten und Gestaltungsimpulse gemeint sind. Von diesem Befremden sind die ‹unauffälligen› Kinder nicht weniger ergriffen als die ‹auffälligen‹; Letztere führen es uns nur besonders deutlich vor Augen. Es sind vielleicht nie zuvor so viele starke, mutige, lichtvolle Kinderseelen herabgestiegen, die sich, ihrer Erschrockenheit und ihrem Befremden zum Trotz, auf das Wagnis einlassen, in dieser Welt ihren Weg zu suchen. Rettungen müssen vollbracht werden, keine Reparaturmaßnahmen! Ich werde versuchen zu zeigen, warum das nicht nur ein gradueller, sondern ein prinzipieller Unterschied ist. Dabei bezweifle ich, dass, wie Gerhard Fels schreibt, «die seelische Anatomie» der Kinder «seit Jahrzehnten … erstaunlich gleich geblieben» sei. Sie kann schlechterdings nicht gleich geblieben sein, während sich die gesamte übrige Welt dramatisch verändert hat. Jede allgemeine Aussage über die Seelenverfassung ‹der Kinder› muss unter Berücksichtigung der allgemeinen Bewusstseinslage getroffen werden.

Wir sind geradezu davon besessen, die Menschen in Bezug auf ihre seelische Verfassung, ihr Denken, Fühlen und Verhalten, in Kranke und Gesunde, Wohlgeratene und weniger Wohlgeratene, Charakterfeste und Labile und so weiter einzuteilen. Die Vorstellung ‹seelische Krankheit› oder ‹Schädigung› übt eine merkwürdige Faszination aus. «Das ist ja krankhaft!» oder «Grenzt das nicht schon ans Pathologische?» sind gebräuchliche Redensarten, in denen das Gefühl mitschwingt, das ‹Absonderliche›, ‹Widernatürliche›, ‹Deformierte› auf frischer Tat zu ertappen. Man schlägt sich selbst durch die Verwendung solcher Redensarten indirekt auf die Seite der ‹Gesunden‹. Pädagogen und Therapeuten werden zu Psychodetektiven, die Indizien sammeln, ausspähen, schlussfolgern und den Täter überführen, wobei nicht das vermeintlich kranke oder gestörte Kind (das ja unser tiefes Mitgefühl verdient) der Täter ist, sondern der ‹pathologische Prozess›, von dem es heimgesucht wird. Die nächste Frage ist dann diejenige nach geeigneten ‹Maßnahmen‹. Wir großartigen Diagnostiker! Wir Menschenkenner!

Aber der auf Dysfunktionen und Insuffizienzen (Störungen und Unzulänglichkeiten) abgerichtete Blick, der hinter jedem kindlichen Verhalten, das nicht in unser geordnetes Weltbild passt, etwas ‹Pathologisches› sucht, gibt sich nur sachlich und neutral. Er ist in Wahrheit von Vorurteilen getrübt, weil er zwanghaft im Besonderen das Absonderliche, in der Originalität die Abnormität, in der Betroffenheit die Mangelhaftigkeit sucht. Dabei ist der zugrunde gelegte ‹Pathologie›-Begriff heute fast überall, auch in ‹esoterischen› Kreisen, materialistisch besetzt: Etwas ‹funktioniert nicht› … Ich nenne dies den defektivistischen Erklärungsansatz (von ‹Defektivität› = Fehlerhaftigkeit) für außergewöhnliche kindliche Wesenszüge. Er unterstellt bei jeder sogenannten Auffälligkeit erziehungsbedingte oder anderweitig fremdverursachte, zum Beispiel erbliche, wenn nicht gar karmische ‹Betriebsschäden› (es gibt auch ein defektivistisches, also im Kern materialistisches Karmaverständnis!). Dabei scheidet das Kind, der Mensch, als Freiheitswesen mit autonomen Entwicklungszielen und aus ihnen vielleicht sich ergebenden Spannungen des Ich-Welt-Verhältnisses aus. Wer sich auffällig weit vom lauwarmen Mittelmaß entfernt in Richtung einer strapaziösen Auseinandersetzung mit der Welt, ist reif für ‹Maßnahmen›, die «letztlich nur dem Zweck (dienen), die Menschen friedlich und mit ihrem Weißbrot zufrieden sein zu lassen» (James Hillmann).

Wenn es gelänge, diesem Konzept nachzuweisen, dass es ihm bedenklich an seelenkundlicher Sorgfalt und ‹moralischer Fantasie› mangelt, «dann könnten die Kinder in vielen Fällen davor bewahrt werden, mit dem Stigma des ‹Anormalen› aufzuwachsen» (Ursula Nuber). Aber der Dilettantismus, der sich im Automechanikerblick auf kindliche Entwicklungsverläufe verrät, ist leider zu akademischen Würden aufgestiegen, und deshalb schließen sich ihm (in Bedrängnis) nicht selten auch diejenigen an, die sonst den Verdacht weit von sich weisen würden, einem materialistischen Menschenbild zu huldigen.4 Es gilt als seriös, ein Kind wegen seines Leidens an und mit der Welt, seiner unbändigen Originalität oder in Extremen sich auslebenden Wesensart wie ein schadhaftes Gerät zu behandeln. Zu solcher vermeintlicher Seriosität nimmt man gern Zuflucht, wenn die Lage unübersichtlich wird und das Bedürfnis nach einfachen, sauberen Lösungen aufkommt. Auch gegenüber ‹behinderten› Kindern im engeren Sinne ist das defektivistische Vorurteil menschlich unzumutbar und menschenkundlich trivial. Indem wir also dieses Vorurteil in Anwendung auf ‹schwierige› Kinder beklagen, soll keine Trennlinie gezogen werden, jenseits derer dann doch von ‹schadhaften Menschen› gesprochen werden dürfe.5 Wenn der autistische Lyriker Birger Sellin ein Briefgedicht mit den Worten beendet: «Seien Sie herzlich gegrüßt / von einem der lernen will / ein einfacher Mensch zu werden», verbirgt sich hinter dieser doppelbödigen Mitteilung die verzweifelte Bitte, einfach als Mensch anerkannt zu werden: «Ich dichte für meine stummen Schwestern / für meine stummen Brüder / uns soll man hören und einen Platz geben wo wir unter / euch allen wohnen dürfen», schreibt Sellin an anderer Stelle. Er meint mit ‹wohnen› nicht das Bett und das Dach überm Kopf. Die Frage ist: Wie wohnen die sogenannten behinderten und anderen außergewöhnlichen Menschen in unseren Herzen? Als schadhafte Menschenexemplare in Untermiete gnadenhalber?

Intermezzo: Der kleine Angsthase. Oder: Ist Kay ‹gestört›?

Kay ist knapp fünf Jahre alt, das zweite (Wunsch-)Kind sehr gewissenhafter, liebevoller Eltern. Schwangerschaft und Geburt verliefen komplikationslos. Kay war ein gesundes Baby, hatte aber von Anfang an Schlafprobleme. Er schrie, sobald er ins Bettchen gelegt wurde. Nur auf Mutters oder Vaters Arm kam er zur Ruhe. Die motorische Entwicklung vollzog sich eher etwas langsam, aber innerhalb des tolerierbaren Rahmens (wobei er die Krabbelphase übersprang, also vom Sitzen gleich zum Stehen kam), die Sprachentwicklung dagegen ungewöhnlich rasch. Er begann sehr früh, ‹ich› zu sagen. Auf die tastende Welterkundung ließ er sich nur zögerlich ein. Alles Unbekannte machte ihn misstrauisch, und was ihn misstrauisch machte, fasste er möglichst nicht an. So lebte er seine Neugier hauptsächlich über die Augen aus: Er betrachtete die Welt aus gebührendem Abstand. Seine drei Jahre ältere Schwester hingegen war ein fröhliches, unbekümmertes, abenteuerlustiges Kind. Seit dem zweiten Lebensjahr hatte sie ihren Vater zur wichtigsten Person der Welt erkoren, während Kay ihn zwar liebte, aber doch mehr an der Mutter orientiert war und ist.

«Kay hat seine Angst und Schreckhaftigkeit mitgebracht», sagt die Mutter heute. «Er ist ein Zuschauer: aufmerksam, sehr aufmerksam sogar, aber stets auf der Hut. Er benimmt sich, als lebe er ständig in der Erwartung eines Unheils.» Er fürchtet sich vor Dunkelheit, Motorengeräuschen, Hundegebell, Regen und Wind, fremden Menschen und unbekannten Situationen, vor dem Einschlafen (‹da kommen die bösen Träume›) und Alleinsein, sogar vor dem eigenen Schatten. Zu Hause weicht er der Mutter, im Kindergarten der Erzieherin nicht von der Seite. Jede Nacht, irgendwann zwischen zwölf und zwei, wacht er auf und sucht im elterlichen Ehebett Zuflucht.

Dabei ist Kay ein ausgesprochen fantasievolles Kind, kann lange, versunken und erfindungsreich spielen (am liebsten allein), malt wunderschöne Bilder und liebt märchenhafte Geschichten. Ein unlösbares Dilemma ergibt sich für ihn daraus, dass er einerseits ein sehr mitfühlendes Kind ist und besonders großen Wert darauf legt, niemandem Kummer zu bereiten, während ihm andererseits natürlich nicht verborgen bleibt, wie die Eltern seinetwegen leiden. Er versucht Wiedergutmachung zu leisten, indem er sich in angstfreien Stunden überaus hilfsbereit zeigt und vor allem seine Mutter mit Liebes- und Dankbarkeitsbezeugungen überschüttet.

Ist Kay ‹gestört›?

Es gibt in dieser Situation zwei grundsätzliche Möglichkeiten. Erstens: Man kann das defektivistische Vorurteil in Stellung bringen und den Eltern zum Beispiel die Erklärung anbieten, der Junge sei seelisch geschädigt, weil 1) die Mutter ihn durch Überfürsorglichkeit im Kleinkindstadium zurückhalte; 2) die Mutter ihre eigenen unverarbeiteten Kindheitsängste auf ihn übertrage; 3) die Mutter ihn unbewusst benutze, um sich den intimen Annäherungen ihres Mannes zu entziehen; 4) der Vater folglich auf ihn eifersüchtig sei und einen unbewussten Machtkampf gegen ihn führe, wozu auch das archaische Demütigungsschema ‹Geringschätzung des Sohnes (Thronfolgers) zugunsten der vergötterten Tochter› gehöre; 5) dies alles umso verheerendere Auswirkungen habe, weil ein Junge in diesem Alter bekanntlich sowieso mit dem Vater um die libidinöse Gunst der Mutter rivalisiere. – Damit hätten wir einen durch verschiedene erschwerende Umstände zugespitzten ödipalen Konflikt mitsamt einer wunderbar verzwickten und doch so anschaulichen innerfamiliären Kreuz- und-quer-Dynamik, die man, modebewusst, über zwei oder drei Generationen zurückverfolgen könnte, und es wäre sonnenklar: Kay leidet unter einer milieubedingten, durch Erziehungsfehler erzieherisch deformierter Eltern und eheliche beziehungsweise familiäre Spannungen verursachten Angststörung; seine Ängste sind das Ergebnis seiner Lebensumstände, weil er selbst das Ergebnis seiner Lebensumstände ist.

Begleitumstände