Verheißungsvolle SMS
Am nördlichen Rand der Großstadt, im letzten Haus im Lindenweg, in der ersten Etage im Badezimmer stand Silvania Tepes vor dem Spiegel. Ihre Nasenspitze berührte fast die Spiegelfläche. Silvania musterte sich kritisch. Das war nicht einfach. Sie war ein Halbvampir. Ihr Spiegelbild war undeutlich. Ein feiner Nebelschleier lag darüber. Silvania zog die Augenbrauen hoch. Dann blinzelte sie mit den langen braunen Wimpern. Sie spitzte die Lippen. „Hello, Jacob. Pleased to meet you, too.“ Sie lächelte. Plötzlich hielt sie inne. Sie starrte auf ihre Eckzähne. Sie runzelte die Stirn. „Schlotz zoppo!“, flüsterte sie. „Ich habe die Dentiküre vergessen!“ Blind griff sie nach der Zahnfeile auf dem Beistelltischchen. Sie setzte die Feile gekonnt am rechten Eckzahn an, wie ein Geiger den Bogen.
Im Bad erklangen gänsehauterzeugende Geräusche. Ritsche, ratsche, knirsch, knack, quietsch, quötsch, ding, doing. Nachdem Silvania den rechten Eckzahn gekürzt hatte, setzte sie die Feile an den linken Eckzahn. Ritsche, ratsche, knirsch, knack, quietsch, quötsch, ding, doing. Sie legte die Feile beiseite. Sie fuhr sich mit der Zunge über die gekürzten Eckzähne. Das fühlte sich gut an! Hoffentlich sah es auch gut aus. Es war nie schlecht, gut auszusehen. Aber heute war es besonders wichtig.
Plötzlich klopfte es kräftig an der Badtür. „Ich muss mal!“
Das war Dakaria Tepes. Sie war Silvanias Schwester. Silvanias jüngere Schwester. Denn sie kam genau sieben Minuten später auf die Welt. Dakaria wurde sie allerdings nur von Lehrern und anderen Leuten genannt, die es nicht besser wussten. Für den Rest war sie Daka.
Silvania öffnete die Badtür. „Flops dich doch einfach in den Wald. Denk an Onkel Vlads Worte: Stuhlgang in der Natur ist Hochgenuss pur.“
Onkel Vlad, der in Transsilvanien lebte, war wie alle Vollblutvampire ein Verfechter der Freiluftentleerung. Die wenigsten Vampire hatten Toiletten im Haus. Ihrer Meinung nach war es unrein, am Ort des Lebens, Kochens, Essens, Schlafens und Spielens Körperausscheidungen zu hinterlassen. Daka leuchtete das ein. Manchmal. Zumindest in Transsilvanien. Jetzt sah die Lage anders aus.
Daka hatte die Lippen aufeinandergepresst. Sie stand leicht gebückt, kniff die Oberschenkel zusammen und schüttelte den Kopf.
„Es ist dringend, stimmt's?“ Silvania trat schnell aus dem Badezimmer.
Daka nickte. „Außerdem ist Flopsen verboten.“
Flopsen war eine Fortbewegungsweise der Vampire. Und Halbvampire. Sie konnten sich in Sekundenbruchteilen von einem Ort zum anderen bewegen. Flops, waren sie da! Aber es funktionierte nur über kleine Entfernungen und war sehr kräftezehrend.
Silvania nickte wissend, während ihre Schwester die Badtür schloss. Die sieben radikalen Regeln.
Elvira Tepes, die Mutter der Zwillinge, hatte vor dem Umzug von Transsilvanien nach Deutschland sieben radikale Regeln aufgestellt, wie sich die Halbvampire in ihrer neuen Heimat zu verhalten hatten:
1. Kein Fliegen bei Tageslicht
2. Keine lebenden Mahlzeiten (auch keine Snacks wie Fliegen, Käfer oder Würmer)
3. Ausreichend Sonnenschutz (Sonnencreme, Hut, Sonnenbrille etc.)
4. Haustiere wie Blutegel, Mücken, Zecken und Flöhe bleiben zu Hause
5. Spiegel, Spiegelreflexkameras und Knoblauch sind zu meiden
6. Kein Einsatz übernatürlicher Kräfte (wie Hypnotisieren, Belauschen oder Flopsen)
7. Wöchentliche Dentiküre
Silvania fiel das Einhalten der Regeln nicht schwer. Meistens. Denn meistens wollte sie sowieso lieber ein Mensch sein. Daka dagegen hatte ihre Probleme mit den radikalen Regeln und dem Leben in Deutschland. Meistens. Denn meistens wollte sie lieber ein echter Vampir sein.
Silvania ging in das Zimmer, das sie sich mit ihrer Schwester teilte. Sie legte sich auf ihr Bett. Fünf Sekunden starrte sie an die Decke. Dann holte sie ihr Handy hervor und hielt es sich vors Gesicht. Jacob hatte ihr schon drei SMS geschrieben. Jacob war Silvanias Englisch-Nachhilfelehrer. Er wusste alles über Present Perfect, unregelmäßige Verben und if-Sätze. Was er nicht wusste, war, dass Silvania gar keine Nachhilfe brauchte. Zumindest nicht in Englisch. Höchstens im Fliegen. Aber Fliegen war in Deutschland kein Unterrichtsfach. Zum Glück, fand Silvania.
Silvania las sich die SMS zum 54. Mal durch. Die erste SMS lautete: „O. K. Wann?“ Die zweite lautete: „Ja“ und die dritte: „Bis dann.“ Diese SMS fand Silvania am schönsten. Sie war so verheißungsvoll. Silvania seufzte und stellte sich Jacobs Augen vor. Sie waren glasklar und hellgrau wie ein Winterhimmel, aus dem es jeden Moment schneit. In wenigen Minuten würden sie sich wiedersehen. Bei dem Gedanken tobte ein Schneesturm in Silvanias Bauch.
Sie hatte Jacob vorgeschlagen, den Unterricht aktiver zu gestalten. Statt bei ihr zu Hause zu sitzen, sollte die Nachhilfe heute auf dem Jahrmarkt stattfinden. Silvania hatte einen guten Grund, die Nachhilfe auf den Jahrmarkt zu verlegen. Es war besser, wenn ihre Eltern Jacob nicht so schnell wiederbegegneten. Und auch Jacob war nicht wild darauf, in den Lindenweg 23 zu kommen. Bei der letzten Nachhilfe hatte es einen … nun ja, einen kleinen Zwischenfall gegeben, bei dem ein mausfressender Cousin, eine fliegende Tante und ein angriffslustiger Onkel eine nicht ganz unbedeutende Rolle gespielt hatten.
Aber es gab noch einen weiteren Grund, warum Silvania Jacob um eine Nachhilfestunde auf dem Jahrmarkt gebeten hatte. Sie stellte sich Englischnachhilfe auf dem Jahrmarkt unheimlich romantisch vor. Silvania könnte zu Jacob sagen: „Let's take a ride on the Wilde Maus.“ Sie könnten zusammen Riesenrad fahren. Die Stadt würde ihnen zu Füßen liegen, doch es würde sie nicht interessieren, weil sie nebeneinandersaßen und mit … na ja, Nachhilfe beschäftigt waren. Jacob könnte eine Rose für Silvania schießen und in der Geisterbahn, wenn sie sich eng aneinanderkuschelten, würde es passieren: Statt Present Perfect gab es den Perfect Kiss. Yessss!
Allerdings gab es ein kleines Problem. Silvania war nicht alleine auf die Idee mit dem Jahrmarkt gekommen. Genau genommen, ganz ehrlich, in wirklicher Wirklichkeit war sie gar nicht darauf gekommen, sondern Daka. Daka hatte gute Ideen. Manchmal. Allerdings bedeutete das in dem Fall, dass Daka mit auf den Jahrmarkt kommen würde. Helene und Ludo hatte sie auch Bescheid gesagt. Sie waren die besten Freunde der Zwillinge. Und die Einzigen, die bis auf ihre Eltern und Oma Rose wussten, dass Daka und Silvania Halbvampire waren. Dafür kannten die Zwillinge auch die Geheimnisse von Helene und Ludo. Helene versteckte hinter ihren langen blonden Haaren ein Hörgerät, liebte nächtliche Ausflüge zum Friedhof und bemalte sich gerne die Arme mit Monstern und Spinnen. Ludo konnte in die Zukunft sehen. Leider nur undeutlich. Er konnte auch mit Toten reden. Aber das glaubten nur er und sein Opa.
Normalerweise würde Silvania sich darauf freuen, mit ihrer Schwester, Helene und Ludo auf den Jahrmarkt zu gehen. Sehr sogar. Aber wie sollte es da zum Perfect Kiss kommen? Ein Kuss, bei dem ihre Schwester zusah, konnte nicht perfekt sein. Silvania drehte das Handy um und las sich Jacobs SMS auf dem Kopf stehend durch. Vielleicht war eine geheime Botschaft verborgen. Silvania runzelte die Stirn. Sie streckte die Zunge heraus. Sie konnte nichts erkennen.
Treffpunkt Springbrunnen
Jacob Barton kramte in der Hosentasche nach seiner Uhr. Er zog sie mit ein paar Fusseln und einem zusammengeknüllten Stück Kaugummipapier heraus. Er sah auf die Anzeige. 14 : 58 Uhr. So pünktlich war er bis jetzt noch nie zur Nachhilfe erschienen. Er stand vor einem Imbissstand namens Werners Waffeln in der Nähe des Springbrunnens, an dem er seine Nachhilfeschülerin treffen sollte. Silvania Tepes. Sie war die ungewöhnlichste Nachhilfeschülerin, die Jacob jemals gehabt hatte. Sie kleidete sich ungewöhnlich. Sie erzählte ungewöhnliche Sachen. Und sie hatte eine ungewöhnliche Familie. Die war nicht nur ungewöhnlich, sondern sogar unheimlich. Jacobs rotblonde Haare standen auf seinen blassen Armen jetzt noch zu Berge, wenn er an Silvanias Onkel dachte.
Er steckte die Uhr wieder ein und zog die Ärmel seines graublauen Kapuzensweatshirts herunter. Dann wickelte er sich den rot-blau gestreiften Schal um den Hals, steckte die Hände in die Hosentaschen und drückte den Rücken durch. Er hoffte, sein Kreuz würde dadurch breiter wirken.
„Waffel?“, brummte es hinter Jacob.
Jacob drehte sich um. Waffelwerner lehnte sich aus der Bude und grinste Jacob fragend an. Er hatte grau melierte Haare. Auf seinem Doppelkinn wuchsen Bartstoppeln. Seine Nase sah aus wie eine kandierte Kirsche. Jacob schüttelte den Kopf. „Ich warte nur auf jemanden.“
Waffelwerner nickte. „Klarokowski.“
Jacob spürte, dass ihn Waffelwerner noch immer musterte. Langsam drehte er sich abermals um.
Waffelwerner grinste. „Biste dir sicher?“
„Was?“
„Dass de keene Waffel willst.“
Jacob nickte. „Später vielleicht.“
In dem Moment erschienen zwei Mädchen am Springbrunnen. Die eine hatte ihre pechschwarzen Haare gestylt, als wollte sie sich als Seeigel tarnen. Sie trug eine schwarze Jacke, die mit lauter kleinen silbernen Spinnen bedruckt war, einen kurzen lilafarbenen Rock, schwarze löcherige Leggins und lilafarbene Gummistiefel. Das war Dakaria Tepes.
Das andere Mädchen hatte einen rot-schwarz karierten Hut auf, unter dem wallende rotbraune Haare hervorquollen. Sie trug ein enges feuerrotes Kleid mit einem breiten dunkelroten Gürtel und einer schwarzen Samtstola. Die schwarzen Schuhe gingen ihr bis zu den Knöcheln, hatten rote Knöpfe an der Seite und bogen sich an der Schuhspitze wie zwei Schlittenkufen nach oben. Das war Silvania Tepes.
„Wartest de auf die da?“ Waffelwerner deutete auf die beiden Mädchen am Springbrunnen.
Jacob nickte mit offenem Mund, wobei er die Zwillinge nicht aus den Augen ließ. „Also, eigentlich nur auf die eine. Die im roten Kleid.“
Waffelwerner zog die Nase hoch und nickte anerkennend.
Eine Sekunde später liefen ein Junge und ein Mädchen auf die Zwillinge zu. Der Junge hatte halblange dunkle Haare und war kaum größer als die Mädchen. Das andere Mädchen hatte glänzend blonde Haare, war schlank und hatte strahlend blaue Augen. Das konnte man bis zur Waffelbude sehen.
„Und wer sind die jetzt?“, fragte Waffelwerner.
„Keine Ahnung.“
Waffelwerner und Jacob sahen, wie das Mädchen mit den blonden Haaren ihre Hand zur Faust ballte und damit den Schwestern auf den Kopf klopfte. Der Junge tat dasselbe. Die Zwillinge klopften zurück.
„Was machen die denn?“
Jacob zuckte die Schultern. Dann kratzte er sich hinter dem Ohr. „Ich weiß es nicht.“
Waffelwerner und Jacob konnten nicht wissen, dass die vier Freunde ihren eigenen Gruß hatten. Daka und Silvania hatten die Kopfnuss aus Transsilvanien importiert. In Bistrien, ihrem Heimatort, begrüßten sich alle so. In Deutschland war die Kopfnuss als Begrüßung bis jetzt nur bei Helene und Ludo gut angekommen.
Jetzt hatte Silvania Jacob entdeckt. Sie winkte.
Jacob hob kurz die Hand und nickte. „Ich muss dann“, sagte er zu Waffelwerner.
„Allet klar. Tschüssikowski!“ Waffelwerner steckte den Löffel in die Waffelschüssel, rührte um und sah Jacob nach. „Noch eenmal jung sein …“, flüsterte er und blickte versonnen auf den Waffelteig.
Nachhilfe mit Überschlag
Frau Gesine Schlotzer verkaufte seit 22 Jahren Fahrkarten für den Star Express. Der Star Express war eine Stahlachterbahn. Herr Ottmar Schlotzer, Frau Schlotzers Onkel, hatte sie vor 28 Jahren von seinem Vater übernommen. Der Star Express hatte alles, was eine richtige Achterbahn brauchte: eine steile Bergabfahrt, ein atemberaubendes Looping, zwei große Hügel, die Kamelrücken genannt wurden, und rasante Kurven. Noch nie hatte sich ein Kunde beschwert, ihm wäre vor schauriger Freude nicht beinahe schlecht geworden. Darauf war Onkel Ottmar stolz. Und Frau Schlotzer auch. Egal, in welche Stadt sie kamen, immer war der Star Express eins der beliebtesten Fahrgeschäfte. Und immer saß Gesine Schlotzer in dem kleinen, gläsernen Fahrkartenhäuschen und verkaufte Tickets. In den ganzen 22 Jahren hatte sie kein einziges Mal gefehlt. Sie hatte Schnupfen gehabt, da es in dem Fahrkartenhäuschen immer zog. Migräne, da es um sie herum ständig klingelte, lärmte und kreischte. Sehnenscheidenentzündung, da sie die Fahrkar- ten immer mit der linken Hand von einem großen Block abriss. Doch immer war sie auf ihrem Posten geblieben. Sie mochte ihren Job. Sie verkaufte den Menschen für ein paar Euro ein paar Minuten voller Aufregung, Bauchkribbeln und Taumel. Und zwischendurch konnte sie noch Kreuzworträtsel machen. Gesine Schlotzer konnte sich keine bessere Arbeit vorstellen.
„Ein Mal bitte“, sagte ein hochgewachsener Junge mit zerzausten rotblonden Haaren. Er legte einen zerknitterten Geldschein auf den Tresen des Fahrkartenhäuschens.
Gesine Schlotzer riss eine Fahrkarte vom Block, reichte sie dem Jungen, gab ihm das Wechselgeld und lächelte. „Gute Fahrt.“
Der Junge lächelte kurz zurück. Dann steckte er die Fahrkarte und das Wechselgeld in die Hosentasche und fuhr sich durch die Haare. Gesine Schlotzer seufzte. Der Junge erinnerte sie an ihren Neffen. Ein schöner, schüchterner Junge. Und hochbegabt. Leider nur sehr weit weg.
Die nächste Kundin war ein Mädchen mit einem rot-schwarz karierten Hut. Vermutlich eine aus- ländische Besucherin, denn sie sagte „One ticket, please.“
Es folgten ein blondes Mädchen, ein Junge mit halblangen Haaren und ein Mädchen mit einer sehr beeindruckenden Frisur. Man konnte meinen, sie wäre schon drei Runden mit der Achterbahn gefahren.
„Gute Fahrt!“, wünschte Gesine Schlotzer allen.
„Datiboi!“, erwiderte das Mädchen mit der beeindruckenden Frisur.
Gesine Schlotzer sah der Gruppe nach. Sie hatte in ihren 22 Berufsjahren schon an die Millionen Fahrkarten verkauft. Sie hatte an die Millionen Menschen gesehen. Hatte ihnen eine Fahrkarte abgerissen, das Wechselgeld gegeben und ihnen eine gute Fahrt gewünscht. Diese Achterbahnpassagiere waren anders als andere Passagiere. Gesine Schlotzer wusste nicht, warum. Sie wusste es einfach. Sie starrte einen Moment auf einen Ketchupfleck an der Fensterscheibe ihres Fahrkartenhäuschens. Dann zuckte sie mit den Schultern. Sie griff zu ihrem Nachschlagewerk, das sie für Kreuzworträtsel immer parat hatte, um „datiboi“ nachzuschlagen.
Silvania, Jacob, Daka, Helene und Ludo nahmen im Star Express Platz. Silvania saß neben Jacob. Ellbogen an Ellbogen. Obwohl die Achterbahn noch stand, war Silvania schon etwas schwindelig.
„Weißt du, was ,Achterbahn‘ auf Englisch heißt?“, fragte Jacob.
Silvania hatte das Wort schon einmal gehört. „Cooler toaster?“
„Fast. Roller coaster“, erwiderte Jacob.
„Und was heißt ,Schleuderbombe‘ auf Englisch?“, fragte Daka, die direkt hinter Jacob saß.
„Schleuder- was?“ Jacob hatte sich halb umgedreht und sah Daka fragend an.
Silvania warf ihrer Schwester einen strengen Blick zu. „Es – gibt – hier – keine – Schleuderbomben.“ Und kein Kreuzknoblauchkabinett, kein Mäuseschwanzschießen, keinen Knochenbrecher und keinen Blutpolypen. Diese Fahrgeschäfte kannten die Zwillinge aus Bistrien. Daka konnte nicht fassen, dass es sie auf einem deutschen Jahrmarkt nicht gab.
„Fumpfs! Noch nicht einmal Schleuderbomben“, stöhnte sie.
„Wir können ja danach Wilde Maus fahren“, schlug Silvania vor.
„Wilde Maus! Nici doi viati!“ Daka schüttelte den Kopf. Sie würde nicht mit einem Fahrgeschäft fahren, das wie eine Mahlzeit klang. Menschen fuhren ja auch nicht mit der Verrückten Bockwurst.
„Nietzsche doofer Vati?“ Jacob sah Daka fragend an. „Was redest du denn da?“
Daka redete Vampwanisch. Eine der ältesten, kompliziertesten und schönsten Sprachen der Welt. Selbst ein mittelalter Vampir wie Mihai Tepes, der Vater der Zwillinge, der 2676 Jahre alt war, beherrschte nicht alle ausgeklügelten Redewendungen und kannte nicht alle grammatikalischen Feinheiten des Vampwanischen. Er achtete sehr darauf, dass seine Töchter ihre Vatersprache in Deutschland nicht verlernten. Im Gegensatz zu seiner Frau freute er sich, wenn Daka und Silvania hin und wieder ein vampwanisches Wort oder eine Redewendung fallen ließen. Wie zum Beispiel „Gumox“, was so viel wie „Quatsch“ hieß, oder „Fumpfs!“, was „Mist!“ hieß, oder „Nici doi viati!“, was „Nie im Leben!“ hieß. Aber das wusste Jacob natürlich alles nicht. Er war zwar gut in Englisch. Aber bei Vampwanisch konnte man ihn vergessen.
Plötzlich verkündete eine Stimme wie bei einem Boxkampf aus einem Lautsprecher: „Gleich startet er. Deeeeeeeeeeeer … STAR EXPRESS!“
Dakas Antwort ging im Lärm unter.
Silvania lächelte Jacob zu. Doch ihr Nachhilfelehrer war damit beschäftigt, seinen Sicherheitsgurt zu überprüfen.
„Uuuuuuuund … LOS GEHT'S!“, dröhnte es aus dem Lautsprecher.
In dem Moment setzte sich der Star Express in Bewegung. Er tuckerte wie eine alte Dampflok. Silvania verschränkte die Arme und überschlug die Beine. Hätte sie gewusst, dass der Star Express ein Schneckenexpress war, hätte sie sich ein Buch mitgenommen.
Auf einmal beschleunigte der Star Express. Mit einem Ruck wurde Silvania in den Sitz gedrückt. Bevor sie sich an die Geschwindigkeit gewöhnen konnte, ging es in eine steile Kurve. Silvania stieß einen Schrei aus. Sie hatte das Gefühl, ihr Kopf würde nach der Kurve nicht mehr auf ihrem Hals sitzen, sondern über den Jahrmarkt fliegen. Doch nach der Kurve war alles noch da, wo es hingehörte. Inklusive Jacob.
Silvania hörte Daka hinter sich rufen: „Boi, boi, boi!“ Das war auch Vampwanisch und hieß „super!“.
Plötzlich ging es steil bergauf. Der Star Express wurde wieder langsamer. Silvania atmete durch. Vielleicht war jetzt eine gute Gelegenheit, ein wenig mit Jacob zu plaudern. Sie sah zu ihm hinüber. Jacob starrte geradeaus. Er hielt sich mit beiden Händen am Sicherheitsgurt fest. Er war fast so blass wie Silvania. Silvania fand, es stand ihm sehr gut.
Vor ihnen lagen nur noch ein kleines Stück des Achterbahngestells und der blaue Himmel über Bindburg. Silvania wollte eine romantische Bemerkung machen. Sie überlegte gerade, was „der Himmel auf Erden“ auf Englisch hieß, als der Star Express die Kuppe erreichte. Die Achterbahn blieb fast stehen. In dem Moment wurden Silvania plötzlich drei Dinge auf einmal klar. Erstens: Sie wusste, warum Jacob sich am Gurt festhielt und so blass war. Zweitens: Sie hätte heute zum Mittag keine Hackfleischklöpschen essen sollen. Drittens: Achterbahnfahren war schlimmer als Fliegen.
Im nächsten Augenblick sauste der Star Express in die Tiefe. Die Insassen schrien, als stürzten sie direkt auf die Hölle zu. Silvania fühlte sich wie im freien Fall. Es war kein gutes Gefühl. Instinktiv breitete sie mit einem Ruck die Arme aus. Dabei schlug sie Jacob mit der rechten Handkante auf die Nase. Silvania versuchte, den Oberkörper aufzurichten, und drehte die Handflächen nach vorne. So hatte sie es mit fünf Jahren im Flugunterricht gelernt. Zweite Lektion: Bremsen. Doch in der Achterbahn funktionierte es nicht. Der Star Express raste weiter in die Tiefe. Silvania hätte es nicht gewundert, wenn sie durch den Beton des Jahrmarktplatzes und weiter durch die Erdkruste geflogen wären, den Tausende Kilometer breiten Erdmantel und den zähflüssigen Erdkern durchdrungen hätten und auf der anderen Seite auf irgendeiner Pazifikinsel herausgekommen wären. Die Eingeborenen hätten sie womöglich für Götter gehalten, sie reichlich mit Blumen, Obst und Fisch beschenkt und Jacob und sie zum Götterpaar ernannt. Das war allerdings auch der einzige positive Gedanke, den sie der Sache abgewinnen konnte.
Silvania spürte die Hackfleischklöpschen. Sie hatte das Gefühl, sie bildeten in ihrer Kehle eine Räuberleiter. Sie wollten fliehen. Silvania presste die Lippen aufeinander und blähte die Backen auf. Zum Glück war die Bergabfahrt vorbei und der Star Express fuhr wieder geradeaus. Silvania sah kurz zu Jacob. Er hatte die Augen geschlossen und rieb sich die Nase. Silvania wollte sich entschuldigen, doch da nahm der Star Express den Kamelrücken in Angriff. Erst ging es hoch, dann runter. Hoch, runter. Silvania wollte weder hoch noch runter. Sie wollte nur noch anhalten. Hoffnungsvoll sah sie nach vorne, ob ein Ende in Sicht war. Doch sie sah kein Ende. Sie sah ein Looping. Silvania fasste sich spontan an den goldenen Kettenanhänger, den ihr Oma Zezci geschenkt hatte und in dem sich ein paar Krümel Heimaterde befanden. Sie rieb den Anhänger zwischen Daumen und Zeigefinger und hoffte auf eine rettende Idee.
Würde sie beim Looping neben Jacob sitzen bleiben, wäre er die längste Zeit ihr Nachhilfelehrer gewesen. Denn würde sie beim Looping neben Jacob sitzen bleiben, würde er keinen guten Eindruck von ihr bekommen. Er würde Bekanntschaft mit Herrn Tepes' selbst gebratenen Hackfleischklöpschen machen. Halb verdaut, gemischt mit Tomatensaft, Magensäure und vermutlich den Himbeeren mit Würmern, die es zum Nachtisch gegeben hatte. Das würde zwar einen bleibenden Eindruck hinterlassen, aber sicher keinen guten. Silvania musste etwas unternehmen. Etwas Verbotenes.
Gesine Schlotzer hatte das Radiergummiende des Bleistifts in den Mund gesteckt, blickte von ihrem Kreuzworträtsel auf und murmelte vor sich hin: „Abkürzung: Unbekanntes Flugobjekt …“ Sie sah durch die Scheibe mit dem Ketchupfleck auf die Achterbahn. Der Star Express fuhr gerade ins große Looping ein. Die Insassen kreischten. Manche rissen die Hände hoch. Andere umklammerten die Gurte. Ein weiblicher Fahrgast stieg am Anfang des Loopings aus, flog zum Ende des Loopings und setzte sich wieder in die Achterbahn.
Gesine Schlotzer nahm den Bleistift aus dem Mund und beugte sich über das Rätselheft. „UFO“, schrieb sie ins Kreuzworträtsel. Dann hielt sie abrupt inne. Sie starrte auf die Seite. Auf einmal schoss ihr Kopf in die Höhe. Sie stieß einen Schrei aus, bei dem nur durch ein Wunder die Glasscheiben des Fahrkartenhäuschens nicht zerbrachen. Mit zitterndem Bleistift deutete sie auf den Star Express. Er wurde gerade wieder langsamer und rollte in seine Ausgangsposition zurück. „Da…da…da…da war was!“
„Ein UFO?“, fragte der Mann, der vor dem Fahrkartenhäuschen stand.
Gesine Schlotzer schüttelte den Kopf. „Ein fliegendes Mädchen in einem roten Kleid und einer schwarzen Stola! Sie ist vom Anfang des Loopings zum Ende geflogen. Und zwar so.“ Gesine Schlotzer breitete die Arme aus. Mit den Fingerkuppen stieß sie dabei an die Glasscheiben des Fahrkartenhäuschens.
Der Mann zog die Augenbrauen zusammen. Er sah Gesine Schlotzer besorgt an. „Geht es Ihnen gut?“
Gesine Schlotzer überlegte einen Moment. Sie senkte die Arme und sagte entschlossen: „Nein.“ Dann drehte sie das „Geöffnet“-Schild schwungvoll um, sodass es jetzt „Geschlossen“ verkündete. Mit einem Ruck zog sie das gläserne Schiebefenster zu, nahm die Strickjacke vom Stuhl, steckte das Rätselheft in die Jackentasche und verließ das Fahrkartenhäuschen. 22 Jahre hatte sie jeden Tag in diesem Häuschen gesessen und Tickets abgerissen. 22 Jahre hatte sie den Leuten Aufregung, Bauchkribbeln und Taumel verkauft. Sie selbst war dabei immer auf dem Boden geblieben.