Zum Roman
Kater Figaro kann es nicht glauben: Er wurde ausgesetzt – mitten in Paris! Ein neues Zuhause findet er wider Erwarten bei dem verwitweten Paul, einem leidenschaftlichen Koch. Der will mit dem Familienzuwachs seine Tochter Louise trösten. Doch auch Paul öffnet sein Herz allmählich für den stolzen Kater – und für eine neue Liebe …
Vier turbulente Leben kollidieren in der romantischsten Stadt der Welt – witzig, herzzerreißend und wunderschön!
Zur Autorin
Laura Trompette, geb. 1987, ist Journalistin und Social-Media-Expertin und gründete eine Agentur für digitale Kommunikation. Das Schreiben ist seit ihrer Kindheit ihre große Leidenschaft. Derzeit hat sie auf der Plattform Wattpad mehr als 150 000 Leserinnen und Leser.
Laura Trompette
Roman
Aus dem Französischen
von Isabella Bautz
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Deutsche Erstausgabe 12/2018
Copyright © 2017 by Pygmalion, département de Flammarion
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel C’est toi le chat bei Pygmalion, Paris
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Antje Steinhäuser
Covergestaltung: t. mutzenbach design, München
Covermotiv: © Shutterstock/Yorrico/illustratordreame/Yoko Design/Curly Pat
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-23393-8
V002
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»Katzen sind wie Papier, sie zerknautschen leicht.«
GUY DE MAUPASSANT
Für Harold, wo immer du sein magst.
Für Émilie und Caro, für alles, was ihr wisst,
und für alles, was wir sind.
1
Der Pelzige
Was für ein widerlicher Gestank! Eine Mischung aus feuchter Streu, dreckigen Socken und toten Mäusen. Hätte ich gewusst, dass ich an diesem schmutzigen, überfüllten Ort landen würde, hätte ich mir die Katzenwäsche zu Hause gespart. Igitt.
Au! Pass doch auf, du Idiot. Ja, du verstehst nicht, was ich hier miaue, aber es ist verdammt noch mal unhöflich, mir auf den Schwanz zu treten!
Ich weiß nicht, wie ich in diesen Vorstadtzug gekommen bin, aber ich möchte schleunigst wieder hier raus. Ich fühle mich wie in Feindesland, wie Mowgli im Dschungelbuch.
Das ist Carolines und mein Lieblingsdisneyfilm.
Ich hätte riechen müssen, dass etwas faul war, als meine Eltern heute Morgen vollauf mit dieser Rotznase beschäftigt waren, ohne mir die geringste Beachtung zu schenken. Natürlich fragte ich mich, warum Patrick und Caroline weder mein Kissen noch mein Spielzeug oder mein Futter einpackten, obwohl wir für zwei Wochen ziemlich weit weg in den Urlaub fahren sollten. Aber ich war auf die patschenden Hände des Dreikäsehochs konzentriert, die mir immer wieder gegen den Strich fuhren, und hatte also andere Sorgen. Deshalb ließ ich mich auf die Rückbank des Taxis verfrachten, zwischen Caroline und das kleine Ungeheuer, und hielt ein Nickerchen, ohne mir weiter Gedanken zu machen.
Ich öffnete kurz die Augen, als wir am Flughafen ankamen und in der Schlange am Check-in-Schalter standen, dann gab ich mich wieder meinen Träumen von köstlichen Fischlein hin. Die Flossen und Blubberbläschen der kleinen roten Dinger, die zu Hause in ihrem Glas im Kreis schwimmen, beschäftigten mich wohl recht lange. Denn als ich aufwachte, war da keine Warteschlange mehr, und auch keine Caroline und kein Patrick, nicht mal mehr das quäkende Etwas im Kinderwagen. Nur die offene Transportbox, ohrenbetäubender Lärm von Schritten und mein armer steifer Körper.
War Patrick zum Rauchen rausgegangen und hatte den Rest der Familie im Schlepptau? Hatte Caroline den Zwerg zur Toilette gebracht? Mussten sie vor einer Gefahr fliehen und hatten mich nicht rechtzeitig warnen können?
Es dauerte einige Minuten, bis ich begriff, dass sie ohne mich abgereist waren. Und noch einige weitere lange Minuten, bis ich zu dem dramatischen Schluss kam: Sie haben mich ausgesetzt!
Wie konnte Caroline, die mich so lieb hatte, bevor ihr kostbares Kind geboren wurde, mir das antun, mir, ihrem »allerliebsten Figaro«? Drei Winter hatten wir zusammengekuschelt verbracht, zwei Sommer lang hatten wir im Garten den Mäusen aufgelauert, und all die gemeinsamen Morgen bei Milch und schwarzem Kaffee. Selbst Patrick, der beim Anblick einer Spinne kreischt, bewunderte meinen Mut gegenüber ihren haarigen Beinen und lernte mich schätzen. Zwar befürchtete er anfangs, ich würde ihm seine Caroline »stehlen«, doch dann sah er ein, dass ich ihm seinen Platz nicht streitig machte. Zu dritt war alles möglich.
Aber nicht zu viert. Dieser verflixte kleine Scheißer hat mir mein Leben gemaust.
Stundenlang schleppte ich mich durch Korridore, bis ich einen Zug entdeckte, der mich, wenn ich meinem Fernsehwissen trauen darf, ins Stadtzentrum zurückbringen wird, irgendwohin. Ich kenne nur wenige Orte in Paris, weil wir in einem Vorort wohnen, in Yerres. Aber da ich meine Caroline hin und wieder zu Freundinnen begleitete, weiß ich, dass eine zentrale Station »Châtelet – Les Halles« heißt. Deshalb kauere ich hier auf einem Sitz und warte darauf, dass dieser Name auf einem Schild auftaucht.
Ein Glück, dass ich lesen kann. Ah, ich höre euch schon denken: »Unmöglich, so ein Quatsch.« Aber es stimmt. Alle meine Artgenossen sind in der Lage, wenigstens ein Kinderbuch zu entziffern, auch wenn ihr Menschen in eurem hartnäckigen Überlegenheitskomplex nicht einmal ansatzweise etwas von unserer Intelligenz ahnt. Wir brauchen nicht eure Erlaubnis, um unsere einsamen Mußestunden zum Lernen zu nutzen.
Plötzlich will mich ein junger Typ voller Tattoos von meinem Platz verjagen, doch eine alte Dame, die mich wohl niedlich findet, hält ihn davon ab. Das stimmt mich kurzzeitig ein wenig versöhnlicher, obwohl ich alte Leute eigentlich nicht riechen kann.
Die mal vernichtenden und mal verwunderten Blicke der anderen um mich herum lassen mir das Fell zu Berge stehen. Ich sollte erwägen, mir ein Schild um den Hals zu hängen: »Verlassener und äußerst zorniger Kater«. Andererseits … vielleicht sollte ich froh sein, nicht auf einer Autobahnraststätte an einen Laternenpfahl gebunden worden zu sein.
Was für ein Hundeleben!
2
Paul
»Alles Gute zum Geburtstag, Prinzessin«, rufe ich und schwenke meine beiden jüngsten Kreationen.
Louise blickt zu mir auf, wenig überzeugt. Zum Glück kann ich mich auf den Enthusiasmus ihrer Nanny Rachel verlassen.
»Wow! Eine Saint-Honoré-Torte und ein Kuchen in Judy-Form. Deine geliebte Judy aus Zoomania!«
»Danke, Papa, das sieht toll aus.«
»Diesen bekommst du, weil du sieben Jahre alt wirst, und diesen, weil du schon eine richtige kleine Feinschmeckerin bist. Ich konnte dir ja schlecht eine reine Zuckerbombe backen.«
»Stimmt. Du bist spitze und Spitzenbäcker!«
»Genau. Jetzt puste die Kerzen aus!«
»Rachel, hilfst du mir?«
»Okay. Eins, zwei, drei!«
In der Wohnküche nehme ich meine Schürze ab und atme einmal tief durch. Ich weiß, dass ich Louise niemals wirklich genügen werde, aber ich tue mein Bestes. Die Sonntage ohne Aurélia sind unbestreitbar die schwersten Tage der Woche.
Während Rachel die beiden Kuchen anschneidet, gehe ich in mein Zimmer und hole die Geschenke, die ich ganz oben im Schrank versteckt hatte.
»Papa, wo bleibst du?«
»Ich komme, mein Spatz.«
Ihre Augen leuchten auf, als sie den Geschenkeberg in meinen Armen sieht. In diesen Momenten wird sie für einen kurzen Augenblick wieder zu einem normalen Kind. Neugierig und aufgekratzt.
»Sind die alle für mich?«
»Nein, eins ist für dich. Die anderen sind für das Nachbarsmädchen.«
»Ha ha! So ein Quatsch«, sagt sie entrüstet.
»Natürlich sind die für dich. Du kannst sie nach dem Essen aufmachen, okay?«
»Okay. Der hier ist voll lecker, Papa. Was tust du da noch mal rein?«
»Schlagsahne, Brandteig, Blätterteig und Konditorcreme.«
»Mjam.«
Lächelnd wische ich ihr etwas Sahne von der Nase.
Plötzlich verfinstert sich ihre Miene.
»Papa, ich habe jetzt zum dritten Mal meine Kerzen ohne Mama ausgepustet.«
»Ich weiß, mein Herz. Aber sie ist im Mama-Paradies und schaut dir zu.«
Ich glaube weder an Gott noch an das Paradies. Doch für Louise greife ich seit drei Jahren auf dieses Mittel zurück. Seit Aurélia uns verlassen hat, seit eine jäh verlaufene Meningitis sie uns innerhalb von 48 Stunden entriss.
Wir waren so glücklich, wir hatten alles. Liebe, berufliche Erfüllung, Familie und eine gemütliche Wohnung in unserem Lieblingsviertel in Paris. Und dann, plötzlich, riss man uns eine Gliedmaße aus, ohne Vorwarnung.
Doch ich sollte heute nicht an meine Wut denken. Es ist Louises Tag.
»Willst du diese Woche wirklich nichts mit deinen Schulfreundinnen machen?«
»Nein.«
Sie verschließt sich komplett. Ich verstehe nicht, warum ich immer einen wunden Punkt treffe, wenn ich dieses Thema anspreche. Hat sie Angst vor dem Schulbeginn in zehn Tagen, wenn sie nach dem Vorbereitungsjahr in die erste Klasse kommt?
Im Kindergarten hatte sie eigentlich viele Freunde. Seit der Grundschule ist sie Einzelgängerin. Ich sehe nur hin und wieder ihre Freundin Ella. Dieses Jahr würde ich gern noch andere kennenlernen. Damit ich das Gefühl habe, dass sie in einer Gruppe Kind sein kann, wenn auch nur eingeschränkt. Ich möchte, dass sie Spaß hat und sich im Einklang mit ihrem Umfeld entwickelt.
Doch für den Moment kann ich die Frage nicht vertiefen. Mit ihren gerade sieben Jahren lenkt sie geschickt vom Thema ab.
»Papa, darf ich jetzt die Geschenke aufmachen? Ich habe aufgegessen.«
»Ja, nur zu. Nein, warte. Erst Hände waschen.«
»Na gut, wenn du willst.«
Ich hebe sie hoch und wirbele sie im Kreis, damit sie wieder richtig lächelt, ganz ungetrübt. Es funktioniert, und das beruhigt mich. Als ich ihr die Seife reiche, bespritze ich sie ein wenig mit Wasser, tue aber so, als sei es aus Versehen.
»Hey, du hast mich begossen!«
»Wie einen Pudel?«
»Pff! Nein, wie Vaiana auf ihrem Boot!«
»Na, solange du nicht vereist bist wie Elsa, ist ja alles gut.«
»Papa?«
»Ja?«
»Gehen wir bald ins Disneyland?«
»Ja, versprochen.«
»Darf Rachel mitkommen?«
»Natürlich.«
Rachel zwinkert mir zustimmend zu, und Louise setzt sich an den Tisch, auf dem die Päckchen liegen. Es geht ans Papieraufreißen. Ihre Verzauberung ist fast vollkommen. Ich glaube, ich liege mit den Geschenken richtig. Brandaktuelle Stifte, ein Zeichenheft, eine Malpalette, Farbtuben, Disney-Sammelfiguren, Judy als Kuscheltier und ein Armband-Bastelset.
Louise springt mir in die Arme.
»Das ist noch nicht alles, mein Spatz. Das größte Geschenk ist im Keller.«
»Echt? Wie groß?«
»Das siehst du dann. Zieh dir Schuhe an, wir gehen runter.«
»Okay!«
Rachel hilft ihr beim Anziehen, während ich die Schlüssel suche.
Ich betrachte Louise, wie sie auf und ab hüpft, in ihrem schottischen Faltenrock, mit ihren langen kastanienbraunen Haaren, ihren blauen Augen und ihrer Porzellanhaut. Sie ist schön, meine Tochter.
»Fertig!«, ruft sie triumphierend.
Zu dritt fahren wir mit dem Aufzug in den Keller.
Als ich unten die Tür von Verschlag Nummer 41 öffne, schlägt Louise sich vor Freude beide Hände vors Gesicht. Sie kann es ganz offensichtlich kaum fassen.
»Oh! Ich freue mich so!«
»Dann freue ich mich auch.«
Ich trage die Staffelei in die Wohnung. Ihr seliges Lächeln ist eindeutig mein Geschenk des Tages. Sie malt und zeichnet so gern, dass sie seit eineinhalb Jahren fast ihre gesamte Freizeit damit verbringt. So wie es bei mir mit dem Kochen war, auch wenn ich ein paar Jahre älter war als sie, als ich begann, mich dafür zu interessieren. Ich war etwa elf.
Meine Eltern wollten, dass ich Medizin studiere, sie hatten Angst um mich wegen meiner kulinarischen Besessenheit. Lange hatten sie noch gehofft, ich würde mich von Töpfen und Tellern abwenden, doch sie legten mir keine Steine in den Weg. Schließlich halfen sie mir sogar, mein eigenes Restaurant zu eröffnen. Es tröstete sie, eine Dermatologin zur Schwiegertochter zu haben. Sie waren stolz auf uns.
So wie ich stolz auf meine Tochter bin. Sie hat Talent, Feingefühl, Geduld, unglaubliche Fingerfertigkeit und bereits eine lebhafte Fantasie.
Natürlich mache ich mir nichts vor. Ich weiß, dass die Welt, die sie sich auf dem weißen Blatt erschafft, die Wirklichkeit verdrängen soll, die nicht für sie gemacht zu sein scheint. Oder der sie zu entfliehen sucht.
*
Als Rachel gegangen ist und Louise schläft, schenke ich mir einen Whisky ein und warte auf meinen besten Freund, Gustave. Ich lernte ihn vor Jahren kennen, als ich mein Restaurant plante. Er hatte im Marais gerade seine Saftbar eröffnet. Wir waren zufällig dort eingekehrt, weil Aurélia Lust auf einen fruchtigen Imbiss hatte. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt, Aurélia sechsundzwanzig, und Gustave achtundzwanzig. Wir spürten sofort eine Verbindung, und so redeten wir über das Viertel und unsere jeweiligen Läden und beschlossen, uns wiederzusehen.
Von außen mochte unsere Freundschaft erstaunlich scheinen. Eine Dermatologin in der Ausbildung, ein junger Koch mit Ambitionen und ein exzentrischer Unternehmer. Zwei Heteros, verliebt seit dem Abi, und ein Schwuler, der sein tägliches Recht auf Spaß, Freiheit und neue Genusserlebnisse einfordert. Doch den Willen, unsere Projekte durchzuziehen und das Leben in vollen Zügen zu genießen, hatten wir gemein. Unsere Verbundenheit war stärker als alle Konventionen.
Gustave unterstützte mich sehr beim Aufbau meines Restaurants, dem Décalage horaire. Er war immer da, bei Lachanfällen und Rückschlägen. Ein wahrer Freund, trotz seinem nicht ganz einfachen Charakter. Verrückt, unangepasst, abgehoben und sehr direkt. Eine Stimmungskanone, die morgens mit gesunden Säften und fetttriefenden Croissants auf der Baustelle auftauchte. Aber auch eine Schulter zum Anlehnen. Ich weiß nicht, wie ich es ohne ihn geschafft hätte, als Aurélia von uns ging. Einunddreißig, das ist kein Alter zum Sterben. Innerhalb von zwei Tagen zu sterben, ohne Aufschub, ohne Hoffnung, ohne auch nur Zeit zum Hoffen zu haben.
Ich hatte meinen Körper verlassen, war vom Schmerz gelähmt. Ein Zombie ohne Kontrolle. Unfähig, mich um irgendetwas zu kümmern. Sie fehlte mir jede Sekunde. Ich konnte mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Ohne meine treue Gefährtin, meine Seelenverwandte. Man hatte mir eine Hälfte amputiert, und ich verlor das Gleichgewicht.
Außerdem war da dieses ständige Schuldgefühl, das Gefühl der Machtlosigkeit. Ich hatte geschworen, auf sie aufzupassen, sie auf ihrem Weg zu beschützen. Ich hatte mein Versprechen gebrochen. Ich hatte nichts tun können gegen die Meningitis. Schlimmer noch, ich wusste nicht einmal, dass man an Meningitis immer noch sterben kann, erst recht nicht im Erwachsenenalter.
Gustave war für Louise da, in seiner Rolle als ihr Wahlonkel. Und für mich, als ich mein Bett nicht mehr verließ, als ich nichts mehr von meinem Restaurant wissen wollte. Ich glaubte, ich würde nie wieder aufstehen. Er half mir, eine Gliedmaße nach der anderen anzuheben, nach und nach, Monat für Monat. Und dann richtete ich mich auf, denn die Liebe zu einem Kind gibt einem unvorstellbar viel Kraft. Ich musste für zwei stark sein, für sie. So wie Aurélia es gewesen wäre, wenn der Tod mich als Ersten geholt hätte.
Ich sagte mir, ich dürfe nicht zweimal meine Pflicht verletzen.
Aurélia fehlt mir immer noch jede Sekunde, aber ich habe den Gedanken akzeptiert, dass sie in Louise weiterlebt. Jeden Morgen sehe ich ihr Lächeln durchschimmern, das hilft mir, weiterzumachen.
22 Uhr. Das ist seine Zeit.
»Hey, mein Freund!«
»Na? Du hast ja nasse Haare. Wo kommst du denn her?«
Er wirft seine Sporttasche aufs Sofa und schnappt sich meinen Rest Whisky.
»Ich habe spät trainiert und dann noch jemanden getroffen. Komme gerade aus der Dusche.«
»Ah ja. War es gut?«
»Mega. Ein bartloser Hüne. Da stehe ich gerade voll drauf.«
»Wieder ein Grindr-Date?«
»Ja. Wie war Louises Geburtstag? Hat ihr die Staffelei gefallen? Echt blöd, dass ich das verpasst habe.«
Gustave arbeitet sonntags, ich habe da frei, so wie auch am Donnerstagnachmittag.
»Ja, sie war sehr angetan. Es war schwer, sie ins Bett zu kriegen, sie wollte alles heute ausprobieren.«
»Ist doch super. Ich habe ihr ein Mäntelchen gekauft. Ich lege es hier hin, gib es ihr morgen. Dann hat sie noch etwas länger Geburtstag.«
»Danke, Gus. Das ist lieb.«
»Und ich will ein Foto, okay?«
»Versprochen. Darf ich dir etwas zu trinken anbieten? Mein Glas hast du ja schon geleert.«
Wir prusten los.
»Ja. Noch mal das Gleiche? Lieber kein Durcheinander – ich habe gestern Abend schon leicht übertrieben.«
»Geht klar.«
Gustave schließt sein Handy an meine Anlage an und startet eine Electro-Lounge-Playlist, in gemäßigter Lautstärke.
»So, mein Freund, wir müssen reden. Deine Tochter ist jetzt sieben Jahre alt, du wirst bald sechsunddreißig.«
»Übertreib mal nicht. Ich bin vor vier Monaten fünfunddreißig geworden.«
»Sei kein Erbsenzähler, sonst nenne ich dich Paulchen.«
»Untersteh dich!«
»Komm, setz dich.«
Ich weiß, was jetzt kommt, ich schweige und tue so, als hantierte ich in der Küche. Ich habe keine Lust auf dieses Gespräch.
»Hallo? Erde an Paul?«
»Ich komme. Aber erzähl mir lieber von deinem Abend.«
»Nein. Du kannst nicht vor allem davonlaufen.«
Er legt mir die Hand aufs Bein.
»Bitte, hör mir zu. Du bist groß und weißt gar nicht, wie schön du bist mit deinen betörenden grünen Augen, deinen Muskeln und deinem Engelsgesicht.«
»Hör auf.«
»Aurélia hätte sicher nicht gewollt, dass du sie bis ans Ende deiner Tage beweinst. Sie hätte gewollt, dass du lebst. Sie kam nicht dazu, es dir zu sagen, und das ist vielleicht auch besser so, weil sie keine Zeit hatte zu verstehen, dass es vorbei war.«
Ich schwanke zwischen den Impulsen, ihm eine reinzuhauen, meine Tränen fließen zu lassen und ins Bett zu gehen. Aber er macht weiter, hält jetzt meinen Arm fest, weil er spürt, wie die Wut in mir aufsteigt. Die Wut, in der sich mein Sehnen, die nicht weichen wollende Traurigkeit und die Verdrängung äußern.
»Wenn es dir passiert wäre, hättest du gewollt, dass sie ihr Gefühlsleben komplett abhakt? Dass sie sich in ihrer Arbeit vergräbt? Nein. Du hättest gewollt, dass sie dich in ihrem Herzen bewahrt und sich wieder fängt. Du hättest das Beste für sie gewollt, so wie sie das Beste für dich wollte.«
»Du gehst mir echt auf den Sack!«
Die Worte kommen nicht so heraus, wie ich sie meinte, aber er soll einfach still sein.
»Das ist mir egal. Es ist drei Jahre her. Ich möchte nicht, dass du durchs Leben irrst, ich möchte, dass du lebst. Deshalb habe ich dich bei drei Apps angemeldet.«
»Bitte?«
Ich glaube, ich spinne.
»Ja, mein Freund. Happn, Tinder und Once.«
»Tickst du noch richtig?«
»Du sagst immer, du hättest keine Zeit, jemanden kennenzulernen. Also habe ich eine Lösung für dich gefunden.«
»Scheiße, Mann, ich will keine Frau, klar?«
»Ach ja? Du willst dein Leben lang mit eingezogenem Schwanz und versiegeltem Herzen herumlaufen? Tolles Vorbild für deine Tochter.«
»Lass Louise da raus.«
Ich springe auf. Am liebsten würde ich irgendetwas zerschlagen. Ich halte mich zurück, weil ich weiß, dass er es nur gut meint, aber es ist, verdammt noch mal, mein Leben! Ich verstehe nicht, warum er mich derart überrumpelt. Solange das Restaurant läuft und Louise in den bestmöglichen Verhältnissen aufwächst, erfülle ich meinen Teil des Deals.
»Paul, bitte. Ich sage ja nicht, du sollst morgen jemanden treffen. Aber öffne dich etwas. Das ist wichtig. Wenn ich dir nicht in den Hintern trete, traut sich sonst niemand. Dabei wünschen dir alle, dass du diese Hürde überwindest. Glaub mir. Kannst du wenigstens in Betracht ziehen, mit einer anderen Frau zu schlafen? Auch wenn es vor Aurélia nur eine andere gab. Nur zum Auspowern. Sieh es als Ventil zum Abreagieren. Dafür ist es auch gut.«
»Du nervst. Ich gehe ins Bett.«
»Das ist jetzt kindisch. Aber geh nur. Ich weiß, du brauchst Zeit zum Nachdenken. Überschlaf die Sache einfach mal.«
»Ja, genau. Gute Nacht. Zieh die Tür zu, wenn du gehst.«
3
Der Pelzige
Ich habe eine Stinklaune. Ich schleppe meinen struppigen Pelz durch die erdrückende Menschenmenge in Les Halles und suche verzweifelt den Ausgang. Ich sterbe vor Hunger und bin auf Caroline-Entzug. Könnte ich doch nur dieses manipulative Baby in der Luft zerfetzen! Aber das geht ja nicht. Also lasse ich die letzten Wochen Revue passieren, während ich mich zwinge, eine Pfote vor die andere zu setzen.
Wieso habe ich es nicht kommen sehen? Der Krieg mit dem Zwerg beschäftigte natürlich meine gereizten Neuronen, aber so etwas Großes hätte ich doch riechen müssen. Ja, gut, ich habe den Arm »Seiner Quengelnden Hoheit« ein wenig angekratzt, aber das Biest hatte mich am Schwanz gezogen und ins Ohr gebissen! Ich habe mich nur verteidigt, und Caroline schien das verstanden zu haben. Patrick hatte mich auch kaum bestraft.
Offenbar waren sie sehr gut darin, sich zu verstellen. Ich habe nicht mal gehört, dass sie über mein schreckliches Urteil gesprochen hätten.
Endlich draußen. Ich atme auf, als ich Tageslicht erblicke, und murre wieder, als ich den Nieselregen auf meinem Fell fühle. Das hat mir gerade noch gefehlt. Wie soll ich einen Menschen dazu bringen, mir eine angemessene Mahlzeit zu servieren, wenn ich völlig zerzaust meine Schlechtwettermiene zur Schau trage? Ich muss mich beruhigen und Unterschlupf suchen.
Ich laufe weiter und halte kurz vor einem seltsamen Mann inne. Seine Lumpen stehen ihm ebenso schlecht wie seine Verzweiflung. Er scheint am Rande der Welt zu leben, mit seinem imaginären Freund, den er ohne Unterlass volllabert. Es ist ein trauriges Schauspiel. Warum ist er so allein?
Werde ich enden wie er?
Diese Schreckensvision beruhigt mich immerhin in einer Hinsicht: Wenn dieser nach Alkohol stinkende Tattergreis es schafft, seine Schüssel jeden Tag mit Münzen zu füllen, müsste mir mit meiner natürlichen Eleganz beim Fischhändler doch immer ein reichliches Mahl bestellt sein.
Mit hungergeplagten schweren Schritten setze ich meinen Weg fort. Um die Straßenseite zu wechseln, folge ich dem Strom der Passanten. Wenn sie alle gleichzeitig losgehen, heißt das sicherlich, man sollte vermeiden, es anders zu machen. Inzwischen werde ich nicht mehr vom Regen durchnässt, aber ein Blick zum Himmel bestätigt mir, dass es bald den nächsten Guss geben wird. Ich sehe es positiv: Bestimmt ist jetzt der Dreck aus dem Zug von mir abgewaschen.
Während ich mich zwischen den Pfützen auf dem Kopfsteinpflaster durchschlängele, stelle ich fest, dass mein Näschen kitzelt und eine Flüssigkeit absondert, die nichts Gutes verheißt. Oh nein! Ich darf nicht krank werden! Wer soll mich denn pflegen, mich in eine Decke hüllen, mir erlauben, in seinem Bett zu schlafen, und mich mit Streicheleinheiten überhäufen, um mir die bitteren Medikamente zu versüßen?
Sicher nicht diese hässliche Eule mit ihrem karierten Einkaufsroller. Die Stilpolizei hätte sie längst verhaften sollen.
Caroline hätte das kriminelle Objekt mindestens vergraben. Doch Caroline ist nicht hier. Sie ist ab jetzt nie mehr da. Diese Streunerin hingegen wühlt in Mülleimern und klebt mir seit zehn Minuten an den Pfoten. Eines ist sicher: Sie schaut nicht CSI. Denn dann wüsste sie, dass diskretes Beschatten ganz anders aussieht als ihre bescheuerte Treibjagd.
Sie hat es nicht verstanden: Unter keinen Umständen werde ich zur drogensüchtigen Straßenkatze, die auf einem Stück Stoff – oder Plastik – sitzt, um die gleichgültige Menge zu erweichen. Du kriegst mich nie, du entwendest mich nicht meinem Schicksal, das, zugegeben, seit vierundzwanzig Stunden an meinen Nerven zerrt, aber sonst nur wunderbar und schillernd sein kann. Denn ICH weiß, dass ich es wert bin.
Ich laufe schneller, achte nicht auf meine gereizten Ballen, die so langes Traben nicht gewöhnt sind, und hänge meine Verfolgerin ab.
*
Die Nacht ist über die Stadt hereingebrochen, die sich mit Laternen und fahlem Neonlicht wehrt. Verkatert noch mal, ich mag die Dunkelheit nicht. Ich schlafe immer neben einer Lampe oder einem Apparat, auf dem Zahlen dahinziehen, der blinkt so und die Finsternis bekämpft.
Was? Spart euch die spöttischen Gesichter!
Es ist keine Schande, die Nacht zu fliehen, selbst wenn man im Dunkeln sehen kann. Ich bin schließlich erst vier Jahre alt. Und jetzt kommt mir nicht damit, dass das in Katzenjahren schon achtundzwanzig sind. Ich verstehe diesen absurden Vergleich nicht. Bald sagt man mir noch, wie alt ich in Lemurenjahren bin, oder in Schwalben- oder Goldfischjahren.
Apropos Fisch: Das ist vielleicht mal ein leerer, glupschiger Blick, der sich gut in der Auslage eines Fischhändlers machen würde. Diese Augen scheinen wie starr gehext. Ihre tollpatschige Besitzerin – die fast auf mich getreten wäre – hat einen Mann mit nur wenig ausdrucksvollerer Miene untergehakt. Menschliche Schatten, die von Stunde zu Stunde mehr werden und mir wenigstens eine visuelle Beschäftigung bieten, während ich mich nach einem Kissen sehne oder nach einem Sofa oder nach einem Stückchen Decke. Nach einem Stückchen irgendetwas.
In meinem Unglück wird mir klar, dass ich immerhin dem Winter entgangen bin. Man hat mich zwar ausgesetzt wie einen gemeinen Köter, aber wenigstens ist es Ende August. Und es ist einfacher, ein wenig Wasser zu finden, um der schwülen Hitze zu trotzen, als ein Dach, um nicht elendig zu erfrieren.
Ich versuche dennoch mein Glück in einer lauten Bar. Keine Frauen weit und breit, nur Kerle. Dicht an dicht. Ich schlüpfe zwischen den Beinen hindurch.
»Seit wann gibt es im Marais streunende Katzen, verflucht? Verschwinde, kusch! Ich bin allergisch. Du bist echt eklig, mit deinen nassen Borsten. Hau ab!«
Der Fußtritt, der mein Hinterteil streift, bringt mich einem Herzinfarkt nahe. Wie kann dieser beschickerte Trottel es wagen, mich zu treten? Und warum verteidigt mich niemand? Ich habe Schönheitswettbewerbe gewonnen! Hier stimmt wirklich gar nichts mehr. Gestern rief man noch meinen Namen, und heute beschimpft man mich als streunende Katze? Ist die Welt ganz und gar verrückt geworden?
Ich verbiete meinem Gehirn, den Schmerz in Emotion umzuwandeln. Schließlich bin ich kein kleines Kätzchen mehr, ich werde nicht heulen.
Mir meiner Machtlosigkeit bewusst – anders als Bolt, dieser dämliche Disney-Hund, der glaubte, er könne die Bösen mit seinen Superkräften besiegen –, mache ich auf den Hinterpfoten kehrt, mit dennoch leicht angelegten Ohren.
In einem von einer Straßenlampe schwach erleuchteten Hauseingang lasse ich mich zwischen einem Karton und einer gelben Mülltonne nieder. Für den Augenblick akzeptiere ich meine schmähliche Niederlage und diese unleugbare Tatsache: Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich draußen nächtigen.
4
Paul
Louise schlingt ihr Frühstück herunter, ich bringe sie gleich zu meinen Eltern. Meinerseits entdecke ich, dass Gustave Dating-Apps auf meinem Handy installiert hat. Ich könnte ausrasten. Das ist total übergriffig! Er hat Passwörter ausgewählt, sie auf einem Post-it notiert und auf den Sofatisch geklebt.
Ich schließe alle Anwendungen, schreibe ihm aber keine gepfefferte Nachricht. Ich will mich nicht am Montagmorgen mit ihm anlegen, bevor ich in die Woche starte.
Erst recht nicht in der Woche unseres Hochzeitstages. Aurélia und ich wären am Mittwoch dreizehn Jahre verheiratet gewesen. Ich erinnere mich an den Tag, als sei es gestern gewesen. Aurélia war einundzwanzig, trug ein hinreißendes Korsagenkleid und einen Dutt, der ihren zarten Nacken und ihr kastanienbraunes Haar phänomenal in Szene setzte.
Ich schaue Louise an, sie hat definitiv die Anmut ihrer Mutter geerbt.
Sie spielt mit ihrem Anhänger, den Blick ins Leere gerichtet. Der Anhänger enthält ein Foto von den beiden. Ich hatte ihn ihr ein paar Monate nach der Tragödie geschenkt und gesagt, auf diese Weise sei ihre Mama immer bei ihr, wenn sie sie brauche. Es zerreißt mir das Herz, dass das in diesem Moment wohl der Fall ist.
Ich versuche, sie abzulenken, und mich gleich mit.
»Möchtest du noch einen frischen Orangensaft?«
»Nein, danke. Ich habe genug, Papa.«
»Weißt du, Gustave war gestern Abend noch hier.«
»Ja?«
»Ja. Du hast schon geschlafen, aber er hat ein Geschenk für dich auf die Kommode im Flur gelegt.«
»Oh, wie lieb von ihm.«
»Willst du es auspacken?«
»Ja!«
Sie reißt das Päckchen auf, und ihre Augen leuchten, als sie den beigefarbenen Trenchcoat sieht. Schon wieder eine schicke Marke, ich werde Gustave gleich doppelt die Ohren lang ziehen. Sein Herz ist groß wie ein Kürbis, aber er macht nur, was ihm gefällt. Dieser Esel. Hundertmal habe ich ihm gesagt, er soll Louise nicht so teure Sachen kaufen, weil sie schnell herauswächst und er sich ruinieren wird. Doch er stellt sich taub. Hundertmal habe ich ihm auch schon gesagt: Ich will niemanden kennenlernen, ich will Aurélia nicht verraten. Auch da stellt er sich taub.
Ich sollte vielleicht meine Taktik ändern. Ihm entgegenkommen und ihn dann auf einem anderen Terrain festnageln. Etwa so: Ja, klar, Mann, ich verabrede mich. Und nach dem Date erzähle ich dann, wie sehr diese Sache schlafende Dämonen geweckt hat. Ihm sagen, ja, klar, kauf Louise ruhig sauteure Kleidung. Und ihm dann erzählen, dass sie ihr auf der Straße geraubt worden ist, zum Glück ohne Gewalt, aber traumatisiert ist sie trotzdem.
In zwei Etappen zum Sieg, indem ich das Problem verlagere. Auf seine Empfindsamkeit abzielen, mit List, ohne ihn frontal anzugreifen.
Das ist ein lohnender Gedanke.
»Er ist wunderschön, Papa. Kann ich Gustave anrufen, um mich zu bedanken und ihm ein Küsschen zu geben?«
»Ja, mein Spatz, aber erst heute Abend in Ruhe, okay? Jetzt pack deine Sachen, und ich dusche noch schnell, und dann geht’s auf zu Oma und Opa, und für mich zur Arbeit.«
»Du bist der Chef. Du kannst kommen, wann du willst, eigentlich.«
»Wer hat dir das denn erzählt? Der Chef muss mit gutem Beispiel vorangehen, Prinzessin.«
»Das war Mama. Sie hat immer gesagt, du bist … hm … ›der seriöseste Typ, den sie kennt‹. Und dass es halb so wild ist, wenn wir am Samstagmorgen noch im Bett kuscheln, weil du ja schließlich der Chef bist.«
»Das ist ja allerhand. Aber wenn Mama das gesagt hat, hatte sie bestimmt ein bisschen recht. Und jetzt, hopp hopp! Ich will dich erst wiedersehen, wenn du alle deine Sachen unterm Arm hast.«
Sie läuft in ihr Zimmer und kommt wie der Blitz zurück.
»Kann ich eine größere Tasche mitnehmen, für meine Malsachen?«
»Ja, nimm meine, in meinem Schrank, linke Tür, unten.«
Sie murmelt meine Angaben vor sich hin, damit sie sich nicht vertut.
*
Unter der Dusche denke ich wieder an den Schulanfang am nächsten Mittwoch. Ich hoffe wirklich, dass Louise sich mit dem Gedanken anfreundet. Es hat ihr noch nie so widerstrebt, nach den großen Ferien zurückzugehen. Letzten Freitag haben wir ihre Schulsachen gekauft, und sie hat nicht mal gelächelt, als wir Ranzen und Mäppchen aussuchten. Zum Glück fanden wir letztlich ein Sortiment mit Feen-Motiven. Nur diese kleinen magischen Wesen schaffen es in jeder Lage, sie aufzuheitern. Louise glaubt, dass es sie wirklich gibt und dass Aurélia eine Fee im Mama-Paradies ist.
Ich mache mir Sorgen um sie, auch wenn ich versuche, kein überängstlicher Gluckenvater zu werden. Aurélia wollte, dass Louise stark, selbstbestimmt und kämpferisch wird. Die Saat ihrer Erziehung darf ich nicht verkümmern lassen. Ich weiß ja, dass Louise weiterhin mehrmals pro Woche mittags oder abends ihre vier Großeltern sehen wird, dass meine Schwägerin Clémence noch immer die Zeit finden wird, mit ihr zum Zeichnen in den Park zu gehen, und dass meine Tochter das Ende der Ferien und des Hauchs von Freiheit verkraften wird.
Aber ich hoffe, sie fügt sich in ihre neue Klasse ein und versteht sich mit ihren Kameraden. Findet neue Freundinnen. Ich habe gelesen, dass ein Kind mit Gleichaltrigen verkehren muss, um sich zu entfalten. Vor allem, wenn es keine Geschwister hat. Ich wünschte, wir hätten die Zeit gehabt, ihr das zu geben. Ich als Einzelkind habe das immer als großen Mangel empfunden.
*
Auf dem Motorroller konzentriere ich mich gleichzeitig auf den Verkehr und Louises kleine Hände, die sich wie üblich an mir festklammern.
Ich mag unsere Rituale. Die Momente, die wir im Alltag teilen. Ich bin froh, sie jeden Morgen dort hinbringen zu können, wo sie hinmuss, und sie am Nachmittag wieder abzuholen. Zwar kann ich nur selten mit ihr zu Mittag oder zu Abend essen, aber ich bin ein Papa, der vor und nach der Schule da ist. Es gibt mir ein gutes Gefühl, dass ich ihr diese Präsenz bieten kann.
Sie fliegt meinen Eltern in die Arme, die mich vor ihrem Haus begrüßen, und ich fahre schnell weiter, um vor dem Mittagsservice noch kurz einzukaufen.
Als ich beim Restaurant ankomme, halte ich kurz vor der Fassade inne. Aurélia hatte die Wanduhr mit multipler Anzeige bei einem Trödelhändler aufgetan. Sie sollte die verschiedenen Zeitzonen in meinem Restaurant Décalage horaire symbolisieren.
Das Konzept ist simpel: Sie haben keine Zeit für einen Wochenendtrip oder einen Urlaub? Dann machen Sie einen Ausflug für die Dauer eines Dinners.
Es gibt sechs Minisalons, getrennt durch Wände und Türen, durch die meine Kellnerinnen und Kellner inzwischen sehr diskret ein und aus gehen. Sechs Salons für sechs Städte, und vier Tische pro Salon für etwa fünfzig Gedecke. Wenn man ankommt, klingelt man als Erstes, als besuche man Freunde zum Essen, dann holt man am Empfang sein Ticket und betritt die gewählte Kulisse: Paris unterm Sternenhimmel, New York im Sommer, 35 Grad Celsius auf den Seychellen, Venedig – Stadt der Liebe, Moskau im Schnee und Bali – zwischen Tempeln und Reisfeldern.
Die Farben der Wände, Böden und Decken jedes Salons sind auf den jeweiligen Ort abgestimmt. Die Musik – als leise Untermalung –, Möbel und Gerüche auch. Bei den Gerichten auf der Karte gilt ein anderes Prinzip: Es gibt zwar Spezialitäten aus jedem der sechs Länder, aber man kann sie essen, wo man möchte. So kann man in Moskau traditionelle französische Küche genießen, in Italien einen Burger oder auf den Seychellen ein Nasi Goreng.
Die Gelüste des Magens gehen nicht immer mit denen der Augen einher.
Die Idee fand nach und nach Anklang bei Freunden der Gastronomie und des Reisens. Ich stehe in mehreren Restaurantführern, werde als Geheimtipp in Paris empfohlen und erhielt sogar das »Zertifikat für Exzellenz« von TripAdvisor.
So kann ich es mir erlauben, fünf Kellner und vier Leute in der Küche zu beschäftigen, mich selbst nicht eingeschlossen. Einen Souschef, der auf Patisserie spezialisiert ist, mich aber an jedem Posten vertreten kann, wenn ich mal nicht da bin. Einen Beikoch für die Warmspeisen und eine Beiköchin für die Kaltspeisen. Und einen Tellerwäscher, der die Gabe besitzt, uns zu erheitern, ganz egal, welche Stimmung herrscht.
»Hallo, Chef!«
»Hey, Sophie.«
Sophie ist eine meiner Kellnerinnen und abwechselnd mit Véronique für den Empfang zuständig.
Sie ist neunundzwanzig und arbeitet seit acht Jahren für mich. Sie hat sich immer eine weniger professionelle Beziehung zwischen uns gewünscht, was Aurélia gelegentlich zur Verzweiflung brachte. Die beiden konnten sich nicht ausstehen. Damals hat mich das amüsiert. Seit Aurélias Tod habe ich noch mehr Abstand zwischen Sophie und mich gebracht. Dennoch hat sie hin und wieder vorgeschlagen, wir könnten ja mal ausgehen, als ob ich mich jetzt, da der Platz frei ist, für sie interessieren würde.
Da hat sie meinen Sinn für Loyalität aber unterschätzt. Wenn es auf der ganzen Welt eine Frau gibt, die ich niemals anfassen werde, dann sie. Ich habe zu großen Respekt gegenüber Aurélia. Außerdem zieht mich Sophie persönlich überhaupt nicht an. Dafür ist sie aber ein Arbeitstier, und ihre rigorose Effizienz macht sie zu einem wesentlichen Element des Restaurants.
In der Küche sind alle schon bei der Arbeit. Ich schärfe meine Messer, ein Geschenk von Aurélia zum Dreißigsten.
Es ist an der Zeit, Messer und Löffel zu schwingen. Heute Abend habe ich zwei besondere Gäste. Rachel und Louise nehmen im Licht der Seychellen ein amerikanisches Dinner ein.
Véronique, eine Kellnerin, deren Herz weicher ist als ein gutes Rinderfilet, freut sich immer, meine Tochter zu sehen. Sie hat selbst vier Kinder, hegt aber eine ganz besondere Zuneigung für Louise.
Das beruht auf Gegenseitigkeit. Véronique ist »Tante Véro« für sie.
5
Der Pelzige
Ich konnte mich nicht dazu durchringen, in einem Karton zu schlafen. Ich zog der Pappe den Beton vor. Das bereue ich jetzt am Morgen. Ich habe kaum ein Auge zugetan, zwischen dem Geschrei all der Spinner, dem Gehupe, meinem Magenknurren und der Müllabfuhr, die mich beim ersten Tageslicht aufscheuchte.
Auf der Suche nach einem zarten Gemüt, das ich um die Kralle wickeln kann, ziehe ich durch die Straßen. Die Sonne gibt sich mehr Mühe als gestern, mein Körper findet langsam zu seiner eigentlichen Anmut zurück, und mein Entschluss nimmt Form an. Ich muss mein Leben in Ordnung bringen.
Mein rosa Näschen mit der schwarzen Umrandung ließ Caroline auf den ersten Blick dahinschmelzen, genau wie mein weiß und tabby gezeichnetes Fell.
»Was ist ›tabby‹?«, fragt ihr? Schwarz-grau getigert, ihr Banausen.
Ein attraktives Äußeres ist oft schon die halbe Miete, oder? Und ich bin mehr als nur ein Playboy-Kätzchen. Ich weiß, wie man Türen öffnet, Mäusekadaver sammelt, wenn die Viecher sich ins Haus verirren, den Fernseher anschaltet, um der erdrückenden Langeweile zu entgehen, und – manchmal – wie man Zuneigung heuchelt, um mehr Futter zu bekommen. Ich werde nicht obdachlos bleiben, sonst wäre ja für meine Artgenossen, die weniger gesegnet sind als ich, jede Hoffnung verloren.
Zwei Zielpersonen habe ich schon ausgemacht. Die Inhaberin des kleinen Supermarkts und die blonde Friseurin. Nach sorgfältigem Abwägen scheint mir letztere, mit ihren etwa vierzig Jahren, die bessere Wahl zu sein. Sie wirkt zugänglicher für einen Annäherungsversuch. Definitiv machtlos gegenüber meinem Charme.
Ich leite die Phase der Verführung ein.
Laszive Schwanzbewegungen, Kulleraugen à la Shreks Gestiefelter Kater, Schnurren und herzzerreißendes Miauen. Ich ziehe alle Register. Während dieser hoch professionellen Nummer muss ich feststellen, dass Schuster vielleicht die schlechtesten Schuhe tragen, aber Friseurinnen auf jeden Fall am schlechtesten frisiert sind. Peinlich! Mein Frauchen wäre nie ungefönt auf die Straße gegangen, und ihre Koloration begann am Ansatz, nicht in den Spitzen. Ich habe so viele Stylemagazine im Fernsehen gesehen, dass ich alle Schönheitsgeheimnisse kenne, auch wenn das Mädchensache ist. Meiner Männlichkeit tut das keinen Abbruch.
»Du bist ja zuckersüß! Komm her. So eine schöne Katze wie dich habe ich ja noch nie gesehen.«
Die Gute ist bei anderen also ebenso wenig objektiv wie bei sich selbst. Ihre Kunden können einem leidtun. Ja, ich bin wunderschön, aber momentan bin ich auf 30 Prozent meines Potenzials reduziert. Auch gut, wenn ihr das reicht: Ich bin derart ausgehungert, dass ich schon gierig auf die Tauben schiele. Ekelhaft.
Fünf Minuten später befinde ich mich im Friseursalon.
*
Nach einem verdienten Nickerchen stelle ich die Ohren auf. Ein mir wohl bekanntes Klongklong ist erklungen: Katzenbrekkies, die in eine Schüssel fallen. Die Blondine, die laut den Angestellten wohl Sylvie heißt, hat also für mich eingekauft. Juchhu! Zu Tisch!
Trinken. Essen. Und wieder von vorn, bis mir schlecht wird, damit ich für kommende Strapazen gewappnet bin. Schnurren, um mich lieb zu zeigen, und mich dann wieder auf den weißen Teppich im Schaufenster legen, dessen Ausblick eine hübsche Ablenkung bietet.
Ich habe meinen Rhythmus gefunden.
»Ich hoffe, er pisst nicht auf den Boden!«, meckert eine kleine Dicke mit hässlichen Bildern auf den Unterarmen.
Nein, du dumme Pute, ich riskiere doch nicht, Unterschlupf und Vorratskammer zu verlieren, die ich gerade erst gefunden habe. Ich bin schlauer, als du denkst. Und außerdem trage ich wenigstens keinen Ring in der Nase wie ein Ochse.
Es macht mich wahnsinnig, dass die Menschen mich nicht verstehen. Sie werden niemals meine Schlagfertigkeit würdigen.
Wie auch immer, niemand scheint auf ihren dämlichen Kommentar einzugehen. Ich mache einen Buckel, strecke mich vornehmst und lege den Kopf auf die Vorderpfoten, um allgemeines Wohlwollen hervorzurufen. Eine Katze, die still ist, ist eine Katze, die jeder mag. Ich werde sicher nicht ewig hier Quartier beziehen, aber als Übergangslösung ist es mehr als passabel.
Eine alte Dame mit Gehstock begrüßt die Mädels, nachdem sie mühevoll die Eingangsstufen erklommen hat. Ihre schrille Stimme malträtiert meine Ohren, sie beschwert sich, dass sie nicht zur verabredeten Zeit frisiert wird. Und so fällt ihr Augenmerk auf mich. Habe ich ein Glück!
Alte Leute sind langsam, stinken und reden zu viel.
Ich werfe ihr zur Abschreckung einen verächtlichen Blick zu, doch das ist ihr schnurrz. Sie scheint von mir begeistert zu sein, und im Grunde kann ich sie verstehen. Ich sehe allmählich wieder besser aus. Aus dem Augenwinkel beobachte ich Sylvie. Ihr Gesicht verrät mir, was sie denkt: Wenn ich die ungeduldige Kundschaft beschäftigen kann, habe ich einen Mehrwert. Also nutze ich die Situation aus und schubbere mich an den Beinen der parfümstinkenden Alten. Wenn sie das für Zuneigung hält, ist das schließlich ihr Problem. Doch als sie beginnt, von meinem Nacken bis zum Schwanzansatz zu streichen, vergesse ich ihre Stimme, ihren Geruch und ihr Alter. Ich gebe mich hin. Mit so einer Krauleinheit kriegt man jeden Kater rum.
Etwas später kippt die kleine Dicke einen Korb mit Lockenwicklern um. Die Dinger rollen in alle Richtungen über den Boden. Instinktiv springe ich auf, bereit, mich auf die tänzelnden Teilchen zu stürzen. Doch mein Verstand sagt mir, du darfst nicht auffallen! Ein Gewissenskonflikt.
Ja, Überraschung, Leute, ich habe ein Gewissen.
Ich entscheide mich für den Mittelweg: Ich laufe hin, fange einen Ausreißer ein und lege ihn Sylvie zu Füßen. Eins zu null für den Kater gegen das Mädel mit den bunten Armen.
*
Es hat mir fast gefallen, die Nacht allein im Salon zu verbringen. Keine tatschenden Kundinnen, keine verstreuten Haare, kein brüllender Staubsauger oder Fön. Und reichlich Futter. Sylvie fiel es natürlich nicht ein, das Licht anzulassen, aber die Straßenbeleuchtung erfüllte diesen Zweck durch das Fenster hindurch. Ich konnte entspannt die Augen schließen.
Das Gemeinschaftsleben beginnt am Morgen ganz gemächlich. Sylvie ist die erste und schmust ausgiebig mit mir. Gern würde ich sagen, dass mir das schnurrz ist, aber irgendwo zwischen Wut und Enttäuschung steckt auch ein bisschen Traurigkeit, die von neuen Händen gelindert werden will. Von unbekannten Händen.