Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. Prolog
  8. Kapitel 1
  9. Kapitel 2
  10. DAWKINS IST GOTT
  11. Kapitel 3
  12. Kapitel 4
  13. Kapitel 5
  14. Kapitel 6
  15. HAUSAUFGABEN FRESSEN NORWEGISCHEN HUND
  16. Kapitel 7
  17. Kapitel 8
  18. Kapitel 9
  19. Kapitel 10
  20. Kapitel 11
  21. Kapitel 12
  22. GEIST VON DAVID BOWIE WILL NEUE SONGS AUFNEHMEN
  23. Kapitel 13
  24. Kapitel 14
  25. Kapitel 15
  26. Kapitel 16
  27. JOBWUNDER IN READING
  28. Kapitel 17
  29. Kapitel 18
  30. Kapitel 19
  31. NESSIE HEMMUNGSLOS: UNGEHEUER ZIEHT UM DIE HÄUSER
  32. Kapitel 20
  33. Kapitel 21
  34. BLUT IST DICKER ALS WACHS!
  35. Kapitel 22
  36. Kapitel 23
  37. Kapitel 24
  38. Kapitel 25
  39. Kapitel 26
  40. WURSTSPEZIALITÄT AUS ESSEX ALS WAFFE MISSBRAUCHT
  41. Kapitel 27
  42. Kapitel 28
  43. Kapitel 29
  44. Kapitel 30
  45. Kapitel 31
  46. Kapitel 32
  47. KRITIK IST FÜR ALLE DA
  48. Kapitel 33
  49. Kapitel 34
  50. Kapitel 35
  51. Kapitel 36
  52. Kapitel 37
  53. SATAN ZIEHT ANDERE SAITEN AUF
  54. Kapitel 38
  55. Kapitel 39
  56. Kapitel 40
  57. HELLSEHER-TAGUNG WEGEN ”VORHERGESEHENER UMSTÄNDE“ ABGESAGT
  58. Kapitel 41
  59. Kapitel 42
  60. Kapitel 43
  61. IMMER NOCH KEINE MARSMENSCHEN IN MASHAM
  62. Kapitel 44
  63. Kapitel 45
  64. Kapitel 46
  65. Kapitel 47
  66. Kapitel 48
  67. Kapitel 49
  68. Kapitel 50
  69. Epilog
  70. Kostenloser Bonus
  71. Danksagung

Über das Buch

Dunkle Kräfte sind am Werk – und The Stranger Times geht ihnen auf den Grund. Die Wochenzeitung ist Großbritanniens erste Adresse für Unerklärtes und Unerklärliches. Zumindest ist das ihre Eigenwerbung … Gleich in Hannah Willis’ erster Arbeitswoche bei der Zeitung tritt eine Tragödie ein, und The Stranger Times ist gezwungen, tatsächlich investigativen Journalismus zu betreiben. Hannah und ihre Kollegen kommen zu einer schockierenden Erkenntnis: Einige der Geschichten, die sie zuvor selbst als Unsinn abgetan hatten, sind furchtbar real.

Über den Autor

CK McDonnell ist das Pseudonym von Caimh McDonnell, einem preisgekrönten irischen Stand-up-Comedian und Bestsellerautor der Dublin Trilogy. Bis heute hat er über 200.000 Bücher verkauft, davon allein im letzten Jahr über 110.000. Seine Bücher wurden als »eine der lustigsten Krimireihen, die Sie jemals gelesen haben« (The Express) und »ein brillanter humoristischer Thriller« (The Irish Post) bezeichnet. McDonnell lebt und schreibt in Manchester.

C.K. McDonnell

Roman

Übersetzung aus dem Englischen
von André Mumot

Für Manchester –
zum Dank für die Magie und das Chaos

Prolog

Die beiden Männer standen auf dem Dach und beobachteten, wie sich die Stadt im Schlaf hin und her wälzte. Der kleinere warf einen Blick auf seine Armbanduhr – es war vier Uhr morgens. Keine Stadt, die diese Bezeichnung verdiente, schlief seiner Erfahrung nach jemals wirklich. Es gab immer einen einsam Umherstreifenden und einen Taxischeinwerfer, die versuchten, sich in der Nacht zu finden. Trotzdem war dies der Moment, der völliger Stille am nächsten kam. Jener kurze Zeitsplitter vor dem Schichtwechsel der Nacht zum Tag.

»Und es gibt ganz bestimmt keine andere Möglichkeit?«

Der kleinere Mann seufzte. »Nein.« Er zog seinen Mantel fest um sich. Das Internet hatte behauptet, das Klima in Manchester sei »mild«. Ganz offensichtlich ein Euphemismus für pausenlos mies.

»Es ist nur …«, begann der größere Mann.

»Nur was? Wir sind nicht hierhergekommen, um das auszudiskutieren.«

Der größere Mann schaute düster auf seinen Begleiter herab. »Das ist nicht leicht, wissen Sie?«

»Glauben Sie mir, meine Aufgabe ist erheblich schwieriger als Ihre.«

»Es sind zweiundvierzig Stockwerke, verdammt noch mal!«

»Ja, aber Sorgen machen müssen Sie sich nur um das letzte.«

Wut blitzte in den Augen des größeren Mannes auf. »Finden Sie das etwa lustig?«

»Nein, nichts von alledem ist lustig. Sie haben keine Ahnung, wie viel es mich gekostet hat, Ihnen diese Chance zu verschaffen. Und jetzt sind wir hier, und es stellt sich raus, dass Sie ein feiger Schlappschwanz sind. Glauben Sie mir, ich finde das kein bisschen lustig.«

»Ich … Könnte ich nicht etwas nehmen, um es mir zu erleichtern?«

Der kleinere Mann wandte sich ab und machte ein paar Schritte. Er schaute zum Vollmond hinauf, der tief am Himmel stand. Was für eine Ironie! Aber er musste ruhig bleiben. Er durfte nicht sagen, was er gern sagen würde. Durfte nicht erwähnen, dass er es dem letzten Typen erlaubt hatte, ein paar Pillen einzuwerfen, um »es sich zu erleichtern«. Und die Folge davon war ein überaus hässliches Loch im Boden gewesen. Dieses Mal musste es funktionieren, also durfte er diesen Typen auf keinen Fall wissen lassen, was seinem Vorgänger passiert war. Er hatte sich selbst übertreffen müssen, um in nur einer Woche einen weiteren passenden Kandidaten zu finden, aber jetzt rannte ihm die Zeit davon.

Er drehte sich wieder um, breitete die Arme aus und lächelte. Am Ende war nur wichtig, wie man es verkauft.

»Schauen Sie, es ist ganz einfach. Sie müssen das aus freiem Willen tun. Und damit es funktioniert, muss Ihr Adrenalinspiegel einen bestimmten kritischen Wert erreichen. Nur so werden Sie richtig auf die Mixtur reagieren, die ich Ihnen verabreicht habe – andernfalls findet die Transformation nicht statt.« Er vermied das Wort »Trank« – es hätte einen falschen Eindruck vermittelt. Dies war immerhin das Zeitalter der Wissenschaft – weil sie den Menschen so erfolgreich eingeredet hatten, dass es Magie nicht gab. Er trat neben den Mann und senkte seine Stimme. »Sie haben gesehen, wozu ich in der Lage bin, und Sie wissen, dass ich Ihnen helfen will. Sie müssen nur noch Ihren Teil erfüllen.«

Der größere Mann setzte sein verdrossenes Schweigen fort.

Das war’s. Schluss mit dem Mr.-Nice-Guy-Gehabe. Es war Zeit, den nächsten Gang einzulegen.

»Okay, ich beende das jetzt. Ich weiß, die Leute meinen es nie ernst, wenn sie sagen: Ich bin zu allem bereit. Es ist bloß eine Floskel. Ich dachte, Sie wären anders, aber ich habe mich geirrt. In drei Stunden geht ein Flug zurück nach New York. Man sieht sich …«

Der kleinere Mann wandte sich zum Gehen, aber der andere packte ihn am Arm. Sein Griff war fest wie ein Schraubstock.

»Warten Sie …«

Der kleinere Mann blickte auf die Hand herab, die sich um seinen Bizeps schloss. »Glauben Sie mir: Sie wollen das nicht tun.«

Nach einem Augenblick des Zögerns wurde sein Arm freigegeben. Er schaute in die tränenfeuchten Augen des Mannes. Wut, Angst und eine ordentliche Portion Hass sah er darin. Nichts, was er nicht erwartet hätte.

»Sie haben gesagt, dass Sie das tun wollen. Sie haben mich sogar angefleht. Um es mal ganz rustikal auszudrücken: Entweder du scheißt jetzt, oder du gehst runter vom Klo.«

Der größere Mann griff in die Tasche seiner Jeans und zog eine Fotografie heraus. Er schaute sie lange an, dann warf er sie weg und rannte los, so schnell er konnte.

Der Wind ergriff das Foto und trug es für einen Augenblick durch die Luft: Es zeigte eine lächelnde blonde Frau, die Arme um ein kleines Mädchen gelegt, mit Grübchen in den Wangen, denselben blauen Augen und einem breiten Zahnlückengrinsen, in die Kamera strahlend. Dann war das Bild fort, davongerissen in die Nacht.

Der Mann wurde nicht langsamer, als er über die Kante des Gebäudes verschwand. Überraschenderweise ertönte auf seinem Weg nach unten auch kein Schrei. Oder wenn doch, wurde er sofort vom Wind davongetragen.

Der kleinere Mann beugte sich vor und blickte hinab. Zweiundvierzig Stockwerke unter ihm sah er Asphalt – der keinerlei Loch aufwies. Der andere Mann war nicht tot, bloß transformiert. Nun war er etwas anderes. Etwas Nützliches.

»Jetzt sieht die Sache doch schon ganz anders aus.«

Der kleinere Mann wandte sich um, pfiff eine beschwingte Melodie und spazierte davon.

Irgendwo in der Nähe heulte etwas, das sich anhörte wie ein sehr großer Hund.

Kapitel 1

So rasch und unauffällig wie möglich sah Hannah sich um und erbrach sich in den Mülleimer. Kein guter Tag bisher. Es war noch nicht einmal Mittag, und sie hätte ihn bereits als einen der schlimmsten Tage ihres Lebens bezeichnen können – hätte es davon nicht in letzter Zeit so viele gegeben. Ihr Leben war inzwischen ein einziger langer Albtraum, aus dem sie nicht erwachen konnte.

In ihrer Tasche befand sich das Selbsthilfebuch Immer nach vorn von Dr. Arno Van Zil, einem Life Coach aus Südafrika. »Die Vergangenheit ist unerwünschtes Gepäck, das wir nicht mit uns herumschleppen sollten.« Sie hatte sich an diesem Buch festgeklammert wie an einem Rettungsring. Doch nun kam ihr das warmherzige Lächeln des Autors auf dem Cover beinahe wie Hohn vor. »Es zählt immer nur der nächste Schritt.« Sie durfte nicht zurückschauen; sie musste vorwärtsgehen.

Erst einmal musste sie sich jedoch kurz hinsetzen. Sie durchwühlte ihre Tasche nach dem Pfefferminzbonbon, das sich, bitte, lieber Gott, darin befinden musste. Sie ließ sich auf der Bank neben dem Mülleimer nieder. Hier im Park, nicht weit entfernt von Manchesters Zentrum, verbanden sich die Geräusche der johlenden und brüllenden Kinder des nahe gelegenen Spielplatzes mit dem Rauschen des nie versiegenden Straßenverkehrs.

Hannah steckte ihr Handy in die Manteltasche. So langsam hasste sie das verdammte Ding. Als sie den Entschluss gefasst hatte, ihr altes Leben hinter sich zu lassen und nichts mitzunehmen, war das Telefon eine der wenigen Ausnahmen gewesen. Das Geld und das Haus wollte sie nicht, auf Kommunikation mit der Welt konnte sie aber nicht verzichten.

Unglücklicherweise brachte das Handy auch Social Media mit sich, und Hannah konnte es einfach nicht lassen, immer wieder hineinzuschauen. Es war wie ein Fenster, durch das sie in eine vergangene Welt blickte: Sie sah in London verbrachte Sommer und die letzten Monate in Dubai. Sah Wohlstand. Hemmungslosen Konsum. Die Funktion, die einem Fotos davon zeigte, was man zur selben Zeit genau vor einem Jahr gemacht hatte, war besonders brutal. Einerseits erinnerten sie diese Bilder an das leere, seelenlose Vakuum, das ihr Leben gewesen war, aber andererseits … Gott, es war so einfach gewesen. So komfortabel.

Letzte Woche hatte sie beim Einkaufen den Pulp-Song »Common People« gehört und wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. Ausgerechnet Jarvis Cocker musste ihr den Rest geben, während sie in einem Discounter Dosen mit verdächtig billigen Erbsen anstarrte und sich fragte, wie lange sie damit überleben konnte.

Und jetzt? Sie hatte gerade das Vorstellungsgespräch für ihren Traumjob hinter sich gebracht. Es war nicht besonders gut gelaufen. Sie hätte eine Menge Geld darauf verwettet, dass diese Szene sie in ihren Nächten heimsuchen würde – als immer wiederkehrender Albtraum.

Storn war eine hochwertige norwegische Möbelmarke. Dank Handarbeit und elegantem Minimalismus hatte sie sich zu einem Must-have für alle entwickelt, die es sich leisten konnten. Hannah selbst war ein großer Fan und hatte zwei Häuser nach ihren Katalogen eingerichtet. Nun aber würde sie höchstwahrscheinlich nie wieder ein Möbelstück von Storn ansehen können, ohne dass ihr kotzübel wurde.

Die Stellenausschreibung war ihr wie ein göttliches Zeichen erschienen, wie eine Versicherung, dass sie alles durchstehen würde. Dass sie – ganz gleich, was die anderen sagten – die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Also hatte sie ihren ganzen Mut zusammengenommen und Joyce Carlson angerufen. Unter den zahlreichen »Freundinnen« aus ihrem alten Leben war Joyce eine der wenigen, die diese Bezeichnung auch zu verdienen schien. Hannah hatte irgendwann erkannt, dass Joyce zwar Teil ihres »alten Lebens« war, aber gleichzeitig über einen gesunden Realitätssinn verfügte, mit dem sie die Lächerlichkeit ihrer gemeinsamen sozialen Sphäre durchschaute. Zugleich war sie eine der wenigen Frauen in dieser Blase, die einen Job hatten. Einen richtigen Job. Joyce hatte die CEO von Storn über ihren Mann kennengelernt und einen Posten im Marketing bekommen, als die Firma ihr Geschäft in London eröffnete. Joyce kannte die richtigen Leute und schmiss die richtigen Partys, sodass die Marke mit dem erhofften durchschlagenden Erfolg an den Start ging. Es war so gut angelaufen, dass sie nun eine Filiale in Manchester eröffneten, um den Geldadel von Cheshire aufs Korn zu nehmen, und nach Mitarbeitern suchten.

Also hatte Hannah ihr letztes bisschen Stolz runtergeschluckt und mit Joyce Kontakt aufgenommen.

Der Small Talk war genauso peinlich gewesen, wie sie es erwartet hatte. Joyce hatte ihre Solidarität mit Hannah zum Ausdruck gebracht und gleichzeitig genug Klasse gezeigt, keine weiteren Fragen zu stellen. Hannah war sich sicher, dass Joyce das meiste ohnehin wusste. Die saftigsten Details hatten es schließlich bis in die Zeitungen geschafft. Ohne Zweifel hatte Hannahs sozialer Abstieg den mittäglichen Tratsch in ihren alten Kreisen während der letzten drei Wochen dominiert. Sie war sich nur zu bewusst, dass sie Joyce das bestmögliche Futter aushändigte, indem sie Kontakt mit ihr aufnahm. Wenn sie wollte, könnte sie das ausnutzen: Stellt euch vor, sie hat mich tatsächlich angerufen – sie sucht jetzt nach einem Job!

Trotzdem. Sie brauchte die Hilfe. Und kaum hatte Hannah das Thema Arbeit angeschnitten, hatte Joyce verstanden, wohin die Reise ging. Sie versicherte ihr mit scheinbar absoluter Aufrichtigkeit, dass sie alles tun würde, um ihr zu helfen. Schließlich sei Hannah eine ihrer ersten und treuesten Anhänger in Sachen Storn-Kult gewesen. Am Ende des Telefonats war Hannah der Job eigentlich schon sicher. Sie hatte aufgelegt, wie benommen von dem Gedanken, dass sie nicht nur bald für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen konnte, sondern dass sie zumindest noch eine wahre Freundin besaß. Vielleicht waren die letzten elf Jahre doch keine völlige Verschwendung gewesen.

Sie war mit echtem Selbstvertrauen in das Vorstellungsgespräch gegangen.

»Es tut mir sehr leid, Miss Willis, aber meine Assistentin muss beim Ausdrucken Ihres Lebenslaufes einen Fehler gemacht haben.«

»Ja?«

»Ja. Ich sehe hier nur, dass Sie Englisch an der Durham University studiert haben.«

»Genau.«

»Aber Sie haben das Studium nicht abgeschlossen?«

»Ähm. Na ja, was das anbelangt …«

»Und dann steht hier nichts weiter, außer Ihren Hobbys und einigen ehrenamtlichen Tätigkeiten. Ich werde die Kollegin kurz anrufen und sie bitten, die Unterlagen noch einmal vollständig auszudrucken. Bitte verzeihen Sie. Möchten Sie vielleicht einen Tee, Kaffee, Espresso, etwas Gurkenwasser?«

»Nun ja. Also – genau genommen ist das mein vollständiger Lebenslauf.«

»Ah, ich verstehe …«

Das war schlimm gewesen. Aber kein Vergleich zu dem Augenblick, als die zweite Mitarbeiterin im Vorstellungsgespräch Hannahs Namen erkannte. Bei ihrer Flucht vom Storn-Gelände hatte Hannah einen Blick auf ihre Uhr geworfen. Ihr erstes echtes Vorstellungsgespräch hatte siebzehn entsetzliche Minuten gedauert.

Jetzt, auf der Parkbank, fand sie auf dem Boden ihrer Tasche endlich, was sie mit ziemlicher Sicherheit für ein Tic Tac hielt. In der Not frisst der Teufel Fliegen. Sie steckte es sich in den Mund.

Neben dem Vorstellungsgespräch bei Storn stand heute noch ein weiteres auf dem Plan – hauptsächlich, weil Hannah vergessen hatte, es abzusagen. Die Anzeige in der Zeitung war, nun ja, anders gewesen: »Publikation sucht verzweifelten Menschen mit der Fähigkeit, mittels der englischen Sprache Sätze zu bilden. Vollidioten, Optimisten oder Menschen, die Simon heißen, müssen sich nicht bewerben.«

Sie war sich nicht einmal sicher, ob es sich überhaupt um eine echte Stellenausschreibung handelte, ihren Lebenslauf hatte sie trotzdem hingeschickt. Eine nette Dame namens Grace mit einem Akzent irgendwo zwischen Manchester und Westafrika hatte sie daraufhin angerufen und ihr einen Termin für ein Vorstellungsgespräch angeboten. Sie hatte ihn angenommen, dann aber war die Sache mit Storn dazwischengekommen. Dieser andere Job war ihr vollkommen entfallen. Als sie heute Morgen aus dem Haus gegangen war, hatte sie noch überlegt, Grace anzurufen und ihr zu sagen, dass sie es nicht schaffen würde, sich dann aber dagegen entschieden – es war schließlich nie falsch, etwas in der Hinterhand zu haben. Wenn die letzten beiden Monate in Hannahs Leben etwas bewiesen hatten, dann, dass man immer einen Plan B brauchte.

Hier war sie nun also. Saß in einem Park in einer ihr fremden Stadt, lutschte an etwas, von dem sie immer mehr bezweifelte, dass es sich um ein Tic Tac handelte, und war drauf und dran, sich für einen Job zu bewerben, von dem sie nicht das Geringste wusste. Leider war sie auf ihn nun aber dringend angewiesen. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Herrgott, jetzt kam sie auch noch zu spät. Sie zog ihr Handy wieder aus der Manteltasche. Die Navigations-App zeigte ihr den blauen Punkt ihres Zielortes hinter einer alten Kirche auf der anderen Seite des Parks.

Sie erhob sich und strich sich die Kleidung glatt, während ein Obdachloser mit Augenklappe und einem grauen Bart, der ihm bis auf die Brust reichte, zum Mülleimer geschlurft kam und in ihn hineinspähte.

»Ich sag Ihnen, Schätzchen, hier sind ein paar gottverdammte Monster unterwegs.«

Kapitel 2

Hastig bog Hannah um die Ecke und ließ den Blick die Straße hinauf- und hinunterwandern. Der Park lag hinter ihr, rechts von ihr war ein überdachter Bolzplatz und links von ihr eine Kirche. Der Rest der Straße bestand aus leeren Brachen, mit einigen wenigen Reihenhäusern am äußersten Ende. An der Ecke eines leeren Grundstücks verkündete ein Schild, dass hier Luxusapartments entstehen würden, aber es war vollkommen verbeult und mit Graffiti besprüht. Wer auch immer diese grandiose Idee gehabt hatte – seine Zeit war offensichtlich lange vorbei.

Hannah fischte in ihrer Tasche nach dem Zettel, auf den sie die Adresse geschrieben hatte. Vielleicht hatte sie sie doch falsch in ihr Handy getippt.

»Verzeihen Sie, meine Liebe, aber würden Sie so gut sein und weitergehen?«

Hannah setzte an, sich zu entschuldigen – als sie sich umschaute, konnte sie jedoch nicht feststellen, woher die Stimme gekommen war. Sie war vollkommen allein auf der Straße.

»Hier oben, Schätzchen. Immer nach oben schauen.«

Hannah trat ein Stück zurück und folgte der Aufforderung. Die Kirche war aus rotem Backstein erbaut, und viele ihrer Fenster waren mit Brettern vernagelt. Sie strahlte eine Art schäbige, ungeliebte Schönheit aus. Das pockennarbige Mauerwerk führte zu einem schwarzen Schieferdach hinauf, und als Hannah ihren Blick weiter in die Höhe richtete, sah sie ein rundes, unvergittertes Fenster mit buntem Glas. Für ihr ungeübtes Auge hätte es das auffälligste Merkmal das Gebäudes dargestellt – wäre da nicht der korpulente Mann im dreiteiligen karierten Anzug gewesen, der genau darüber auf dem Dach stand.

»Oh, mein Gott«, sagte Hannah.

»Nein, Schätzchen, das ist eindeutig zu viel der Ehre.« Der Mann sprach mit einem hochgestochenen Akzent, wie ein affektierter Shakespeare-Schauspieler. »Ob Sie wohl so reizend wären und ein kleines Stückchen beiseitetreten könnten?«

Hannah wurde bewusst, dass sie direkt unter dem Mann stand, und entfernte sich rasch aus seiner voraussichtlichen Flugbahn.

»Ist … ist alles in Ordnung bei Ihnen?«

»Ganz reizend, dass Sie fragen, auch wenn es eine erschreckende Unfähigkeit zur korrekten Situationseinschätzung offenbart. Trotzdem: kein Grund, sich Sorgen zu machen. Und nun: husch, husch!«

Er räusperte sich und hob die Stimme. »Gehab dich wohl, du grausame Welt. Reginald Fairfax der Dritte soll dir nicht länger zum Spielballe gereichen!«

Hannah schaute zu dem Mann empor und versuchte verzweifelt, die richtigen Worte zu finden. Es kam ihr jedoch jemand zuvor.

»Oh, nein, lass es bitte, Reggie«, ertönte eine Stimme, die die Vokale auf jene Weise überbetonte, die, wie Hannah gerade herausfand, typisches Merkmal des Manchester-Dialekts war. Hannah trat noch einige weitere Schritte zurück und sah, dass sie einem ostasiatischen Mann mit ungepflegtem Bart gehörte, der sich aus einem der seitlichen Kirchenfenster beugte und zu dem anderen Mann hinaufschaute.

»Du hast so viel, wofür es sich zu leben lohnt«, fuhr er fort.

Merkwürdig schien Hannah der entspannte Tonfall des zweiten Mannes, als würde er sich halbherzig durch die Leseprobe eines Skriptes arbeiten, für das er nur wenig Begeisterung hegte. Die große Tüte Kettle-Chips, in die er nebenbei immer wieder griff, schien ihm jedenfalls sehr viel mehr Leidenschaft zu entlocken.

»Nein, Ox, mein teuerster Freund, ich werde diese sterblichen Ketten nun abwerfen und mich von meinem befleckten Fleische befreien. Ich hinterlasse dir all meine irdischen Besitztümer.«

»Na toll«, sagte Ox eher zu sich selbst. »Eine Westensammlung und eine Spüle voll dreckigem Geschirr, um das du dich heute Morgen noch kümmern wolltest.«

»Was war das?«

Er hob die Stimme. »Nichts.«

Reggie sah ernsthaft beleidigt aus. »Du musst gerade reden! Deinetwegen stinkt das ganze Haus permanent nach chinesischem Essen.«

»Oder wie wir in meiner Familie sagen würden: nach Essen«, erwiderte Ox.

»Na, ganz reizend – meine letzten Augenblicke, und du hast nur Hohn und Spott für mich übrig. Das ist doch wieder verdammt typisch.«

»Beruhigst du dich vielleicht mal? Du musst doch nicht aus allem ein …«

Ox hielt inne, senkte den Blick und schien Hannah zum ersten Mal zu bemerken. »Entschuldigen Sie, meine Liebe, aber das hier ist eine private Unterhaltung.«

Hannah ließ ihren Blick zwischen den beiden Männern hin- und herfahren, bevor sie auf Reggie deutete. »Er … er will sich umbringen.«

Ox nickte, den Mund voller Chips. »Ja, aber beinahe alle großen Weltreligionen gehen davon aus, dass der Tod nicht das Ende sein wird, insofern …«

»Aber …«

Reggie ergriff das Wort. »Bitte, meine Teuerste, ersparen Sie sich diesen Anblick. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn es Sie fürs Leben zeichnen würde, Zeuge meines Dahinscheidens zu werden.«

»Ja!«, stimmte Ox zu. »Sie stehen da immer noch ziemlich genau in der Aufspritz-Zone, Schätzchen.«

»Du bist so ein ungehobeltes Ungeheuer.«

»Ich mein’ ja bloß. Sie hat ein hübsches Kostüm an. Vielleicht hat sie gerade etwas Wichtiges vor. Sie braucht sicher nicht dein Blut und deine Gedärme auf ihrem besten Fummel.«

Reggie schüttelte angewidert den Kopf. »Ignorieren Sie ihn einfach, aber gehen Sie doch jetzt bitte Ihres Weges.«

Hannah schaute ihn an und richtete den Blick dann auf ihr Handy. Die Worte, die ihren Mund verließen und die sie an einen Mann richtete, der an der Kante eines Häuserdaches stand, kamen ihr vollkommen surreal vor. Sie hatte den Eindruck, als würde sie sich von außen betrachten.

»Na ja, ähm … Sie wissen nicht zufällig, wo ich die Stranger Times finde?«

Ox lachte. »Vorstellungsgespräch, was?« Er rief über seine Schulter: »Grace, haben Sie eine Frau herbestellt, die die neue Tina werden soll?«

Hannah hörte, wie eine andere Stimme etwas zurückbrüllte, verstand aber nichts.

»Ja«, erwiderte Ox. »Im Augenblick steht sie gerade in Reggies Flugbahn.«

Wieder wurde etwas gebrüllt, und zwar in hörbar energischer Weise.

»Schon gut, schon gut, wieso ist das jetzt meine Schuld?«

Zum dritten Mal gab die Stimme im Inneren des Gebäudes eine barsche Antwort.

»Okay, ist ja schon gut.« Ox schaute wieder zu Hannah hinab. Eigenartigerweise machte er erst jetzt einen beunruhigten Eindruck. »Sie sind hier genau richtig, Schätzchen. Die Eingangstür ist um die Ecke.« Er deutete mit dem Kopf in Reggies Richtung. »Sie Glückliche – wie’s aussieht, wird bei uns in Kürze ein Job frei.«

»Du bist ein echter Bastard, Ox«, rief Reggie.

»Was? Warum darf ich nicht auf meine eigene Weise trauern? Immer willst du mir vorschreiben, was ich zu empfinden habe.«

»Keineswegs. Ich habe lediglich darauf hingewiesen …«

Hannah schaute auf das Telefon in ihrer Hand. Dann entfuhr ihr: »Soll ich jemanden anrufen?«

»Weswegen?«, fragte Ox.

Hannah nickte aufwärts in Richtung des selbstmordgefährdeten Mannes.

»Ach was, keine Sorge. Die Situation ist unter Kontrolle.«

Regie schnaufte verächtlich. »Das denkst du!« Dann wandte er sich Hannah zu. »Nun mal husch, husch, meine Liebe. Viel Glück bei Ihrem Vorstellungsgespräch. Glauben Sie mir, Sie werden es brauchen.«

Hannah ließ ihren Blick noch ein weiteres Mal zwischen beiden Männern hin- und herwandern. Beide sahen mit ungeduldiger Miene zu ihr herab.

»Okay.«

Sie steckte das Handy in ihre Tasche und eilte den Bürgersteig entlang, wobei sie sich einige Male kurz umschaute – wenn auch nur, um sicherzugehen, dass sie sich das alles nicht bloß eingebildet hatte.

Sie bog um die Ecke und stieß auf das, was einst der Kircheneingang gewesen sein musste. Eingelassen in die Backsteine des Vordachs, las sie die Worte »Kirche der Alten Seelen«. Darunter baumelte in einem abenteuerlichen Winkel ein Schild, auf dem »The Stranger Times« stand. Darunter hatte man einen weiteren Satz gekritzelt: »Dies ist keine Kirche mehr. Belästigen Sie Gott woanders.«

Neben der Tür saß ein etwa achtzehnjähriger junger Mann auf einem Campingstuhl, um dessen Hals eine teuer aussehende Kamera hing. Er war groß und dünn, und seine schlaksige Statur wurde noch betont, weil er lediglich T-Shirt und Jeans trug. An einem Tag, der nach mindestens drei Kleidungsschichten verlangte, fehlten ihm eindeutig zwei.

»Hallo!«

Er sprang derartig rasch auf die Füße, dass seine dicke Brille zu Boden fiel.

»Ups«, sagte er fröhlich. »Keine Sorge. Hab sie … hab sie gleich.«

Er tastete auf dem Boden herum, wobei er eine Thermoskanne und einen Bücherstapel umstieß.

Hannah trat vor und hob die Brille auf, bevor der Junge sie versehentlich zertrat. Sie reichte sie ihm. »Bitte schön.«

Die Hand des jungen Mannes tastete in der Luft herum, bis sie Hannahs Hand gefunden hatte. Offenkundig war er ohne seine Sehhilfe beinahe blind.

»Haben Sie vielen Dank.« Er sprang auf die Füße, diesmal jedoch hielt er die Brille fest. »Und noch mal hallo!«

Hannah zuckte zusammen, als er die Kamera hob und ein Foto von ihr machte.

»Hi«, sagte sie. »Da um die Ecke droht ein Mann damit, sich vom Gebäude zu stürzen.«

Der junge Mann nickte lächelnd. »Ja, stimmt. Ist mir auch aufgefallen. Die Augen offen zu halten ist eine der wichtigsten Aufgaben jedes Journalisten. Apropos …« Er griff sich den Notizblock, der auf dem Tisch neben seinem Stuhl lag, und begann, etwas daraufzuschreiben. »Wie ist Ihr Name, und wie alt sind Sie?«

»Ich bin Hannah, Hannah Drinkwater. Quatsch, ich meine Willis. Hannah Willis.«

»Okay«, sagte er, während er wie wild auf seinen Block kritzelte. »Und Ihr Alter?«

»Na ja …« Sie versuchte, dem Rest des Satzes einen möglichst heiteren Klang zu geben. »Das ist eine etwas unhöfliche Frage, oder?«

»Ja? O Gott, da haben Sie wahrscheinlich recht.« Er richtete sich zu voller Größe auf, lächelte und streckte ihr die Hand entgegen. »Hallo, mein Name ist Simon Brush. Hocherfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Hannah schüttelte ihm die Hand. Von nahem sah sie, dass seine Haut die ganze Grausamkeit der Pubertät bezeugte. Er sah alt genug aus, um das Schlimmste hinter sich zu haben, seinem Gesicht hatte dies aber leider niemand gesagt.

»Ebenso.«

»Also«, sagte er. »Wie alt sind Sie denn nun?«

Hannah trat zurück und betrachtete sein T-Shirt. »Ich arbeite für die Stranger Times«, stand darauf.

»Oh, Sie arbeiten hier?«

Simon schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Aber ich glaube an die Kraft des positiven Denkens. Es heißt doch immer, man soll sich dem Job, den man haben will, entsprechend anziehen. Daher …«

»Oh, okay. Ich verstehe. Ich bin auch wegen eines Vorstellungsgespräches hier.«

»Ich habe kein Vorstellungsgespräch«, sagte Simon. »Mir ist es zurzeit nicht gestattet, das Gebäude zu betreten. Um Mr. Banecroft zu zitieren …« Er griff sich ein weiteres seiner Notizbücher und blätterte es durch, bis er die richtige Stelle fand. »Unter keinen Umständen ist dem inkompetenten, inzüchtigen Irren Zutritt zu diesem Gebäude gestattet. Er hat wirklich ein Händchen für Alliterationen, nicht wahr?«

»Na ja, schon, aber das klingt ziemlich bösartig.«

»Oh, nein – wissen Sie, es ist wie in dieser Szene aus Doctor Strange, in der er im Tempel studieren will, sie ihn aber nicht reinlassen und er sich draußen vors Tor setzt. Das mache ich auch. Ich glaube, Mr. Banecroft will nur meine Entschlossenheit prüfen. Ich zeige ihm, dass ich bis zum bitteren Ende durchalten kann. Meine Hingabe. Dies ist mein einziges großes Lebensziel, und ich werde nicht lockerlassen, bis ich es erreicht habe. Deshalb übe ich auch Steno.«

»Ah. Okay, ich verstehe.« Mit einiger Verspätung erinnerte sie sich an die Formulierung der Stellenanzeige. Vollidioten, Optimisten oder Menschen, die Simon heißen, müssen sich nicht bewerben. Oje.

»Ich tue alles, was ich kann, um bereit zu sein, sobald sich die erste Gelegenheit bietet.« Simon zog den Saum seines T-Shirts runter, um die darauf prangende Botschaft noch deutlicher zu zeigen. »Hab dein Ziel vor Augen. Sei dein Ziel!«

Hannah las den Satz erneut und hielt dann inne, unsicher, ob sie etwas sagen sollte.

»Was?«, fragte Simon.

»Nichts. Nur, na ja …«

Hannah wurde bewusst, dass ihre Augen ihr einen Streich gespielt hatten und sie gelesen, was sie erwartet hatte – nicht, was wirklich dort stand.

»Was?«, wiederholte Simon.

»Es ist bloß, auf Ihrem T-Shirt … da fehlt ein E.«

»Nein, das ist …« Simon schaute an sich herab und las die Zeile, die für ihn auf dem Kopf stand.

Hannah lächelte verlegen und bereute bereits, ihn auf den Fehler hingewiesen zu haben.

»Ich arbeite für die Stranger Tims.« Simon sah bestürzt aus. »Tims? Was zum …? Diese gottverdammte Legasthenie. Und das trag ich nun schon seit Wochen!«

»Sie sind schon seit Wochen hier?«, fragte Hannah.

»Ja. Immerhin hat es aufgehört zu schneien – das waren ein paar echt harte Tage.«

»Kann ich mir vorstellen. Tut mir leid. Ich hätte es nicht erwähnen sollen.«

»Ist nicht Ihre Schuld.« Simon setzte ein sogar noch breiteres Lächeln auf. »Jeder Fehler ist eine wertvolle Chance, es beim nächsten Mal besser zu machen.«

»Da habe ich andere Erfahrungen gemacht«, erwiderte Hannah.

»Was?«

»Schon gut. Ich sollte dann mal los.«

»Ganz viel Glück bei Ihrem Vorstellungsgespräch.«

Hannah lächelte Simon zu, während sie an ihm vorbei auf die Eingangstür zuging. Er hob beide Daumen in die Höhe, wie ein zitterndes Denkmal für unangebrachten Optimismus.

Die großen hölzernen Türen, die sich, wie Hannah vermutete, zum Schiff der Kirche öffneten, waren fest verschlossen, aber eine wackelige Treppe direkt daneben führte zu einem oberen Stockwerk. Die Wände waren feucht, der Anstrich blätterte ab und war ausgebleicht. Die vierte Stufe von oben war eingebrochen, Hannah musste einen großen Schritt darüber machen.

Sie trat durch einen Eingang in den Empfangsbereich der Stranger Times. Am äußersten Ende des langen, schmalen Raums saß eine kleine, korpulente schwarze Frau hinter dem Empfang und tippte auf der Tastatur eines PC herum, der immer noch über einen alten, massiven Röhrenmonitor verfügte. Hannah hatte so ein Exemplar seit zehn Jahren nicht gesehen. Klappstühle aus Metall standen eng zusammengerückt in einer Ecke, und ein abgenutztes Ledersofa, das wohl schon bessere Jahrtausende erblickt hatte, war gegen eine der Wände geschoben worden.

Die Frau schaute auf und offenbarte ein strahlendes, warmes Lächeln. »Hallo, sind Sie wegen des Vorstellungsgespräches hier?«

»Ja, ähm, ich bin Hannah Drinkwater – ich meine, Willis.« Hannah warf einen raschen Blick auf ihre Uhr: Viertel nach zwölf. »Entschuldigen Sie, ich habe mich verspätet.«

Die Frau winkte ab. »Ach, machen Sie sich keine Gedanken. Er hat sich noch nicht gerührt. Ich bin Grace, die Büroleiterin.«

Sie streckte ihre Hand aus, und Hannah trat vor, um sie zu schütteln. Ihr fielen einige gerahmte Bilder auf dem Schreibtisch auf: eines zeigte Jesus, das andere Frühstücksfernseh-Moderator Phillip Schofield. Grace hatte lange, lackierte Fingernägel und trug klirrende Armbänder um beide Handgelenke, die bei jeder Bewegung eine musikalische Begleitung schenkten. Sie hatte wirklich ein sehr aufmunterndes Lächeln.

»Nehmen Sie Platz. STELLA?«

Sie rief diesen Namen mit einer Dringlichkeit, dass Hannah unwillkürlich zurückschreckte.

»Entschuldigung«, sagte Grace. »Bitte nehmen Sie Platz – wir sind gleich bei Ihnen.«

Grace fuhr fort, auf ihre Tastatur einzuhämmern. Hannah nickte und setzte sich auf das Sofa. Es war eine dieser Couches, in die man so tief einsank, dass eine bequeme Sitzhaltung beinahe unmöglich war. Sie rutschte hin und her und versuchte, einen würdevollen Kompromiss zu finden, während das Leder kurze, aber peinliche Furzgeräusche von sich gab und sich ihr Rock hochschob. Aus einem der Löcher im Polster schaute ein Bausch Füllmaterial hervor.

»Hatten Sie Probleme, uns zu finden?«, fragte Grace munter.

»Oh, nein, ich … na ja, ein bisschen … Ähm, wissen Sie, dass gerade ein Mann kurz davor ist, von diesem Gebäude zu springen?«

Grace schaute nicht einmal auf. »Tja, es ist Montag.«

»Das … stimmt.«

Heute Morgen, auf ihrem Weg zum Vorstellungsgespräch bei Storn, war Hannah derartig nervös gewesen, dass sie vor ein Auto gelaufen und von kreischenden Reifen und wütendem Hupen aus ihren Gedanken aufgeschreckt worden war. Langsam begann sie die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sie bei dem Zusammenstoß aus dem Leben geschieden war und dass es sich bei allem, was sich seitdem ereignet hatte, um die Hölle handelte. Jedenfalls würde das vieles erklären.

An der Wand hinter dem Sofa hingen in schäbigen Rahmen einige Titelseiten der Stranger Times. »Nessie ist der Vater meines Kindes« hing neben »Jungfrau Maria stoppt Terrorangriff« und »Schweiz existiert nicht«. Beim Blick auf die Schlagzeilen wurde Hannah klar, dass sie vollkommen unvorbereitet war – sie wusste absolut gar nichts über den Job, für den sie sich bewarb. Die Stranger Times schien eine Zeitung zu sein, jedoch für »Nachrichten« im weitesten Sinne des Wortes.

Hannah zuckte zusammen, als Grace erneut brüllte: »Stella!«

Ein dumpfes Geräusch ertönte hinter der Doppeltür, die sich gegenüber vom Sofa befand, gefolgt von stampfenden Schritten auf knarrenden Dielen. Das Gesicht eines hübschen Mädchens mit säuerlichem Gesichtsausdruck und schlecht gefärbtem grünen Haar tauchte in der Türöffnung auf.

»Warum schreist du so rum?«

Grace bewegte nicht mal den Kopf. »Weil ich dich brauche.«

»Kein Grund zu schreien.«

»Wenn ich nicht schreie, kommst du nicht.«

Das Mädchen verzog den Mund. »Ich werd’ hier behandelt, als wäre ich der letzte Handlanger.«

»Genau das bist du, und schneide gefälligst keine Grimassen, wenn du mit mir sprichst, junge Dame.«

»Was? Jetzt darf ich meine Gefühle nicht mehr ausdrücken? Soll ich ein Roboter sein, oder was?«

»Wenn du dann dein Zimmer aufräumst – unbedingt. Diese Dame ist übrigens Miss Drinkwater …«

»Willis«, unterbrach Hannah.

»Richtig.«

Das junge Mädchen, bei dem es sich offenbar um die herbeigerufene Stella handelte, warf Hannah einen bewundernden Blick zu. »Alter! Will die etwa die neue Tina werden?«

»Drück dich anständig aus. Und ja, das will sie. Sie hat ein Vorstellungsgespräch bei Vincent.«

Stella schüttelte den Kopf. »Ich gebe ihr zwei Minuten.«

Grace hob die Finger von der Tastatur und warf Stella einen missbilligenden Blick zu. »Ich habe dich nicht nach deiner Meinung gefragt. Ich möchte, dass du sie zu seinem Büro bringst.«

»Ich bin bloß realistisch.«

»Wie wär’s, wenn du deinen Mund hältst und tust, worum ich dich gebeten habe?«

Stella verdrehte die Augen.

Grace verdrehte die Augen.

Hannah lächelte beide nervös an. Jetzt hatte ihre Verlegenheit ein völlig neues Stadium erreicht.

Stella öffnete die Tür und trat zurück. »Na dann kommen Sie halt.«

Hannah erhob sich, strich rasch ihren Rock glatt und folgte Stella durch die Tür.

»Viel Glück«, sagte Grace.

»Vielen Dank.«

Was Grace darauf erwiderte, ging unter, da Stella die Tür mit sehr viel mehr Schwung hinter sich zuknallte, als nötig gewesen wäre. Hannah hätte jedoch schwören können, ein »Sie werden es brauchen« gehört zu haben.

Sie fand sich in einem langen Korridor wieder, mit Buntglasfenstern auf der rechten Seite, die Farbexplosionen auf tollkühn an der gegenüberliegenden Wand gestapelte Pappkartons warfen.

Hannah lächelte Stella nervös zu. »Meine Mum und ich haben uns auch immer gestritten.«

»Klar, weil alle Schwarzen miteinander verwandt sind. Grace ist meine Mum, Oprah meine Tante, und Barack Obama ist mein Cousin, oder wie?«

»O Gott, tut mir leid. Ich wollte nicht …«

»Egal.« Stella stampfte einige Schritte über den Korridor, blieb dann stehen und drehte sich um. »Sie wollen den Boss nicht warten lassen.«

»Stimmt.«

Hannah nahm Stellas Schrittrhythmus auf und folgte ihr.

»Er ist ein Weißer, also wahrscheinlich Ihr Bruder oder so.«

»Ganz ehrlich, ich … es war bloß …«

»Ist egal, neue Vielleicht-Tina.«

Hannah vermutete, dass das Mädchen nicht älter als fünfzehn war. Sie trug aufgerissene Jeans, Doc Martens und zeigte die Art von Körpersprache, die man noch vom Weltall aus problemlos als angepisst interpretieren konnte.

Hannah stolperte über einen Karton mit vergilbten Zeitungen, die sich über den Boden ergossen.

»Vorsicht, die muss ich noch archivieren.«

»’tschuldigung. Also, ähm … wann hat Tina denn hier aufgehört?«

»Keine Ahnung, hab sie nie kennengelernt. Nur die sieben oder acht Leute, die versucht haben, die neue Tina zu werden.«

»Aber …«

»Keiner hat’s hier lange genug ausgehalten, als dass ich mir ihre Namen hätte merken können.«

»Sie meinen …«

Stella hob ihre Hand, um sie zum Verstummen zu bringen. Sie hatten das Ende des Korridors erreicht. Sie trat zur Seite und beugte sich vor, um dreimal laut an die Tür zu klopfen.

Drinnen ließ sich ein leises Stöhnen vernehmen.

»Boss. Hier ist eine Frau, die die neue Tina werden will.«

Keine Reaktion.

»Vielleicht ist der Zeitpunkt nicht so gut«, sagte Hannah.

»Das ist er nie«, erwiderte Stella. »Ich zähle bis drei, dann mache ich die Tür auf, und Sie rennen rein. Mein Rat: Halten Sie sich geduckt, und bewegen Sie sich schnell.«

»Was meinen Sie …«

»Eins-zwei-drei«, sagte Stella, als wäre es ein einziges Wort, streckte die Hand aus, ergriff die Klinke und riss die Tür in einer raschen Bewegung auf. Dann schnellte sie zurück, als würde ihr ein gewaltiger Wasserschwall entgegenkommen.

»Soll ich …«

»Los, los, los!«

Hannah trat ins Zimmer, und hinter ihr knallte die Tür ins Schloss.

DAWKINS IST GOTT

In Lancaster hat sich eine neue Glaubensgemeinschaft gegründet, die davon ausgeht, dass es sich bei dem berühmten Naturwissenschaftler und Atheisten Richard Dawkins in Wirklichkeit um den Sohn Gottes handelt. Veronica Clift, 41, Hohepriesterin und mobile Teilzeit-Hairstylistin, sagt, dies sei absolut logisch. „Offenbarungen haben glasklar ergeben, dass nur 144.000 Menschen in den Himmel passen, und der göttliche Richard tut alles, was in seiner Macht steht, um die Zahl der wahren Gläubigen zu senken, um einer Überbelegung entgegenzuwirken.“