Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:

www.piper.de

 

Originalausgabe

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

 

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

 

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht. 

 

 

Anlässlich der Studienausgabe von Hannah Arendts Schriften

Was Hannah Arendt dazu bewegte, der politischen Wirklichkeit so genau ins Gesicht zu sehen, waren die Kraft der Vernunft und die Verachtung der Illusion. Anderen schlüssig und verständlich zu machen, was sie sah, war ein großer geistiger Triumph – für sie persönlich, aber auch für die Tradition des offenen politischen Diskurses.

Judith Shklar (1975)

Die Studienausgabe in Einzelbänden von Hannah Arendts Schriften möchte dazu einladen, eine der bedeutenden Denkerinnen des 20. Jahrhunderts kennenzulernen oder erneut zu lesen. Ausgewiesene Experten untersuchen in ihren exklusiv für die Edition verfassten Nachworten die jeweiligen Werke. Die Autoren werden darin je eigene Schwerpunkte setzen, die Interessierten Hannah Arendts Gedankenwelt erschließen helfen, während sich die Spezialisten mit markanten Positionen auseinandersetzen können. Bewusst wurde darauf verzichtet, eine wie auch immer geartete Einheitlichkeit vorzugeben. Die Offenheit und die Vielfalt von Arendts Überlegungen werden sich folglich in den verschiedenen Positionen der Beiträger spiegeln, die innerhalb der Studienausgabe zu Wort kommen.

Die Ausgabe kann und will keine Konkurrenz zur kritischen, im Göttinger Wallstein Verlag erscheinenden Edition von Arendts Schriften sein. Die in Arendts Münchner Stammverlag Piper vorgelegten Bände bieten Texte, die auf der jeweils letzten, von ihr selbst noch überprüften Fassung beruhen. Druckfehler und andere offensichtliche Versehen sind korrigiert, die Zitate wurden überprüft, die bibliografischen Angaben und Register durchgesehen. Für all das trägt der Herausgeber die Verantwortung. Ziel war es, zitierfähige Ausgaben zu schaffen, die sowohl eine breite Leserschaft ansprechen als auch für Wissenschaftler eine verlässliche Textgrundlage bieten.

Die erste Lieferung der Edition wird jene Werke umfassen, die Arendts Ruf in Deutschland zu ihren Lebzeiten begründeten. In chronologischer Reihenfolge sind dies folgende Schriften: Die 1929 veröffentlichte Dissertation , die erstmals 1955 vorgelegte Studie und der zwei Jahre später veröffentlichte Band . Ebenso enthalten sind die 1959 publizierte Biografie und die im Jahr darauf erschienene Monografie . Es folgen die Reportage von 1964 und schließlich die ein Jahr später zugänglich gemachte Abhandlung . Damit liegen im Piper Verlag erstmals die Augustin-Studie und die in dieser Form und unter dem Titel nie wieder aufgelegte, dem engen Freund Walter Benjamin gewidmete Aufsatzsammlung vor.

Zu einem späteren Zeitpunkt werden unter anderem die zu Lebzeiten in deutscher Sprache veröffentlichten Zeitungsartikel, Aufsätze und Essays Arendts in chronologischer Reihenfolge neu herausgegeben werden. Das unvollendete Nachlass-Werk , in der deutschen Übersetzung unter dem Titel erstmals 1979 in zwei Bänden erschienen, wird die Ausgabe ergänzen, sobald eine verlässliche Textgrundlage verfügbar ist.

 

 

Berlin, im September 2021

 

Thomas Meyer

Zu diesem Band

Die hier erstmals seit 1957 wieder unter dem Titel veröffentlichte Sammlung von vier Essays Hannah Arendts ist bis zum heutigen Tag kaum bekannt. Wie die Philosophin Eva von Redecker in ihrem »Nachwort« zur Neuauflage zeigen kann, bildet der Band einen wesentlichen Zwischenstand in Arendts Denken ab.

Ein paar Hinweise des Herausgebers der seien daher der Edition vorangestellt.

I.

1955 ist die von Hannah Arendt selbst übertragene, umgearbeitete, wesentlich erweiterte und ergänzte Studie bei der in Frankfurt beheimateten »Europäischen Verlagsanstalt« () erschienen, die vier Jahre zuvor unter dem Titel in New York und zeitgleich sowie seiten- und inhaltsidentisch als in London publiziert worden war.

Arendt fand die Verkaufszahlen der deutschen Ausgabe »zufriedenstellend« und die Besprechungen hätten sie »zum Teil richtig gefreut«, wie sie die am 4. Juli 1956 wissen ließ.[1] Das Verhältnis zum Verlag war zu dieser Zeit noch gut, weitere Vorhaben wurden daher ins Auge gefasst.

Am 17. Februar 1957 schrieb Arendt an die unter anderem folgende Zeilen, die die Idee und die Zusammenstellung des vorliegenden Bandes genau umreißen:

Ich spiele immer noch mit dem Gedanken der Geschichtsbroschüre, bin mir aber noch nicht im klaren. Ich muss erst die Vita activa fertig haben und sehen, ob ich nicht doch einen Teil der Erörterungen über den Geschichtsbegriff dafür brauche. Dann könnte man es nicht machen. Hinzu kommt eine andere Erwägung: ich habe eine Reihe von grösseren Essays aus den letzten Jahren – über Tradition, über Autorität, über Religion und Politik – vielleicht entschliesse ich mich doch zu einem Essayband. Was halten Sie davon?

 

Danach ging alles sehr schnell. Der Verlag kündigte acht Wochen Produktionszeit an, sobald das Manuskript vorliege. Arendt wiederum hatte ihre Freundin Charlotte Beradt (1907 – 1986)[2] als Übersetzerin vorgeschlagen. 3000 Exemplare sollten für die erste Auflage gedruckt werden, der vollständige Titel wurde von Arendt vorgegeben und schließlich zusammen mit der vom Verlag vorgeschlagenen näheren Kennzeichnung übernommen. Am 2. August 1957 teilte Arendt mit, dass das Manuskript fertig sei, es mit »ca. 150 Schreibmaschinenseiten« etwas länger als geplant ausgefallen sei und es sich jetzt, nach den Überarbeitungen des deutschen Textes, »auch mehr als ein Buch« lese.

Was enthält der Band? Nach einer exklusiv für das »Buch« geschriebenen »Vorbemerkung« folgt »Tradition und Neuzeit«, ein ursprünglich 1954 in der linken auf Englisch publizierter Text.[3] Der zweite Essay »Natur und Geschichte« erschien parallel in der , allerdings in einer teilweise abweichenden Version, während der dritte Text »Geschichte und Politik in der Neuzeit« auf einem auf Englisch abgefassten Vortrag beruhte. Der vierte Essay »Was ist Autorität?« basierte auf einem mehrfach gehaltenen Vortrag, der erstmals 1956 in der Zeitschrift erschienen war und wie seine Vorgänger für den Wiederabdruck überarbeitet wurde.

Wie ging es weiter? Den Korrekturdurchgang wolle der Verlag übernehmen, ließ man Arendt am 10. September wissen, die Überprüfung der zahlreichen griechischen und lateinischen Begriffe und Zitate werde ein Altphilologe übernehmen. Gut einen Monat später, am 14. Oktober, bestätigte der Verlag den Eingang von Arendts eigenen Korrekturen und die Versendung des Umbruchs, dessen letzter Teil neun Tage später von der verschickt wurde. Am 11. November sandte Arendt ihre Änderungen am Umbruch und zu den umfänglichen Angaben auf dem Buchumschlag zurück, klagte zusätzlich die fehlende Widmung (»Dem Andenken Walter Benjamins«) und die bisher unterlassene Nennung der Übersetzerin Charlotte Beradt ein.

Alles schien rasch zu einem guten Ende zu kommen. Doch offensichtlich gab es Probleme bei den hausinternen Abläufen. Von Arendts Änderungswünschen konnte schließlich nur noch ein Teil eingearbeitet werden, darunter die Widmung und der Hinweis auf Beradt, wie ein Brief des Verlages vom 22. November darlegte. Fünf der angemahnten und nicht mehr berichtigten Fehler wurden auf einem dem Buch beigefügten kleinen Blatt, der »Druckfehlerberichtigung«, aufgeführt. Kurz nach der Mitteilung an Arendt wurde das Buch ausgeliefert.

Die von Arendt aufgeführten Korrekturbitten wurden für diese Ausgabe erstmals sämtlich eingearbeitet, ebenso wurden die von ihr gewünschten Formulierungsänderungen vollständig berücksichtigt. In ihrem Nachlass haben sich die Durchschläge der entsprechenden Briefe erhalten.

Auf dem Umschlag der Erstausgabe fanden die Leserinnen und Leser zwei bemerkenswerte Texte, die Arendt genau gegengelesen hatte und die von ihr autorisiert waren. Zum einen eine deutende Inhaltsangabe des Buches und zum anderen einen in dieser Ausführlichkeit weder zuvor noch danach veröffentlichten Werdegang. Wegen dieser Besonderheiten werden die beiden Texte hier ebenfalls erstmals unverändert abgedruckt:

 

Die in diesem Band enthaltenen vier Arbeiten:

Tradition und Neuzeit

Natur und Geschichte

Geschichte und Politik

Was ist Autorität?

sind aus Vorträgen entstanden, die Dr. Hannah Arendt in den Jahren 1953 bis 1956 an deutschen und amerikanischen Universitäten gehalten hat. Der dem Buch gegebene Titel versucht, die leitende Absicht der diesen Essays gemeinsamen kritischen Überlegungen anzudeuten. Diese Überlegungen befassen sich sachlich mit den in den Essay-Titeln angezeigten Begriffen; die Kritik erfolgt durch eine Rückführung dieser Begriffe auf die politischen, geschichtlich gegebenen Erfahrungen, aus denen sie entstanden sind, und durch eine Konfrontierung mit den modernen Erfahrungen, denen sie adäquat zu sein vorgeben.

Hannah Arendt ist der Meinung, »daß die Rückführung aller menschlichen Tätigkeiten auf das Arbeiten und die Reduzierung aller politischen Verhältnisse auf das Herrschaftsverhältnis nicht nur historisch nicht zu rechtfertigen sind, sondern in verhängnisvoller Weise den Raum des Öffentlichen und die Möglichkeiten des Menschen als eines für Politik begabten Wesens verkrüppelt und pervertiert«.

Wie schon in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« versteht es die Verfasserin, ihre Auffassungen mit einer gründlichen wissenschaftlichen und theoretischen Fundierung und einer Knappheit und Klarheit der Sprache vorzutragen, die schlechthin unübertrefflich ist. Auch von diesem Buch gilt, was Karl Jaspers in seinem Vorwort zu »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« sagte: es ist »Geschichtsschreibung großen Stils«.

Dr. Hannah Arendt, geboren 1906 in Hannover, erzogen in Königsberg, hörte Philosophie im Hauptfach, Theologie und Griechisch im Nebenfach, in Marburg bei Heidegger und Bultmann, in Heidelberg bei Jaspers und in Freiburg bei Husserl. Sie promovierte 1928 in Heidelberg im Hauptfach bei Jaspers, in Griechisch bei Regenbogen und in Theologie bei Dibelius. Ihr erstes Buch, »Der Liebesbegriff bei Augustin«, erschien 1929 im Verlag Springer in Berlin. Von 1930 an arbeitete sie mit einem Stipendium der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft an einer Biographie der Rahel Varnhagen, die nicht erscheinen konnte, da Dr. Hannah Arendt 1933 nach einer Verhaftung durch die Gestapo Deutschland verlassen mußte. Von 1933 bis 1940 lebte sie in Paris, wo sie neben ihrer Tätigkeit als Leiterin der Jugendalijah europäische Geschichte studierte. 1941 ging sie von Südfrankreich aus in die und wurde regelmäßige Mitarbeiterin von »Partisan Review«, »Commentary«, »Reviews of Politics«, »Kenyon Review«. Von 1946 – 1948 betreute sie als »Chief-Editor« des Schocken-Verlages die große Kafka-Ausgabe. 1946 veröffentlichte Lambert Schneider in Heidelberg einen Essayband aus ihrer Feder.[4] 1951 erschien ihr großes Werk »The Origins of Totalitarianism« in Amerika. Im Jahre 1952 erhielt sie eine »Guggenheim-Fellowship« für ihre Arbeiten auf dem Gebiet der politischen Theorie und Wissenschaft. Einige Ergebnisse trug sie im Herbst 1953 und im Frühling 1954 in Vortragsreihen an den Universitäten in Princeton (»Christian Gauss Seminars«) und Notre Dame vor. Im Jahre 1955 las sie an der Universität von Californien in Berkeley und im Frühling 1956 hielt sie die Walgreen Lectures an der Chicago Universität. Mai 1954 erhielt sie einen Preis der »American Academy for Arts and Letters« für ihre literarischen Leistungen. 1955 erschien die umgearbeitete und erweiterte deutsche Fassung ihres Hauptwerkes unter dem Titel »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« in unserem Verlag.[5]

II.

An der zeitgenössischen Rezeption des Bandes kann das spätere Desinteresse an den nicht gelegen haben. In Arendts Nachlass finden sich 16 teilweise ausführliche Besprechungen, auch von nicht deutschsprachigen Zeitschriften und Zeitungen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie den Band als inhaltliche und methodische Weiterführung des vor allem im Totalitarismus-Buch Gesagten begreifen. Arendts Zeitgenossen waren hellsichtig.

Arendt selbst war mit der unzufrieden, man trennte sich. Als dann 1961 der schnell berühmt gewordene Band erschien, der sieben Jahre später um zwei weitere Texte ergänzt publiziert wurde, waren zwar englische, umgearbeitete Versionen der in den abgedruckten Essays aufgenommen worden, doch Charakter und Intention der Sammlung waren ganz andere.[6] Das fing schon mit der Widmung an, die nunmehr Arendts Ehemann Heinrich Blücher und der seit 25 Jahren andauernden Verbindung galt, und setzte sich mit der Kennzeichnung der Texte als »Exercises in Political Thought« sowie deren Zusammenstellung schon rein äußerlich fort. Die Rezeption stürzte sich auf [7] und rasch wurde der Titel zu einem der Arendt-Schlagworte, mit denen sie und ihr Werk in der Öffentlichkeit verbunden wurden.

Der vorgelegte Band mit dem »Nachwort« von Eva von Redecker bietet die Möglichkeit, die erstmals oder neu kennenzulernen.

 

Berlin, im September 2021

 

Thomas Meyer

Dem Andenken Walter Benjamins

Vorbemerkung

Die nachfolgenden Essays sind aus Vorträgen entstanden, die ich in den Jahren 1953 bis 1956 in Amerika und Deutschland gehalten habe. Es handelt sich um Gelegenheitsarbeiten, die allerdings nachträglich erweitert und ergänzt worden sind. Bei der Überarbeitung für den Druck konnten einige Überschneidungen nicht vermieden werden, ohne den jeweiligen Zusammenhang empfindlich zu stören; auch einige polemische Äußerungen, die vielleicht eher der Vortrags- als der Essayform angemessen sind, habe ich stehen lassen. Der Titel versucht die leitende Absicht dieser im wesentlichen kritischen Überlegungen anzudeuten, deren innerer Zusammenhang dem Leser kaum entgehen wird. Die Kritik gilt einmal dem Arbeitsbegriff der modernen klassischen Nationalökonomie, den Marx übernahm und theoretisch fundierte, wobei er erst das Arbeiten im Sinne eines herstellenden Produzierens verstand, um dann dies Herstellen und die es leitende Zweck-Mittel-Kategorie auf das politische Handeln zu übertragen. Die Kritik gilt andererseits dem Herrschaftsbegriff der klassischen politischen Theorie, den die Staatswissenschaften auch heute noch für den zentralen Begriff der Politik halten. Ich bin der Meinung, daß die Rückführung aller menschlichen Tätigkeiten auf das Arbeiten oder Herstellen und die Reduzierung aller politischen Verhältnisse auf das Herrschaftsverhältnis nicht nur historisch nicht zu rechtfertigen sind, sondern in verhängnisvoller Weise den Raum des Öffentlichen und die Möglichkeiten des Menschen als eines für Politik begabten Wesens verkrüppelt und pervertiert haben. In der Form von Essays ist eine solche Kritik natürlich nicht zu leisten, schon weil sie im bloß Kritischen stecken bleibt. Aber gerade für das Vorläufige solcher Versuche scheint die Essayform wiederum besonders geeignet.

Die Vorträge sind mit Ausnahme des letzten über Autorität ursprünglich auf englisch gehalten und niedergeschrieben, dann auch in verschiedenen amerikanischen Zeitschriften publiziert worden. Ohne die hilfreiche Freundschaft von Charlotte Beradt, die die Übersetzung ins Deutsche übernahm, wäre diese Publikation nicht möglich gewesen. Teile der Arbeit über Autorität erschienen im »Monat«, Februar 1956, und der Essay »Natur und Geschichte« ist in der Deutschen Universitätszeitung im April und Mai dieses Jahres erschienen.

 

Hannah Arendt

 

Palenville, Juli 1957