Hans-Werner Sinn
Auf der Suche
nach der Wahrheit
Autobiografie
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018
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Abdruck des Tagesspiegel-Interviews vom 27. Oktober 2008 auf S. 206–208 mit freundlicher Genehmigung Verlag Der Tagesspiegel GmbH/Carsten Brönstrup, Stefan Kaiser
Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal
Umschlagmotiv: © Dominik Butzmann/laif
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern
ISBN (E-Book) 978-3-451-80777-0
ISBN (Buch) 978-3-451-34783-2
Für Gerlinde,
für unsere Kinder und Schwiegerkinder
sowie unsere Enkel
Anstatt eines Vorworts – Auf der Suche nach der Wahrheit
Was mich antreibt
Den eigenen Weg gehen
Vom Kampf gegen die Alternativlosigkeit, meinen Wurzeln und dem Wert eines guten Biers
Reisen des Lebens: Aufstieg, Ökonomenwelten, große Liebe
1 Der Abstieg vom Elfenbeinturm
Glasperlenspiele
Mein Schlüsselerlebnis: Die deutsche Wiedervereinigung
Eine Frage des Geldes: Währungsumstellung und Kaltstart
Persönlich betroffen und Zeuge des Mauerbaus
Perspektivenwechsel: Los Altos Hills und Palo Alto
»Für Krieg, Revolution und Frieden«: Die Hoover-Enttäuschung
Paul Samuelson und wie die westdeutschen Arbeitgeber und Gewerkschaften den Menschen in den neuen Ländern ihre Chancen nahmen
Ein Meer von Deutschlandfahnen
Beim IWF: Politische Spiele
Drohungen muss man trotzen
Albert O. Hirschman und die Junker
Operettenstoff aus Bolivien: Gonzalo Sánchez de Lozada
Wieder ein Fehler: Wohnen im Osten
2 Wie ich zum Volkswirt wurde
Am liebsten Biologie. Ökonomie als zweite Wahl
Reise in eine unbekannte, freie, offene Welt
Liebe meines Lebens
Der Zauber ägyptischer Musik, Mohammed und die Versteckaktion
Meine ersten Lehrmeister: Herbert Timm und John Maynard Keynes
Keynesianismus, Neoklassik und die Schizophrenie der Volkswirtschaftslehre
Die Musgrave-Schule
Sinn, der Marxist?
Ein Gläschen Piccolo
Inspiration ohne Ende: Nach Mannheim in den Ökonomen-Olymp
Forscher-Take-off: Erste Erfolge
Mehr als er hat, kann man ihm nicht nehmen: Warum die Banken Glücksspiele spielen
Sturm und Drang: Die Habilitation
Buffalo, Gießen oder München? Es hätte auch anders ausgehen können
3 Frühe Prägungen: Kleine Verhältnisse und darüber hinaus
Ein armer Junge mit Wurzeln im Westen und in Pommern
Heimat, Brake, westfälisches Land
Von der Dorfschulklasse als Einziger aufs Gymnasium in der Stadt
Neue Horizonte: Lehrmeister und Lernlust
Vatererbe: Arbeit, Unternehmerfleiß, Durchsetzungskraft
Starke Autos, echte Freundschaften: England und Frankreich
Spachteln für das Nordkap. Und das Ende meiner Jugend
4 Missionar oder Revolutionär?
Die Schule des Mittelstreckenlaufs, Albert Schweitzer und die Löwen
Bei den Falken: Freie Gedanken und Willy Brandt
Atemlos in der Mitte des Sees und auf dem Gipfel: Lektionen im Zeltlager
Ein Bewusstsein für historische Schuld: Oradour-sur-Glane und Lidice
In Israel: Kibbuzerfahrung und ein denkwürdiger Auftritt
»Mit jedem Schritt, mit jedem Tritt«: Gegen Nazis, Wiederbewaffnung, Atomkraft und Kommunisten
Polarisierende Zeiten: Sozialdemokratischer Hochschulbund, Studentenbewegung und linkes Leben
Prager Frühling als Lokaltermin
Ausflug nach Sarajevo
Die Prüderie der Achtundsechziger
Rechte Gefahr: In den Fängen von Thaddens
5 Die Schatten der Vergangenheit
Mein Albtraum
September 11
Vertreibung, Aussöhnung mit Tschechien und imposante Politiker
Der Großvater in Kolberg: Sozialdemokrat, Nazi-Gegner, KZ-Häftling
»Sin«: Was für ein passender Name für einen Deutschen
Ein Bild von Deutschland. Und ein Brief an Helmut Kohl
Komplexe Schuld-Verhältnisse: Heinrich von Stackelberg und seine Schule
Weltfinanzkrise, die »Neunmalklugen« und ein Besuch bei Charlotte Knobloch
Juden und Manager: Sturm der Entrüstung über einen missglückten Vergleich
6 Die Grenze zwischen Markt und Plan
Von links zur Erkenntnis: Der Sieg der »unsichtbaren Hand«
Effiziente Märkte, Kochtöpfe und warum Hayek recht hat
Idealbild Markt und der Volkswirt als Arzt: Beispiel Umwelt und warum es keinen Gegensatz von Ökonomie und Ökologie gibt
Der Homo Oeconomicus
Der methodologische Individualismus und die Nöte eines deutschen Wissenschaftlers
Anarchie, Ordoliberalismus und Neoliberalismus
Von Ronald Coase bis Max Weber: Wilder Westen, Migration und Eigentumsrechte
Öffentliche Güter, Steuern und Staatsschulden: Die Finanzwissenschaft und ihr großartiger Vater
Warum Politiker ihre eigene Agenda verfolgen und warum der Volkswirt das Volk beraten sollte
»Zwei gegensätzliche Visionen des Staates«: Die Buchanan-Musgrave-Debatte
7 Die wichtigste Frage: Wie wird der Wohlstand verteilt, und wie sollte er verteilt werden?
Neymar, Topmanager & Co: Wer was bekommt und was das mit Migration und Gerechtigkeit zu tun hat
Von reich zu arm: Der Schleier des Unwissens und warum die staatliche Umverteilungspolitik grundsätzlich nützlich ist
Die EU, die Sozialmigration und das Wohlfahrts-Trilemma
Gut gemeint, aber nicht gut getan: Der falsch konstruierte Sozialstaat ...
... und warum die Agenda 2010 und der aktivierende Sozialstaat der Ausweg gewesen sind
Wolfgang Wiegards Dienst, Gerhard Schröders Preis und ein Theaterstück
Große Enttäuschung Angela Merkel: Das Leipziger CDU-Programm und seither sehr viele Schritte zurück
8 Eine Frage der Verantwortung: Klima, Umwelt und Energie
Weckruf des Club of Rome
Früh dabei: Das deutsche Zentrum der Umweltforschung
Größte Herausforderungen: Treibhauseffekt und Klimawandel
Falsche Politik: Der Emissionshandel und das Erneuerbare-Energien-Gesetz beißen sich
Das Grüne Paradoxon
Warum man kein Kohlenstoffbudget braucht, wohl aber die Extraktion verlangsamen sollte
Es geht nur global
Der grüne Flatterstrom und warum wir die Wende der Wende brauchen
9 Die Entdeckung der Welt
Unterwegs sein
Verspätete Hochzeitsreise: Aufbruch ins Franco-Spanien ...
... und tief versunken im Maghreb
Japanischer Zauber und drei Affen: »Sage nicht kekko, bevor du Nikko gesehen hast«
Mongolische Wunder: Schlechte Deals und weise Kamele
Englische Lektionen: Die Höhen der London School of Economics und die Kehrseite von Maggie Thatcher
Western Ontario: Das wichtigste Jahr meiner akademischen Laufbahn
Wir Kanadier
Auf hoher See nach Hause: Wehmut, Luxus und die Entdeckung der Langsamkeit
10 Frischluft dringend benötigt: Eine bessere Ökonomie für eine bessere Gesellschaft
Der Knoten platzt: Höchste Zeit für Veränderung
Die Vereinigung der Europäischen Ökonomen
In München: Als »Küken« gestartet und dann schnell die Fenster auf
Bewertete Professoren, »Ehemalige« und Medaillen
Eine neue Zeitschrift für die Wirtschaftspolitik
Der Verein für Socialpolitik, die Kathedersozialisten und was heutige Ökonomen von ihnen lernen können
Schon früher: Zarte Versuche der Öffnung
Mehr Jugend und Internationalisierung
Schwärmt aus!
Auf zum Tanz: Im Weltverband der Finanzwissenschaftler
11 Auch in München: Modernisierung durch Internationalisierung
Herr Zimmermann und die Schweiz. Die Geburt des Center for Economic Studies (CES)
Vollkontakt für junge Wissenschaftler: Direkt an der Forschungsfront
Auf nach Amerika!
Das CES bei der Arbeit: Im Hintergrund und an der Spitze
Ein Leuchtturm: Die Munich Lectures in Economics
Viele Versuchungen und ein Schubladenplan: Die Gründung des CESifo-Forschernetzwerks
Dynamische Entwicklung: CESifo hebt ab und wirkt in die Welt
Viele Begegnungsräume: Fachtagungen und ein Irrenhaus in der Nähe von Venedig
Kein Zuckerschlecken: Heftiger Widerstand aus London
Näher ran an die Politik: Eine Top-Konferenz in München und endlich ein »Europäischer Wirtschaftsbericht«
12 Das ifo Institut: Vom Sanierungsfall zum Champion
Das Institut am Boden: Finanzprobleme, Teilabwicklung und ermüdende Verhandlungen
Ein Ruck in der Belegschaft und große Baumaßnahmen
Mehr Wirkung durch eine Medienoffensive: Zeitschriften, Buchreihen, Internet
DICE: Eine neue Datenbank für Europa als zweites Standbein
Eine neue Philosophie für bessere Forschung: »Ordentliche Professoren« müssen her
Ehre, Öre und die wissenschaftliche Freiheit an den Instituten
Ein Auftrag für mehr Qualität: Lunchtime und Arbeit in den Ferien
Konferenzen und Veröffentlichungen: Durchbruch an die Spitze auf breiter Front
Evaluierungen ohne Ende: Das große Zittern und Erleichterung
Präsidiales Multitasking: Institutsleitung, Forschung und öffentlicher Diskurs
Der Erfolg hat viele Väter
»Beim Barte des Propheten«
13 Wo bleibt mein Europa?
Währung, Brexit, Flüchtlinge, Ukraine: Aus der Traum?
Hauptproblem Euro: Wie er die Schuldenlawine in Gang setzte, Industrien zerstörte und die Parteienlandschaft umpflügte
Das Eurosystem als WG-Kasse: Teure Krisen-Scheinlösung mit der Druckerpresse und wie es besser gegangen wäre
Die Target-Salden (1): Detektivische Entdeckung, große Aufregung und Kampf um die Deutungshoheit
Die Target-Salden (2): Wertlose Forderungen statt wachsender Goldschatz, der Flügelschlag des Schmetterlings und Mario Draghi beim Papst
Der OMT-Beschluss der EZB: Wie Kanzlerin und Gerichte es zuließen, dass die Staatspapiere Südeuropas am Bundestag vorbei in Eurobonds verwandelt wurden
Eine Diskreditierung und ein Husarenstück namens QE zulasten Deutschlands
Die große Entwertung: Wehe, wenn die Baby-Boomer ihr Geld zurückhaben wollen
Unser Euro? Mein Europa!
Epilog – Die Rolle des Ökonomen in einer mündigen Gesellschaft
Schemen im Nebel
Von der Beratungsresistenz der Politik
Wider Ideologie und Denkverbot
Auf der Suche bleiben
Danksagung
Werkverzeichnis (Auswahl)
Personenverzeichnis
Stimmen zum Autor
Über den Autor
Eine Chronologie – auch in Bildern
Was treibt mich an, wohin führt mein Weg? Welchen Beitrag leiste ich für die Gesellschaft – welchen für Familie, Freunde, mir anvertraute Menschen, Kollegen? Halte ich mich an die Prinzipien und Gebote, die mir Eltern, Großeltern und andere Lehrmeister mitgaben? Wer und was ist mir wirklich wichtig, für wen und für welche Ideale lohnt es sich zu kämpfen?
Für jeden bewusst, vernünftig und verantwortungsvoll agierenden Menschen ist es unverzichtbar, sich diese vielleicht philosophisch anmutenden Fragen immer wieder zu stellen, um so sein Leben auf Kurs zu halten.
Aber keine Sorge: Ich bin Volkswirt und damit Sozialwissenschaftler, und kein Philosoph. Ich frage, denke und schreibe anders. Und doch habe ich in jenen rund sieben Jahrzehnten, die mein Leben nun umfasst, diese Fragen mit mir geführt. Ich stellte sie mir schon früh und immer wieder, und ich versuchte, sie auch dann im Auge zu behalten, als mich die ungeheure Dynamik meiner beruflichen Verpflichtungen, insbesondere das Amt als Präsident des ifo Instituts, bis an die Grenzen meiner Kräfte forderte. Im Rückblick will es mir manchmal sogar scheinen, dass sie mich geleitet haben. Aber weiß ich das? Ich will da nichts hineinkonstruieren.
Was ich aber weiß, ist, dass ich mit diesem Buch, meiner Autobiografie, auch diese Fragen zu beantworten versuche.
Seit meiner Jugend treibt mich die Neugier, und deshalb stand für mich fest, dass ich Wissenschaftler werden wollte. Rerum cognoscere causas – »Den Grund der Dinge erkennen« – ist ein auf den römischen Dichter Vergil zurückgehender Leitspruch der Wissenschaften, den ich schon früh verinnerlicht habe, lange bevor ich im Lateinunterricht davon erfuhr.
Er leitet mich bis heute. Und bis heute interessiert mich stets das Neue, das mir Unbekannte. Ich will wissen, wie die Dinge zusammenhängen, ich will verstehen. Und wenn ich verstanden habe, mache ich mich alsbald auf zu einer neuen Suche nach dem Neuen, um auch das zu verstehen.
Als ich das Gymnasium in Bielefeld verließ, hätte ich am liebsten gleich mehrere Fächer parallel studiert, so hatte mich der Schulunterricht fasziniert und motiviert. Und als ich mich dann schließlich für die Volkswirtschaftslehre entschieden hatte, wollte ich am liebsten in allen wichtigen Teilgebieten des Faches tätig werden. Nichts beschreibt vielleicht besser, wie sehr mich die »Suche nach der Wahrheit« schon immer beseelte. Nicht von ungefähr also ist dies nun auch der Titel dieser Autobiografie.
Ich gebe zu: Bis zum Schreiben der vielen Seiten, die sie nun umfasst, war mir dieses Leitmotiv meines Lebens nicht voll und ganz bewusst. Aber, wie ich im Epilog am Ende dieses Buches noch ausführen werde, bin ich ein Mensch, der beim Schreiben lernt. Vor allem beim Schreiben eines Buches – auch dieses Buches, das so ganz anders ist als alles, was ich bislang geschrieben habe.
Die Vergangenheit ist nie abgeschlossen. Auch die eigene nicht. Das gilt für jeden – auch für mich. Die Sicht auf sie – und die Geschichte, die wir über sie erzählen – wird bestimmt durch das Hier und Jetzt. Und so wandeln sich mit dem Fluss der Ereignisse auch die Antworten auf die Lebensfragen.
Allerdings wandeln sie sich wohl immer weniger, je älter man wird und je bewusster man lebt. Ich bin nun, mehr als fünfzig Jahre seit dem Beginn meines Studiums der Volkswirtschaftslehre – das war im Herbst des Jahres 1967 –, um einige Erkenntnisse reicher, die aus vielen beruflichen und persönlichen Erfahrungen und dem Nachdenken darüber resultieren. Ich betrachte sie als Geschenk des Älterwerdens. Zugleich hat mein langes Wirken als Forscher und Hochschullehrer im In- und Ausland, als Buchautor, Vortragsredner, Präsident nationaler oder internationaler Fachverbände und öffentlicher Streiter für ökonomische Vernunft mein Bewusstsein auch tief und nachhaltig geprägt und geschärft. Ich glaube daher sagen zu können: »Auf der Suche nach der Wahrheit« wird mir wohl auch in zehn Jahren oder später als Leitmotiv meines Lebens gelten können, wenn es mich dann noch gibt.
Die Neugier und die kompromisslose Suche nach der Wahrheit hat meine Karriere als Hochschullehrer, als Wissenschaftler und als Anwalt für eine bessere Wirtschaftspolitik geprägt, der – ich gebe es zu – keiner Kontroverse aus dem Weg ging. Nachdem ich zunächst an den Universitäten Münster und Mannheim sowie in Kanada studiert, geforscht und unterrichtet hatte, schlossen sich über dreißig Jahre als aktiver Hochschullehrer an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) an. Insgesamt komme ich so über mein gesamtes Leben hinweg gerechnet auf 82 Semester universitärer Lehre – wobei die vielen Wochenenden, die ich für Verwaltungsakademien tätig war, eigentlich noch hinzuzuzählen wären. Ich kann es selbst kaum glauben. Viele Generationen von Studenten besuchten meine Vorlesungen, viele Doktoranden promovierten bei mir, weitere Forscher habe ich auf die eine oder andere Art und Weise unterstützen können, indem ich ihre Habilitationen begleitete, also jene wissenschaftlichen Arbeiten, die die Voraussetzung dafür sind, dass man ein ordentlicher Professor an einer Universität werden kann.
Meine Studenten, Doktoranden und Habilitanden bekleiden nun wichtige Posten in dieser Gesellschaft, und einige meiner akademischen Schüler lehren heute an angesehenen Universitäten. Ich verhehle nicht, dass mich das ein wenig mit Stolz erfüllt, einem Stolz, den man mir verzeihen möge. Eine »Sinn-Schule« der Ökonomie, vor der sich manche »Sinn-Opponenten« in Politik und einigen Medien nun womöglich fürchten mögen, gibt es aber nicht. Jeder Student, jeder akademische Schüler, ob jünger oder älter, hat seinen eigenen, von ihm selbst gewählten Weg der Erkenntnis und der Einflussnahme auf die Wissenschaft und die reale Welt der Wirtschaft zu gehen. So wie ich ihn auch selbst suchte und fand. Wenn ich aber »meinen« Schülern – neben der sauberen Anwendung der ökonomischen Methode als Wissenschaft auf welchen Forschungszweig und auf welche Forschungsfrage auch immer – eines zu vermitteln trachtete, dann war es dieses: Die Suche nach der Wahrheit, die das Ziel der volkswirtschaftlichen Forschung ist, mag zwar nicht selten mühsam sein und nur in kleinen Schritten vorangehen. Aber sie darf innere und äußere Widerstände nicht scheuen und muss mutig sein. Anders ist jene Wahrheit, der sich – wie ich denke – ökonomische Forscher verpflichtet fühlen sollten, nicht zu haben.
Für manchen mag das lebensfern klingen. Kann sein. Natürlich weiß ich, dass ein jeder im Leben Kompromisse machen muss, in der Politik, als Mitarbeiter im Unternehmen, im Sportklub, in der Familie. Doch unberührt davon bin ich entschieden der Ansicht: Die Wahrheit bleibt doch die Wahrheit und sie muss ausgesprochen werden, damit die Dinge sich zum Besseren ändern können.
Allerdings sollte ein Leben, das der Suche nach ihr gewidmet ist, auch Spaß machen. Was wäre das sonst auch für ein Leben? Nur Kopfarbeit allein macht nicht glücklich. Um den Kopf freizubekommen, muss man nicht nur Texte oder Bücher schreiben und denken, sondern auch einmal – zum Beispiel – Tore köpfen. Das zumindest habe ich, solange meine Gelenke und Sehnen es zuließen, mit Begeisterung getan. Mit meinen wissenschaftlichen Assistenten, mit Gastforschern oder anderen Kollegen haben wir über viele Jahre hinweg regelmäßig im Münchner Englischen Garten gekickt. Wir hätten eigentlich einmal untersuchen sollen, wie das die Qualität unserer Arbeit beeinflusst hat. Besser gefühlt haben wir uns auf jeden Fall. War ich ein Leistungsträger beim Fußball? Nun ja ... Wie viel Tore ich geschossen habe? Nun ja ... Man verlange nicht zu viel von einem Verteidiger. Letztlich war ich wohl doch besser am Schreibtisch aufgehoben. Aber trotzdem ...
Ich komme aus den einfachen dörflichen Verhältnissen einer jungen Familie in Westfalen mit mütterlichen Wurzeln im Osten. Ich weiß, was es heißt, arm zu sein, und ich kenne die Nöte des Alltags, ja die Armut. Ich bin auch deswegen Ökonom geworden, weil ich die Gesellschaft besser machen wollte – zugunsten gerade der einfachen Menschen, auch jener, die weniger gute Start- und Entwicklungschancen haben als andere. Für manche mag das romantisch klingen, für manche idealistisch, für manche gar gefährlich utopisch. Das ficht mich nicht an. Genauso wenig wie es mich anficht, wenn man mich – der ich in wirtschafts- und sozialpolitischen Debatten immer wieder eindringlich Stellung bezogen habe – hin und wieder als »Marktradikalen« oder »Neoliberalen« zu verunglimpfen sucht. Beides ist grober Unfug, jedenfalls so, wie es gemeint ist.
Hat es mich trotzdem genervt? Manchmal schon. Auf jeden Fall hat es mich angespornt. Und mit meinem idealistischen Antrieb habe ich selbst ja auch andere genervt. Hin und wieder sogar mich selbst ... Ein gutes Bier und eine deftige Brotzeit, die ich als Neu-Bayer schätze, haben dann bisweilen geholfen. Wirklich!
In diesem Zusammenhang frage ich mich im Übrigen nicht selten: Bin ich mittlerweile eigentlich fast schon »richtiger« Bayer oder bin ich noch »echter« Westfale? Das weiß ich oft selbst nicht. Als ich in diesem Buch über meine westfälische Heimat schrieb, war ich ganz und gar eingetaucht in die damalige Zeit auf dem Lande, zwischen den Fachwerkbauten und den schweren Ackergäulen, während die immerwährende warme Brise, die vom weiten Meer kam, mein Gesicht umwehte. So jedenfalls erinnere ich mich auch an meine Wurzeln in meinen Kinder- und Jugendtagen.
Doch wenn ich mich heute umschaue, dann bin ich eben im Freistaat – und das ja sehr gerne und bereits seit mehreren Jahrzehnten. Dann sehe ich meine ganz und gar bayerischen Enkel vor Bergen und Seen im Schnee und in der gleißenden Sonne. Ich tauche beim Oktoberfest auf der Münchner Theresienwiese ein in die Massen der schunkelnden Menschen, deren Vitalität und Fröhlichkeit ich mich spätestens nach der ersten Maß weder entziehen kann noch will.
Und bin ich nach zwei langen Aufenthalten in Kanada nicht auch ein wenig Kanadier? Wenn ich mich mit dem Rucksack auf Skiern durch die verschneite Winterlandschaft stapfen sehe, wenn ich im Herbst die roten Ahornwälder durchwandere oder im Sommer die Gischt des Eriesees inhaliere, wenn ich Thanksgiving feiere und mir die in Butter gebackenen Pfannkuchen mit Ahornsirup in den Mund schiebe: Ja, dann bin ich tatsächlich ein Kanadier durch und durch. Und will es immer sein.
Kein Zweifel, meine Wurzeln haben sich im Laufe meiner Lebensjahre verbreitert und verästelt. Und das ist auch gut so, denn so nähren sie mich und geben mir Halt.
Doch zurück zu meinem Antrieb, der mich einst zum Volkswirt machte mit dem Ziel, einen Beitrag für eine bessere Gesellschaft zu leisten: Er ist im Laufe der Zeit immer weiter gewachsen, und heute ist er größer denn je. Denn auch die Herausforderungen sind größer geworden. Ich habe Kinder und Enkel, denen gegenüber ich mich verantwortlich fühle. Auch meine Nachbarn und Freunde hierzulande, ja meine Landsleute, meine Freunde und Bekannten in Europa und die Menschen überall auf der Welt haben Kinder und Enkel. Alle Nachkommen haben ein Recht darauf, sich in Frieden nach eigenen Fähigkeiten entfalten zu können. Es ist die Aufgabe der ökonomischen Forschung, dazu beizutragen, dass auch ihre Lebenschancen gewahrt werden, statt einfach zuzuschauen, wenn aktuelle Politikergenerationen sie ihnen nehmen.
Deswegen ging ich als Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, dessen Rettung aus einer existenzbedrohenden Krise und dessen Wiederaufbau ich 17 Jahre harter Kärrnerarbeit widmete, in die Medien und suchte den Kontakt zu den Menschen. In Radio- und Fernsehsendungen, in Talkshows, Nachrichtensendungen oder auch anderen Formaten mischte ich mich ebenfalls ein. Auch deswegen schrieb ich allgemein verständliche Artikel in deutschen und internationalen Zeitungen und initiierte ein europäisches Forschernetzwerk – das heute im Übrigen in der Volkswirtschaftslehre eines der größten der Welt ist. Und ich schrieb zudem Bücher zu zentralen wirtschaftlichen Problemen und Krisen, die einerseits den harten internationalen Forschungsstandards entsprachen, andererseits aber doch so verfasst waren, dass sie auch gebildete, ökonomischen Wahrheiten gegenüber aufgeschlossene Leser verstehen.
Probleme und Krisen, zu denen man als Volkswirt gefragt war, gab es in den letzten knapp dreißig Jahren ja genug: die Wiedervereinigung und die damit verbundenen wirtschaftspolitischen Fehler zulasten der Menschen in Ostdeutschland; die Standortthematik und die »Heilung« des »kranken Manns« in Europa, der die Bundesrepublik bis weit in die 2000er-Jahre hinein war; der trügerische Jubel über die Exportweltmeisterschaft Deutschlands; die massiven Fehler in der Umwelt- und Energiepolitik; die Weltfinanzkrise und das wachsende Unbehagen am Kapitalismus; die Deutschland bis in die ferne Zukunft billionenschwer belastende Eurokrise; die Zuwanderung in den Sozialstaat durch die ebenfalls politisch fahrlässig gelenkte Migration; das Versagen der EU beim Brexit und anderes mehr.
Die Bücher zu diesen Themen wurden allesamt zu Bestsellern. Dass mir das als Autor schmeichelt: geschenkt. Viel wichtiger ist, dass sie zu dem wurden, was mir wichtig war und bis heute ist: zu einer Grundlage für eine andere Argumentation als jene bequeme »alternativlose«, die sich die vor allem an der Wiederwahl in Ämter interessierte Politik immer häufiger zu eigen macht.
Schon in meiner Jugend und dann noch mehr im Zuge zunehmender Begeisterung für mein Studium entschied ich: Ich will nicht in den Tag hineinleben, sondern mit Blick auf die Gesellschaft verantwortlich handeln. Beides will ich noch immer. Meine Bücher waren und sind, wie ich finde, so, wie ich sie geschrieben habe, ein Ausdruck dieser Lebensphilosophie.
»Auf der Suche nach der Wahrheit« – diese Autobiografie also – ist schließlich auch eine Reise. Und sie ist es auf mehreren Ebenen.
Sie beschreibt zum einen die Reise eines kleinen Jungen aus anfänglich armer Familie, dem es gelang – früh unterstützt durch fürsorgliche Eltern und Großeltern sowie durch exzellente Lehrer und Professoren im In- und Ausland –, seinen Weg in die vorderen Ränge der ökonomischen Wissenschaft und öffentliche Wirtschaftsdebatten zu finden. Sie ist damit zugleich eine Geschichte des geistigen und sozialen Aufstiegs zunächst in Zeiten des Wirtschaftswunders und später der Nachwendezeit.
Sie beschreibt damit zum anderen eine Reise des Aufbruchs in eine neue Welt, die von Ideologien nichts wissen will. Und diese Reise war weit. In meiner Jugend im westfälischen Brake wurde ich eher »links« geprägt, auch durch meine Familie. So war ich unter anderem sehr aktives Mitglied der Falken, der Jugendorganisation der SPD, denen ich vieles zu verdanken habe. Etwa die kritische Thematisierung der Nazi-Vergangenheit, die in der Schule nicht stattfand. Oder Auslandsreisen nach Frankreich, die meine Eltern sich nie hätten leisten können und die den Grund legten für meinen bis heute andauernden Einsatz für das Friedensprojekt Europa.
Andererseits aber lernte ich in meinem Studium der Ökonomie auch, dass mich »linke«, durchaus gut gemeinte Gesinnung, die mit Blick auf praktische Wirtschaftspolitik allzu oft auf eine bloße Umverteilungspolitik zugunsten der nicht Arbeitenden abstellt, nicht weiterführt. Das Ziel, alle arbeitsfähigen Menschen in den Arbeitsprozess und damit in das stabilisierende Gefüge einer Kollegenschaft einzugliedern, ließ sich – so verstand ich – auf diese Weise nicht realisieren. Ich nahm daher nach und nach Abschied von allem Ideologischen – mit den »Rechten« hatte ich mich ohnehin noch während meines Studiums geprügelt –, ohne mich dabei im Mindesten einer Partei verbunden oder gar verpflichtet zu fühlen. »Meine« Partei wurde vielmehr die der Wissenschaft und der wissenschaftlich basierten Aufklärung der Öffentlichkeit über das, was ökonomisch vernünftig ist und was infolgedessen wirtschafts- und sozialpolitisch getan werden muss.
Dieses Buch beschreibt ferner eine Reise in das, was wissenschaftlich ambitioniert betriebene Volkswirtschaftslehre früher war und heute ist und sein muss, damit sie erfolgreich bleibt – an Universitäten, in Forschernetzwerken oder an Wirtschaftsforschungsinstituten wie dem ifo Institut. Es lotet dabei auch ihre Möglichkeiten und Grenzen aus und gibt zugleich – quasi en passant – einen Überblick zu wichtigen ökonomischen Herausforderungen, Denkströmungen, Institutionen und Personen: Wie viel Markt, wie viel Staat, wie viel Plan? Was ist gerecht, und wie viel Umverteilung ist richtig? Wie sieht ein richtig konstruierter Sozialstaat aus – und was ist dabei mit Blick auf die Migration zu beachten? Welche Gestalt hat eine ökonomisch sauber fundierte, passgenaue Klima-, Umwelt- und Energiepolitik? Was läuft in Europa und mit dem Euro falsch, und wie ginge es besser? Wie ist den Auswüchsen des Kasino-Kapitalismus Einhalt zu gebieten?
»Die Suche nach der Wahrheit« ist ebenfalls eine Reise an internationale Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds oder die Europäische Zentralbank und Top-Universitäten in den USA, Großbritannien oder eben Kanada, dieses Land, das meine Frau Gerlinde und ich durch zwei längere Lehr- und Forschungsaufenthalte über alle Maßen schätzen gelernt haben.
Und so ist denn dieses Buch – last but not least – auch eine Reise des Lebens, das ich so nur zusammen mit meiner Frau erfahren, bestehen und gestalten konnte. Gewiss, ich lege hier vor allem Zeugnis ab von dem, was ich beruflich und wissenschaftlich voranbringen konnte, und dies vor dem Hintergrund vielschichtiger ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Veränderungen in Deutschland, Europa und der Welt. Vieles davon ist geglückt, manches nicht.
Vollständig geglückt aber ist mein Leben mit meiner Frau Gerlinde; sie habe ich im ersten Semester unseres gemeinsamen Ökonomiestudiums in Münster kennen- und lieben gelernt; mit ihr zusammen habe ich arbeiten und publizieren können; mit ihr habe ich eine wunderbare Familie gegründet; sie war und ist meine erste Ansprechpartnerin in allen wichtigen Fragen; mit ihr habe ich atemberaubend schöne und prägende Reisen nach Nordafrika, Japan, China, Nordamerika, Bolivien, die Mongolei und in viele andere Länder der Welt unternommen, von denen ich hier auch erzählen werde.
Sie ist die Liebe meines Lebens. Noch vor der Ökonomie. Ob sie mir das glaubt? Ich höre sie schon lachen.
Hans-Werner Sinn
München, Januar 2018