Zum Buch
Wer war Eugen Kallmann? Warum musste der beliebte Gesamtschullehrer in der beschaulichen schwedischen Kleinstadt sterben? Wirklich nur ein Unglücksfall, wie die Polizei behauptet? Als sein Nachfolger im Schwedischunterricht, Leon Berger, nach der langen Sommerpause seinen Dienst antritt, findet er im Pult unter Kallmanns Sachen eine Reihe von Tagebüchern, die sich als eine Mischung aus Dichtung und Wahrheit entpuppen und ihn schon bald daran zweifeln lassen, dass sein Vorgänger tatsächlich eines natürlichen Todes gestorben ist. Denn in seinen Einträgen behauptet Kallmann unter anderem, er würde die Gabe besitzen, in den Augen anderer Menschen erkennen zu können, ob sie gemordet haben. Und er scheint in den letzten Monaten seines Lebens einem nie entdeckten und nie gesühnten Verbrechen auf der Spur gewesen zu sein. Leon Berger will den Fall Kallmann lösen – seine privaten Ermittlungen setzen etwas in Gang, das schließlich die ganze Kleinstadt erschüttert.
Zum Autor
HÅKAN NESSER, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens – und verfügt mittlerweile auch in Deutschland über eine riesige Fangemeinde. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. Ben Kingsley wird die Hauptrolle in einer großen, international besetzten Filmtrilogie von einigen dieser Stoffe spielen, die aktuell produziert und demnächst in die Kinos kommen wird. Håkan Nesser lebt abwechselnd in Stockholm und auf Gotland.
Håkan Nesser
Der Fall Kallmann
Roman
Aus dem Schwedischen
von Paul Berf
August – Oktober 1995
1
Leon
Ich verließ Stockholm etwa sieben Monate nach dem Verschwinden meiner Frau und meiner Tochter.
Es war ein heißer Sonntagvormittag Anfang August. Das Taxi wartete am Scheitelpunkt des Slottsbacken, neben der Statue von Birger Jarl. In Gamla Stan, der Stockholmer Altstadt, waren zu viele Touristen unterwegs, um Autoverkehr zuzulassen. Das hatte mir die Dame in der Taxizentrale ungefragt mitgeteilt, und als ich meine zwei sperrigen Koffer über das Kopfsteinpflaster des Stortorget zog, stellte ich fest, dass sie nicht gelogen hatte. Die Straßencafés waren überfüllt, und rund um den Brunnen standen Horden von Japanern, Deutschen und Italienern und fotografierten sich gegenseitig nach Herzenslust. Auf der Treppe zum Gebäude der Schwedischen Akademie saßen zwanzig Jugendliche in gelben T-Shirts und lauschten einer Frau in einem gelben Jackett, die aus einem Buch vorlas; ich nahm an, dass ein Literaturnobelpreisträger aus ihrem Heimatland es geschrieben hatte. Welches Land es auch immer sein mochte, Polen vielleicht, die flüchtigen Worte, die an mein Ohr drangen, klangen slawisch.
Als mein Blick auf das Taxi und die Fassade des Schlosses fiel, war ich bereits in Schweiß gebadet. Lebe wohl, Stockholm, dachte ich, und wäre bei dem Gedanken fast in Tränen ausgebrochen, bekam aber gerade noch die Kurve.
»Kurze Fahrt«, bemerkte der Taxifahrer, als ich auf der Rückbank Platz genommen hatte.
»Mag sein«, erwiderte ich. »Aber zwei Koffer und eine alte Sportverletzung … tja, Sie verstehen.«
Darauf fiel ihm nichts ein, und wir wechselten während der siebenminütigen Fahrt zum Hauptbahnhof kein Wort mehr miteinander. Im Übrigen war ihm das Fahrtziel natürlich bekannt gewesen, da ich es bei der Bestellung angegeben hatte.
Über mein eigentliches Reiseziel wusste er allerdings herzlich wenig, so wenig wie die meisten anderen, zumindest in der Hauptstadt. Ich hatte es bewusst für mich behalten, nur meine Schwester, zwei, drei frühere Freunde und meinen Rektor informiert. Meine Schwester lebte seit sechs Jahren in Basel in der Schweiz, ebenso lange hatte ich sie nicht mehr gesehen.
Ich hatte nicht den Eindruck, dass mich irgendjemand vermissen würde, wofür ich volles Verständnis hatte. Auch das Mitleid kennt Grenzen, es ist nicht leicht, Schiffbrüchige des Lebens in sein Herz zu schließen. Einen Monat, vielleicht auch zwei oder drei, lässt sich das machen, aber so gut wie niemand hält ein halbes Jahr lang durch. Alte Trauer wird langweilig.
Helena war seit März unter der Erde, es hatte gedauert, die Leiche nach Hause zu verfrachten, eine bizarre Kette von Formalitäten war in Gang gesetzt worden, als man sie schließlich gefunden und identifiziert hatte, Judith galt dagegen nach wie vor als vermisst. Darin lag meine aberwitzige Hoffnung, mein Schiffbruch; jeder konnte sich ausrechnen, dass sie tot war, der Indische Ozean war groß genug, um eine Ertrunkene so lange zu verbergen, wie es ihm gefiel.
Jeder, außer mir. Monatelang hatte ich die Karte von den Inseln vor der Küste Tansanias studiert. Pemba, Mafia, Sansibar. Sowie zahlreiche kleinere Flecken im unendlichen Blau, so klein, dass sie wahrscheinlich nicht einmal besiedelt waren. Aber wenn sie an Land eines dieser Flecken gelangt war, lag es dann nicht im Bereich des Möglichen, dass sie es in irgendeinem kleinen Dschungel schaffen würde zu überleben? So argumentierte ich. War es nicht denkbar, dass sie sich von Obst und essbaren Wurzeln ernährte? Unwahrscheinlich, gewiss, aber das ganze Leben ist eine einzige Aneinanderreihung unwahrscheinlicher Begebenheiten.
Die Fähre war in einem Sturm zwischen Daressalam und Sansibar untergegangen. Von den zweihundertneunzig Passagieren hatten sechsunddreißig überlebt. Einhundertfünfundneunzig Ertrunkene waren gefunden worden, angespült an diversen Ufern in der Umgebung. Neunundfünfzig Menschen wurden noch vermisst. Im Grunde glaubte keiner, dass diese Zahlen korrekt waren.
Einer von denen, die überlebt hatten, war ein schwedischer Oberst der Luftwaffe a. D. Ich hatte mich so oft bei ihm gemeldet, dass er am Ende, im April, nicht mehr an den Apparat gegangen war, wenn ich ihn anrief. Die einzige Information von Wert, die ich ihm hatte entlocken können, war, dass er glaubte, Helena und Judith bemerkt zu haben, als man im Hafen von Dar an Bord der überladenen Fähre ging.
Aber dann: Nein, er hatte nicht mit ihnen gesprochen. Nein, er war nicht in ihrer Nähe gewesen, als die Fähre kenterte. Nein, er hatte sie nicht im Wasser gesehen, als man ihn aus der stürmischen See auf die Rettungsinsel zog.
Und nein, seiner Einschätzung nach war es nicht möglich, schwimmend eine der Inseln zu erreichen. Die nächstgelegene war mindestens acht Kilometer vom Ort des Untergangs entfernt, und als das Unglück geschah, waren die Wellen etwa vier Meter hoch gewesen.
Ich bin immer ein bodenständiger Mensch gewesen. Vielleicht kein Atheist, aber zumindest ein Agnostiker. Ich bin Studienrat und unterrichte Schwedisch und Geschichte, mein Staatsexamen legte ich 1974 an der Pädagogischen Hochschule in Uppsala ab. Als ich an diesem heißen Augusttag Stockholm verließ, blieb mir noch gut ein Monat bis zu meinem fünfundvierzigsten Geburtstag. Meine Eltern sind seit ein paar Jahren tot. Außer der bereits erwähnten Schwester habe ich keine nahen Verwandten. Helena und ich hätten im September unseren achtzehnten Hochzeitstag gefeiert, wir bekamen nur ein Kind, unsere Tochter Judith.
Die Reise nach Ostafrika war ein Geschenk zu ihrem fünfzehnten Geburtstag gewesen. So viel dazu.
Die Fahrt nach K. dauerte fast sechs Stunden. Die letzte Etappe legte ich in einem Bus zurück, einer in die Jahre gekommenen, gelben Klapperkiste mit insgesamt zwei Fahrgästen und einem Fahrer, der aussah wie ein verlebter Richard Nixon. Der einzige andere Fahrgast war ein etwa dreizehnjähriges Mädchen mit einem Katzenkorb auf dem Schoß, und ich fragte mich unwillkürlich, ob ich ihr in naher Zukunft in einem Klassenzimmer begegnen würde.
Das Mädchen selbst fragte ich allerdings klugerweise nicht danach. Der Schulanfang lag noch zwei Wochen in besagter Zukunft, mir persönlich hätten zwei Tage völlig gereicht, und als wir durch die sonnengetränkte, aber menschenleere Waldlandschaft zuckelten, erschien mir meine Idee, mich in der Stadt zu akklimatisieren, ehe wieder der sogenannte Ernst des Lebens begann, auf einmal völlig unverständlich. Die Leute hatten ganz offensichtlich noch Urlaub und verbrachten denselben ebenso offensichtlich andernorts, ein Eindruck, der sich noch verstärkte, als wir auf einem kleinen Platz neben einem stillgelegten Bahnhof hielten. Verlassen stand dort ein Quartett Busse wie tote Pferde in Erwartung ihres Begräbnisses, eine schlichte Imbissbude war noch bis Mitte des Monats geschlossen und neben dem Taxischild fand ich zwar einen betagten Volvo mit heruntergekurbelten Fenstern, aber keinen Fahrer. Als ich fünf Minuten gewartet hatte, tauchte er mit einer Tüte des Staatlichen Alkoholgeschäfts und einer Boulevardzeitung auf. Er nickte mir nicht unfreundlich zu, und ich nickte ebenfalls in düsterem Einverständnis, immerhin war es ein Freitag. Ich nannte die Adresse, wir fuhren los, und kurze Zeit später konnte ich den Schlüssel in das Türschloss zu meinem neuen Zuhause stecken. Östra Ågatan 36, eine möblierte Zweizimmerwohnung in einem kleineren Mietshaus am Fluss. Ungefähr zwischen dem Stora torget – dem Mittelpunkt von K., wenn ich recht sah – und der Bergtunaschule, meinem zukünftigen Arbeitsplatz, gelegen.
Die Schwermut, die den ganzen Nachmittag auf der Lauer gelegen hatte, steigerte sich binnen weniger Sekunden zu halber Panik. Ich stellte fest, dass es Viertel vor sechs war, schenkte mir einen Whisky ein und setzte mich auf den Balkon. Ein Vogel, vermutlich eine Wacholderdrossel, ließ sich für einen Moment auf dem Geländer nieder, ehe er sich sanft zum Fluss hin fallen ließ. Der Duft von mariniertem Grillfleisch schob sich um einen Hausgiebel, was auf menschliche Aktivitäten schließen ließ.
Ludmilla Kovacs hatte mir von der freien Stelle erzählt. Als wir uns auf einer Promotionsfeier begegneten, hatten wir uns seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, und wäre sie nicht zu mir gekommen und hätte sich vorgestellt, hätte ich sie nicht mehr erkannt. Natürlich nicht. Während unseres gemeinsamen Jahres an der Pädagogischen Hochschule war sie eine ziemlich wütende Linke mit drei Kilo wildwüchsigem Haar und einem Schäferhund namens Oktober gewesen. Den Hund schleifte sie regelmäßig zu den Seminaren mit, so machte man das damals.
Ich hätte mich nicht um Sigurds Disputation geschert, wenn Marta mich nicht dazu überredet hätte. Marta war eine der ältesten Freundinnen meiner ertrunkenen Frau, und Sigurd hatte so lange an seiner Abhandlung über Regenwürmer gearbeitet, wie wir ihn kannten. Drei Kinder und zwei Seitensprünge waren ihm dazwischengekommen, aber Würmer sind geduldige Tierchen, und am Ende hatten sie das Tageslicht erblicken dürfen. Das gesamte Frühjahr hatte ich das Schiffsunglück vorgeschoben, um nicht unter Menschen gehen zu müssen, aber dieses Argument hatte Marta nicht gelten lassen. Helena wäre stinksauer, wenn du da nicht hingehst, sagte sie, womit sie selbstverständlich recht hatte. Pflicht ist Pflicht, ein Todesfall und eine Vermisste spielen da keine Rolle.
Also befand ich mich an einem Abend Ende Mai in dem historischen Gutshaus Piperska muren im Stadtteil Kungsholmen, und als gegen Mitternacht die Tafel aufgehoben wurde, trat eine mir vage bekannt vorkommende Frau zu mir und wollte wissen, ob ich mich an sie erinnerte. Als ich mich schließlich darauf einließ, dass sie Ludmilla Kovacs war, die im Frühjahr 1974 in Uppsala ihr Staatsexamen abgelegt hatte, tanzten wir zwei Mal, ehe wir uns auf einer Couch niederließen und uns unterhielten.
Sie wusste von dem Unglück, Marta hatte ihr davon erzählt, und da sie selbst einen früheren Partner unter sechs Fuß Erde hatte, nach einem engen Kontakt mit einer Felswand, wahrscheinlich Selbstmord, schien mir, dass wir ein gewisses Verständnis füreinander aufbrachten. Es fiel mir leicht und es machte Spaß, mit ihr zu reden, wir waren natürlich ein wenig angetrunken, und als sie drei Tage später anrief und erklärte, sie habe ihren Vorschlag zu dieser Schule in K., an der sie selbst seit ewigen Zeiten arbeitete, durchaus ernst gemeint, kam mir der Gedanke, dass es in meiner Lage der richtige Schritt sein mochte. Ich wusste, dass mein hart erarbeiteter Vertrauensvorschuss an der Schule auf Lidingö im zweiten Halbjahr bei Schülern und Kollegen dahingeschmolzen war. Das Mitleid geht nur bis zu einem bestimmten Punkt, und für einen Lehrer in der Mittelstufe ist dieser oft schmerzhaft deutlich: Entweder man funktioniert, oder man funktioniert nicht. Ich hatte nicht funktioniert.
Außerdem und wider besseres Wissen hatte ich mich geweigert, mich über die erste Woche im Januar hinaus krankschreiben zu lassen. Arbeit fördert die Gesundheit und das Wohlbefinden. Von wegen.
Anfangs wusste ich nicht, was mit meinem Vorgänger an der Bergtunaschule passiert war – der Grund dafür, dass die Stelle frei geworden war –, aber als im Juni die ersten Informationen zu mir durchsickerten, war es zu spät, es mir noch einmal anders zu überlegen. Das Band zu Lidingö und Stockholm war gekappt worden, draußen in Skärholmen hatte ich Stauraum in einem Lagergebäude angemietet und mein düsteres Leben auf ein neues und unbekanntes Kapitel ausgerichtet. Meine Eltern waren zwar beide schon kurz nach ihrem siebzigsten Geburtstag gestorben, aber andererseits war es ebenso gut vorstellbar, dass man die halbe Wegstrecke seines irdischen Daseins noch vor sich hatte, wenn man noch keine fünfundvierzig war. Vielleicht argumentierte ich so. Das Leben ist zäh und dauert so lange, wie es eben dauert.
Natürlich war mir der Gedanke an Selbstmord gekommen, wem wäre es nicht so ergangen, aber wirklich nah war ich ihm nie gewesen. Meine Therapeutin hatte sich bei jeder Sitzung erkundigt, wie es um dieses Thema stand, und ich antwortete ihr fast immer, dass es auf meiner Agenda zumindest nicht oberste Priorität genoss, wenn ich morgens in Angstschweiß gebadet aufwachte.
Ausgezeichnet, erwiderte sie daraufhin regelmäßig und tätschelte mein Knie. Dann wollen wir es dabei belassen. Lade den Tod nicht ein, er kommt auch so.
Danke, das ist mir bekannt, bemerkte ich daraufhin ebenso regelmäßig.
Was die Stadt K. betraf, so hatte ich wie die meisten anderen Menschen auf der Welt nie zuvor meinen Fuß in sie gesetzt. Im Inneren des mittleren Nordschweden gelegen war sie in früheren Zeiten ein kleineres Zentrum der schwedischen Schuhproduktion gewesen, aber seit den siebziger Jahren wurde sie von einer Reihe kleiner, erfolgreicher Industriebetriebe sowie von einem der ausbruchssichersten Gefängnisse des Landes dominiert. Seit dem Mittelalter sozialdemokratische Mehrheiten im Stadtrat und eine Fußballmannschaft, die es etwa alle sechs Jahre schaffte, in die zweite Liga aufzusteigen. Erwartungsgemäß stieg man daraufhin nach einer durchwachsenen Spielzeit wieder ab, feuerte den Trainer und startete einen neuen Anlauf.
Ein See, eine Trabrennbahn, ein Slalomhang.
Gut neunzehntausend Einwohner bei der Volkszählung von 1994 und zwei Gesamtschulen. Gymnasium, Krankenhaus und Bahnhof in der nächstgelegenen größeren Stadt Ö. in fünfundvierzig Kilometer Entfernung. Sowie ein Flugplatz, wenn man es eilig hatte.
Mit diesem Wissensstand im Gepäck saß ich an diesem ersten heißen Augustabend auf meinem Balkon in der zweiten Etage, nippte an meinem Whisky und blickte auf einen Abschnitt des träge strömenden Flusses Storån hinab. Östlich und westlich der Stadt heißt er Morån, aber während er durch das Stadtgebiet fließt, trägt er kurzzeitig einen anderen Namen. Aus unklaren Gründen, wie der Unwissende gern verkündet. Jedenfalls säumten ihn vor meiner Wohnung üppige Birken, so dass ich das braune Wasser nur bruchstückhaft sah – und wenn ich den Blick darüber hinaushob: einen Kirchturm, eine größere Menge unbekannter Häuser und Dächer, einen orangen Baukran, einen sanften Hügelkamm in der Ferne sowie einige Dohlenschwärme, die unablässig und ohne nachvollziehbare Choreografien vor dem Hintergrund des langsam dunkler werdenden Spätsommerhimmels Muster zeichneten.
Was tue ich hier?, dachte ich mit Sicherheit. Warum sitze ich auf einem gottvergessenen Betonbalkon in der Nähe des dreiundsechzigsten Breitengrades? Ich sollte wenigstens wieder anfangen zu rauchen.
2
Andrea
Heute morgen bin ich wieder aus diesem Traum aufgewacht. Die ganze Familie auf einem Floß, das auf einen Wasserfall zutreibt. Mama und Papa völlig unbesorgt, sie sitzen da, essen Krabben und trinken Wein. Eine Art Picknick, aber mitten in einem reißenden Fluss. Aaron und August spielen Karten, nur ich kapiere, was gleich passieren wird, aber es bringt nichts, dass ich versuche, es den anderen klar zu machen. Sie ärgern sich nur über mich, bitten mich, still zu sein und sie nicht zu stören. Nicht so einen Aufstand zu machen.
Deshalb überlasse ich sie am Ende ihrem Schicksal. Springe ins Wasser und schwimme an Land. Ich schaffe es gerade so. Anschließend sitze ich auf einem Stein und sehe, wie sie den Wasserfall hinunterschießen und umkommen.
Zumindest nehme ich an, dass sie umkommen, denn es ist ein schrecklicher Wasserfall mit schäumendem, donnerndem Wasser und spitzen Felsen. Der Traum endet damit, dass sie über die Kante treiben und verschwinden. So endet er immer. Diesen Sommer habe ich ihn schon fünf, sechs Mal geträumt.
Wenn ich dann aufwache, denke ich nur: Okay, das war’s.
Und genau das ist so furchtbar. Dass es mir gar nichts mehr ausmacht. Dass ich mich nicht fürchte und in Schweiß gebadet und vor Angst gelähmt bin, wenn ich die Augen aufschlage. Wenn man fünfzehn ist und seine komplette Familie verliert, sollte einen das eigentlich ziemlich traurig machen.
Aber das tut es nicht, was nicht daran liegt, dass ich weiß, es war nur ein Traum. Wenn ich im Bett liege und darüber nachdenke, wird mir klar, dass ich ganz ähnlich empfände, wenn es wirklich passieren würde.
Okay, das war’s.
Die Sache würde natürlich eine Menge praktischer Probleme mit sich bringen. Wo sollte ich wohnen? Wer würde sich um mich kümmern? Man würde gewiss niemals zulassen, dass ich einfach weiter in unserem Haus wohne und alleine zurechtkomme. Ich würde mit Sicherheit umziehen müssen und bei einer neuen Familie landen, bei der ich auch nicht das Gefühl hätte dazuzugehören.
Zu jemandem gehören. Ich frage mich, bei wem ich eigentlich das Gefühl habe, zu ihm oder ihr zu gehören. Hätte man mich vor einem Jahr gefragt, ich hätte Anna und Malin gesagt. Vielleicht auch Sara. Seit der vierten Klasse, als Sara in unsere Schule kam, haben wir immer zusammengehangen, aber in der achten Klasse sind wir auseinandergedriftet. Langsam, aber sicher. Sie sagen, dass ich komisch bin, obwohl das eigentlich nur Anna behauptet, aber Anna hat nun einmal das Sagen. Du bist so verdammt komisch, sagt sie und lacht, als wollte sie zeigen, dass es gar nicht schlimm ist, wenn man komisch ist, aber ich weiß, dass da ein ziemlich unschöner ernsthafter Ton mitschwingt. Sie mag mich nicht mehr.
Vielleicht spielt Ivan eine Rolle. Als er in unsere Klasse kam, dauerte es keinen halben Tag, bis Anna sich in ihn verliebte. Ivan wollte sie jedoch nicht haben; ich behaupte nicht, dass er mich will, aber es steht fest, dass wir uns gut unterhalten können, Ivan und ich. Er gilt als ein bisschen speziell, vor allem bei den Lehrern, glaube ich, und er hat eine ziemlich traurige Kindheit hinter sich. Vielleicht trifft das Wort komisch ja auch auf ihn zu, aber bei einem Typen ist es irgendwie eher okay, komisch zu sein. Vor allem, wenn man gut aussieht, und das tut er. Vor allem, wenn man der beste Basketballspieler der Schule ist, und das ist er.
Also hänge ich nicht mehr so oft mit ihnen zusammen, weder mit Anna und Malin noch mit Sara. In diesem Sommer habe ich sie kaum zu Gesicht bekommen, was natürlich auch daran liegt, dass wir an unterschiedlichen Orten waren. Sara war bei ihren Verwandten in Norwegen, wo sie noch ist, sie kommt immer erst zwei, drei Tage vor dem ersten Schultag zurück. Malin ist auf Gotland gewesen und Anna an der Westküste, wo sie im Restaurant ihres Onkels ausgeholfen hat. Das Übliche. Ich selbst bin bei zwei Freizeiten gewesen: einem Konfirmations- und einem Basketballcamp. Ivan war wie ich im Basketballcamp, aber wir haben nicht besonders oft miteinander gequatscht; die Betreuer haben darauf geachtet, Jungs und Mädels möglichst voneinander getrennt zu halten, wahrscheinlich hatten sie Angst vor gefährlichen Verbindungen.
Danach ging es mit der Familie für eine Woche nach Griechenland. Ich kapiere nicht, warum man Mitte Juli nach Griechenland fährt, aber das haben wir jetzt schon zum dritten Mal gemacht. Noch dazu auf dieselbe Insel und in dasselbe Hotel, das Zephyr in der Nähe von Malia auf Kreta. Die Temperaturen lagen nie unter dreißig Grad, nicht einmal nachts.
Nun will ich mich nicht über Kreta beschweren, es ist eine echt starke Insel, außerdem habe ich dort einen Typen kennengelernt. Calle aus Stockholm. Er ist sechzehn, und in den letzten zwei Tagen haben wir rumgemacht. Uns so geküsst, dass mein Mund hinterher ganz wund war, und vielleicht hätten wir sogar miteinander geschlafen, wenn ich ein bisschen mutiger gewesen wäre. Oder wenn wir mehr Zeit gehabt hätten. In der letzten Nacht haben wir zusammen am Strand gepennt, das war wirklich das Romantischste, was ich je erlebt habe. Obwohl wir uns nie komplett ausgezogen haben, ich glaube, das wollte keiner von uns so richtig.
Calle ist ein richtiger Softie, überhaupt nicht so cool, wie die kindischen Typen in meiner Klasse unbedingt sein wollen. Seit wir uns vor zwei Wochen verabschiedeten, haben wir vier, fünf Mal telefoniert, und anscheinend steht er wirklich ein bisschen auf mich. Ich hatte befürchtet, dass Funkstille herrschen würde, sobald wir nicht mehr auf Kreta sind, aber so ist es nicht gewesen. Jedenfalls noch nicht. Wir haben darüber geredet, dass ich ihn in Stockholm besuchen könnte, zum Beispiel in den Herbstferien, aber ich traue mich fürs Erste nicht, mir zu viel von der Sache zu versprechen. Es ist ein ganz schöner Unterschied, ob man im Juli auf einer griechischen Insel ist oder im November in einer Wohnung in Stockholm. Im Vorort Midsommarkransen, wo immer das liegt. Eltern, ein autistischer kleiner Bruder und so weiter.
Den Rest des Sommers, wenn ich nicht bei einer Freizeit oder auf Kreta war, habe ich in K. herumgehangen. Im Schwimmbad gelegen und Bücher gelesen oder bin zu Großmutter und Großvater in ihr Sommerhaus geradelt. Sie sind nicht so irre alt, und ich frage mich, ob ich bei ihnen landen würde, also wenn meine Familie umkäme. In einem Wasserfall oder auf eine andere Art. Das wäre immerhin eine praktische Lösung, ich bin mir nur nicht sicher, ob sie mich haben wollten.
Doch, Großmutter vielleicht schon, aber Großvater eher nicht. Ich finde, er wird mit jedem Mal, das ich ihn treffe, seltsamer, und es liegt immer an ihm, dass ich beschließe, nicht bei ihnen zu übernachten. Jedes Mal. Es geht nicht darum, dass er irgendwie pervers ist, überhaupt nicht, ich habe nur keine Lust, mit ihm zu frühstücken. Großmutter behauptet, dass er mit seiner Pensionierung nicht zurechtkommt, und vielleicht hat sie recht. Er hat zu wenig zu tun; bevor er in Rente ging, hat er siebenundvierzig Jahre bei der Post gearbeitet, heute mäht er stattdessen drei Mal in der Woche den Rasen rund um das Sommerhaus und schreibt Leserbriefe zu allem, was seiner Meinung nach in unserer Gesellschaft schiefläuft. Und unterzeichnet sie mit Fantasienamen: Jemand, der sich sonst nie beschwert; Bürger mit gesundem Menschenverstand und so was. Wahrscheinlich zwingt Großmutter ihn, nicht mit seinem richtigen Namen zu unterschreiben, damit sie sich nicht für ihn schämen muss.
Bis zum ersten Schultag ist es jedenfalls nur noch eine Woche. Gestern bin ich zufällig Charlie begegnet, es war das erste Mal, dass ich seit dem Unglück im Mai mit ihm gesprochen habe. In den letzten Wochen des Schuljahrs ist er ja kaum noch in der Schule gewesen; auf der Abschlussfeier hat er nur dieses unverständliche Gedicht vorgelesen, ist aber nicht in die Klasse gekommen, um sein Zeugnis abzuholen und ein Stück Torte zu essen. Irgendwo hatte ich gehört, er würde auf eine andere Schule wechseln, aber er sagt, das trifft nicht zu.
So hat er es in seiner typischen Streberart wortwörtlich ausgedrückt:
»Das trifft nicht zu, Andrea. Ich fürchte, du wirst es weiterhin mit mir aushalten müssen.«
Ich erwiderte, ich hätte nie ein Problem damit gehabt, es mit ihm auszuhalten, und sah ihm an, dass er mir glaubte. Dass ich ihn nicht anlog, nur um nett zu sein. Andere haben durchaus ein Problem damit, Charlie und seine Besserwisserei zu ertragen. Aber wer weiß, vielleicht bekommt er nach dem, was passiert ist, einen neuen, etwas anderen Status. Ehe wir auseinandergingen, meinte er jedenfalls etwas, was ich überhaupt nicht kapiert habe.
»Es ist gut möglich, dass ich dich interviewen muss, Andrea. Hättest du etwas dagegen einzuwenden?«
»Hä?«, sagte ich.
»Du hast mich schon verstanden«, meinte Charlie.
»Mich interviewen?«
»Ja.«
»Und worüber?«
»Ich muss dich bitten, darauf später eingehen zu dürfen. Die Sache ist ein wenig heikel.«
Ich glotzte ihn an und dachte, dass sein sogenanntes Genie offenbar in Wahnsinn umgeschlagen war, so etwas soll ja vorkommen. Dann dachte ich ein paar Monate zurück.
»Hat es mit Kallmann zu tun?«
»Das werde ich dir während des Interviews erklären. Das heißt, wenn du mitmachst.«
»Ja, klar«, sagte ich, gelinde gesagt verwirrt. Aber Charlie besitzt diese Fähigkeit, die Leute mit seinen seltsamen Bemerkungen zu verwirren.
Als er gegangen war, begriff ich, dass ich natürlich richtig geraten hatte. Worum sollte es auch sonst gehen, wenn nicht um Kallmann?
Natürlich habe ich des Öfteren daran gedacht, das haben bestimmt alle. Keiner kannte Kallmann, als er noch lebte, es ging das eine oder andere seltsame Gerücht über ihn herum, und bis heute weiß niemand wirklich, wie sich das Ganze abgespielt hat. Ich glaube, die meisten sind davon ausgegangen, dass es Mord war, oder zumindest Totschlag, und daraufhin waren bestimmt viele enttäuscht, als die Polizei feststellte, dass er eines natürlichen Todes gestorben war und die Ermittlungen einstellte.
Aber vielleicht tun sie auch nur so, als würden sie nicht mehr an dem Fall arbeiten, keine Ahnung. Ivan scheint das jedenfalls zu glauben, wir sprachen auf dem Weg zum Basketballcamp kurz darüber. Damit der oder die Täter glauben, sie brauchten sich keine Sorgen zu machen. Der Vater von Lydia aus meiner Klasse arbeitet bei der Polizei, ist anscheinend aber in einer ganz anderen Abteilung. Außerdem würde er ohnehin nichts ausplaudern, warum sollte er? Und Lydia auch nicht. Wenn es in unserer Klasse jemanden gibt, der sich in sein Schneckenhaus zurückzieht, dann sie.
Mein Vater ist genauso. Weltmeister darin, sich in sein Schneckenhaus zurückzuziehen, könnte man sagen, pro Tag kommen nie mehr als zehn, zwölf Worte über seine Lippen, aber an dem Morgen, als das von Kallmann zum ersten Mal in der Zeitung stand und wir ausnahmsweise alle gemeinsam am Frühstückstisch saßen, rückte er damit heraus, dass an dem Ganzen das Haus schuld sei. Wenn man so verdammt dumm sei, sich nachts in der Bruchbude dieses Deutschen herumzutreiben, müsse man nun einmal auf alles gefasst sein.
Als Mama ihn jedoch fragte, was er damit meine, bekam sie natürlich keine vernünftige Antwort. Er murmelte nur etwas vor sich hin und schaufelte sich mehr Haferbrei ins Maul, und ich weiß noch, dass ich fast Angst bekam. Nicht wegen dem, was er gesagt hatte, sondern davor, dass ich irgendwann genauso werden könnte wie er. Eingesperrt in meine eigenen trägen Gedanken, ohne Kontakt zu anderen Menschen. Schließlich trage ich die Hälfte seiner Gene und Erbanlagen in mir – wenn ich in Karlings Biologiestunden richtig aufgepasst habe –, und das ist kein Grund zur Freude. Man kann nur hoffen, dass Mama auf dieser Ebene genauso dominant ist wie auf allen anderen; ich werde nie verstehen, warum meine Eltern geheiratet haben. Oder besser gesagt, warum meine Mutter meinen Vater geheiratet hat. Mindestens drei Mal habe ich sie gebeten, mir zu erzählen, wie sie sich eigentlich kennengelernt haben, aber sie hat immer das Thema gewechselt. Vielleicht ist es etwas, wofür sie sich schämt, zum Beispiel, dass sie sturzbetrunken waren, es miteinander trieben und ich dabei herauskam. Dass sie sich vorher kaum gekannt haben oder so, ehrlich gesagt bin ich mir sogar ziemlich sicher, dass es so gelaufen ist.
Eine nicht ganz unwahrscheinliche Hypothese, wie Charlie es ausdrücken würde.
Vielleicht haben die beiden ja deshalb so lange mit Aaron und August gewartet. Sie wollten erst mal sehen, ob sie es aushalten würden, verheiratet zu sein, ehe sie wieder vögelten.
Jetzt bin ich vulgär, aber das ist mir scheißegal. Jedenfalls sind meine Brüder fünf und sechs Jahre jünger als ich und für mich nie ein Grund zur Freude oder von irgendeinem Nutzen gewesen. Als ich den Aufsatz mit dem Thema Meine Familie zurückbekam, pickte mein Schwedischlehrer Enoksson mich im Gruppenraum heraus und erklärte, er sei das Beste und Unterhaltsamste gewesen, was er seit vielen Jahren gelesen habe; er hoffe nur, der Text entspreche nicht der Wahrheit. Dass ich mir gewisse literarische Freiheiten erlaubt hätte, sagte er.
Selbstverständlich, erwiderte ich. Ich lüge wie gedruckt.
Schwedisch ist mein Lieblingsfach, vor allem Aufsätze, und es war schade, dass wir Enoksson nur ein Schuljahr behalten durften. In der achten bekamen wir dann Kallmann, und jetzt ist also der dritte Häuptling im wichtigsten Fach der Schule in ebenso vielen Jahren an der Reihe. Es sei denn, Enoksson ist aus Göteborg zurück, aber warum sollte jemand freiwillig beschließen, nach K. zurückzukehren, nachdem es ihm endlich gelungen ist, von hier wegzukommen?
Gute Frage, wie man so sagt. Es gibt so viele Fragen, und ich habe den ganzen Vormittag im Bett gelegen und geschrieben, ohne vernünftige Antworten zu finden. Da mich keiner gestört hat, nehme ich an, dass unser Haus leer ist. Mama und Papa arbeiten natürlich, und die Gebrüder Schlumpf befinden sich wahrscheinlich wie üblich im Schwimmbad. Schon ihre roten Haare zeigen deutlich, dass sie mit Papa verwandt sind, aber sosehr ich auch suche, ich finde kein einziges rotes Haar auf meinem Kopf oder an meinem Körper. Und so hoffe ich, dass das mit der genetischen Dominanz und wie hieß das andere noch gleich … Redundanz? … funktioniert. Ich hätte nichts dagegen, als Erwachsene so ähnlich zu werden wie Mama.
Vielleicht ein bisschen besser mein Gewicht zu halten, was aber wohl eher keine Frage der Gene ist. Das hängt vom Charakter ab, oder ist der auch genetisch bedingt? Wie auch immer, sie kann jedenfalls nicht in die Nähe von Gebäck oder Tortenstücken kommen, ohne sie zu essen. Behauptet sie jedenfalls.
Apropos, allmählich bekomme ich Lust auf ein Frühstück. Immerhin ist es schon fast zwölf.
Und um eins treffe ich mich dann mit Emma. Sie ist gestern von ihrem Vater und ihren Verwandten in Argentinien zurückgekommen. Dort hat sie den ganzen Sommer, fast sechs Wochen lang, Winter gehabt. Mit anderen Worten, alles wie immer, aber es war das letzte Mal, das hat sie mir geschworen, als wir gestern Abend telefonierten. Ich habe sie nicht daran erinnert, dass sie letztes Jahr im August das Gleiche gesagt hat, und mir überlegt, wie es wäre, wenn mein Schneckenhaus-Vater im fernen Südamerika wohnen würde. Vielleicht wäre es dann leichter, ihn zu mögen. Aber ich käme im Leben nicht auf die Idee, ihn jeden Sommer zu besuchen.
Wenn man auch in der neunten Klasse unbedingt eine beste Freundin haben muss, dann entscheide ich mich auf alle Fälle für Emma. Sie kann ein verdammter Sturkopf sein, aber sie ist wenigstens selbständig. Vielleicht sogar komisch.
3
Igor
Nun ist es also wieder so weit. Heute Vormittag habe ich mir meinen einunddreißigsten Lehrerkalender gekauft, die verbrauchten dreißig nehmen in meinem Bücherregal fast einen ganzen Meter ein. Dort stehen sie in einer gleichmäßig grünen Reihe, und wenn ich bedenke, dass jeder einzelne von ihnen ungefähr einhundertfünfzig Namen enthält, einhundertfünfzig junge Menschen, regt sich in meiner Brust ein Gefühl von Stolz und Zusammenhang. Sogar von Sinn.
Man könnte auf die Idee verfallen, dass dies insgesamt viertausendfünfhundert Schüler ergibt, was aber natürlich nicht stimmt, da viele Namen in zwei oder auch drei Kalendern auftauchen. Wenn ich eine ungefähre Summe nennen sollte, würde ich die Zahl der Schüler, die ich im Laufe dieser dreißig Jahre vor meinen Augen hatte, auf ungefähr zweitausend schätzen. Ich kann mich zudem rühmen, mich an beinahe jeden von ihnen zu erinnern; man begegnet ihnen gelegentlich, leicht verlegenen Menschen fast schon mittleren Alters, die sich mir auf dem Marktplatz oder in einem Geschäft vorstellen und wissen wollen, ob man sich an sie erinnert.
Was ich, wie gesagt, fast immer tue. Ein etwas genauerer Blick und eventuell ein kurzer Hinweis, in welchem Jahr sie die neunte Klasse abgeschlossen haben, und ich kann ihnen in den allermeisten Fällen ihre Noten in Mathematik und Physik nennen. Wenn es sich um ein Individuum mit schlechten schulischen Leistungen handelt, verkneife ich mir das natürlich und sage irgendetwas anderes. Viele schämen sich für ihre mittelmäßige Schullaufbahn, obwohl sie anständige Bürger geworden sind und ihre Aufgabe in der Gesellschaft erfüllen. Die Schule bedeutet nicht alles, ich bin der Erste, der das zugibt, manche Tugenden stehen nicht im Abschlusszeugnis.
Seit den Neunzigern kommt es außerdem vermehrt vor, dass ich Schüler bekomme, deren Eltern ich in meinen ersten Jahren in K., in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren, unterrichtet habe. Im nächsten Schuljahr haben wir zwei solche Kandidaten. Ein Knabe namens Kristoffer Blom, der in eine siebte Klasse kommt. Ich erwarte mir nicht allzu viel von ihm; seinem geistig schwerfälligen Vater Gunnar gab ich eine mittelprächtige Vier, als er 1971 die neunte Klasse abschloss, und Henrik, Kristoffers älterer Bruder, wenngleich von einer anderen Mutter, verließ uns vor zwei Jahren mit etwa dem gleichen Ergebnis. Außerdem mit einer Akte über Auto- und Ladendiebstähle bei den Sozialbehörden. Oder bei der Polizei, ich bin mir nicht sicher, wer über diese minderjährigen Delinquenten Buch führt.
Andrea Wester, deren Klassenlehrer ich seit zwei Jahren bin, ist da aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Sie könnte überall Bestnoten erreichen, wenn sie sich ein bisschen mehr ins Zeug legen würde. Ihre Begabung liegt möglicherweise eher im geisteswissenschaftlichen Bereich als in den Naturwissenschaften, bei ihrer Mutter Ulrika war das genauso. Auch sie ein ausgezeichnetes Mädchen, das Einzige, woran es ihr damals eventuell mangelte, war Selbstvertrauen. Und eine Triebfeder; sie hätte studieren sollen, brachte jedoch ein Kind zur Welt, besagte Andrea, und so kam es, wie es kommen musste. Ein nichtssagendes Familienleben und verkümmerte Zukunftsaussichten, so läuft es hier oben häufig; nun ja, ich mag mich nicht zum Richter über die fehlgeschlagenen Lebensläufe anderer Leute aufschwingen, aber wenn mich etwas traurig stimmt, dann sind es talentierte Menschen, die nicht die Chance erhalten, ihr Potential auszuschöpfen. Oder vielmehr, sie nicht ergreifen. Pfunde, mit denen nicht gewuchert wird, meist ohne akzeptablen Grund. Bloß Schlendrian und Faulheit. In diesem Drama spielt die Umwelt natürlich die Schurkenrolle; wenn man mit einer ordentlichen Ausbildung im Gepäck in diese Stadt zurückkehrt, wird man nicht gerade mit Applaus empfangen. Oh nein.
Ich habe nur wenige Freunde. Nach Kallmanns Tod sind es im Grunde nicht mehr als zwei: Meine frühere Frau Gunilla sowie Pompe, den ich kenne, seit wir in den vierziger Jahren in einem Vorort von Stockholm in derselben Straße aufwuchsen. Gunilla und ich waren gerade einmal drei Jahre verheiratet, aber im Grunde erkannten wir wohl schon nach drei Wochen, dass es nicht funktionieren würde. Stattdessen wurden wir Freunde, wie wir es bereits im Studium gewesen waren. Sie heiratete dann einen gewissen Lennart, die beiden passten wesentlich besser zusammen und bekamen zwei Kinder, aber dann starb er innerhalb kürzester Zeit und ließ sie allein zurück. Ich fahre regelmäßig an Ostern oder anlässlich anderer kürzerer Ferien zu Gunilla nach Göteborg, und sie besucht mich ab und zu hier in K. Einmal versuchten wir nach dreiundzwanzig Jahren Pause, miteinander zu schlafen, was uns jedoch nicht besonders gut gelang. Wir lachten darüber und halten uns seither an Kultur, Rotwein und Gespräche; mir reicht das völlig, und ich bin sicher, dass sie es ebenso sehr zu schätzen weiß wie ich.
Seit Pompe ebenfalls verlassen wurde (von einer ausgesprochen seltsamen Frau namens Kassandra, aber das ist eine andere Geschichte), sind wir jedes Jahr gemeinsam verreist, in diesem Sommer ging es auf die Färöer und nach Island. Pompe fliegt nicht gern, was die Sache ein wenig kompliziert macht, oder besser gesagt, das Reisen selbst nimmt mehr Zeit in Anspruch. Ich habe nichts dagegen; man ist unterwegs wie in früheren Zeiten: mit Zug und Schiff. In Ausnahmefällen mit dem Auto, aber keiner von uns sitzt sonderlich gern am Steuer, und wir sind uns einig, dass Langsamkeit eine unterschätzte Tugend ist. Wir sind uns in den meisten Dingen einig, Pompe und ich.
Seit siebenundzwanzig Jahren arbeite ich mittlerweile auf Gedeih und Verderb an derselben Schule. Vielleicht ist es übertrieben zu behaupten, dass die Bergtunaschule meine Familie geworden ist, aber an ihr habe ich all meine sinnvollen Alltagsbeziehungen gepflegt. Ich nehme an, so wird es auch bleiben. Ich meine natürlich keine Intimitäten, ich bin niemand, der sich sonderlich für Sex interessiert, meine sparsamen Triebe kann ich problemlos eigenhändig bearbeiten, und wenn es Leitsterne in meinem Leben gibt, so heißen sie wahrscheinlich Routine und gesunder Lebenswandel. Mit wenigstens drei Kollegen führe ich tiefgründige und fortwährende Dialoge, zwei von ihnen kenne ich seit über zwanzig Jahren. Manchmal gehen wir gemeinsam essen, im Stadthotel oder beim Italiener, der mit jedem Schritt fort von den simplen Pizzen besser und besser wird. Ich nehme an einer Reihe von Lehrerfesten teil und bin ständiges Mitglied in der Tippgemeinschaft unserer Schule unter der Leitung von Studienrat Bergkvist. Auch wenn ich kein sonderlich geselliges Wesen habe, glaube ich nicht, dass man mich im Allgemeinen als einen einsamen Wolf betrachtet.
Ganz anders Kallmann. Jeder wusste, wer er war, und keiner kannte ihn. Er kam im Herbst 1979 nach K. und an die Bergtuna, ersetzte einen gewissen Magister Polter, der an Krebs starb, obwohl er erst gut fünfzig war. Ein außerordentlich trauriger Herr, dieser Polter, und nun ist also auch sein Nachfolger abgetreten.
Ich weiß im Grunde nichts über Kallmanns Vergangenheit, nicht einmal, woher er stammte, aber das sind natürlich Dinge, die man herausfinden kann, wenn es einen interessiert. Ich habe in diesem Sommer häufig an Kallmann gedacht, wie wir alle wahrscheinlich. Er war ein so eigentümlicher Mensch und trotzdem ein ganz hervorragender Lehrer. Vielleicht ist es ja so, dass ein guter Pädagoge eine Prise Kompliziertheit mitbringen muss, aber falls ich angedeutet haben sollte, dass Eugen Kallmann mein Freund war, so ist das nur die halbe Wahrheit. Er umgab sich nicht mit Freunden, dazu bestand für ihn keine Notwendigkeit. Ich meine das nicht als Kritik, aber manche Menschen hüten ihre Einsamkeit eben wie andere ihre Golfschläger oder Familien, was natürlich ihr gutes Recht ist. Kallmann hatte seine Eigenheiten, und manche sahen in ihm einen Sonderling, aber nach seinem Tod waren sich doch alle einig, dass er ein guter und intelligenter Mensch mit großer Integrität gewesen war.
Es dauerte lange, bis wir einander ein wenig näherkamen, und der Grund dafür, dass ich ihn besser kennenlernte als alle anderen Kollegen, war zweifellos jener Zwischenfall im September 1993 im Stadtpark. Vor zwei Jahren also, es kommt einem so vor, als wäre es erst gestern gewesen, aber so ist es ja nicht. Je älter man wird, desto schneller verrinnen die Lebensjahre, ich bin nicht der Erste, dem das auffällt.
Warum die Polizei diesen grölenden Skinheads die Erlaubnis erteilte, sich an einem Spätsommerabend in unserem schönen Park zu versammeln und mit ihren Symbolen und falsch geschriebenen Parolen herumzufuchteln, weiß ich nicht, und ebenso wenig, was Kallmann dort zu suchen hatte. Er wurde jedenfalls misshandelt, dabei zwar nicht sonderlich schwer verletzt, konnte den Tatort aber nicht aus eigener Kraft verlassen, und rein zufällig war ich es, der sich um ihn kümmerte.
Es war so: Etwa eine Stunde, nachdem das Spektakel vorbei war, gegen halb neun, machte ich einen Abendspaziergang mit Rufus – einem Golden Retriever, um den ich mich gelegentlich kümmere, wenn Birgitta Lindegren, Studienrätin in Englisch und Deutsch, Hilfe benötigt –, und gemeinsam fanden der Hund und ich Kallmann auf der Erde neben einem üppig wuchernden Fliederstrauch. Er war bei Bewusstsein, behauptete, er liege dort nur und schöpfe neue Kraft, um wieder auf die Beine zu kommen und heimzugehen, und dass es ein schöner Abend sei, aber kurze Zeit später stellte der Arzt in der Notaufnahme fest, dass zwei Rippen angeknackst waren und der Oberarm gebrochen war, hinzu kamen kleinere Verletzungen im Gesicht und am Rumpf.
Der junge Mediziner wollte ihn über Nacht zur Beobachtung dabehalten, aber Kallmann weigerte sich selbstverständlich. Ich musste daraufhin versprechen, seinen Heimtransport zu überwachen, was ich auch tat, und unter den gegebenen Umständen war es vielleicht nur natürlich, dass er mich zu einer Tasse Tee einlud. Selbst für jemanden wie Eugen Kallmann.
Ich bin mir sicher, dass keiner meiner Kollegen jemals seinen Fuß in Kallmanns Wohnung gesetzt hat, die meisten anderen Menschen vermutlich auch nicht. Er wohnte in einer recht engen Dreizimmerwohnung in der Sylvestergatan, die einen eher an eine Bibliothek als an eine Wohnung denken ließ. Zwei Zimmer enthielten prall gefüllte Bücherregale vom Fußboden bis zur Decke sowie das eine oder andere bequem durchgesessene Sitzmöbel. Ein imposanter Schreibtisch dominierte das größte Zimmer; mit dem dritten machte ich keine Bekanntschaft, nahm aber an, dass es sich dabei um Kallmanns Schlafzimmer handelte. Er lud mich allerdings nicht zu einer seiner Büchersammlungen ein, sondern wies mir den Weg in die Küche, wo wir uns beidseits eines Tisches niederließen, der mit Zeitungen, Notizbüchern, Stiften, einem halben Dutzend kleiner afrikanischer Holzstatuen, einer vergessenen Kaffeetasse sowie einer Flasche Single Malt Whisky bedeckt war, Letztere zu etwa zwei Dritteln gefüllt.
Wir legten Kallmanns Initiative zum Teetrinken ad acta und widmeten uns stattdessen dem Whisky. Tja, um es kurz zu machen, wir leerten die Flasche. Dazu benötigten wir kaum mehr als eine halbe Stunde, und in dieser Zeit erläuterte mein Gastgeber, er verbringe fast seine gesamte freie Zeit mit Forschung, was erkläre, wie es in seiner Wohnung aussehe. Es mag sich seltsam anhören, aber ich begriff nicht wirklich, was der Gegenstand seiner Forschung war, womit er sich beschäftigte. Erst später verstand ich, dass es um Literaturwissenschaft ging – aber möglicherweise ist die alte Bezeichnung Literaturgeschichte zutreffender, da es ihm darum zu gehen schien, gewisse entscheidende Ereignisse im Leben von zwei Schriftstellern aufzugreifen und zu analysieren. Beide unbekannt, beide keine Schweden. Erst vor einer Woche erhielt ich darüber hinaus Kenntnis davon, dass Kallmann zwei Bücher veröffentlichte, unter einem Pseudonym, wenn ich es richtig verstanden habe, in welchem Genre blieb jedoch unklar. August Selander, der Künstler und Kunstlehrer, übermittelte mir diese Information, als wir uns am Bergtuna torg begegneten, aber er hatte es eilig, und so kamen wir nicht dazu, das Thema zu vertiefen. Vielleicht ergibt sich eine Gelegenheit, es nochmals anzusprechen, wenn wir uns in der Schule sehen.
Ich habe mir Gedanken über diese Whiskyflasche gemacht. Ist es nicht ein wenig ungewöhnlich, dass bei einem daheim eine Flasche auf dem Küchentisch steht? Es gibt Leute in der Schule, die behaupten, dass Kallmann Alkoholiker war, aber ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals auf Grund eines solchen Lasters seine Arbeit vernachlässigt hätte. Und das tun diese Unglückskinder der Gesellschaft in der Regel doch. Nein, auch wenn er sich in seiner Einsamkeit von Zeit zu Zeit das eine oder andere Glas genehmigt haben mag, erscheint es mir doch wenig wahrscheinlich, dass er abhängig war. Nicht auf diese Weise.