HOLGER TESCHKE

Rügen und Hiddensee

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage 2011

Copyright © 2011 by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg

www.hoca.de

Einbandgestaltung: Katja Maasböl

 

ISBN 978-3-455-85006-2

 

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

www.kreutzfeldt.de

 

 

 

 

INHALT

 

 

7Voraus

 

13Nach Stralsund

21Am Kap Arkona mit Saxo Grammaticus

30In Altenkirchen mit Kosegarten

37Von Altenkirchen über die Insel bis nach Hiddensee

Zum Kleinen Inselblick

50      mit Ringelnatz und Muschelkalk

64In Binz mit Elizabeth von Arnim

75In Putbus mit Wolfgang Koeppen

83Auf Mönchgut mit Lyonel Feininger

91Von Göhren nach Sassnitz

106Von Sassnitz bis zum Königstuhl

 

117Register

125Zum Autor

VORAUS

Drei Worte genügen: Runter von Rügen! Als ich meiner Heimatinsel im Sommer 1975 mit siebzehn Jahren den Rücken kehrte, um endlich die große weite Welt jenseits des Rügendamms zu erkunden, dachte ich an diesen Spruch, den wir uns auf Strandpartys nach etlichen Flaschen Hafenbräu und Doppelkorn zugerufen hatten, wenn uns die Insel mal wieder bis zum Hals stand. Wir wollten zur See fahren wie unsere Väter und älteren Brüder, raus aus den abgesperrten Häfen und rüber über den verriegelten Horizont: durch Kattegatt und Skagerrak bis nach Dänemark, Schweden und Norwegen, hoch bis zum Nordkap, wo die Sonne nicht untergeht und der Seemann Aquavit trinkt. Und weiter bis in den Atlantik, mit Frosttrawlern auf Kabeljaujagd zur Georgesbank, wo zollfreier Weinblattsiegel und Nordhäuser Doppelkorn in Strömen floss und man Valuta verdienen konnte. Mit den Mädchen von Kopenhagen und St. John's flirten und wenn dann die eine dabei wäre, von Bord gehen, Fischerei Fischerei sein lassen und ein neues wildes Leben anfangen. Mit einem gebrauchten Mercedes bis nach New York City brettern und dabei die Rolling Stones hören: Ride On, Baby.

Das waren die Träume, derentwegen wir uns in Rostock-Marienehe mit Nautik und Schiffsmaschinenkunde herumschlugen, schmieden, schweißen und schlossern lernten, als Rettungsbootsmänner die Warnow hinaufpullten und neben den Verheißungen des real existierenden Sozialismus in Staatsbürgerkunde die Realität der sozialistischen Planwirtschaft kennenlernten und staunten.

Mit neunzehn sah ich bei meiner ersten Fangreise tatsächlich die dänische Küste und die Kirchtürme Kopenhagens, die Fjorde Norwegens und den Hafen von Egersund, die Stürme der Nordsee und riesige Steerts voller Kabeljau und Hering. Aber da hatte ich das eine Mädchen schon kennengelernt, und neben der ersten großen Liebe war ebenso unvermutet die Liebe zu Literatur und Theater aufgetaucht.

1979 habe ich die Kutterplanken der SAS Vikingbank mit den Brettern, die die Welt bedeuten, vertauscht und war mir sicher, dass auch das Theater ein Tor zur Welt werden würde.

Seitdem bin ich, mit der Ausnahme einiger längerer Reisen und Gastinszenierungen, mindestens einmal im Monat nach Rügen zurückgekommen.

Das macht nach fünfunddreißig Jahren etwa 395 Heimreisen – von Rostock, Berlin, Boston, Sydney, Seoul und Santiago, Orte, an denen ich gelebt und gearbeitet habe. Kafkas Mütterchen Prag hatte Krallen, Muttland Rügen hat sanfte, aber zupackende Hände wie die meiner Großtante Ella aus Buddenhagen auf Jasmund . Mit ihr bin ich als Junge durch die Wälder und über die Feldwege Jasmunds gewandert und habe mit roten Ohren ihren Märchen und Sagen zugehört. Sie war eine Pilz- und Kräuterfrau und kannte nicht nur die Pflanzen und Tiere der Stubnitz, sondern auch ihre Geister und Gnome, die in den Kreidehöhlen und Hünengräbern Stubbenkammers hausen. Ihr verdanke ich die frühe Bekanntschaft mit den anderen Bewohnern der Insel: den weißen Weibern Wittows und den Unterirdischen im Dobberworth , dem wilden Jäger auf Mönchgut und dem Aufhocker vom Zickerschen Höft , mit Störtebekers Geist und seinen Likedeelern, den seeräuberischen Gleichteilern, die einmal im Jahr aus dem Seenebel ans Ufer kommen, um nach ihren Schätzen zu sehen. Wenn man mit solchen Gestalten aufwächst, dann bleiben die Orte, an denen man zum ersten Mal von ihnen gehört hat, ein Leben lang geheimnisumwittert.

Am meisten gefiel mir die Sage von der Seejungfrau auf dem Waschstein unter dem Königstuhl, die dort ein blutiges Hemd wäscht und der man am Johannistag das richtige Wort sagen muss, um sie zu erlösen. Auch weil ich ein Sonntagskind bin und meine Tante Ella selbstverständlich das richtige Wort kannte, hat es mich immer wieder nach Rügen gezogen, vor allem um den Johannistag, aber eine Seejungfrau ist mir dort niemals begegnet. Dafür habe ich im Stralsunder Stadtarchiv in einem alten Wassersagenband herausgefunden, dass mein Ururgroßvater Jochen Steinort aus dem Baumhaus Buddenhagen dem Volkskundler Professor Alfred Haas von dieser Seejungfrau erzählt hat.

An fernen Küsten habe ich manchmal im Stillen Vergleiche angestellt und dabei gedacht: Aber ganz so verwunschen wie auf Rügen ist es hier doch nicht. Dann erinnerte ich mich an die Zeilen Eichendorffs, die Robert Schumann so unvergesslich vertont hat:

 

Aus der Heimat hinter den Blitzen rot

Da kommen die Wolken her.

 

Die Wolken über Küste und Meer haben mich überall auf der Welt mit Rügen verbunden und an die Blitze jener historischen Gewitter erinnert, die über die Insel hinweggezogen sind und ihre Bewohner geprägt haben.

Nur wenige kennen wohl den Brief, den Karl Marx 1843 an den Rüganer Arnold Ruge schrieb: Es wird sich zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur noch das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Das mag meinen Landsleuten zu plietsch klingen, aber dass dieser Traum der gleiche ist, den schon Störtebekers Likedeeler und ihre Großeltern auf den Gutshöfen und in den Kreidebrüchen träumten, das verstehen sie. Oder, wie meine Tante Ella schon in der DDR gesagt hat: »Dat de lütten Lüd sick dat nich ewig und dree Dag gefallen loten, dat kann ick sülwst ut mien Kökenfinster seihn.« Wenn es mit Rügen und Hiddensee so weiter geht wie in den letzten zwanzig Jahren, dann werden die Inseln bald das Schicksal von Sylt und St. John's teilen: Verdrängung der Insulaner durch eine zahlungskräftige Schickeria und Zerstörung der einzigartigen Naturlandschaften durch immer größere Ferienanlagen und breitere Straßen. Aber weil die kleinen Leute hier noch ein wenig Likedeelerblut und ein gutes Gedächtnis für gebrochene Versprechen haben, bleibt die Hoffnung auf Widerspruch und Widerstand. Deswegen komme ich immer wieder nach Rügen und Hiddensee zurück und höre ihren Geschichten zu.

NACH STRALSUND

Ich fahre fast immer mit dem Zug nach Rügen. Wer nicht vor und auf der Insel stundenlang im Stau stehen will, verzichtet auf das Auto und nimmt lieber ein Fahrrad mit. Besonders gern lese ich während der Zugreise in Johann Jacob Grümbkes Streifzügen durch das Rügenland von 1805, die besser auf Wanderungen vorbereiten als die meisten anderen Inselführer. Grümbke war ein Bergener Privatgelehrter und hat sein langes Leben damit verbracht, die Geschichte und die Geschichten der Insel aus den Archiven und Erinnerungen seiner Zeitgenossen vor dem Vergessen zu bewahren und auch die Schattenseiten des scheinbar romantischen Idylls zu beleuchten. Das hat ihm viel Spott und Verachtung eingetragen, denn auch auf Rügen gilt der Chronist als Nestbeschmutzer, wenn er nicht an der politischen Hofberichterstattung teilnimmt und sich besser auskennt als die beamteten Wind- und Karrierebeutel. Grümbke mochte seine wortkargen und wetterharten Landsleute, aber wie vor ihm schon die Chronisten Thomas Kantzow und Ernst Heinrich Wackenroder machte er sich keine Illusionen über ihre Schwächen. Sie sind in der Aufklärung noch unendlich weit zurück, schreibt er in den Streifzügen. Sie kleben hartnäckig an ihren Vorurteilen und in vielen Dingen herrscht ein weit größerer Aberglaube unter ihnen als auf dem benachbarten Continent von Pommern. Man findet sein Buch leider nur noch antiquarisch, aber wenn man es gefunden hat, dann hält man ein Hebelsches Schatzkästlein in den Händen.

Auf seiner Heimreise von Göttingen, wo Grümbke zwischen 1790 und 1792 Jura studierte, hat er an vielen Orten Station gemacht, an denen auch der Zug nach Stralsund hält und die durch abenteuerliche Verwicklungen mit der Inselgeschichte verbunden sind. In Berlin, der Stadt Schinkels, Chamissos, Schleiermachers, Kleists und Fontanes, die allesamt Rügen besucht und über die Insel geschrieben haben. Am Kloster Chorin, dessen Zisterzienser bis nach Hiddensee gekommen sind und wo Max Taut begraben liegt, der auf dieser Insel gebaut und gelebt hat. In Prenzlau am Ückersee, aus dem der Maler Jacob Philipp Hackert stammt, dem das Gutshaus Boldevitz die klassischen Bildertapeten verdankt und der versucht hat, Goethe nach Rügen zu locken. In Pasewalk, der einzigen uckermärkischen Hansestadt, deren Verbindungen schon früh bis nach Stralsund und Stockholm reichten und in der Ferdinand von Schill im berühmten Zweiten Pommerschen Kürassierregiment diente, dessen Chefin die Königin Luise war. In Greifswald, der Heimatstadt Caspar David Friedrichs, der die Insel mit seinen Kreidefelsen auf Rügen von 1818 weltberühmt gemacht hat, und das auch Hans Fallada und Wolfgang Koeppen zu seinen Söhnen zählt. Und schließlich in Stralsund, der schönsten pommerschen Hansestadt und großen Rivalin der Insel. Wizlaw I. von Rügen verlieh dem slawischen Fischerdorf Stralow am Strelasund schon 1234 das lübische Stadtrecht und hoffte, so eine Schutzfeste und einen Handelsplatz vor den Küsten seiner Insel zu gründen. Doch die Stralsunder wurden schnell zu selbstbewussten Hanseaten und dachten bald nicht mehr daran, nach der Pfeife der Rügenfürsten zu tanzen. Sie betrieben einen schwunghaften Handel mit nordischen Tuchen, Getreide und Erz und schickten ihrerseits Hering, Bier und Bernstein gen Süden. Auch der Schiffbau und der Pelzhandel mit Russland florierten, und Stralsund zeigte Rügen mit seinen prachtvollen Kirchen und festen Stadtmauern, dass es auf Schutz und Segen der Insulaner nicht mehr angewiesen war. Selbst den Truppen Wallensteins trotzte die Stadt im Dreißigjährigen Krieg, und wenn auch der Feldherr prahlte, er würde Stralsund herunterholen, selbst wenn es mit Ketten an den Himmel gebunden sei, er musste 1628 fluchend und unverrichteter Dinge wieder abziehen. Nach dem Westfälischen Frieden fielen Stralsund, Rügen und Hiddensee 1648 an das Königreich Schweden, dessen König Gustav II. Adolph auf dem Schlachtfeld von Lützen sein Leben für die protestantische Sache gelassen hatte. Die Schwedenzeit dauerte stolze 167 Jahre, und sowohl Stralsund als auch Rügen fuhren im Großen und Ganzen gut unter den Gouverneuren aus Stockholm. Der Altenkirchener Pfarrer Ludwig Gotthard Kosegarten brachte diese Zeit auf den dankbaren Zweizeiler:

 

Unter den Drei Kronen

Ließ sich's behaglich wohnen.

 

Ein Stoßseufzer, denn nach der Franzosenzeit zwischen 1807 und 1813 fielen Vorpommern und Rügen 1815 an Preußen, und mit der Behaglichkeit war es vorbei.

Die Rüganer haben sich gerade unter dem preußischen Kommiss immer als Südschweden gefühlt, und vor allem zu DDR-Zeiten wurde dieser Ära nachgetrauert. Wie schön wäre es gewesen, wenn man mit Schweden neutral bleiben, sich aus dem Tausendjährigen Reich und dem ersten Arbeiter-und Bauernstaat heraushalten und bis auf den heutigen Tag ein Königshaus hätte haben können. Hinterher ist man auch auf Rügen immer schlauer. Vorher wehten aber schon Mitte der zwanziger Jahre die ersten Hakenkreuzfahnen an der Küste, und die Nationalsozialisten feierten Wahlerfolge. Nachdem Gröfaz Hitler in den Amtsstuben abgehängt war und Generalissimus Stalin seinen Platz einnahm, folgten viele Rüganer dem revolutionären Aufruf der Partei zum Schlösserschleifen und Herrenhausplündern, und jahrhundertealtes Kulturgut ging unwiederbringlich verloren. Stalin hatte mit Rügen übrigens kühne Pläne. Als polnische Exilpolitiker von ihm 1944 bei Geheimverhandlungen in Moskau die Insel für ihr zukünftiges Staatsgebiet verlangten, ging er an die Landkarte, warf einen Blick auf die Ostsee und sagte kopfschüttelnd: »Das geht noch nicht. Rügen könnt ihr erst nach dem Dritten Weltkrieg haben.«

Wenn ich in Stralsund umsteige, schließe ich mein Gepäck im Bahnhof ein und nehme mir ein paar Stunden Zeit für einen Stadtbummel. Ich besuche Sankt Marien mit seinem barocken Posaunenengel und der Stellwagenorgel von 1659, das Kunsthistorische Museum mit dem Goldschatz von Hiddensee und den Bildern von Edith Dettmann, das alte Meeresmuseum im ehemaligen Katharinenkloster, wo im gotischem Chor ein Finnwalskelett schwebt und dessen Aquarien Riffhaie und Meeresschildkröten beherbergen. Ich spaziere durch die Rathausarkaden vorbei an der Büste Gustavs II. Adolph zum Alten Markt und bewundere die Rathausfassade mit den hanseatischen Wappen und Giebeln.

»Woher wissen Sie?«, frage ich erstaunt.

»Ein paar Rügenreisende aus grauer Vorzeit.«

Ich lege meine Liste auf den Tresen, und sie überfliegt die Namen.

»Ich bin auf der Suche nach den Ursprüngen einer alten Sage.«

»Der Sage von der Seejungfrau auf dem Waschstein am Königstuhl.«

»Arbeiten Sie denn im Archiv? Ich habe Sie dort noch nie gesehen ...«

Sie winkt, und vor uns erscheint ein wabernd-weißliches Getränk, das tatsächlich entfernt an Seenebel erinnert. Sie schiebt mir ein Glas hin und prostet mir zu.

»Sundine?«

»Den Namen habe ich schon gehört, aber im Moment ...«

»Sie scherzen!«

»Gerne, aber für Seemannsgarn ist es wohl noch ein bisschen zu früh.«

»Das hat meine Großtante auch gesagt. Allerdings auf plattdeutsch.«

»Und, können Sie's noch?«

Sie nickt. »Bestanden. Aber nun müssen Sie sich beeilen, Ihr Kutter ist da.«

»Reden Sie öfter mit sich selbst?«, fragt die Kneiperin, als sie abkassiert.