Über das Buch

Erstmals rein autobiografische Texte.

Immer wenn sich Strittmatter im slowakischen Kurbad Piešťany aufhielt, beobachtete er die bunte Gesellschaft aus aller Welt, spürte in den Gesichtern und Gesprächen Stoffe für Porträts und Geschichten auf, die er fantasievoll und mit Freude an der Komik ausmalte. Vom scharfen Aphorismus über die poetische Reflexion bis zur kräftigen Geschichte spannt sich der Bogen dieser Texte. Mit ungewöhnlicher Offenheit spricht er auch über eigene Fehler und Schwächen, über Lebensgier und Eifersucht.

»Viel sinnliche Intimität: Wir riechen klare Morgenluft, hören Froschgequake und sehen Nebel über den Feldern aufziehen.« Die Zeit

Über Erwin Strittmatter

Erwin Strittmatter wurde 1912 in Spremberg als Sohn eines Bäckers und Kleinbauern geboren. Mit 17 Jahren verließ er das Realgymnasium, begann eine Bäckerlehre und arbeitete danach in verschiedenen Berufen. Von 1941 bis 1945 gehörte er der Ordnungspolizei an. Nach dem Kriegsende arbeitete er als Bäcker, Volkskorrespondent und Amtsvorsteher, später als Zeitungsredakteur in Senftenberg. Seit 1951 lebte er als freier Autor zunächst in Spremberg, später in Berlin, bis er seinen Hauptwohnsitz nach Schulzenhof bei Gransee verlegte. Dort starb er am 31. Januar 1994. Zu seinen bekanntesten Werken zählen sein Debüt »Ochsenkutscher« (1950), der Roman »Tinko« (1954), für den er den Nationalpreis erhielt, sowie die Trilogie »Der Laden« (1983/1987/1992).

Eva Strittmatter wurde 1930 in Neuruppin geboren. Sie studierte 1947 bis 1951 Germanistik in Berlin. 1951 bis 1953 Mitarbeiterin beim Deutschen Schriftstellerverband, seit 1954 freie Schriftstellerin. Sie veröffentlichte Kritiken, Kinderbücher, Gedichte, Prosa. Heinrich-Heine-Preis 1975, Walter-Bauer-Preis 1998. Sie starb am 3. Januar 2011 in Berlin.

Gedichtbände: Ich mach ein Lied aus Stille (1973); Mondschnee liegt auf den Wiesen (1975); Die eine Rose überwältigt alles (1977); Zwiegespräch (1980); Heliotrop (1983); Atem (1988); Unterm wechselnden Licht (1990); Der Schöne (Obsession) (1997); Liebe und Hass. Die geheimen Gedichte. 1970-1990 (2000); Hundert Gedichte (Hg. von Klaus Trende, 2001); Der Winter nach der schlimmen Liebe (2005); Sämtliche Gedichte (2006); Wildbirnenbaum (2009).

Prosa: Briefe aus Schulzenhof (I 1977, II 1990, III 1995); Poesie und andre Nebendinge (1983); Mai in Piešťany (1986).

Herausgaben: Erwin Strittmatter: Vor der Verwandlung. Aufzeichnungen (1995); Erwin Strittmatter. Eine Biographie in Bildern (zus. mit Günther Drommer, 2003); Erwin Strittmatter: Geschichten ohne Heimat (2002); Erwin Strittmatter: Kalender ohne Anfang und Ende. Notizen aus Piešťany (2003).

2019 erschien: Eva und Erwin Strittmatter, Du bist mein zweites Ich. Der Briefwechsel.

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Erwin Strittmatter

Kalender
ohne Anfang
und Ende

Notizen aus Piešťany

Herausgegeben
und mit einem Nachwort
von Eva Strittmatter

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Piešťany 1975

Piešťany 1976

Piešťany 1979

Piešťany 1980

Piešťany 1981

Piešťany 1984

Nachwort von Eva Strittmatter

Impressum

Piešťany 1975

Fünfter Mai 1975

WIR GEHEN UMHER, machen Entdeckungen in den Räumen, in denen wir ein zwölftel Jahr unseres Lebens verbringen werden. Wir leben hoch, in den Wipfeln von blühenden Kastanien, im dritten Stock (Zimmer 321) des Thermia-Palastes. (Das Jahr zuvor hatte ich Zimmer 325.)

Eva entdeckte eine Tür hinter einer roten Portiere aus Plüsch. Die Tür geht auf einen ausgiebigen Balkon mit Liegestühlen. Ich probiere aus, wie es sich in dieser vorläufigen Bleibe schreibt.

Heute feiert der Vater daheim (fünfter Mai) seinen sechsundachtzigsten Geburtstag.

Wir kamen gestern abend an. Das waren die Eindrücke des Tages: (Vierter Mai)

BERLIN: Ein Berliner Partei-Spießer ging mit Angelzeug unter einem und die Frau am anderen Arm int Jrüne. Er grüßte mich herausfordernd, als hätte ich – als volkseigener Schriftsteller – ihn unbedingt zu kennen.

Durch die verglaste Tür und die großen Fenster lugte ich in die Ausstellung von Paul Schultz-Liebisch im Bersarin-Turm. Nach Ebert – und nun auch Giebe – glaubte ich, seine Bilder würden nichts mehr in mir wecken – aber doch! Da waren die Bilder, die er jüngst in Bulgarien und Russland malte!

Fahrer R. vom Schriftsteller-Verband bringt uns zum Flugplatz. Ein unaufdringlicher, höflicher Fahrer.

Prag: (Vierter Mai)

Einige Kellnerinnen und Kellner im Flughafen-Restaurant kannte ich noch vom vorigen Jahr. Ich dachte: Wie mögen sie Weihnachten, wie Neujahr gefeiert haben. Merkwürdig, dass hier alles weiterlief, ohne dass ich da war, es sah. Das denkt man auch, wenn man an idyllische Plätze im Wald kommt und auf Vögel und Tiere vom vorigen Mal stößt. Aber so wirds auch nach meinem Tode sein: Alles wird weitergehen, ohne dass ichs begutachte. Manchmal regt mich dieser Gedanke schon nicht mehr auf. Ich mache vielleicht doch Fortschritte mit der Verinnerlichung.

Prag: (Vierter Mai)

Mit dem Omnibus ohne Fahrschein in die Stadt. Der Fahrer setzt uns nicht hinaus. Man muss hier Scheine vor der Fahrt an Zeitungskiosken lösen. Im Omnibus macht man sie sich dann mit Hilfe eines Apparates selber ungültig. Auf was für umständliche verwaltungstechnische Maßnahmen die Menschen verfallen, damit man sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln ein Stück Weges befördert! Alles unter dem Motto: Fortschritt.

Prag: (Vierter Mai)

Nach meinem Brieftauben-System finden wir zum Wenzelsplatz. Ich will nicht recht an ihn glauben. Vor sechzehn Jahren war ich zum ersten und letzten Mal in Prag. Damals erschien mir der Platz länger. Ich kam aus einer anderen Straße auf ihn. Polizeiliche Absperrung. Militärischer Aufmarsch. Überall feiern die Staaten ihre Feiertage, indem sie Massen ihrer Bürger uniformiert und im Gleichschritt laufen lassen. Das gehört zum leichten Regieren, wähnt man.

(Vierter Mai)

Die Prager Bürger lächeln, belächeln den Aufmarsch am vierten Mai. Obs der Prager Befreiungstag ist?

Die Geheimen erkennt man an weißen Sommermänteln. Die Aufmarschvorbereitungen der Militärs spiegeln Unsicherheit, wenn nicht Ängstlichkeit.

(Vierter Mai)

Wir genießen die alten Häuser in der Prager Altstadt, die kunstsinnige Architektur, und bewundern wie Kinder die Passagen und die Tatsache, dass man in der Altstadt unter den Häusern hindurchgehen kann. Man verkürzte sich die Fußwege. Hielt sich den Regen vom Kopf!

Heut freilich in der fortschrittlichen Zeit möchten die Häuser einstürzen und ihre Bewohner wahnsinnig werden, wenn die Lastkrafter und andere Autos oder gar Panzer unter den Häusern hindurchführen.

(Vierter Mai)

Aus dem Flugzeugfenster: Piešťany stellt sich uns tintig-blau vor: Der beginnende Abend, und es ist Wasserdunst in der Luft.

(Vierter Mai)

Eine Überraschung ist das Zimmer, ein geräumiges Appartement. Weiß möbliert, rote Plüsch-Portieren. Man kommt in eine Kindheit zurück. Die Erinnerung an den weißen Waschtisch der Mutter.

Irgendwo (auf Besuch) ankommen ist wie ein kleines Versprechen. Ein neues Leben fängt an, und wenn auch das nicht – ein Leben unter neuen Bedingungen.

ICH FINDE EINE ANZAHL GÄSTE VOR, die auch voriges Jahr um die gleiche Zeit mit mir hier waren. Gibts noch mehr Leute als mich mit der Lust, den Mai anderswo als daheim zu verbringen?

Dienstag, sechster Mai

(Da ich in der Regel morgens einschreibe, bezieht sich das Beschriebene auf den Tag vorher.)

AM FAHRSTUHL eine Frau Neureich aus Berlin. Etwa fünfundfünfzig Jahre alt. Der agile Typ. Madame du Titre! Ich beobachtete sie voriges Jahr. Sie saß zwei Tische weit von mir. Sie erkannte mich dieses Jahr wieder: Oh, da sind Sie ja wieder, Kolinsky oder ähnlich, der herrliche Klavierspieler. Oh, ich erinnere mich!

Eva staunt. Ich auch, aber Eva mehr als ich, denn dass ich kein guter Klavierspieler bin, weiß sie nun wirklich.

Auch Herr Mai aus Blumenhaus ist wieder da, der Viehhändler, Sohn eines katholischen Milchhändlers und Zentrum-Antifaschisten. Er ist gealtert in dem Jahr, da wir uns nicht sahen, geht krummer, nach vorn geneigt.

Nun muss er ja wohl wissen, wenn er die Nachtigall wirklich gelesen hat, die ich ihm voriges Jahr gab, dass ich politisch mit den Kommunisten sympathisiere. Er lässt sichs, wenn ers gelesen hat, nicht ankennen.

Auch den neureichen Sudetendeutschen treff ich wieder, dem nichts Besseres hätt passieren können als die Aussiedlung nach Westdeutschland.

Er protzt nicht nur mit der Größe seines Grundstücks, sondern auch mit dessen zentraler Lage: Ich ho mich wieder kaputt gemacht das Jahr. Mei Grundstück (er nennt die Hektarzahl) liegt so zentral. Die Leit gucken nein. Man muss’ in Ordnung halden. Ich machs ja ne selber, aber dabei möchte ma schon immer sein, und das macht än so fertig allemal.

Ich weiß nicht, wo er wohnt in Westdeutschland, weiß nicht, was er tut und wie er heißt.

Er nennt mich Herr Doktor, nachdem er im Vorjahr erfuhr, dass ich Schriftsteller bin. Natürlich nimmt er an, dass ich aus Westdeutschland bin. Wie kann man anderswoher sein!

Mittwoch, siebenter Mai

DIE AUS DEM SÜDEN (aus dem noch südlicheren Süden) heraufgeholten Bäume werden dieses Jahr nicht blühen. Es sind die mit den schönsten Blüten. Ein Spätfrost hat sie krank gebissen.

Auch die Nüsse und die Kirschen müssen ein zweites Mal Blätter treiben. Da haben sie Arbeit genug und werden die Früchte auslassen müssen.

Tiere aus warmen Ländern kann man zur Not in temperierten Ställen, Fische in temperiertem Wasser halten, aber kann man südliche Bäume in Massen in Warmhäusern halten? Bei ihnen lässt man sich aufs Risiko ein. Und der Mensch ist dabei unentwegt, pflanzt immer wieder Sträucher und Bäume an Orten an, an denen missliche Witterung sie in einer Nacht töten kann.

Was veranlasst den Menschen dazu?

EIN ANDERER GAST vom Vorjahr, ein Fahrstuhlbekannter. Aus Wien. Eva stellt er sich dieses Jahr vor: Herzog heißt er. Ich stelle mich nicht vor. Er findets nicht taktlos. Er findets nur uncharmant, dass er meinen Namen vergaß. Aber ich habe mich auch voriges Jahr nicht vorgestellt.

Er ist das neunte Mal in Piešťany. Mit seinem Rheuma ist er fertig. Jetzt macht er die Kur nur noch prophylaktisch. Aber ein neues Leiden stellte sich dann ein. Am großen Zeh, den er sich einst brach. Er kann eine Viertelstunde lang von diesem Zeh erzählen. Ein charmanter Mann und ein schöner Mann für sein Alter (etwa meines). Einen grauen englisch gestutzten Bart hat er. Ein Wiener, wie er im Naturkunde-Buch stehen könnte.

Aber sie sind bei aller gesellschaftlicher Anmut (in jeder Situation das rechte Verhalten, das recht Wort) geistige Krämerseelen. Im Gespräch geben sie ihre kleinen, oft nicht fundierten Lebenserfahrungen aus, nehmen von Gesprächspartnern welche ein und verausgaben die mit den ihren zusammen später wieder an andere Gesprächspartner. So gehts weiter, und nach ihrer Matura (oder dem Studium) kommt bei ihnen nichts mehr hinzu. Sie lernen von Kind an anderen Erkenntnisse ab, haben selber aber nur wenige.

DIE KLEINEN TÜRKENTAUBEN sind wieder um uns, gurren und sirren und avisieren uns die Morgen, wenn sie hinter der Waag oder hinter den Kleinen Beskiden heraufkommen. Viele Stimmungen erinnern an die Maistimmungen vor zwei Jahren in Ungarn.

Ich bin froh, dass es Eva gefällt; denn ich wars, der daheim die Werbetrommel für Piešťany schlug.

EINE LANGE HANNOVERANERIN mit Brille, Typ: Lehrerin. Auch sie war schon voriges Jahr mit derselben Badefreundin hier. Voriges Jahr nickten wir uns nur von Tisch zu Tisch zu. Heute Gespräche im Fahrstuhl: Sie ist das siebente Mal hier. Wir fragen nicht, was sie hat. Die Kur hält nicht ganz ein Jahr vor. Sie lobt P. und alles, was hier mit den Rheuma-Kranken getrieben wird, und doch fällts ihr von Jahr zu Jahr schwerer, hierher zu fahren, aber die Ärztin sagt ihr: Fahren Sie, fahren Sie, sonst wirds noch schlimmer.

SCHWIMMEN IM BECKEN draußen unter blühenden Kastanien. Was ich so schwimmen nenne. Aber die Bewegung im schwefelhaltigen Wasser tut gut. Unsere Holzpritschen, auf denen wir uns vor dem Bad sonnen, stehen vor einem Spierstrauch, der so ausgelassen blüht, wie das Spiersträucher eben können. Die Rasenfläche weiß von Gansblumen. Es ist, als wär das ganze Gänseblumen-Weiß vom weiße Blüten überkochenden Spierstrauch hergekommen.

Voriges Jahr habe ich dieses temperierte Freibad im Park-Hof des Hotels nicht frequentiert. Da war ich allein. Der kleine Bauernmensch muss in der Fremde einen zweiten dabei haben, damit sie zusammen gegen die Anmaßlichen stärker aufkommen und sich behaupten.

Donnerstag, achter Mai

DAS ZWEITE MAL gings mit dem Schwimmen schon besser. Lern ichs doch noch? Ich kanns gleich besser, wenn ich – der alte self-made-man – alleiniger im Bassin bin, und wenn diese Weiber-Kränzchen nicht da sind, die im Wasser stehen, über Moden reden, über die lieben Nächsten. Ach, diese Weibesen ohne Geist, die zum Kinderkriegen nicht mehr taugen, aber noch immer lüstern sind!

TRINKGELDER

Man kann nicht sagen, dass die Bediensteten im Hotel oder im Bad danach gieren, aber sie erwarten sie. Das ist hier in diesem Bad Tradition.

Freitag, neunter Mai

ICH FÜHL MICH wie eine Taube, die im Fluge abgeschossen wurde, doch noch lebt.

DIE KASTANIENBLÜTEN, zwischen denen wir auf unserem Balkon leben, verwandeln sich täglich, natürlich auch stündlich, aber bis dahin reicht unser Gesichtssinn nur, wenn wir ihn besonders bemühen.

Nie ward mir so bewusst wie heute, dass die Baumblüten uns bescheiden einen kleinen Zyklus von der Ewigkeit des Lebens vorführen. Auch die Blumen, wenn sich ihr Leben in den Stamm, in den Wurzelstock oder in den Samen (für eine Zeitspanne) zurückzieht. Aber das Leben, wie spielt es sich in dieser Reduzierung ab? Ruht es? Ich kanns mir nicht denken.

MAN HAT HIER IM PARK Sterne aus Linden, auch aus Fliederbäumen gezogen; man setzte die Pflänzlinge und Stecklinge im Kreise, einen neben den anderen. Nun sind sie erwachsen und stehen auf den von Gänseblumen weiß gesprenkelten Rasenflächen wie Domkuppeln ohne Unterbau, aber Kuppeln aus Blüten.

Zehnter Mai (Freitag)

NOCHMALS TRINKGELDER

Ich muss auf sie zurückkommen:

1954 reiste ich das erste Mal in die Sowjetunion, genau gesagt – nach Moskau. Jahre zuvor (wohl 1948) hatte ich den Vorabdruck von K.s Buch Ich lebe in Moskau gelesen. Da lebte ich noch in der Niederlausitzer Heimat. Nach Moskau fuhr ich ausgerechnet mit K. Ich werde dein Cicerone sein, stotterte er. Er hielt nicht Wort. Er hielt niemals Wort. Das wusste ich da noch nicht. Er sagte etwas und tat etwas ganz anderes.

So konnte ich in seinem Buche lesen: In der Sowjetunion sind die Trinkgelder abgeschafft. Man beleidigt damit die Werktätigen! Sie sind keine Lakaien und Dienstboten mehr. Sie haben ihren eigenen Staat.

Ich war bemüht, niemand zu beleidigen, gab keine Trinkgelder, musste jedoch feststellen, dass bei K. in allen Taschen Kleingeld klimperte. Er gab überall Trinkgelder; dem Fahrstuhlführer, der Garderobiere, den Kellnern, den Zimmermädchen … Ich konnts nicht glauben, dass einer öffentlich das Gegenteil von dem tat, was er als ein Gesetz beschrieben hatte.

Als man mir in der Garderobe vor meinen Augen mutwillig den Aufhänger vom Mantel abriss, fing auch ich an, Trinkgelder zu geben. Ich wollte nicht schlechter behandelt werden als K. Und was war mit denen, die sichs finanziell nicht leisten konnten, Trinkgelder zu geben?

K. wurde dieser Tage achtzig Jahre alt. Gratulations-Cour in der Akademie undsoweiter. Ich geh da niemals hin, zu K. schon gar nicht. Reden und Handeln waren bei ihm entgegengesetzt. Er war nur freundlich ins Gesicht, aber er hasste mich. Erstens, weil er in mir einen Anhänger Brechts sah, mit dem er seit den zwanziger Jahren verfeindet war. Zweitens, weil er merkte, dass ich ihn scharf beobachtete und seine Hampeleien erkannte. Das war schlimm für mich, als er Macht hatte. Er hatte sie eine Weile, saß als Kandidat im Polit-Büro und leitete die Kultur.

Einmal (in dieser Zeit) hatte er sich eine neue Literatur-Theorie ausgedacht, die Theorie vom Mittleren Helden, und er wollte, dass man sie anerkannte, wollte es erzwingen. Ich lächelte, als er darüber in der Akademie referierte. Er unterbrach seine Ausführungen und beschimpfte mich öffentlich, sein Hass gegen mich trat zutage.

Als meine Holländerbraut Premiere hatte und von den Pressianern nicht sanft behandelt wurde, hatte K. als höchster Kulturmann mir nichts weiter zu sagen als: Nun siehst du erst richtig wie ein Bauernknecht aus! Ich hatte mir zum ersten Mal von Eva das Randhaar meiner Glatze abscheren lassen.

Er war Kulturpapst, inthronisierte die Bewegung schreibender Arbeiter, ließ zu, dass Ulbricht die schreibenden Arbeiter gegen die Schriftsteller ausspielte, aber gleichzeitig schrieb er im Vorwort zu einem italienischen Roman (Lampedusa, Leopard) etwa so: Vergessen Sie, bevor Sie diesen Roman lesen, alles, was Ihnen bis heute über Kunst bekannt wurde, dann werden Sie den rechten Genuss von diesem Roman haben.

K. ließ sich zwar mein erstes Buch Ochsenkutscher signieren, doch er hat nie eine Zeile von mir gelesen. Er verachtete das Landproletariat, war Urbanist und blieb im Grunde sein Leben lang ein bürgerlicher Links-Intellektueller, der nach Experimenten in der Kunst gierte und das für revolutionär hielt. So lange er sich Richtungen anschloss, die andere in die Welt setzten, ging das an: er konnte abspringen. Als er selber Richtungen bestimmen wollte, gings schief: er flog als einziger Kandidat bisher aus dem deutsch-demokratischen Polit-Büro. Der Fußtritt Ulbrichts.

K. war und blieb auf allen Geistesgebieten und allen Kunstgebieten Dilettant, immer Dilettant. Er malte zuerst und behauptete allen Ernstes noch im Alter, er hätte gut und gern ein Picasso werden können, wenn ihm nicht die politische Laufbahn dazwischengekommen wäre. Er dilettierte als Politiker, als Gesellschaftswissenschaftler, als Philosoph, als Maler und als Schriftsteller. Er war ein intellektueller Amateur. Einige Bücher, die er schrieb, mochte niemand lesen. Einige seiner philosophischen Schriften Der Mensch als Schöpfer seiner selbst undsoweiter waren eine Weile obligat für Parteischulen, aber nur eine Weile.

Eine seiner belehrenden Reden vor dem Vorstand des Schriftsteller-Verbandes, bei der man ihn mit Zwischenfragen aus dem Konzept brachte (er hatte übrigens nie eines), endete mit dem gestotterten Satz: Bitte, helfen Sie mir, ein Schriftsteller zu werden!

Das stenografische Protokoll dieser Rede des damaligen Kulturpapstes wurde kassiert; es sollte von K. überarbeitet werden. Es erschien nie wieder vor den Augen der Menschen, obwohl ich es damals (als Sekretär des Schriftsteller-Verbandes) mehrmals anforderte.

Es hat K. nichts genutzt, Lenin besucht zu haben, Sekretär Dimitroffs, sogar Sekretär der Kommunistischen Jugend-Internationale gewesen zu sein; in seinem Nachruf zum achtzigsten Geburtstag sparte man im Polit-Büro sogar die sonst übliche Floskel aus: Wir wünschen dir noch lange Jahre aktiver Arbeit im Kampf um die gemeinsame Sache oder ähnliches. Nein, es hieß: Wir danken dir. Weiter nichts. Das hieß: Wir kennen dich, wir danken bestens!

Das wird ihn gewurmt haben, den agilen K., den Willi Bredel den intellektuellen Hans Dampf in allen Gassen nannte, den Hans, der nichts Eigentliches vor sich bringt.

Als ich, damals 1954, mit ihm durch den Kreml ging, bat ich ihn, mir das Fenster zu zeigen, hinter dem Stalin zu arbeiten pflegte, das Fenster, hinter dem, nach Weinert, stets Licht war, hinter dem der Vater die ganze Nacht für alle Völker der Welt arbeitete. K. aber kannte dieses Fenster plötzlich nicht. Er hatte von seinen Moskauer Bekannten längst erfahren, dass Stalin hinter diesem Fenster Tausende Todesurteile unterschrieb und Tag und Nacht sann, welche Genossen noch umzubringen wären. K. hatte also von der Kommunistischen Inquisition erfahren, die den Kommunisten anhängen wird, wie die Katholische Kirchliche Inquisition den Katholiken bis heute anhängt; aber mir sagte er natürlich nichts von dieser Unglaublichkeit, der große Lehrer und Jugenderzieher K., und am liebsten wärs ihm – wie allen Ideologen unter den Genossen –, wenn ichs bis heute nicht wüsste.

Eine Woche Piešťany wird gleich herum sein. Wir haben sie verschlafen, vertändelt, sind spaziert, und die Geschichte, die ich zu schreiben vorhatte, fängt an, mich zu belagern. Nicht, dass die Lust dazu allmächtig wäre, dazu habe ich daheim zu oft über sie nachgedacht, aber das Pflichtgefühl ist da und stößt mich mit kleinen, noch weichen Hörnern, wie sie ein Jährlingsziegenbock herumträgt.

Elfter Mai (Sonnabend)

DIE NACHTIGALL kam an. Die erste hörten wir abends am Damm. Sie sang in den Pappeln auf der Angler-Insel in der Waag.

Heute nacht kam unsere eigene, die für den kleinen Parkgarten vor dem Balkonfenster zuständige. Sie weckte uns, gab ihre Flöter und Triller zu den Klein-Waldhorntönen der Türken-Tauben hinzu, und sie sang auch, als wir um sechs Uhr morgens schon im Thermal-Becken badeten. Beides war für mich erstmalig, dass ich um sechs Uhr in der Frühe schon badete, und dass eine Nachtigall dazu sang.

GESTERN ABEND arbeitete ich an der Fabel der Erzählung, die ich dieses Jahr hier zu schreiben beabsichtige. Eine Nachtigall-Geschichte, und ich nenne sie zunächst Wie das Schreiben zu mir kam.

Es war, als ob ich ein Fässchen anzapfte. Ich dachte und dachte mich weiter in die Geschichte hinein, veränderte die Fabel, die ich vor Monaten daheim entwarf, und ich schlief die Nacht wenig, und die wenigen Stunden, die ich schlief, waren von abartigen Träumen zerschlissen.

Morgens ging ich mit meinem Taschen-Tonband, wie voriges Jahr, als ich Zirkus Wind diktierte, im unterhöhlten Flussdamm entlang, den man mit Beton abstützte. Dort bin ich fast immer allein, brauche niemandem auszuweichen, niemand hört mich, wenn ich diktiere, und wer mich sieht, sieht mich aus der Weite und weiß nicht, was ich tu. Der lange zementierte Gang liegt vor mir, und meine Worte hallen, so leis ich auch sprech.

DER ANFANG IST GEMACHT. Die ersten sechs Seiten Roh-Entwurf sind abdiktiert. Nun werde ich nicht so häufig zu diesem Büchlein hier zurückkehren, in dem mit dem Finger an die Dinge getippt ist. Nun ist eine Geschichte an der Reihe, in der Dinge, die ich früher antippte, ihre Rolle spielen sollen!

Dreizehnter Mai (Dienstag)

WIE ERWARTET wurde die Geschichte, an der ich arbeite, die Oberherrscherin meiner Tage. Nun steht ihre Gliederung fest. Ich fing nochmals von vorn an. Gestern gings gut mit dem Diktieren. Manchmal zahlt sichs aus, wenn man einen Stoff lange in sich bewegt.

FAST ALLABENDLICH telefonieren wir mit Irma und den Kindern, und Eva ist sogleich unruhig, wenn eines Abends der Anruf von daheim ausbleibt. Würde unser Jakob, der sich tapfer hält und den Glücklich-Munteren spielt, um die Kur der Mama nicht zu gefährden, im Telefon eine Klage laut werden lassen, so führe die Mama heim. Das weiß ich.

DER PIROL traf gestern hier ein und grüßte mit seinen ersten Flötern, grüßte auch von unserem hauseigenen Pirol daheim am Bach. Sonntag ist Pfingsten. Der Pirol hielt sich an die alte Abmachung: der Pfingstvogel.

DER VIEHHÄNDLER MAI, eine Bekanntschaft aus dem Vorjahr, lud uns ein, mit ihm auswärts zu Abend zu essen, weil das fade Geschlader vom Palace koa man nit allweil einischlucken.

Wir fuhren zu Mozarts Kleiner Nachtmusik (Dös ist mei Lieblingsmusi) ein Stück in die Berge zu einem Landgasthaus (im Schweizer Stil).

Mai erzählt aus seinem Leben, das sich in der Hauptsache drum dreht aufzupassen, in welchem Lande Europas man Schlachtvieh kaufen muss, um es mit höchstem Gewinn in ein anderes europäisches Land zu verkaufen.

Dabei ist M. ein naiver Mensch, katholisch, Josef-Strauß-Anhänger und wahrscheinlich sogar echt fromm, wenn sichs geschäftlich vertreten lässt. Das Kaufen und Verkaufen mit Gewinn betreibt er wie ein Maurer das Wandverputzen. Das Schlachtvieh, um das es sich handelt, bekommt M. nicht zu sehen. Aber seine Brüder, mit denen er zusammen die Firma Mairos oder ähnlich betreibt, sehen es. Die Schwester der drei Brüder leitet die Fleischfabrik und sieht hingegen nur das Fleisch des geschlachteten Viehs. In Italien, wohin die Gebrüder Mai das meiste Schlachtvieh verkaufen, unterhalten sie eine Farm, in der das Vieh, nach dem Transport, wieder ein wenig aufgefüttert wird, damit es sich gut verkauft.

Wir essen Presskopf und Bratwurst (bäuerlich) und trinken zwei Halbe (Wein) dazu.

In den Wald können wir nicht spazieren, weil da sind zu viel Raupen, und sowas hab ich mein Leben nit gesehn, sagt Mai.

Wir fahren hinunter. Das Auto läuft ruhig, gleichzeitig läuft die Kleine Nachtmusik, die Lieblingsmusi wieder.

Die Überraschung und was das Herz hüpfen lässt: das nunmehr nächtliche lichtelierende Piešťany – es ruft die Erinnerungen an Salzburg, Budapest und Tbilissi wach.

Sechzehnter Mai (Freitag)

ZWEI TAGE beunruhigten mich die Krampfadern an Evchens rechtem Bein. Die Liebe bekam starke Schmerzen, jeder Schritt ein Unbehagen.

Vermutlich war die Massage der Adern, war ihre Einlagerung in Schlamm nicht gut und reizte.

DREI UHR AM MORGEN, vom Tag war wirklich nurmehr ein Grauschimmer wahrzunehmen, fing als erste die Schwalbe zu singen an; ihr folgte der Kuckuck, um drei Uhr dreißig meldete sich die Amsel, und später erst folgten Spatzen, Grün- und Buchfinken und alle, die in der hiesigen Landschaft etwas zu sagen haben.

Siebzehnter Mai (Sonnabend)

DIE NACHTIGALL

Nach dem Gewitterregen vor drei Tagen verschwand die Nachtigall. Man hört sie nicht mehr. War sie durchnässt und konnte der Katze nicht entfliehen? Fand sich kein Weibchen in der Thermia-Region für den so eifrig singenden Hahn?

EINE KATZE hat ihren Ofenplatz hinter einem Lebensbaum dicht an der Freitreppe zum Thermia-Palace. Sie wirft dort ihre Jungen und wird von den Stammgästen, die sie und ihr Genist kennen, mit Mahlzeitsabfällen gefüttert. Es macht der Katze nichts aus, dass Sirs und Scheichs, gefühllose Geldleute und Leute, die sich vor Katzen ekeln, vorübergehen – sie lebt wie eine Eidechse unter einem Baum im Grase, und der Baum steht für sie vor einem bunten Felsen, auf dem sich Affen tummeln.

IN DER NÄHE DER KLEINEN SEEROSENTEICHE vernimmt man seit zwei Tagen kaukasischen Duft. Wir gingen nachsehen und fanden, dass dieser süß-pfefferige Mischduft von den Blüten eines Baumes und dem Blühduft eines Strauches kommt. Beide haben ihre Heimat nicht hier. Der Baum blüht in Trauben fingerhutgroßer blauer Glocken. Der Strauch blüht in dunkel-roten sternchenförmigen Blüten, und die Sterne sind nicht ganz so groß wie die Blüten vom weißblühenden Liliengras.

Neunzehnter Mai (Montag)

DIE DRITTE KURWOCHE BEGINNT

MANCHMAL erwach ich zwischen zwei und drei Uhr nachts, und mir scheint, ich erwach, weil um diese Zeit kein einziger von Menschen verursachter Laut in der Luft ist, nicht ein Auto, kein Flugzeug, kein bezechter Sänger, und der Morgenzug ist noch nicht ausgefahren, um sein großes Schleifgeräusch eine Viertelstunde lang in das Flusstal zu streuen. Es ist der Ruhepunkt zwischen Ein- und Ausatmen, der Zeitpunkt, an dem der Tag einatmet, der Punkt, an dem man ihn vom Licht her auch als helle Nacht bezeichnen kann.

Dann meldet sich ein Frosch, als ob sich neben mir jemand die Haut kratzt, und es ist soweit, dass man sagen kann: Es fängt an zu morgenschummern, und fast gleichzeitig hör ich das erste Zwitschern einer Schwalbe, zehn Minuten später lässt sich die Amsel hören, und ihr folgt der Kuckuck.

Zwanzigster Mai (Dienstag)

AM SCHWIMMBASSIN im Parkgarten des Kurhotels gibts Liegepritschen aus Holz und Liegestühle, und man liegt dort entkleidet, bevor man in das schwefelhaltige Wasser steigt. Man liegt und hat einen maitollen Rasen unter sich, und der Rasen blüht, wenn er noch kurz ist, aus hunderttausend Gänseblumen. Man zwinst gegen die Sonne, sieht zu, wie die Pappelsamen, eingehüllt in ihre wolligen Flugapparate, dahingleiten und fröhlich werden, wenn eine Windböe sie packt. Jemand patscht auf platten Füßen über die Gänseblumen, und es fällt einem eine Leseranfrage aus der Berliner Zeitung ein: Wie vernichte ich die Gänseblümchen im Rasen vor meinem Bungalow?

Der Mann, der angepatscht kommt und ein wenig hinkt, ist der Liegepritschen-Nachbar. Man kennt ihn vom Vorjahr, der Herr Herzog ist es aus Wien, und er erkennt in einem den rot-vollbärtigen Kurgast aus dem Vorjahr. Ach, da seins auch wieder heran, sagt er und begrüßt einen, und es geht los: Ich hoff, Sie ham a gute Reisen gehabt. Ich musst an der Grenz arg lang warten, beiläufig fünfviertel Stund bei der Abfertigung. Sinds a mit am Wagen da? Ah, Sie sind geflogen. Ja, schauns, für mich lohnt sichs Fliegen kaum von Wien daher; immerhin a Brief von Wien, bis man hat, dauert fünf ganze Tag. Es ist mir schlecht gangen. Hab mirn großen Zeh am linken Fuß brochen. Was wolln mir da groß bantagieren, hat der Arzt gesagt, ziagns halt an Schuh mit harter Sohlen an, Herr Herzog, hat er gesagt, und ich hab auch an Schuh mit harter Sohln angezogen, aber geschont hab i den Zeh, auf d’ Außakanten bin ich gelaufen, an Hinkfuß hats geben, am Stock bin ich gangen, und jetzt ins Bad, zur Kur.

ZIGEUNER AUF DEM WOCHENMARKT

Der Primas lahmt, geht am dicken Bambus-Spazierstock, ist fett und braun, trägt eine grüne Strickjacke, die grauen Hosen halten ihn zusammen, sonst würde er wie Teig auseinanderfließen. Der kleine graue, viel zu kleine Strohhut hockt auf dem mächtig aufgeschwemmten Primasschädel, als wär er aus einem Kastanienbaum zufällig auf diesen Kopf gefallen.

Die Zigeunerfrauen. Die Mütter noch gar nicht so bei Jahren, aber schon verschrumpelt. Die Augen, auf energische Abwehr eingestellt, wie bei Hunden, die gleich losspringen werden, weil man sie in die Ecke drängte. Aber die Abwehr richtet sich nur gegen die ewig fremde Umwelt. Man sieht die Böseste von allen sogleich liebevoll dem Primas eine Pappelsamenflocke vom Ohrlappen zupfen.

Die Töchter schon voller Kinder innen und außen – wie jung sie auch sind. Feines durables Rot unter der braunen Wangenhaut, glatt noch im Gesicht, doch die Brauen überm Nasenbein bei den meisten ineinandergewachsen. Das lässt die Gesichter brutal erscheinen, doch wenn sie die Münder öffnen und lachen, geht eine kleine ägyptische Sonne auf, und man weiß, weshalb sie unaufhörlich geschwängert werden, und weshalb sie nicht aussterben werden, diese Viren in den Volkskörpern, die sich abkapseln, nicht wuchern, aber auch nicht assimiliert werden.

Immer wieder muss ich die zusammengewachsenen Brauen der Töchter betrachten. Sie streichen etwas durch, sind dicke Durchstreich-Striche: Hier ist nichts zu hoffen, nicht Liebe, nicht Mitleid, nicht Erbarmen.

Sie sind eine Insel auf einem Meer, und das Meer sind wir.

Eine Alte kommt dazu und schimpft, eine, die alle respektieren, wie man sieht. Sie hebt die Faust, droht, flucht in der Sprache, in der sie sich verständigen, in ihrer Inselsprache. Eine junge, mädchenhafte Mutter hebt ihren Säugling aus dem Kinderwagen, der modern, doch zerschabt ist, und sie zieht unter dem Säuglingsplatz im Kinderwagen ein Kalbsrippenstück von einem halben Meter Länge hervor, roh, uneingepackt und blutig, und die älteren Frauen nehmen es her und begutachten es, während die jungen Mütter ihre Säuglinge vergleichen und aneinander messen.

Dreiundzwanzigster Mai (Freitag)

DER HERR HERZOG (weiter)

Man trifft ihn, immer fesch, mal eine helle Jacke mit großen Karos, und eine Viertelstunde später im grauen Anzug, immer mit breiter bunter Krawatte, mal mit Gehstock, mal ohne Gehstock, aber stets als Begleiter und Unterhalter von Damen. Und er nennt die welkenden Schönheiten, mit denen er umgeht, Gnädige Frau, Gnädigste, Madame, auch Hoheit. Die Schönheiten von gestern gehen, durch die Anwendungen der Kur, eine Abend- und Theaterblüte ein, und die Artigkeiten, die Komplimente des Herrn Herzog tun das ihrige.

Gnädigste sind hergeflogen?

Zu Ihnen kann man nichts als fliegen.

Oh, Dankschön, sehr gütig. Ich vermut, Sie ham an günstigen Aeroplan ghabt?

Es war schon so, sollt ich denken, und Dank der Nachfrag.

Das Flugwetter ist herrlich.

Was Sie nicht sagen! Also, dorten oben auch schon so a wonnigs Wetter. Man sollts nicht meinen, dass es in der Kürze schon dorten oben ist.

Wie ichs Ihnen, bittschön, sag.

Wissens, ich hab mich ja so scho allweil fragt, steigts Wetter von unt nach oben, oder fallts, wie aller Segen, auf uns nab.

Ja gehns! Über sowas brechen Se Eahns Kopferl?

I tus halt, was soll man allweil machen, wenn Gnädigste nicht da san.

Und da hat ers wieder, sein Hauptthema, das Courschneiden und Komplimentmachen. Und er küsst die Damen in aller Offenheit, und die angewelkten Damen lassen sich die Küsse des Herrn Herzog munden, aber noch mehr wohl die missgünstigen Blicke ihrer Konkurrentinnen, aber die kommen zu einer anderen Zeit bei Herrn Herzog an die Reihe.

Schon am Nachmittag sieht man Herrn Herzog mit einer von ihm noch ungeküssten Dame in den Plüschwannen, die die Klubsessel dort sind, in der Thermia-Halle sitzen. Das heißt, man sieht nur einen Herzog- und einen Damenkopf und wackelnde Münder über das hohe Halbrund der Sessel-Lehnen ragen. Und die kleine athletische Klavierspielerin mit der blonden Turmfrisur und den Keulenwaden lässt Solveigs Lied wie eine billige Perlschnur aus dem aufgeklappten Flügel heraus.

Alls die alten Ding, aber man hört sie gern, sagt die Dame.

Findens nicht, dass es glänzend spült, das blonde Engerl dort beim Klavier?

Die Dame vorbehältlich, schon eifersüchtig: Na, Engerl tät ich nicht grad sagen mit die Bein, da müsst wohl der Himmel an Sportstadion sein.

Aber entschuldigen, Gnädigste, Engerl hab ich gsagt, wann ich Eahne Venus sag, was ist da schon an Engerl, an unterster Dienstgrad halt, in der Hierarchie der Schönheiten.

Damit ist er wieder beim Thema, der Herr Herzog, und am nächsten Tag sieht man ihn im Park mit einer neu aus dem Schlaf erweckten Schönheit am Musikpavillon promenieren. Er trägt die großkarierte Jacke und den gelb-braun geflämmten Bambus-Stock, und er hinkt vornehm dazu; nicht zuviel und nicht zuwenig, und die breite Krawatte flattert im Wind der böhmischen Blasmusik: Rosamunde, gib mir dein Herz und dein Ja!

Und so gehts bis auf die letzten zwei Kurtage, das Scharmuzieren, das Poussieren und Schwadronieren des Herrn Herzog.

EIN SACHSE

Er krachte vor Dummheit und ließ alle anderen an ihr teilnehmen.

DER HERR HERZOG (weiter)

Aber da kommen mit eins andere Töne vom Herrn Herzog.

Wie gehts, wie gehts, Herr Herzog? hört man fragen, und die Antwort ist: Es will gar nimmer so.

Und der Fuß, wie gehts mit dem großen Zeh, Herr Herzog?

Is eh nicht besser worn!

Aber gehns.

Man hats Alter, man ist nicht mehr der, wo man war. Die Jahr, die Jahr, sie lassens keinen aus.

Und dann fährt man mit ihm gemeinsam im Fahrstuhl zum Abendessen ins Erdgeschoß, und man kommt unten an im Parterre, und der Herr Herzog sagt: Ich muss eh wartn, und er wartet, bis der zweite Lift herunterkommt, und es steigt eine dicke Dame aus mit hochrotem Kopf und Suppengrünfrisur, dick und unbeweglich wie eine Torsäule, und die Frau ächzt sich von der Fahrstuhlschale, und sie gibt dem Herrn Herzog ein Zeichen, und der begibt sich gehorsam an die Seite der Torsäule, die sich langsam vorwärtsschiebt; nicht aus rheumatischen, sondern aus Gründen des Übergewichts. Der Herzog, der ein paar Schrittchen auf gleicher Höhe mit ihr ging, fällt zuerst einen halben, dann einen ganzen Schritt zurück, und es kann schon niemand mehr erkennen, ders nicht beobachtete, dass es sich bei der wandelnden, verwitterten Torsäule um die Frau des Herrn Herzog handelt, die mit dem Auto aus Wien über die Berge kam, um dessen dritte Jugend zu beenden und die Hotelrechnung zu bezahlen.

Vierundzwanzigster Mai (Sonnabend)

NACHDEM

Weil ich gestern im kindischen Schöpferstolz Eva die Skizze über den Herrn Herzog vorlas, weiß ich, weil alle Reaktionen bei Eva ausblieben, aber auch vom eigenen Anhören, wie schlecht das Geschreibsel, selbst als Skizze, ist; dabei hatte ich an (zumindest) einen Entwurf für eine Geschichte Tschechowscher Art gedacht.

Ei, Scham und Schande!

Freilich regt sich das Begehren, sofort mit dem Umarbeiten und Probieren von anderen Weisen anzufangen.

Aber das lohnt nicht. Was steckt schon drin in der Begebenheit; selbst, wenn man sie mit viel Arbeit literarisch passabel machen würde?

Eine Art Gauner, der nicht einmal auf materielle Werte, sondern auf ein wenig späte Jugend, auf ein wenig Prestige aus ist.

Wie aber kams, dass sich mir der Stoff, ehe ich ihn anpackte, als etwas Machbares darstellte!

Fünfundzwanzigster Mai (Sonntag)

DIE HELLBLAUEN SCHWERTLILIEN sinds, die von allen Schwertlilien (in verschiedenen Farben) am meisten duften. Man sollte annehmen, wenn man von der Wald-Erdbeere ausgeht, die wild an unseren Seen daheim wachsenden, gelb blühenden Lilien müssten mehr duften als alle anderen; sie tuns nicht.

Das ist mir ein Rätsel. Gabs die hellblaue Schwertlilie schon seit eh und je in unseren Breiten oder wurde sie eingewandert?

Die hellblaue Schwertlilie, die Lilie meiner Grausteiner Kindheit, scheint also das Prinzip Schwertlilie am vollkommensten auszudrücken.

Viele, viele Farbarten züchteten die Gärtner mit der Zeit heraus. Ihre Farben sind schön, zum Beispiel die dunkelblauen, schon ins Schwärzliche schimmernden, aber was sie an Farbschönheit gewinnen, büßen sie an Duftkraft ein.

MARC AUREL war, soweit ichs überseh, der weiseste Herrscher, den es je gab. Ich stell ihn über Salomon und David!

Siebenundzwanzigster Mai (Dienstag)

EINEN TAG UM DEN ANDEREN hören wir (durchs Telefon) von daheim: Matthes, der schon Mann spielt, die herzliche Stimme Jakobs, der (vielleicht) den Tapferen spielt; Irmas laute Stimme, die schon von der Schwerhörigkeit geprägt ist. Irma spielt noch einmal Hausmutter.

Bei jedem Gespräch bricht die Verbindung zehn bis zwanzig Mal. Man hört die Ferne summen oder tschechische Telefonistinnen schimpfen. Man bekommt Todes-Visionen, meint, die aufwandernde Seele (wo ist auf?) sich mühen zu hören, letzte Verbindung mit Menschen und Örtern aufzunehmen, an denen man vor dem Tode war.

MEINE DIESJÄHRIGE GESCHICHTE

Vorläufig heißt sie einfach Schreiben! Aber der Titel kommt mir allzu nüchtern vor. Oder muss ich mich an ihn gewöhnen wie daheim an die Treppe oder die bunten Scheiben in den Dielentüren?

Heute werd ich mit dem Abdiktieren fertig werden. Mein zweiter Piešťany-Aufenthalt wird nicht ohne Spuren sein.

ZWISCHEN NACHMITTAG UND ABEND gehen wir jetzt Tag für Tag unsere Schwertlilien an den neuen Badhäusern (aus Glas und Beton) ansehen. Es sind wohl Schwertlilien von zehn bis zwölf verschiedenen Blütenfarben hier am Platze; doch es gibt ihrer mehr in der Welt der Pflanzenzüchter und Blumen-Veredler. Wir schaun nach, welche Fortschritte unsere Lilien im Blühen, Duften (und Vergehen) machen.

Ich bin überzeugt, dass es Leute gibt, die ihr Leben der Zucht und dem Anbau dieser Lilien widmen, wenngleich die Blühzeit der Lilien bemessen ist.

Mir wär lieber ein Gärtlein mit vielen Arten von Blumen, die je zu ihrer Zeit blühen.