Über dieses Buch:
Frankreich 1537: Die junge Malerin Luisa Paserini arbeitet unerkannt als Mann im Schloss Fontainebleau. Hier, am prachtvollen Hof des französischen Königs Franz I., lernt sie eine Welt kennen, zu der sie als Frau sonst niemals Zutritt bekäme. Unter den Fittichen des Hofmalers Rosso Fiorentino wird sie bald zu einer der begabtesten Freskenmalerinnen seiner Werkstatt – und als er ihr Geheimnis entdeckt, finden sie die Liebe füreinander. Doch während für die beiden eine Zeit voller Romantik und Wunder beginnt, wächst der Einfluss der Inquisition bei Hofe. Schon bald muss Luisa feststellen, dass diese farbenfrohe Welt ihre Schattenseiten hat – und ein falsches Wort den Untergang bedeuten kann …
»Constanze Wilken versteht es, die Geschehnisse bildhaft und lebendig darzustellen. Sie baut von der ersten Seite an einen Spannungsbogen auf, der den Leser fesselt.« Heider Anzeiger
Über die Autorin:
Geboren an der norddeutschen Küste zog es Constanze Wilken nach einem Studium der Kunstgeschichte, Politologie und Literaturwissenschaft für einige Jahre nach England. Im wildromantischen Wales entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Schreiben, aber auch für Antiquitäten. Die Forschungen zur Herkunft seltener Stücke und ausgedehnte Reisen der Autorin sind Inspiration und Grundlage für ihre Romane.
Die Website der Autorin: constanze-wilken.de/
Bei dotbooks erschienen bereits folgende Romane:
»Die Frau aus Martinique«
»Was von einem Sommer blieb«
»Die vergessene Sonate«
»Das Geheimnis des Schmetterlings«
»Die Frauen von Casole d’Elsa«
»Das Licht von Shenmoray«
Weiterhin veröffentliche Constanze Wilken bei dotbooks den folgenden historischen Roman:
»Die Tochter des Tuchhändlers«
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eBook-Neuausgabe August 2021
Copyright © der Originalausgabe 2009 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München
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Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/spillikin, Richard Semik, N Hart, Kathy SG
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)
ISBN 978-3-96655-330-8
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Constanze Wilken
Die Malerin von Fontainebleau
Roman
dotbooks.
Non hauria Ulysse o qualunqu’altro mai
Piu accorto fù, da quel diuino aspetto
Pien di gratie, d’honor e di rispetto
Sperato qual i sento affani e guai.
Odysseus hätte nicht, noch irgendwer,
Der klüger war, von diesem Götterbild,
Das Würde, Grazie und Ernst erfüllt,
Jemals geglaubt, es quäle mich so sehr.
Sonett von Louise Labé
(Um 1524–1565)
Oktober 1547
Der Dianengarten von Fontainebleau lag still in der Abenddämmerung. Vertraut und doch so fremd ragten die Umrisse des Schlosses vor ihr auf. Die Frau in dem schlichten Reisekleid zupfte nervös an der Kapuze ihres Umhangs. In weniger als einer Stunde würde es dunkel sein, und sie wollte die Galerie sehen, wenn zumindest noch etwas Tageslicht durch die Fenster fiel. Die Farben strahlten nur bei Tageslicht in voller Pracht. Den jungen Stallburschen neben sich hatte sie bestochen. »Ich brauche ein Licht, wenn ich herauskomme«, sagte sie leise.
»Kein Licht, Madame. Ich werde am Eingang auf Euch warten.«
Er schien den Weg auch blind finden zu können, so sicher bewegte er sich zwischen Bäumen, Sträuchern und Kübeln hindurch auf den Trakt zu, der das alte Schloss mit dem neuen verband. Sie vertraute nicht ihm, sondern dem Goldscudo, den sie ihm gegeben hatte. Menschen zu vertrauen war ein Risiko, das sie schon lange nicht mehr einging. Nur ein paar Schritte über den freien Platz trennten sie noch von dem Treppenaufgang, der zur Galerie hinaufführte. Sie meinte die Küchen riechen zu können, die sich im Kellergeschoss befanden. Darüber lagen die Bäder und im ersten Stock die Galerie. »Und es ist wirklich niemand dort?«
»Nein, Madame. Der König kommt erst morgen, und Meister Primaticcio will nicht, dass die Hofleute allein durch die Galerie gehen.«
Sie huschten über den Kies. Die kleinen Steine knirschten unter ihren Schuhen, und sie meinte, das Geräusch müsste das gesamte Schloss alarmieren, doch alles blieb ruhig. Im Schatten des Treppenaufgangs drückte der Stallbursche ihr einen Schlüssel in die Hand. »Hier, und jetzt beeilt Euch. Sie sind alle beim Essen.«
»Woher hast du den?«, fragte sie, doch der Bursche schubste sie ungeduldig zur Treppe.
»Geht schon, geht!«
Sie würde keine zweite Gelegenheit erhalten. Also nahm sie all ihren Mut zusammen und rannte die Stufen hinauf, bis sie mit klopfendem Herzen vor den Flügeltüren stand. So viele Jahre waren vergangen, seit sie hier an seiner Seite gestanden hatte. So viel war seither geschehen. König Franz I. war im Frühjahr verstorben, und sein Sohn Henri war nun Herrscher von Frankreich. Vor vier Monaten war Matteo nach Siena gekommen und hatte ihr das Unglaubliche erzählt. Die Galerie. Ängstlich sah sie sich um, während sie den Schlüssel vorsichtig im Schloss drehte, bis es klickte und die Tür knarrend aufschwang. Rasch schob sie sich hindurch.
Ihre Reisegefährten hatten aufgeregt erzählt, dass der König nach Fontainebleau käme. Ein König, der niemals den Thron hätte besteigen sollen. Henri hatte Fontainebleau nie so geliebt wie sein Vater, und das war einer der Gründe, weshalb sie gekommen war. Sie wollte das Schloss sehen, wie Franz es geschaffen hatte. Fontainebleau war sein Kunstwerk, das Lebenswerk eines Mannes, der einen Traum von Italien gehabt hatte. Ein König mit dem Herzen eines Ritters, der Seele eines Künstlers und dem Geist eines Gelehrten, ein König, dessen Zeitalter Vergangenheit war. Henri II. würde dem Schloss seinen eigenen Stempel aufdrücken wollen. Er würde verändern oder zerstören, was ihm nicht gefiel. Frankreich sah schweren Zeiten entgegen.
Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das diffuse Licht der Dämmerung, das noch durch die hohen Fenster hereinschien. Sie hielt den Atem an. Der Fußboden! Scibec konnte stolz sein auf seine Arbeit. Die hölzernen Intarsien entsprachen dem komplizierten Muster der Decke. Und dann fiel ihr Blick auf die Wände, an denen sich Figuren und Früchte, Säulen und Baldachine aus weißem Stuck um farbenprächtige Bilder rankten. Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Giovanni«, flüsterte sie. Alle Gefühle, die sie stets tief in sich verborgen hatte, brachen auf, als sie das gewaltige Kunstwerk sah, das Rosso Fiorentino in Fontainebleau geschaffen hatte.
Die Gerüste waren fort, und der langgestreckte Raum wirkte nun in seiner ganzen Größe. Sie schloss die Augen und meinte die Stimmen der Künstler, der Maler, Stuckateure und Arbeiter zu hören: Thiry mit seinem niederländischen Akzent und Matteo, der hübsche Florentiner, der ihr das Geheimnis der Herstellung des azzurro oltramarino verraten hatte. Sie ging ans östliche Ende der Galerie zum Fresko der Venus. Mit den Händen fuhr sie die Vertäfelung entlang. Sie kletterte auf die hölzerne Bank mit den kunstvoll geschnitzten Armlehnen und griff nach den schlanken Fesseln der weiblichen Figur, die das Fresko rechts flankierte. Hier hatte alles angefangen. Zärtlich fuhr sie über die glatte Oberfläche der weiblichen Karyatide, deren weißer Stuck hell im Licht schimmerte.
»Es tut mir so leid, Armido, aber ich werde ihn finden, das habe ich dir versprochen«, flüsterte sie und lehnte ihre Wange an den kühlen Stuck. Sich von den Erinnerungen losreißend, drehte sie sich um und betrachtete die Sammlung antiker Büsten und Skulpturen, die in der Galerie aufgestellt worden war.
Unter Franz I. war Meister Primaticcio auf der Suche nach seltenen Kunstobjekten der Antike häufig in Italien gewesen und hatte den Grundstein für die königliche Sammlung gelegt. Primaticcio, der Bologneser. Sie fuhr zusammen, als sie hörte, wie die Tür am anderen Ende der Galerie geöffnet wurde und sich Stimmen und Schritte näherten. Nein!, schrie alles in ihr. Ich gehe nicht fort, ohne es gesehen zu haben. Die Galerie war so lang, dass die schlechten Lichtverhältnisse und die Statuen es ihr ermöglichen würden, unbemerkt bis zur Mitte zu gelangen. Dort befanden sich die königlichen Kabinette. Eines davon musste sie sehen.
Leise sprang sie von der Bank und huschte im Schutz der Büsten und antiken Figurengruppen weiter. Gleich hier musste der Durchgang sein. Mit einem Satz sprang sie hinter einer Hermesstatue hervor und direkt durch den Bogen in das Kabinett.
»Heda!«, rief eine männliche Stimme von hinten. Eine Stimme, die ihr nicht unbekannt war.
Atemlos kauerte sie in der Fensternische gegenüber dem Kamin. Die Kapuze ihres Umhangs war nach hinten gerutscht, und einige Strähnen ihres langen Haares hatten sich aus der aufgesteckten Frisur gelöst. Doch davon bemerkte sie nichts, denn sie starrte wie gebannt auf das Bild über dem Kamin.
»He! Wer seid Ihr? Was tut Ihr hier?«, riss die Stimme sie aus ihren Träumereien.
Sie sprang auf und vergaß vollkommen, wer sie war. »Meister Primaticcio, verzeiht, ich …« Aber da war es bereits zu spät.
Meister Primaticcio sah sie verwundert an. Die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Ein grauer Bart und tiefe Furchen auf der Stirn ließen ihn grimmig aussehen. Er war nicht allein. Eine schlanke Frau, deren schwarzweißes Kleid nach spanischer Mode geschnitten war, war neben ihn getreten. Diane de Poitiers schien noch hochmütiger, und ihre Augen blickten noch kälter als damals. Diese Augen kannten keine Gnade, und wehe dem, der sich ihr in den Weg stellte. In Dianes Begleitung waren zwei junge Hofdamen und ein Mann, bei dessen Anblick die Frau am Fenster erschauerte.
Jean de Mallêt lächelte charmant. Er war alt geworden, doch seiner Wirkung auf Frauen schien er sich noch immer gewiss. »Eine schöne Unbekannte. Was für eine entzückende Überraschung. Verratet Ihr uns Euren Namen, Madame?«
Im Gegensatz zu Primaticcio, der sie verärgert musterte und noch zu überlegen schien, reichte Mallêt ihr seinen Arm. Zaghaft legte sie die Finger auf das Wams des verhassten Mannes und antwortete: »Montecatini, mein Name ist Leonora Montecatini.«
»Ah, Meister Primaticcio, eine Landsmännin von Euch. Was bringt Euch in unser Land?«, flötete Mallêt, wurde jedoch rüde von Diane de Poitiers unterbrochen.
»Lasst das, Mallêt. Zu Euch kommen wir gleich, Madame. Meister Primaticcio, Ihr wolltet uns etwas erläutern, bevor wir von dieser Person gestört wurden. Bitte.«
Primaticcio räusperte sich. »Wie ich schon sagte, würde ich bei einem Umbau der Galerie dieses Kabinett abreißen lassen.« Verunsichert warf er wieder einen Blick auf die Unbekannte.
»Und das Fresko?«, wandte Madame de Poitiers ein und zeigte mit spitzem Finger auf das farbenprächtige Bild über dem Kamin. »Meister Rosso wäre damit sicher nicht einverstanden.«
Abreißen! Sie trat einen Schritt zurück, wo sie die Nische und ein Fenster wusste. Ihr Kabinett! Sie blickte auf das Fresko und erstarrte. Wie hatte sie das nicht sofort erkennen können! Sie presste eine Hand an die Lippen und unterdrückte ein Schluchzen. Matteo hatte es angedeutet, doch niemand außer ihr würde je wissen, was die Semele wirklich verbarg, und da zog ein Lächeln über ihr Gesicht.
»Was ist mit Euch?« Mallêt betrachtete sie nachdenklich.
Madame de Poitiers sah ungeduldig auf das Bild. »Was stellt es überhaupt dar, Meister Primaticcio? Ich gestehe meine mangelnde Bildung.«
»Semele und Jupiter«, flüsterte sie. Keiner der Anwesenden bemerkte es. Keiner sah es. Ihre Knie zitterten so stark, dass sie meinte, sie würden jeden Augenblick unter ihr einbrechen, doch sie zwang sich zur Selbstbeherrschung. Primaticcio sagte etwas, das sie nicht verstand. In ihren Ohren rauschte es, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass diese Leute endlich gingen und sie allein ließen.
Doch sie gingen nicht. Meister Primaticcios Miene wurde immer düsterer, und Diane de Poitiers musterte sie mit gerunzelter Stirn. Am beunruhigendsten aber war der tückische Ausdruck auf dem Gesicht Jean de Mallêts, als er plötzlich leise sagte: »Euer Name und das Kleid haben mich verwirrt. Aber ich vergesse nie ein Gesicht.«
Todesangst kroch kalt und langsam ihre Glieder hinauf. Es war genau wie damals. Nur gab es nun weder Rosso noch sonst jemanden, der ihr beistehen würde. Sie waren alle fort oder tot. Jemand rief nach der Wache. Sie straffte die Schultern und sah auf den Ring an ihrer Hand. Und doch gab es einen Menschen, auf dessen Hilfe sie hoffen durfte. Entschlossen hob sie den Kopf und sah Mallêt herausfordernd an.
1537
Das Hämmern und Rufen der Steinmetze und Handwerker drang vom Hof weit bis auf die Via di Fontebranda. In der Werkstatt der Paserini herrschte Hochbetrieb, denn Andrea di Antonio Piccolomini hatte einen Großauftrag für seine Villa in Asciano erteilt.
Ein Ochsenkarren ratterte über die Pflastersteine, deren Unregelmäßigkeit das mit Fässern und Kisten schwer beladene Gefährt bedenklich ins Schwanken brachte. Fluchend stemmte sich der Mann, den der muskulöse Oberkörper und ein mit Werkzeugen gespickter Ledergürtel als Steinmetzen auswiesen, gegen das Gefährt.
»Brauchst du Hilfe?«
Für einen Moment sah der Steinmetz auf. Ihm gegenüber stand ein Dominikanermönch, dessen ausgefranste Kutte über den nackten Knöcheln endete.
»Nein, ich komme allein zurecht.« Der Steinmetz ging auf die andere Seite des Wagens, dessen Räder zwischen den Pflastersteinen feststeckten, und hob den Wagen unter großer Kraftanstrengung an.
Es ging auf die Mittagszeit zu, und die Sonne brannte von einem wolkenlosen Julihimmel herab. Ein Schwein lief grunzend umher, und eine alte Frau saß auf einem Stuhl vor ihrem Hauseingang und pulte Bohnen. Der Dominikanermönch trollte sich seines Weges durch den Unrat der Straße. Als die Alte ihn sah, bekreuzigte sie sich rasch und murmelte etwas.
Der Steinmetz spuckte demonstrativ aus und murmelte: »Domini canes …« Hunde des Herrn wurden die Dominikaner genannt, weil jeder wusste, dass sie sich mit Überzeugung für die Durchsetzung der Inquisition einsetzten. Dann wischte sich der Steinmetz den Schweiß aus dem Gesicht und lächelte, als ein junger Mann aus dem Torbogen trat, der zur Stukkadorwerkstatt führte. Mit Kennermiene ließ der Junge den Sand aus einem der Fässer durch die Finger gleiten. »Guter Kalksand, Giuffredo.«
»Dreieinhalb Jahre alt, nass gelöscht und eingesumpft, beste Qualität.« Der Steinmetz blinzelte.
Guter Kalk war das Hauptarbeitsmaterial der Stukkadore, und die Herstellung war eine Wissenschaft für sich. Zuerst musste Kalkstein in speziellen Öfen gebrannt werden. Luisa, denn der Junge war niemand anderer als die in Männerkleidung arbeitende Luisa Paserini, hatte Giuffredo oft begleitet, um neuen Kalksand zu holen, und wusste um jeden Arbeitsschritt bei der Herstellung des kostbaren Materials. Der Kalkbrenner musste das Feuer eines Ofens vier Tage und Nächte in Gang halten und brauchte für eine Ladung Kalkstein eine doppelte Menge an Fichtenscheiten. Über Generationen wurde das Wissen um das komplizierte Brennverfahren innerhalb der Kalkbrennerfamilien weitergegeben. Der gebrannte Kalk oder Stückkalk wurde dann gelöscht. Für einfache Maurerarbeiten reichte das Trockenlöschen, bei dem nur so viel Wasser zugeführt wurde, dass der Kalk nass glänzte. Besser und bei den Stukkadoren beliebter war der eingesumpfte Kalk. Staunend hatte Luisa bei ihrem ersten Besuch in der Kalkbrennerei die flachen Erdmulden gesehen, die über einen Ablauf mit einer tieferen Grube, dem Sumpf, verbunden waren. In einem eineinhalb mal drei Meter langen Kasten wurde dann der Kalk im Verhältnis eins zu zwei mit Wasser vermengt. Dabei begann das Wasser zu kochen, und man musste Sorge tragen, dass der Kalk nicht verbrannte. Luisa lernte, dass auch nicht zu wenig Kalk verwendet werden durfte, weil der Kalk sonst zu nass und ebenfalls unbrauchbar wurde.
Luisa Paserini nestelte an ihrer Kappe, unter der sie dichte lange Haare verbarg, und half Giuffredo, den Wagen durch das Tor zu lotsen. Seit Pietros Unfall vor fünf Jahren trat sie in der Werkstatt als Junge auf, und bisher hatte sich niemand daran gestört, denn sie arbeitete besser als die meisten Gesellen, auch wenn sie den Männern physisch unterlegen war. Ihre Entwürfe waren originell, und sie hatte ein sicheres Stilempfinden, was ihr bei der Zusammenstellung der Stuckelemente zugute kam. Erst heute Morgen war sie von Signor Piccolominis Verwalter für ihren Entwurf zur Gestaltung der Gesimse gelobt worden. Natürlich wusste der Mann nicht, dass er einer Frau zugehört hatte, denn in einer Stukkadorwerkstatt hatten Frauen nichts verloren. Armer Pietro, aber ohne seinen Unfall hätte man ihr nie erlaubt zu helfen, und jetzt gehörte sie genauso zur Werkstatt wie Giuffredo und die anderen Gesellen und Lehrlinge. Sie entdeckte ihren Bruder im Eingang zur Werkstatt, wo er auf seinen Stock gestützt stand und die Arbeit überwachte. »Pietro! Sieh nur, Giuffredo hat die neue Lieferung gebracht.«
Pietro war mit knapp dreißig Jahren der älteste der Paserini-Geschwister, zu denen neben Luisa ihr Lieblingsbruder Armido, der zurzeit in Rom weilte, sowie zwei weitere Schwestern zählten. Simonetta war seit fünf Jahren mit Tomaso, dem leitenden Bildhauer der Werkstatt, verheiratet und hatte vor einem Monat ihr drittes Kind zur Welt gebracht. In wenigen Wochen würde auch Francesca niederkommen, die ihr erstes Kind erwartete. Mit der nur ein Jahr älteren Francesca hatte Luisa sich nie verstanden und war froh, dass diese einen Schriftgießer in Florenz geehelicht hatte. Solange Luisa denken konnte, war Pietro das Oberhaupt der Familie gewesen, denn ihre Eltern waren vor vielen Jahren bei einem Fuhrwerkunfall ums Leben gekommen. Pietro hatte die Werkstatt geleitet und mit seiner Fröhlichkeit und Tatkraft alle mitgerissen, doch der Unfall hatte alles verändert. In einem Moment der Unachtsamkeit war er auf der Baustelle des Palazzo Petrucci vom Gerüst gestürzt und hatte sich zahlreiche Knochenbrüche im linken Bein, der Schulter und den Händen zugezogen. Wochenlang hatten ihn die Verletzungen ans Bett gefesselt, und niemand hatte geglaubt, dass er überleben würde.
Wenn Luisa ihn manchmal ansah, fragte sie sich, ob er es bedauerte, dass der Sturz nicht tödlich verlaufen war. Pietro war ein Krüppel, der sich mit seinem Gehstock mühsam durch die Werkstatt schleppte und dessen linke Hand nahezu gebrauchsunfähig war. Doch wenn er sie anlächelte, während sie zeichnete, und sie für die gelungene Ausführung eines Entwurfs lobte, dann schämte sie sich ihrer Gedanken. Pietro war die Seele der Werkstatt, und alle respektierten ihn, selbst der arrogante Tomaso zollte ihm Achtung für seine Fachkenntnisse.
»Ah, sehr schön …« Pietro hielt inne und sah nicht auf sie oder den Karren, sondern auf etwas hinter ihr.
Luisa drehte sich um. Ihr Herz machte einen Satz. »Armido!«
Ein großer dunkelhaariger Mann, dem die Ähnlichkeit mit seiner Schwester und Pietro ins Gesicht geschrieben stand, trat in den Hof.
»Luisa! Ich hätte gedacht, dass du langsam zu alt für diese Maskerade wirst.« Liebevoll drückte er Luisa an sich, die sich in seine Arme geworfen hatte.
»Dass du zurück bist! Warum hast du nicht geschrieben? Schau dich nur an, Armido, ein großer Herr bist du!« Sie zupfte an seinem Hemd, das aus gutem Leinen gefertigt war, und auch seine Lederstiefel waren solide gearbeitet. »Wie ist Rom, groß und herrlich, nicht wahr? Giuffredo, das ist mein Bruder, Signor Armido, der mit maestro Michelangelo gearbeitet hat!«
Ergriffen neigte Giuffredo den Kopf. »Signore, es ist mir eine Ehre. Ich kümmere mich um die Ladung.«
Armido schulterte seinen Lederbeutel und legte seiner Schwester den Arm um die Schultern. Die Ähnlichkeit war unverkennbar, beide hatten gerade geschnittene Nasen und einen schön geschwungenen Mund in einem ovalen Gesicht.
Gemeinsam gingen sie über den Hof, in dessen Mitte der Ochsenkarren von mehreren Männern entladen wurde. Überall lagen Bretter und Steine. Kisten mit Kalksand und Tonkrüge mit verschiedenen Flüssigkeiten standen an den Wänden neben halbfertigen Gesimsteilen, Gussformen und Arbeitstischen, an denen gesägt und gehämmert wurde.
Armido fragte leise: »Wie geht es ihm?«
»Er wird noch oft von Schmerzen geplagt, auch wenn er es nicht zugibt, und er hasst es, wenn ihm Dinge aus der Hand fallen. Erst gestern hat er zwei fertige Muscheln zerbrochen und sich furchtbar geärgert. Aber erwähne das nicht …«
Pietro lehnte im Türrahmen und streckte seine gesunde Rechte nach ihnen aus. »Mein Bruder!«, rief Pietro laut, und das Hämmern in der Werkstatt verstummte. Neugierige Gesichter tauchten hinter Pietro auf. Einige Gesellen und vor allem die Lehrlinge waren noch nicht lange bei den Paserini und kannten Armido, der drei Jahre in Rom gewesen war, nur aus den Erzählungen seiner Geschwister.
Luisa spürte, wie ein Ruck durch Armido ging, der sich verschämt räusperte, bevor er seinen älteren Bruder in die Arme schloss.
Stolz klopfte Pietro ihm auf die Schulter. »Seht her, das ist Signor Armido. Er kommt aus Rom, wo er mit maestro Michelangelo gearbeitet hat! Wir alle können viel von ihm lernen!«
Obwohl Tomaso halb hinter einer Säule verborgen stand, konnte Luisa die Missbilligung auf seinem Gesicht sehen. Ihr Schwager war klein und von unregelmäßigem Wuchs, die Arme waren muskulös, der knorrige Körper von der harten Steinbildnerei gestählt. Seine grauen Augen verengten sich, während er den Neuankömmling musterte. Er fürchtete dessen Konkurrenz, denn sicherlich würde von nun an Armido die Leitung der Auftragsgestaltung übernehmen.
Ein anerkennendes Raunen ging durch die Werkstatt, doch Armido hob abwehrend die Hände. »Es tut mir leid, aber ich bin nur auf der Durchreise!«
Pietro war die Enttäuschung anzusehen, während Tomaso triumphierend schnaufte und sich abwandte.
»Na los, es gibt nichts zu sehen. Macht euch wieder an die Arbeit!«, scheuchte Pietro seine Leute zurück und legte dann Armido eine Hand auf den Arm. »Komm mit und erzähl, was dich zu uns bringt. Simonetta wird etwas zu essen bereithalten.«
Armido wollte seinem Bruder die Stufen in den Hof hinunterhelfen, doch Pietro machte eine energische Handbewegung und wandte sich dem Karren zu, von dem Giuffredo gerade eine Kiste auf seine Schultern hob. »Hast du den Sand geprüft? Ist er fein und gut durchgesumpft?«
»Ja, maestro.« Der kräftige Steinmetz grinste. »Deshalb schickt Ihr mich doch. Die hauen mich nicht übers Ohr. Einmal haben sie es versucht, aber meine Fäuste haben ihnen schon klargemacht, dass das keine gute Idee war …« Mit geübtem Griff klemmte er einen kleinen Krug unter den freien Arm und ging ins Haus.
»Guter Mann, ich bin froh, dass ich ihn habe. Tomaso hat drei Steinmetze mitgebracht, die mir nicht gefallen. Aber was soll ich machen …« Armido schlug mit seinem Stock gegen den Karren. »Ich bin ein Krüppel. Letzten Endes bin ich auf Hilfe angewiesen.«
Der bittere Tonfall traf Luisa bis ins Mark. »O Bruder, sprich nicht so. Alle haben dich gern, und ohne dich würde die Werkstatt nicht funktionieren! Das weißt du ganz genau!«
»Leistet Tomaso denn wenigstens gute Arbeit?«, fragte Armido, während sie quer über den Hof auf ein Nebengebäude zugingen, aus dem ihnen Düfte von Gebratenem entgegenwehten.
Die Werkstatt der Paserini bestand seit vielen Generationen, und die Gebäude waren über die Jahre mitgewachsen, was sich in den nach und nach angestückten Wohnräumen zeigte. Das Kernstück war die Werkstatt, flankiert von zwei wenig ansehnlichen, aber zweckmäßigen einstöckigen Gebäuden. Auf der linken Seite lebten Pietro, Luisa und Simonetta mit Tomaso und den Kindern. Gegenüber waren der Stall, ein Lager und kleine Schlafräume für die Lehrlinge. Giuffredo wohnte zwei Straßen weiter mit seiner Frau, deren Eltern und fünf Kindern.
Luisa machte eine vage Handbewegung. »Seine Entwürfe sind solide, aber nicht originell.«
Sie standen vor der offenen Tür zum Wohnhaus der Paserini. Luisa nahm die Kappe ab und steckte sie in ihren Hosenbund. Über den weiten Hosen und einem unförmigen Hemd und Weste trug sie eine lange Lederschürze, die jegliche weibliche Form vor neugierigen Blicken verbarg. Simonetta rümpfte ständig die Nase über Luisas Verkleidung, und Tomaso ignorierte sie, soweit es möglich war. Augenblicke wie heute Morgen, als Piccolominis Verwalter ihre Entwürfe gelobt hatte, machten Luisa glücklich und ließen sie die missgünstigen Blicke ihres Schwagers und Frotzeleien seiner Gesellen ertragen, die sie fast täglich über sich ergehen lassen musste.
Aus dem schmalen Korridor vor ihnen ertönte Kindergeschrei, gefolgt von Fußgetrappel auf der Holztreppe. »Kommt sofort zurück, wir sind noch nicht fertig!«
Luisa hörte den Ärger in Simonettas Stimme, die so kurz nach der Entbindung noch gereizter als gewöhnlich war. Die Ankunft Armidos würde eine willkommene Abwechslung sein. »Simonetta!«, rief sie nach oben. »Wir haben Besuch!«
»Geht in die Küche. Ich bin gleich unten.«
Über einen ausgetretenen Steinfußboden gelangten sie in Pietros ufficio, wie er den kleinen Raum mit dem Schreibtisch, einer Truhe und zwei großen Regalen nannte, in denen sich Papiere und Kassenbücher stapelten.
Armido sah sich kurz um. »Es hat sich nichts verändert … Hast du immer noch niemanden, der sich um die Bücher kümmert?«
»Eh, was ist da schon groß zu tun … Jetzt komm weiter. Das riecht nach Fleischeintopf.« Pietro schnupperte, stieß die gegenüberliegende Tür mit seinem Stock auf und humpelte vor ihnen durch ein Vorratslager in die Küche.
Luisa band die schwere Lederschürze ab und hängte sie auf einen Haken neben dem Eingang. Über dem offenen Feuer hing ein Topf, in dem die Köchin Gulasch zubereitete. Giuseppa war seit zehn Jahren bei ihnen und kochte nicht nur für die Familie, sondern auch für die Lehrlinge und Gesellen, die mittags nicht nach Hause gingen. Sie war launisch, aber ihr Essen war köstlich. Selbst aus den einfachsten Zutaten machte sie etwas Schmackhaftes. Zwei Mägde und ein Küchenjunge gingen ihr zur Hand. Luisa sah, wie der Junge, ein schmutziger kleiner Bengel, sich gerade eine Feige in den Mund stopfte. Die Köchin hatte es auch gesehen und gab dem Jungen eine so heftige Ohrfeige, dass seine Wange feuerrot anlief, er sich verschluckte und jammernd und hustend dastand wie ein Häufchen Elend. Erst jetzt bemerkte Giuseppa die Geschwister. »Oh, Signori, oh …!« Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und machte eine Art Knicks. »Bitte, nehmt Platz. Signor Armido, welche Ehre!«
Luisa setzte sich mit ihren Brüdern an den großen Esstisch, der in der Mitte der Küche stand. Giuseppa rief eine der Mägde, und kurz darauf standen Becher, Schüsseln mit Oliven und Kapern und ein Laib Roggenbrot auf dem Tisch. Pietro goss Wein aus einem Tonkrug ein.
Armido hob seinen Becher. »Zum Wohle! Und nun will ich euch sagen, warum ich nicht bleiben kann.« Er machte eine bedeutsame Pause und steckte sich eine Olive in den Mund.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er die Frucht gegessen und den Kern ausgespuckt hatte. Luisa starrte ihm gebannt auf die Lippen.
»Man hat mich nach Fontainebleau gerufen. Maestro Primaticcio hat nach mir und einigen anderen Stukkadoren, mit denen er damals in Mantua gearbeitet hat, gesandt, ihm bei den Arbeiten im Schloss des Königs zu helfen.« Genüsslich nahm er sich eine weitere Olive und kostete das Staunen seiner Geschwister aus.
»Frankreich …«, flüsterte Luisa ehrfürchtig.
»Arbeitest du dann für Primaticcio oder für maestro Rosso?«, fragte Pietro.
»Für Primaticcio, denke ich. Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Aber du hast recht – maestro Rosso ist der erste Künstler am Hof von Franz I.« Armido fuhr mit der Hand durch die Luft. »Ich weiß, was ich kann. Domenico del Barbiere ist auch dort, soviel ich weiß. Selbst der ist Rosso unterstellt, und ich habe gehört, dass Luca Penni ebenfalls nach Fontainebleau kommt.«
Luisa atmete tief ein. Luca Penni war ein Bruder von Giovan Francesco Penni, ein Schüler des viel gerühmten Raffael in Rom. Was für ein Glück für ihren Bruder, mit solchen Meistern arbeiten zu dürfen. Wie gern würde sie selbst wenigstens ein Mal nach Rom oder Venedig reisen, um die Werke Michelangelos oder Tizians zu sehen. Noch nicht einmal in Florenz war sie gewesen, um Sandro Botticellis wundervolles »Primavera« oder die »Venus« zu sehen, geschweige denn Werke von Bronzino oder Pontormo. Und gar Rosso! Sie war vierzehn Jahre alt gewesen, als Armido sie mit nach Volterra genommen hatte. Nie würde sie vergessen, wie sie die Kapelle der Compagnia della Croce di Giorno in San Francesco betreten hatte. Ihr Bruder hatte ihr von diesem exzentrischen Maler erzählt, der die Kreuzabnahme auf eine vollkommen neue Art dargestellt hatte. Aber was sie erwartete, übertraf alle ihre Vorstellungen. Diese leuchtenden Farben! Diese wunderbaren Figuren, die sich in dramatischer Weise, fast wie in einer griechischen Tragödie, voller Schmerz wanden und den Körper Christi hielten. Die Frauen, deren schöne Gewänder nicht ablenkten von ihrem Schmerz, sondern deren Bewegungen sich einfügten in die Komposition und aus dem bekannten Motiv eine Szene menschlicher Schicksale, erhöht durch die geniale Kunst Rosso Fiorentinos, machten. Niemand konnte sich der Faszination dieser Kreuzabnahme entziehen. Luisa hatte gesehen, wie Frauen und Männer, die das Gemälde zum ersten Mal sahen, sich ehrfürchtig bekreuzigten, staunend stehen blieben und dann die Darstellung zu diskutieren begannen.
»Ich komme mit. Ich will auch nach Frankreich!« Erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund, doch es war zu spät.
Verärgert runzelte Pietro die Stirn. Armido lächelte, er wusste, was sie bewegte. »Schwesterchen, was willst du im kalten Frankreich? Dein Platz ist hier bei deiner Familie. Was würde Pietro ohne dich anfangen? Du weißt, dass Tomasos Entwürfe nicht gut genug sind.«
»Schlag dir den Unsinn aus dem Kopf, Luisa. Du hast mehr Freiheiten als die meisten Frauen«, knurrte Pietro.
»Ja, aber ich habe auch mehr Talent als die meisten Frauen!«
»Genug!« Pietro stieß seinen Stock auf den Boden.
Sie kannte das Funkeln in seinen Augen gut genug, um zu wissen, dass es nun klüger war, den Mund zu halten.
»Ich werde dir schreiben, wie es am Hof von Fontainebleau zugeht. Der König ist ein großer Förderer der Künste, und er soll die Frauen lieben.« Armido lachte. »Ein Mann ganz nach meinem Geschmack!«
Kindergelächter und die energische Stimme ihrer Schwester kündigten Simonetta an. Zuerst liefen ein fünfjähriger Junge und ein dreijähriges Mädchen in die Küche, wobei sie fast die Magd, die eine Schüssel mit zuppa di farro trug, zu Fall gebracht hätten. Die Suppe wurde aus Dinkelkörnern gemacht, eine einfache nahrhafte Speise, die fast vor jedem Mahl aufgetragen wurde.
Mit dem kritischen Blick der Hausherrin inspizierte Simonetta die Küche, bevor sie sich ihrem Bruder zuwandte. Simonetta war etwas größer als Luisa und hatte nach drei Geburten deutlich an Gewicht zugelegt. Unter ihren Augen zeigten sich dunkle Ränder, doch ihre vollen Lippen lächelten gerne und machten Simonetta zu einer anziehenden Frau. Herzlich begrüßte sie Armido, der den Kindern zärtlich über die Haare strich, und setzte sich zu ihnen an den Tisch. »Wo ist Tomaso? Wollte er nicht mit uns essen?«
Luisa vermisste ihren Schwager nicht und verzog den Mund, als Simonetta ihren Sohn in die Werkstatt schickte, um den Vater zu holen. »Muss er denn immer …«
»Er ist mein Mann, Luisa. Iss deine Suppe.« Simonetta gab jedem eine Schöpfkelle voll in eine Schale und trank selbst einen Schluck Wein. »Armido, was verschlägt dich hierher? Hast du keine Aufträge mehr in Rom?«
Immer sah Simonetta zuerst das Negative. Luisa hatte sich deshalb schon oft mit ihr gestritten. »Er geht nach Frankreich und soll mit maestro Rosso arbeiten!«, antwortete Luisa anstelle ihres Bruders.
Erstaunt hob Simonetta die Augenbrauen. »Frankreich?«
»Ja, Primaticcio hat mich und vier weitere Stukkadore zu sich nach Fontainebleau gerufen. Der französische König will aus seinem Schloss das prächtigste in Frankreich machen. Und er soll gesagt haben, dass die besten Künstler aus Italien kommen.«
»Ach ja? Das macht er doch alles nur, um Kaiser Karl zu beeindrucken«, kam es abfällig von Tomaso, der eben durch die Tür getreten war, sich einen Stuhl heranzog und den Becher Wein, den seine Frau ihm reichte, in einem Zug leerte.
»Du willst doch wohl nicht bestreiten, dass wir die großartigsten Künstler hervorgebracht haben?« Pietro schob seine Suppenschale von sich und fixierte seinen Schwager.
»Das nicht, aber ob alles, was aus Italien kommt, so großartig ist …« Er machte eine vielsagende Pause.
Luisa schluckte. Sie wusste genau, dass der eifersüchtige Tomaso nichts anderes bezweckte, als Armido zu verärgern.
»Du Wurm! Bist hier in unserem Haus, teilst das Bett mit meiner Schwester und wagst es, mich zu beleidigen?!« Wütend sprang Armido auf und wollte seinen Degen ziehen, doch Pietro schlug mit seinem Stock auf den Tisch.
»Hört auf! Genug! Wir alle profitieren von Armidos Auftrag. Es wird sich herumsprechen und uns mehr Arbeit bescheren, und das ist für alle wichtig.«
Tomaso murmelte etwas, knetete die Hände, dass es knackte, und goss sich Wein nach. Seine grimmige Miene ließ keinen Zweifel daran, was er von Armidos Auftrag hielt. »Franzosenpack«, zischte er.
Doch Armido hatte sich wieder beruhigt. »Es waren aber nicht die Franzosen, die Rom vor zehn Jahren dem Erdboden gleichgemacht haben. Hast du das schon vergessen?«
1527 war als das dunkelste Jahr in die Geschichte der Stadt am Tiber eingegangen, denn im Mai hatten die Truppen Karls V. Rom mit unvorstellbarer Grausamkeit erstürmt, geplündert und niedergebrannt. Noch immer waren nicht alle Gebäude aus den Trümmern wieder erstanden, und der Schock des Sacco di Roma saß tief.
»Vielleicht nicht, aber sie hätten es sicher genauso gern getan, wenn sie die Gelegenheit dazu gehabt hätten«, blaffte Tomaso zurück.
»Unsinn! Du weißt doch gar nicht, worüber du sprichst. König Franz liebt Italien. Zwar meint er, einen Anspruch auf Mailand und Savoyen zu haben, aber niemals hätte er die Verwüstung Roms zugelassen, niemals!«, widersprach Armido.
Simonetta seufzte. »Könnt ihr das zu anderer Zeit austragen? Wie lange bleibst du?«
»Morgen mache ich mich auf den Weg, um die anderen in Pisa zu treffen. Dort wartet eine Gruppe französischer Kaufleute auf uns, mit denen wir nach Fontainebleau reisen. Unter ihnen ist auch einer der königlichen Agenten, die regelmäßig Kunstwerke in Rom kaufen. Allein deswegen werden wir uns um unsere Sicherheit keine Sorgen machen müssen.« Rasch löffelte Armido seine Schüssel leer, denn die Köchin stellte einen Topf mit dampfendem Wildschweingulasch auf den Tisch.
»Was denn für Agenten?« Luisa wusste kaum etwas über Frankreich. Was man sich über König Franz erzählte, waren Geschichten über seinen Hofstaat und seine Touren durch Frankreich. Einmal hatte sie gehört, dass der König mit zwanzigtausend Pferden durch die Lande zog, begleitet von einem fast ebenso großen Gefolge. Das war unvorstellbar!
»Köstlich, Giuseppa!« Pietro hatte das Fleisch gekostet und fuhr sich genießerisch mit der Zunge über die Lippen. Die Köchin strahlte und ging wieder zur Feuerstelle, wo der Küchenjunge mit rotem Gesicht Holz nachlegte.
»Jetzt lass ihn doch essen, Luisa!«, ermahnte Simonetta sie.
Doch Armido nickte lächelnd. »Genaues weiß ich auch nicht, nur, dass der König regelmäßig seine Leute nach Italien schickt, wo sie alles, was von besonderem Wert ist, aufkaufen. Diese Agenten laden auch die Künstler an den Hof. Michelangelo soll sich geweigert haben, und deshalb hat er maestro Rosso geholt.«
»Er wollte maestro Michelangelo nach Frankreich holen? Gott, niemand kann einen solchen Mann bezahlen!«, staunte Luisa.
»Der französische König schon. Er hat sogar Leonardo da Vinci bis zu dessen Tod bei sich gehabt.«
»Da war der maestro schon alt und hat keine Bilder mehr gemalt«, sagte Tomaso und steckte eine Gabel Fleisch in den Mund.
»Eigentlich ist es zwecklos, jemanden belehren zu wollen, der so ignorant ist wie du. Maestro Leonardo hat wissenschaftliche Traktate verfasst und an Maschinen gearbeitet, die sich dein erbsengroßes Gehirn nicht einmal vorstellen kann. Der König hat ihn oft im Schloss von Amboise besucht, wo der maestro mit seinen Lieblingsbildern, der Mona Lisa, der Anna Selbdritt und dem Johannes der Täufer lebte. So große Stücke hielt König Franz auf den maestro, dass er in der Stunde seines Todes bei ihm war. Solch ein Mann ist der französische König!«
Tomaso sagte nichts mehr, und Luisa freute sich im Stillen, dass ihm endlich jemand den Kopf zurechtsetzte. Aber Armido würde schon morgen wieder fort sein!
Rastlos lief Luisa den Rest des Tages durch die Werkstatt und wartete nur darauf, ihren Bruder allein sprechen zu können. Diese Gelegenheit ergab sich erst spät am Abend nach dem Essen. Simonetta hatte die Kinder zu Bett gebracht und sich mit Tomaso zur Ruhe begeben. Auch Pietro hatte sich bereits zurückgezogen, denn die Verletzungen machten ihm mehr zu schaffen, als er zugegeben hätte. Der Hof lag im Dunkeln. Nur aus der Werkstatt schien noch Licht, und vor den Stallungen brannte eine Laterne. Giuffredo deckte eine der Kisten mit Kalksand ab und streckte sich.
»Gute Nacht, Luisa!«
»Geh nach Hause, Giuffredo, deine Frau und deine Kinder warten. Ist Armido noch drinnen?« Sie nickte in Richtung Werkstatt.
»Ja.« Der Steinmetz machte sich auf den Heimweg, und Luisa ging die Stufen hinauf.
Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt ein schlichtes dunkelgrünes Kleid über dem weißen Unterhemd. Da sie den ganzen Tag in Hosen und Arbeitsschürze herumlief, fühlte sie sich in den Frauenkleidern unwohl und schutzlos, aber Simonetta und Pietro bestanden darauf, dass sie zumindest außerhalb der Werkstatt wie eine anständige Frau auftrat. Unter ihren Nägeln klebte noch immer Steinstaub, aber es lohnte sich kaum, sich gründlich zu säubern, denn schon morgen früh würde sie erneut Zierleisten und Vorzeichnungen anfertigen. Die Piccolomini sollten so beeindruckt von ihren Arbeiten sein, dass sie keiner anderen Stukkadorwerkstatt je wieder einen Auftrag geben würden.
Vorsichtig öffnete sie die Tür, darauf bedacht, nicht doch auf Tomaso zu treffen, aber nein, nur ihr Bruder stand vor einem der Musterschränke und begutachtete die Leisten und Dekorationen.
»Die Fruchtstäbe habe ich entworfen«, sagte Luisa leise.
Ihr Bruder drehte sich überrascht um. »Ich habe dich nicht kommen hören. Du?« Anerkennung schwang in seiner Stimme mit und machte Luisa stolz auf ihre Arbeit.
»Ich will die Rahmungen in der Piccolomini-Villa damit ausschmücken.« Der Verwalter war sich noch nicht sicher gewesen, ob es Fresken an den Wänden und den Decken geben würde, doch die Rahmungen für etwaige Bildfelder wurden in jedem Fall benötigt.
»Mir gefallen die gedrehten Blattornamente mit den Perlen, oder sollen das Beeren sein?« Interessiert strich er über die Musterstäbe, die erst vor wenigen Tagen gegossen worden waren.
»Beeren, aber das ist eigentlich nicht wichtig. Ich wollte etwas mehr Lebendigkeit in die statische Leiste bringen.« Sie räusperte sich und stellte sich so, dass ihr Bruder sie ansehen musste.
Amüsiert hob er eine Augenbraue. Die Jahre in Rom hatten Spuren in seinem Gesicht hinterlassen, die Falten um die Augen und die Linie über der Nase waren tiefer geworden. Aber sie fühlte sich ihm so nahe wie damals, als er sie mit nach Volterra genommen hatte. Er war ihr Vertrauter, der Einzige, der verstand, was ihr die Kunst bedeutete, und es nicht als die Grille eines jungen Mädchens abtat, das gerne in Hosen herumlief.
»Was hast du auf dem Herzen, Schwesterchen?« Liebevoll strich er ihr eine Strähne aus der Stirn.
»Weißt du noch, wie du mir maestro Rossos Kreuzabnahme gezeigt hast?«
Er nahm eine der Rosetten in die Hände und begutachtete sie. »In Volterra? Aber ja. Du warst ganz besessen von dem Bild und hast wochenlang über nichts anderes gesprochen. Diese hier ist fehlerhaft.« Unsanft ließ er das schadhafte Stück auf den Tisch fallen.
»Ich möchte mit nach Frankreich. Ich möchte den maestro sehen und mit ihm arbeiten!«
Armido warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Du bist wirklich verrückt! Erstens arbeitet er nicht mit Frauen, ich meine, niemand tut das – und zweitens kannst du einfach nicht mitkommen, weil du nicht eingeladen wurdest.«
Flehentlich nahm sie seine Hand. »Aber du könntest mich mitnehmen, als deinen Gehilfen. Niemand würde wissen, dass ich eine Frau bin. Der Verwalter der Piccolomini hat es auch nicht gemerkt, keiner der Kunden hier hat das!«
»Schlag es dir aus dem Kopf, Luisa. Hier in Siena, in unserer Werkstatt, ist das etwas anderes. Hier bist du inmitten der Familie, unter Freunden, aber in Frankreich … O Gott!« Er raufte sich die Haare. »Wir sind in Fontainebleau am königlichen Hof. Du weißt ja gar nicht, was das heißt! Da sind Hunderte von Leuten, die nichts Besseres zu tun haben, als sich gegenseitig zu bespitzeln und Intrigen zu spinnen, um sich beim König einzuschmeicheln. Rom war schon schlimm genug. Die päpstlichen Schmeichler, die alles tun würden, um sich Vorteile zu verschaffen. Die gehen über Leichen! Luisa, ich könnte dich nicht beschützen. Ich bin nur ein Stukkador, ein Gehilfe ohne Einfluss. Wenn sie herausfinden, wer du bist, wärest du verloren!«
»Warum?« Ihre Augen wurden feucht, und eine Träne lief ihr die Wange herunter. »Du hast doch selbst gesagt, dass der König Frauen liebt. Vielleicht findet er Gefallen an einer Künstlerin!«
»Willst du vielleicht in seinem Bett landen? Wahrscheinlicher ist es, dass einer dieser Höflinge … Nein! Sieh doch nur, was du hier tun kannst. Deine Arbeit wird geschätzt, und Pietro braucht dich.«
Sie schluchzte, als sie erkannte, dass er nicht zu erweichen war. Niemals würde sie Rosso Fiorentino kennenlernen, von dem sich die Leute erzählten, dass er den Beinamen Rosso wegen seiner Haarfarbe erhalten hatte. Er war nicht nur ein exzentrischer Künstler, sondern darüber hinaus ein schöner Mann, ähnlich wie einst Leonardo, hieß es. »Armido, ich will malen wie der maestro«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.
Mitfühlend nahm Armido sie in die Arme und drückte sie an sich. »Kleine verrückte Luisa. Warum kannst du dich nicht mit dem zufrieden geben, was du hast? Mehr kann dir niemand geben.« Er küsste sie auf die Stirn und hielt sie auf Armeslänge. »Alles, was möglich ist, hast du hier.«
Sie blinzelte die Tränen fort. Alles, was möglich war. Vielleicht.
Die Wellen schlugen wütend gegen das schwankende Gefährt, das jeden Moment umzukippen drohte. Niemand hatte diesen Sturm vorhergesehen, obwohl das steigende Wasser des Flusses Warnung genug hätte sein müssen. Luisa klammerte sich an ihr Bündel und versuchte, nicht nach draußen zu sehen, wo die Männer gegen die entfesselten Naturgewalten kämpften. Neben ihr saßen zwei kleine Mädchen, weinten und riefen ständig nach ihrer Mutter, die jedoch nicht hier war, sondern in Lucca auf sie wartete. Ihr gegenüber saßen die Großeltern der Mädchen, denen der Kutschwagen gehörte. Der Wind peitschte das Wasser durch die ungeschützten Fensteröffnungen. Unwillkürlich griff Luisa nach ihrem Hut. Den Zopf hatte sie zwar abgeschnitten und die Locken auf Kinnlänge gestutzt, doch sie befürchtete noch immer, dass ihre weichen Gesichtszüge sie verraten könnten.
In der heimischen Werkstatt war sie Kunden sicher in ihrer Hosenrolle gegenübergetreten, doch im Fall einer Entdeckung hätte ihre Familie sie beschützt. Hier draußen dagegen war sie auf sich allein gestellt, konnte niemandem trauen, musste sich entlegene Plätze zum Verrichten ihrer Notdurft suchen und immer auf der Hut sein. Eine Unachtsamkeit, und die Knechte oder Soldaten würden über sie herfallen, aber solch furchtbare Gedanken verdrängte sie sofort wieder.
Im Gasthaus von Castelfiorentino war sie auf die Vettorini getroffen, die sich gegen ein geringes Entgelt bereit erklärt hatten, sie mitzunehmen. Wahrscheinlich hatten sie auf ein kräftiges Paar Hände mehr gehofft. Signor Vettorini, ein Kornhändler aus dem Elsatal, warf ihr nun einen vorwurfsvollen Blick zu. Erschrocken sprang sie auf und stolperte in das Unwetter hinaus. »Verflucht, was habe ich mir nur aufgehalst«, murmelte sie und warf sich dem Wind entgegen.
Es dämmerte, und das Ufer der überfluteten Elsa war kaum auszumachen. Zwei Knechte hielten die scheuenden Maultiere, und drei Männer versuchten, den Wagen aus dem Morast zu ziehen, in den die Hinterräder immer tiefer versanken. In einiger Entfernung entdeckte sie einen Mast, von dem ein Seil über den Fluss führte. Die dazugehörige Fähre jedoch sah sie nicht. Bei diesem Sturm war an ein Übersetzen ohnehin nicht zu denken.
»Eh!«, rief sie einem der Knechte zu. »Warum bleiben wir nicht hier? Hat doch keinen Sinn, auf die Fähre zu warten!«