Das Buch

Die sechzigjährige Eleonore, genannt Elli, hat die Nase voll vom Leben: Ihr Mann ist schon seit einigen Jahren tot, und die ehemals gemeinsame Videothek steht kurz vor der Pleite. Ein Brief aus Italien ändert plötzlich alles. Elli soll geerbt haben: eine kleine Pension auf Capri, in der sie als Kind die Ferien verbracht hat. Kurz entschlossen macht sich Elli auf den Weg nach Bella Italia. Auf der Fahrt dorthin erweist sich ihr sonst so zuverlässiger Käfer allerdings als Schrottmühle, und Elli muss die Hilfe von Aussteiger Heinz in Anspruch nehmen, der bereit ist, sie in seinem Wohnmobil nach Capri zu fahren. Die gemeinsame Fahrt gen Süden gerät immer mehr zum turbulenten Schlagabtausch, denn Heinz teilt Ellis Liebe zu Sauberkeit und Ordnung leider überhaupt nicht.

Auf Capri angekommen, traut Elli ihren Augen kaum: Ihre ältere Schwester Dorothea ist ebenfalls angereist und hat es auf die Pension abgesehen. Ein Schwesternstreit entbrennt, bei dem es nicht nur um die Pension, sondern auch um alte Wunden und natürlich um Männer geht …

 

Die Autorin

Tessa Hennig ist seit vielen Jahren erfolgreich als Drehbuchautorin tätig, unter anderem für die große Prime-Time-Unterhaltung. Wenn sie vom Schreiben und ihrem Wohnort München eine Auszeit benötigt, reist sie auf der Suche nach neuen Stoffen und Abenteuern gern in den Süden.

Von Tessa Hennig in unserem Hause bereits erschienen:

Mutti steigt aus

Tessa Hennig

Elli gibt den Löffel ab

Roman

List Taschenbuch

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Originalausgabe im List Taschenbuch

List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.

1. Auflage April 2011

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011

Konzeption: semper smile Werbeagentur GmbH, München

Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München

Titelabbildung: Illustration von Gerhard Glück

Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

 

ISBN 978-3-548-8437-0037-5

Kapitel 1

Tiefe Sehnsucht und unerfülltes Verlangen sprachen aus seinen Augen, die Gewissheit, die Liebe seines Lebens nie wieder in die Arme schließen zu dürfen. Zu groß war die Kluft der beiden Welten, die die Liebenden voneinander trennte. Welche Liebe könnte größer sein, als um des Glückes des anderen willen auf das eigene Glück zu verzichten? So ein Mann konnte einem förmlich den Boden unter den Füßen wegziehen. Selbstlosigkeit bis hin zur Selbstaufgabe. Für einen solchen Blick, der mit einem einzigen Augenaufschlag die ganze Tragik seines Lebens auf den Punkt brachte, würde jede Frau sterben, dessen war sich Elli sicher. Obwohl sie diese Szene, in der Daniel D. Lewis einfach nur aus dem Fenster blickte, schon mindestens hundert Mal gesehen hatte, schmolz sie auch diesmal beim Anblick seiner funkelnden Augen, die sie dank Pause-Taste immer noch vom Bildschirm ihres Vorführgerätes ansahen, restlos dahin.

»Genau das meine ich. So etwas können die wenigsten«, stellte Norbert, einer ihrer Stammkunden, mit Begeisterung fest, als Elli die DVD aus dem Abspielgerät nahm. So, wie sie ihn einschätzte, gehörte Norbert mit Sicherheit auch nicht zu jenen, die es konnten, weder fiktional noch im wirklichen Leben. Ganz im Gegenteil: Anfang fünfzig, das lange graue Haar zu einem flotten Pferdeschwanz nach hinten gebunden, stets in weit aufgeknöpften Hemden und zugegebenermaßen immer noch mit Topfigur, die ihn in der Damenwelt, vor allem aber bei seinen Klientinnen, die um die berühmt-berüchtigte Casting-Couch bestimmt nicht herumkamen, begehrenswert machte. Norbert ließ nie etwas anbrennen. Oft genug brachten wechselnde flotte Bienchen die Filme zurück, die er sich bei Elli ausgeliehen hatte.

»Tolles Anschauungsmaterial. An den Film hatte ich gar nicht mehr gedacht«, sagte er mit anerkennendem Blick.

»Ist ja auch schon eine Weile her, dass er im Kino gelaufen ist«, räumte Elli versöhnlich ein. »Dennoch ein Klassiker.«

»Dass Sie die Stelle so schnell gefunden haben«, wunderte sich Norbert.

»Ich kenne Zeit der Unschuld in- und auswendig. Er ist einer meiner Lieblingsfilme«, gestand Elli schwärmerisch.

»Solche Rollen möchte jeder, aber oft kommt das Wesentliche einfach nicht rüber. Man merkt, dass die Schauspieler den Part spielen.«

Damit hatte Norbert recht. Viele Schauspieler, vor allem hierzulande, spielten eine Rolle eher mechanisch, anstatt vollends in sie hineinzuschlüpfen, sie zu leben. Daniel D. Lewis dagegen konnte das mit Bravour. Vermutlich eine Frage der Berufung. Was hatte Norbert ihr nicht alles an Absurditäten aus dem Gruselkabinett der Schauspielkurse am Theater erzählt? Ob es wirklich etwas brachte, sich als angehender Schauspieler vorzustellen, man sei eine Orange, um sich möglichst authentisch als Frischobst auf einer Bühne vor dem Ausbilder zu präsentieren? Orangen schmeckten jedoch nur dann gut, wenn sie eine gewisse Reife hatten und auf fruchtbarem Boden angebaut worden waren. Elli war sich sicher, dass man die hohe Schauspielkunst sowieso nicht erlernen konnte. Talent, Persönlichkeit und Charisma gehörten nun mal einfach dazu.

Wie herrlich waren doch Fachsimpeleien aus der Welt des Kinos. Vielleicht mochte sie Norbert deshalb so gern, weil er sie an die Zeit erinnerte, als sie gemeinsam mit ihrem Mann Josef noch ein Kino geführt hatte. Was für spannende Momente. Prickelnde Filmpremieren an der Croisette. Cannes in den Siebzigern. Leinwandgötter zum Anfassen und Elli mitten im Getümmel. Einer Sophia Loren würde man auch heute noch alles abkaufen, vielleicht sogar die Rolle einer Orange.

»Ich lasse die Bewerber das morgen mal spielen«, sagte der Casting-Coach, dessen Optimismus, irgendwann doch einmal ein Toptalent zu entdecken, ungebrochen schien.

»Das macht dann drei fünfzig. Oder sechs Euro bis nächste Woche.« Elli überlegte, wer den Film wohl diesmal zurückbringen würde, als sie Norberts Mitgliedsausweis durch den Kartenleser der Computertastatur zog und ihm die DVD in einer Verleihhülle mit der Aufschrift »Movietime« überreichte.

»Was wäre ich nur ohne Sie?«

Charme hatte er ja, und sein Lächeln, mit dem er sich von ihr verabschiedete, war bezaubernd. Elli wünschte, sie hätte mehr solche nette und vor allem treue Kunden. Die Stammkundschaft war in den letzten Jahren auf kaum mehr als ein paar Dutzend Leute geschrumpft. Eine Videothek war angesichts der Programmvielfalt in den Kabelnetzen und per Satellit – vom Internet, wo man Filme bequem »on demand« auf Neudeutsch »downloaden« konnte, ganz zu schweigen – einfach nicht mehr zeitgemäß, noch dazu in einer Kleinstadt wie Rosenheim.

Wer hätte in den Sechzigern schon daran gedacht, dass ein Filmpalast jemals pleitegehen könnte? Es hatte ja nur zwei Kanäle im Deutschen Fernsehen gegeben und mehrere Jahre gedauert, bis man einen Kinofilm in den eigenen vier Wänden sehen konnte. Roter Teppich, ade! Keine Einladungen mehr von den großen Filmverleihern. Kein Buhlen mehr um die kleinen Kinobesitzer. Ganz im Gegenteil, die Distributoren hatten sie mit ihren Multiplex-Kinos regelrecht in den Ruin getrieben. Am besten gar nicht mehr daran denken, aber ausgerechnet heute lag Der letzte Kaiser in der Rückgabebox, in welche die Kunden die ausgeliehenen Filme auch nach Ladenschluss einwerfen konnten. Ein großartiger Film und zugleich der letzte, den sie und Josef in ihrem Kino gezeigt hatten. Auf der Suche nach der richtigen Stelle in der Regalwand hatte Elli schlagartig Bernardo Bertoluccis Meisterwerk vor Augen – leider auch eines der schwärzesten Jahre ihres Lebens: 1989. Sie hatten ihr Kino verkaufen müssen, und zwei Monate später war Josef einem Herzinfarkt erlegen.

Wenn doch nur ein Kunde hereinkommen würde, um mich auf andere Gedanken zu bringen, hoffte sie inständig. Nichts war schlimmer, als sich aus Mangel an Beschäftigung in der Vergangenheit festzufressen. Selbst eine telefonische Anfrage von jemandem, der nach einem bestimmten Film suchte, von dem er weder den Titel noch den Namen der Schauspieler kannte, würde sie jetzt sicher aufmuntern. Ein wandelndes Filmlexikon zu sein, gab einem zudem das Gefühl, noch gebraucht zu werden. Statt des erhofften Anrufs schob sich eine pathetisch dunkle Regenwolke über das Viertel, in dem ihr Laden lag, und machte den Tag zur Nacht – nahezu perfekt inszeniert. Das Telefon klingelte. Anscheinend hatte jemand über der Wolke ihr heimliches Stoßgebet erhört.

»Movietime, Sattler, guten Tag«, meldete sie sich wie immer betont freundlich.

»Morgen, Elli. Ich bin gerade im Ginos. Kommst du auf einen Kaffee vorbei?«, fragte sie die vertraute Stimme ihrer besten Freundin.

»Jetzt?« Warum um alles in der Welt wollte Frieda mit ihr um diese Uhrzeit Kaffee trinken? Sollte sie einfach so den Laden zusperren? Andererseits – vor zwölf kam wahrscheinlich sowieso niemand vorbei, und Friedas Einladung wirkte irgendwie dringlich.

Eine italienische Bar wirkte merkwürdigerweise auch dann noch einladend, wenn es aus allen Kübeln schüttete. Normalerweise würde Ginos überirdisch cremiger Cappuccino ihnen einen der gemeinsamen freien Sonntagnachmittage auf der sonnigen, palmgesäumten Terrasse versüßen. »Piazza-Feeling« pur. Italienisches Flair und gutes Publikum machten das Ginos zu einem der beliebtesten Cafés am Ort. Elli hatte sich schon oft gefragt, warum es sie dort Woche für Woche hinzog. Aus purer Nostalgie? Waren es gute Erinnerungen an die zahlreichen Italienurlaube in ihrer Kindheit?

Gino hatte da eine ganz andere Theorie. »Du hast in einem früheren Leben schon mal in Italien gelebt«, erklärte er ihr, felsenfest davon überzeugt. Auch Frieda hatte ihr bestätigt, dass sie mit ihren 1,65 Metern, den gelockten Haaren und den braunen Augen jederzeit als »Italo-Braut«, wie ihre Freundin sie wörtlich genannt hatte, durchgehen konnte. Angesichts des Wolkenbruches fühlte sie sich im Moment aber eher wie ein begossener deutscher Pudel. Da gab es nur eines: im Slalom und im Tempo einer Rosi Mittermaier auf Medaillenkurs so schnell wie möglich hinein in die Kaffeebar. Geschafft, doch auch im Innenbereich war kein Hauch mehr von »Bella Italia« zu spüren. Abgesehen von einem Geschäftsmann, der eifrig auf der Tastatur seines Notebooks herumtippte, war nur noch Frieda im hinteren Restaurantbereich ausfindig zu machen.

»Morgen, Elli«, begrüßte ihre burschikos wirkende, pummelige beste Freundin sie. Friedas ungewöhnlich ernste Miene erweckte den Eindruck, also könnte sie selbst ebenfalls Aufmunterung gebrauchen.

»Was ist denn mit dir los? Du schaust ja aus wie schon mal gegessen.«

»Am besten, du setzt dich«, erwiderte Frieda mit bedeutsamem Unterton.

In einem schlechten Film würde angesichts von Friedas Leidensmiene jetzt der Moment nahen, in dem ihr die Freundin eröffnete, dass sie an einer unheilbaren Krankheit litt oder dass ihr Ehemann sie verlassen hatte. Elli hoffte inständig, in einem guten Film zu sein, doch Friedas nervöses Spiel mit der Kaffeetasse ließ nichts Gutes ahnen.

»Remy …«, seufzte Frieda schwermütig.

»Ist die nicht gerade in Wien?«

Frieda schüttelte nur den Kopf. »Schlaganfall. Muss ganz schnell gegangen sein.«

Elli war froh, dass sie sich bereits gesetzt hatte. Mittlerweile tauchte Gino, ein quirliger Italiener in ›Tom-Cruise-Größe‹ und mit nach hinten gegeltem Haar, neben ihr auf.

»Elli, bella, was darf ich Ihnen bringen? Das Übliche?«

»Zwei doppelte Cognacs bitte.«

Frieda gab die Bestellung auf – entgegen ihrer Gewohnheit die richtige Wahl, stellte Elli fest. Einen Cappuccino hätte sie im Moment sowieso nicht heruntergebracht.

Ginos zwar völlig unangebrachtes, aber wie immer strahlendes Lächeln tat trotzdem gut. »Sehr wohl.«

»Wahrscheinlich war’s die Sachertorte«, fuhr Frieda fort.

»Was hat Remys Schlaganfall mit einer Torte zu tun?«

»Erinnerst du dich … letzte Woche beim Kegeln? Was hat sie sich auf diese Kalorienbombe gefreut. Tönt noch rum, dass sie für ein Stück original Sacher sterben würde. Das hat jemand da oben wohl in den falschen Hals bekommen.«

Elli erinnerte sich noch allzu gut an Remys Vorfreude. Sie hatte mit ihnen den Gewinn einer Wien-Reise gefeiert und sich tatsächlich mehr auf den Kuchen als auf den Prater gefreut.

»Stell dir das mal vor. Du erfüllst dir quasi einen Lebenstraum, und kaum hast du die Torte im Ranzen, kippst du vom Stangerl.«

»Das ist nicht dein Ernst? Im Sacher?«

Frieda nickte. »Sie mussten Remy zu fünft rausschleppen.«

»Jetzt hör aber auf …« Wie konnte Frieda sich angesichts des Ablebens ihrer Freundin nur über deren Übergewicht lustig machen?

»Nein, es stimmt. Ich weiß es von ihrer Nichte.«

»Die arme Remy! Sie war doch noch so jung«, sinnierte sie.

»Na ja, vierundsechzig … Mach dir mal nichts vor, Elli. Die Uhr tickt.«

»Jetzt übertreibst du aber. Außerdem sind wir beide nicht übergewichtig.«

Kaum war der Satz ausgesprochen, kamen ihr erste Zweifel, ob Frieda nicht vielleicht doch recht hatte. Fakt war, dass sich ihr Freundeskreis in den letzten Jahren deutlich dezimiert hatte. Der Sensenmann ging um und hatte sich nicht nur den Bekanntenkreis gekrallt, der ihr nach Josefs Tod geblieben war, sondern trieb nun auch noch in ihrem engsten Freundeskreis sein Unwesen. Aus dem achtköpfigen Kegelclub war in den letzten zwei Jahren ein illustres Quartett geworden, bestehend aus Frieda, Remy, einer Studentin Mitte zwanzig namens Steffi, die immer wieder mal einsprang, und ihrer Wenigkeit.

»Außerdem sind die anderen auch nicht an Altersschwäche oder irgendwelchen Verfallserscheinungen gestorben«, sagte sie zu Frieda. »Zwei Autounfälle, ein Absturz beim Bergwandern und einmal Oberschenkelhalsbruch mit anschließender Sepsis im Krankenhaus«, fügte Elli noch hinzu.

»Wobei Alvin sicher nicht in den Graben gefahren wäre, wenn er nicht auf der Fahrt zu seinem Scheidungstermin einem Herzinfarkt erlegen wäre«, stellte Frieda leicht rechthaberisch klar.

Nun gut, das stimmte. Dennoch erfüllten Elli die ungewöhnlich zahlreichen Abschiede von Freunden in ihrem Alter mit einem gewissen Schaudern. Wer weiß, vielleicht war sie ja in eine Fortsetzung von Final Destination geraten, wobei sie sich nicht daran erinnern konnte, den Tod jemals überlistet zu haben und seither von ihm verfolgt zu werden.

»Die Beerdigung ist morgen früh um zehn«, unterbrach Frieda ihre Gedanken.

Elli nickte und gurgelte den aufsteigenden Kummer erst einmal mit einem ordentlichen Schluck von Ginos Cognac herunter.

Elli nahm sich vor, den Rest des Tages einfach abzuhaken. Remys überraschender Abschied lag ihr immer noch bleischwer im Magen und sorgte an dem verregneten, aber dank des Unwetters immerhin kundenfreien Nachmittag für die ideale Grundlage, um an ihre gemeinsame Zeit zurückzudenken. Letzteres schwor eine Tristesse herauf, die Elli an sich weder kannte noch schätzte. Remy, die Frieda an der Volkshochschule in einem Kochkurs kennengelernt hatte, war der Neuzugang im Kegelclub gewesen. Trotz ihrer üppigen Rundungen, die ihr den Spitznamen »Kegelkügelchen« eingebracht hatten, hatte sie sich im Team bewährt – menschlich wie auch (erstaunlicherweise) sportlich. Was würde jetzt nur aus ihrem Kegelabend werden? Zu dritt ja nicht gerade eine Spaßveranstaltung. Was musste Remy auch den Löffel abgeben?

Die quälende Frage nach dem Warum war aber selbst nach stundenlanger Grübelei, die sich nicht mal durch die beschäftigungstherapeutisch durchaus sinnvolle Generalreinigung der DVD-Regale abstellen ließ, nicht zu beantworten. Allerdings hatte sie den angenehmen Effekt, dass Elli sich ganz nebenbei Gedanken darüber machte, woher die Redewendung mit dem Löffel wohl stammte.

Recherchen waren neben Putzen erfahrungsgemäß die ideale Beschäftigung, um sich abzulenken. Wenn man den Quellen im Internet trauen durfte, hatten im Mittelalter weniger wohlhabende Menschen angeblich immer und überall ihren eigenen Löffel dabei, den sie kurz vor ihrem Tod an jemand anderen weitergaben. Erstaunlich, dass sich diese Tradition anscheinend auch in Ellis eigener Familie in Form eines goldenen Teelöffels, der ihrer Mutter gehört hatte, fortsetzte. Auch sie hatte den Löffel kurz vor ihrem Tod weitergegeben – sozusagen als Glücksbringer –, zumindest war sie davon überzeugt gewesen, dass er ihrer Tochter Elli Glück bringen würde. Nun lag er eingewickelt in einem seidenen Tuch in der Wohnzimmerschublade. Hatte der Löffel ihr tatsächlich Glück gebracht? Um diese Frage eingehend zu beleuchten, blieb ihr kurz vor Ladenschluss aber Gott sei Dank keine Zeit mehr. Der allwöchentliche Besuch im Altenheim stand an, und ihre »Cineastengruppe« schätzte es ganz und gar nicht, wenn man unpünktlich war.

Warum um alles in der Welt hatten Altenheime in der Regel Namen, die allesamt Frieden und Harmonie an einem paradiesischen Ort suggerierten? »Seniorenheim Sonnenhain« klang doch sehr vielversprechend. Laut Prospekt war es direkt an einer Parkanlage gelegen, jedenfalls durch die Linse des Profifotografen betrachtet, der es irgendwie geschafft hatte, einen Zipfel Grün mit auf das Bild zu schmuggeln. Dass sich die Anlage direkt an einer stark befahrenen Hauptstraße befand und der gegenüberliegende Minipark eigentlich ein Bolzplatz für lärmende Kinder war, ging aus der Hochglanzbroschüre natürlich nicht hervor. Immerhin hatte dieses Altenheim den Vorteil, dass man jederzeit, ohne lange suchen zu müssen, einen Parkplatz fand.

Heute stand für Ellis Publikum Verdammt in alle Ewigkeit auf dem Programm, der Klassiker mit Burt Lancaster und Montgomery Clift – auf besonderen Wunsch der nicht mehr ganz so mobilen Cineastenrunde, die sie einmal pro Woche, mit Beamer und einem mobilen DVD-Player ausgestattet, versorgen durfte. Als Elli den Wagen parkte und die Stufen des altehrwürdigen Sandsteingebäudes hinaufeilte, machte sie sich klar, dass sie für diesen Nebenjob dankbar sein musste. Letztlich hatte sie es Frieda und ihren guten Kontakten zur Stadtverwaltung zu verdanken, dass sie für ihr mobiles Kino monatlich einen kleinen Zuschuss bekam. Ein paar hundert Euro nebenbei konnten angesichts der eher mauen Einnahmesituation der Videothek nicht schaden. Einen Film vor Publikum vorführen zu dürfen, erinnerte sie zudem an ihre persönlichen Gründerjahre, als sie mit Josef ihr erstes Kino eröffnet hatte. Ein gutes Gefühl, ein Hauch von wärmender Nostalgie, den ihr selbst die kahlen Wände des schier endlos langen Ganges, der zum Gesellschaftsraum führte, nicht nehmen konnten.

»Alles Lüge! Alles Lüge!«, keifte eine mindestens achtzigjährige Frau, die mit ihrem Rollator im Morgenmantel und in überdimensional großen Pantoffeln wie aus dem Nichts aus einem der Zimmer auf sie zuschoss.

Elli zuckte förmlich vor Schreck zusammen.

»Die wollen doch nur mein Geld«, fügte die alte Dame noch hinzu.

Jetzt nur keinen Blickkontakt zulassen! Die Bewohnerin aus Zimmer 115 würde sie sich sonst schnappen und in ein endlos langes Gespräch verwickeln. Am Ende würde sie noch zu spät zur Filmvorführung kommen. Panisch beschleunigte Elli ihre Schritte, doch die Frau war dank ihres Turbo-Rollators schneller als gedacht.

»Zu Besuch?«

»Nein, ich zeige hier einen Film.«

»Einen Film?«, wollte die alte Dame wissen. Offenbar war das Kulturprogramm des Sonnenhains bisher an ihr vorbeigegangen. Vielleicht interessierte sie sich ja aber auch nicht für Kino.

»Ja, Verdammt in alle Ewigkeit. Sie sind herzlich eingeladen.« Kaum war der Satz ausgesprochen, hätte sich Elli am liebsten auf die Zunge gebissen.

»Ja, man ist verdammt … aber Gott sei Dank nicht bis in alle Ewigkeit.« Nun fing die Frau auch noch an zu kichern. Nein, es war vielmehr eine überraschend fiese Lache.

»Hören Sie, ich bin in Eile …«

»Eile mit Weile.« Wieder ein Kichern, und obwohl Elli mittlerweile im Stechschritt den Gang entlangeilte, hatte sie keine Chance, die Alte abzuhängen.

»Das ganze Geld hab ich ihm gegeben. Und was ist der Dank? Mein Sohn besucht mich nicht einmal.«

Die Ärmste! Elli konnte nicht anders, als stehen zu bleiben.

»Das tut mir leid. Vielleicht bringt der Film Sie ja auf andere Gedanken.«

»Firlefranz! Sie haben nicht zufällig Schokolade dabei?«

Hieß es nicht Firlefanz? Demenz? Verkalkung? Auf alle Fälle war dies Zeichen einer extrem kurzen Leine. Noch nicht einmal Schokolade war den Leuten im Alter vergönnt, jedenfalls nicht im Sonnenhain.

»Ich bekomme keine. Diabetes.«

Das erklärte natürlich einiges. Elli fiel ein Stein vom Herzen, das schlechte Gewissen hingegen, weil sie die ältere Dame zu einem wahren Spurt über den Gang veranlasst hatte, wurde sie nicht los. Zumindest ein teilnahmsvolles Lächeln wäre jetzt angebracht. Ein Lächeln, das die Frau sofort erwiderte – voller Melancholie und mit einer ordentlichen Portion Traurigkeit in den Augen.

»Wissen Sie, manchmal wünsche ich mir, einfach nicht mehr da zu sein.«

»Aber Sie sind doch noch recht rüstig.« Zum zweiten Mal in Folge wünschte sich Elli, sich rechtzeitig auf die Zunge gebissen zu haben. Dämlicher und unsensibler hätte sie darauf kaum antworten können.

»Wie alt sind Sie denn, wenn ich fragen darf?«

»Neunundachtzig Jahre«, erwiderte die Frau.

»Und wie lange sind Sie schon hier?«

»Viel zu lange … eindeutig zu lange.«

Der traurige Blick der Alten traf Elli mitten ins Herz.

»Ich bin schon wieder so müde.«

»Kommen Sie, ich begleite Sie zurück auf Ihr Zimmer«, bot Elli spontan an.

»Nein, nein, Sie haben es doch eilig. Ich schaffe das schon.«

Was tun? Elli war hin- und hergerissen zwischen Termindruck und Hilfsbereitschaft oder vielmehr ihrem schlechten Gewissen.

»Ich bin die Rosemarie.«

»Elli«, stellte sie sich vor und reichte der Frau die Hand.

Die Art, wie Rosemarie an ihrer Hand Halt suchte, schenkte Elli sehr viel Wärme, und zugleich stieg die altbekannte Panik in ihr auf, nicht so enden zu wollen wie die Menschen hier. Nicht an einen Rollator gefesselt in irgendeinem Altersheim, das sich direkt an einer Hauptverkehrsstraße befand, nicht mit Todessehnsüchten und von Einsamkeit geplagt.

Nein! Filmvorführung! »There’s no business like showbusiness.« Hatte Josef das nicht immer gesagt und, verdammt noch mal, hatte er damit nicht recht?

»Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Nichts wie weg!

Montgomery Clifts Trompetensolo war atemberaubend. So ein gut aussehender Mann und dann noch diese Schmachtszene, der Klassiker schlechthin: Deborah Kerr und Burt Lancaster küssend am Strand, umspült von ungezügelt tänzelnden Schaumkronen der Urgewalten des Pazifiks. Sie lässt sich mit ihrem Nimm-mich-Blick in den Sand fallen. Er steht breitbeinig über ihr – so ein Macho! –, kniet nieder und küsst sie schließlich mit alles dahinschmelzender Leidenschaft. »Niemand hat mich bisher so geküsst wie du«, sagt Deborah daraufhin mit einer Inbrunst, die selbst Polareis zum Schmelzen bringen könnte.

Verdammt in alle Ewigkeit – warum hieß der Film eigentlich so? From here to Eternity, wie der Originaltitel lautete, schien übersetzt ebenfalls keinen Sinn zu ergeben. So war Elli als einfache Zuschauerin im Saal mit etwa drei Dutzend über Achtzigjährigen damit zufrieden, den Sinn darin zu sehen, dass eine solche Leidenschaft zwangsläufig zu ewiger Verdammnis oder zumindest in eine Ehe führen würde.

Josef hatte sie so geküsst. Zwar nicht am Pazifik, aber immerhin am Strand von Nizza. Zwei von der Sonne aufgeheizte Körper waren füreinander bestimmt gewesen, und der Moment, als sich ihre Lippen berührten, hatte in Ellis Erinnerung die Urgewalt eines ausbrechenden Vulkans. Wie weich und dennoch fordernd seine Lippen geschmeckt hatten. Wie sie am ganzen Körper wie Espenlaub zu beben begonnen hatte. Nun ja, zugegebenermaßen hatte sie sich all das während seines eher plumpen Annäherungsversuches lebhaft in ihrer Phantasie vorgestellt – ein einfacher Trick, um mehr aus dem Leben herauszuholen.

Vorbei! Vergangenheit! Nun war sie sechzig! Ein bisschen angewelkt, allein, allein und nochmals allein. Immerhin hatte sie Frieda, nach Remys Abgang noch ein Kegeltrio – Steffi mit eingerechnet – und eine Videothek, die mehr schlecht als recht lief, ihr aber immerhin gelegentlich nette Kundschaft bescherte. Ein besseres Schicksal als das von Rosemarie. Musste sie dafür nicht sogar dankbar sein? Elli war sich nicht ganz sicher. Andererseits – konnte sie mit Sicherheit sagen, dass sie nicht eines Tages selbst in einem Alten- oder, noch schlimmer, in einem Pflegeheim versauern würde? Sich wie Rosemarie den Tod herbeizuwünschen, war das nicht schrecklich?

»Frau Sattler?« Das war unverkennbar die Stimme von Anna Trautmann. Dass die Heimleiterin sie während der Filmvorführung störte, war äußerst ungewöhnlich. Was wollte Frau Trautmann wohl von ihr? »Kann ich Sie mal für einen Moment sprechen?«

Ausgerechnet jetzt. Andere mitten in einem guten Film zu stören, zählte zu den Dingen, die Elli ganz und gar nicht schätzte. Der Imperativ in der Stimme der Heimleiterin war jedoch kaum zu überhören. Was blieb ihr da anderes übrig, als sich wunschgemäß mit der »Finanzierungsquelle« in das dazugehörige Büro zu verziehen?

»Einen Kaffee vielleicht?« Frau Trautmann fuchtelte bereits an der Kaffeemaschine herum, dem einzigen Deko-Highlight in dem ziemlich schmucklos eingerichteten Büro.

Um die Zeit? Elli wusste, dass sie nach einer Tasse Kaffee zu so später Stunde die halbe Nacht über senkrecht im Bett stehen würde. Immerhin war nun klar, dass eine unangenehme Nachricht auf sie wartete.

Die Heimleiterin, die Elli in dem blauen Kostüm an eine in die Jahre gekommene überschminkte Avon-Beraterin erinnerte, ließ sie nicht lange zappeln. »Frau Sattler, Ihre Vorführungen kommen bei den Bewohnern gut an, darüber müssen wir gar nicht reden. Es ist nur so: Die weitere Finanzierung erweist sich als problematisch.«

»Aber das Kulturreferat hat doch …«, versuchte Elli zu protestieren.

»Das Kulturreferat hat leider den Geldhahn zugedreht. Ich war gestern auf dem Gemeindeamt. Die Stadtkasse ist leer. Es tut mir sehr leid, aber ich fürchte, daran lässt sich nicht rütteln.«

Oje! Keine Filmvorführungen mehr, weder im Sonnenhain noch auf Jugendfreizeiten oder städtischen Feiern, überlegte Elli auf dem Weg zurück in den Gemeinschaftsraum. Kein Publikum mehr. Niemand, dem sie ein maßgeschneidertes Angebot für einen unterhaltsamen Filmabend unterbreiten konnte. Dass sie künftig am Monatsende ein paar hundert Euro weniger in der Tasche haben würde, kam ja noch erschwerend hinzu. Dabei hatte sie sich erst vor kurzem diesen sündhaft teuren Beamer gekauft.

Ich werde ihn bei eBay einstellen, kam ihr spontan in den Sinn, als sie das Gerät nach der Vorführung zurück in die Transportbox stellte. Wie sich die Dinge im Leben doch immer wiederholten. Josef und sie hatten ihr Lichtspieltheater seinerzeit ebenfalls zu einem Spottpreis veräußern müssen.

»Der Film war sehr schön«, riss sie eine Stimme aus den Gedanken.

War das nicht Rosemarie? Tatsächlich. Die alte Frau hatte sich offenbar doch noch zur Vorführung aufgerafft.

»Welchen Film bringen Sie denn das nächste Mal mit?«, wollte ein Rentner wissen, der immer in der ersten Reihe saß.

Angesichts der positiven Resonanz war nicht daran zu denken, den Zuschauern die Wahrheit zu sagen. Ein Blick in die erwartungsfrohen Augen dieses Mannes genügte Elli, um eine Blitzentscheidung zu treffen, und sie nahm sich vor, zumindest die Kinoabende im Sonnenhain unentgeltlich fortzuführen.

»Mal sehen. Auf alle Fälle einen guten Film.« Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Der Mann nickte zufrieden und schloss sich dem träge auf den Ausgang zutrappelnden Pulk der anderen Heimbewohner an.

Zapp! Zapp! Zapp! Anders als mit der TV-Fernbedienung konnte Elli ihrer inneren Unruhe und Rastlosigkeit nicht begegnen. Ablenken um jeden Preis. Dazu ein Gläschen Wein und auf die bald einsetzende bleierne Müdigkeit hoffen. Remy weg, Kunden weg, mobiles Kino weg. Was für ein toller Tag! Irgendeine wohltuende Natur- oder Tierdokumentation müsste auf den vielen Kanälen doch aufzutreiben sein. Nichts war beruhigender, als Buckelwalen beim Schwimmen zuzusehen. Eine Hai-Doku täte es allerdings auch. An Tagen wie diesem musste man Kompromisse eingehen. Mal sehen!

ARD: Eine Podiumsdiskussion über eine weitere Erhöhung des Rentenalters. Mit achtzig noch in der Videothek? Ob sie sich dann nach den Filmen in den unteren Regalen überhaupt noch ohne zu ächzen würde bücken können? Zapp! ZDF: Zulassung von Diabetestabletten, von denen man angeblich Juckreiz bekam. Um Gottes willen! Unwillkürlich musste Elli sich am linken Ohr kratzen. Zapp! SAT 1: Randale auf den Straßen Berlins. Gut zu wissen, dass in Rosenheim die Welt noch in Ordnung war. Zapp! RTL: Komasaufen bei Dreizehnjährigen. Sofort beäugte Elli ihr inzwischen nachgefülltes Weinglas und fragte sich schmunzelnd, ob sie sich mangels Trinkfestigkeit mit zwei Gläsern Wein etwa auch schon ins Koma trinken würde. Zapp! RTL2: Ölpest.

Zapp, zapp, zapp! Schnell zu den Doku-Kanälen wechseln! Doch auch dort Fehlanzeige: Ein Philosoph äußerte sich in einer Diskussionsrunde über den Werteverfall in der Gesellschaft und die beunruhigend stark zunehmende Debilisierung der Jugend. Zapp! Auf ARTE ging es um die Ausbreitung des Islams in der westlichen Welt, was Elli auf die Idee brachte, noch ein paar weitere türkische Filme in Originalsprache in ihr Sortiment aufzunehmen. Zapp! Drohende Staatspleite, Renten nicht mehr sicher. Zapp! Laut NTV stand die Welt am Rande des Abgrunds – Klimakatastrophe, drohende Wasserknappheit und Überbevölkerung, Bedrohung durch Meteoriten, die schon die Dinosaurier ausgelöscht hatten. Das waren ja richtig goldene Aussichten. Zapp! Werbung für ein Online-Dating-Portal, wo man angeblich die große Liebe fand, und gleich danach die unverblümte Aufforderung, sich per Internet auf einen Seitensprung einzulassen. »Rufen Sie uns an!« Abartig! Fehlte nur noch, dass der Sender gleich im Anschluss eine gebührenpflichtige Rufnummer für eine auf Scheidungen spezialisierte Anwaltskanzlei einblendete. »Mit Anwalts Liebling können Sie sich jeden Seitensprung leisten.«

Wenig Ersprießliches, wohin sie auch durch das virtuelle Auge des Fernsehers in die Welt blickte. Kasten aus!, beschloss Elli. Weinglas in einem Zug leer trinken, ob Koma oder nicht! Schlaftablette einwerfen – eine halbe würde wohl reichen – und auf den erlösenden Moment des Wegnickens hoffen. Elli tröstete sich auf dem Weg ins Schlafzimmer mit dem Gedanken, dass Tage wie dieser eher die Ausnahme waren. Trotzdem wollte sie für heute nichts mehr sehen und hören und stattdessen lieber noch ein bisschen von Montgomerys Trompetensolo träumen. Nichts war schöner und entspannender als ein angenehmer Traum.

Als Elli der Mittfünfziger in Trenchcoat und Hut an einem der Gräber im ersten Seitengang des Friedhofs auffiel, fühlte sie sich sogleich an einen Agententhriller erinnert. Kein Zweifel: Der Mann suchte Deckung hinter einem Busch und schien jemanden zu beobachten. Orson Welles hätte es nicht besser inszenieren können. Elli, nun ebenfalls hinter einem Grabstein außer Sichtweite, folgte seinem Blick und entdeckte das Objekt seiner Begierde: eine Mittfünfzigerin, die gerade an einem Grab herumrechte und hier und da Unkraut herauszupfte.

Der Klassiker schlechthin! Stichwort Dating auf dem Friedhof. Mit Sicherheit handelte es sich bei der Frau um eine Witwe, die ihr Trauergewand bereits abgelegt hatte. Das Kleid mit Blumenmuster sprach Bände. Der Mann war vermutlich ein Witwer, der Ausschau nach einer neuen Partnerin hielt. Frieda hatte wohl recht. Ein Friedhof war wirklich die beste Kontaktbörse für bindungswillige ältere Damen und Herren. Ein Jahr nach Josefs Tod hatte Frieda ihr sogar eingeredet, sie solle sich täglich mindestens dreimal um das Grab kümmern und dabei unauffällig Ausschau nach »neuen Optionen« halten. Wo sonst könne man Männer treffen, die ihrer Frau bis zu deren Ableben treu geblieben waren? Die »goldenen Witwer«, wie Frieda sie nannte, waren es gewohnt, in einer festen Partnerschaft zu leben, und das Alleinsein fiel ihnen sicher schwer. Das fing ja schon beim Hemdenbügeln an.

»Der ist doch schon seit Wochen auf die Blondine scharf.« Friedas Stimme kam wie aus dem Nichts!

Elli erschrak sich fast zu Tode. »Willst du mich umbringen?« Erst einmal tief Luft holen, um den Puls wieder in den grünen Bereich zu befördern.

»Er wird warten, bis sie fertig ist, und dann ganz nebenbei und natürlich rein zufällig an ihr vorbeischlendern.«

Gesagt, getan. Auf halbem Weg schenkte »der dritte Mann« der Frau in dem geblümten Kleid ein Lächeln, das sie zwar erwiderte, aber dann ging sie doch leicht verunsichert weiter und ließ »Mister Geheimagent« ratlos und mit hängenden Schultern zurück.

»Wie kann man sich nur so dumm anstellen?«, mokierte Frieda sich.

»Ich wüsste auch nicht, wie ich einen Trauernden ansprechen sollte. Mal abgesehen davon, dass mir so etwas gar nicht in den Sinn käme.«

»Da fragt man eben nach einem Rechen oder ob man sich mal kurz die Gießkanne ausleihen darf. Man kann auch den Friedhofsgärtner loben oder gemeinsam darüber nachdenken, welche Bepflanzung sich am besten für ein Grab mit Wetterseite eignet. Ich kenne sogar eine Frau, die sich nach der Scheidung von ihrem Mann einen Hunderterpack Grablichter gekauft und sich hier förmlich eingenistet hat«, trug Frieda auf dem Weg zu Remys Beisetzung vor, die am anderen Ende der begrünten Anlage stattfand.

»Also ich wollte damals auf dem Friedhof immer allein sein«, sagte Elli darauf nur.

»Du bist ja auch ein Sonderfall.«

»Warum das denn?«

»Ich kenne niemanden, der so vielen interessanten Männern eine Abfuhr erteilt hat wie du.« Frieda klang bestimmt.

»Ich brauche keinen Mann. Ab einem gewissen Alter kann man sich einfach nicht mehr anpassen. Der Zug ist abgefahren.«

»Das redest du dir nur ein. Die Wahrheit ist doch, dass dir nach Josef keiner mehr gut genug war.«

»Blödsinn!«, protestierte Elli vehement.

»Du wartest auf den großen Moment, so wie damals in Nizza, als Josef seinen kinoreifen Auftritt hingelegt hat. Gut, ein Heiratsantrag auf Knien mitten auf einem Filmempfang in einer von Pinien gesäumten Villa und dabei auch noch Beifall und Glückwünsche von der Loren persönlich zu ernten – davon würde ich wohl auch zeit meines Lebens zehren«, seufzte Frieda, die natürlich nur Ellis leicht übertriebene offizielle Version von Josefs Heiratsantrag kannte.

»Was ist so verkehrt daran, auf den Richtigen zu warten?«

»Man bleibt allein!«, schoss es aus Frieda heraus.

Elli schluckte, und zugleich fragte sie sich, ob sie in den letzten Jahren einen Mann an ihrer Seite vermisst hatte. Die Antwort lautete Nein. Nur komischerweise fühlte sich dieses Nein erstaunlich wenig resolut an. Schnell diesen Gedanken beiseiteschieben. Immerhin waren sie hier, um Remys Beisetzung beizuwohnen.

»So, Ihr Bienenstich. Der ist heute besonders lecker«, pries die Bedienung die Kalorienbombe, die sie Elli auf einem biederen Teller mit Blümchenmuster vor die Nase setzte, an.

Blümchen überall. Auch auf der Tischdecke, in den Porzellanvasen, auf den Bildern an der Wand und sogar auf der Speisekarte. Vermutlich gehörte dies zur Strategie des an den Friedhof angrenzenden Restaurants, um die Trauergäste ein wenig aufzuheitern. Das war er also. Bienenstich Nummer fünf auf Beerdigung Nummer fünf. Zur Auswahl stand diesmal zwar auch noch ein Nusszopf, aber der pappig süße Kuchen mit karamellisierter Mandelschicht durfte einfach bei keinem Leichenschmaus fehlen. Warum das so war, wäre durchaus eine Recherche wert, aber danach war Elli im Moment nicht zumute.

Angeblich hatte der Leichenschmaus – was für ein furchtbares Wort – eine psychosoziale Bedeutung, zumindest hatte sie diese Behauptung vor Jahren in einer Talkshow aufgeschnappt. »Sagt Ja zum Leben«, sollte mit dieser makaberen Nahrungsaufnahme signalisiert werden. Zu dumm, dass Remy evangelisch gewesen war. Die Protestanten begnügten sich nämlich, ganz nach der puritanischen Tradition, mit staubtrockenem Kuchen, meistens mit Hefezopf. Der machte satt und war obendrein günstig. So ein Bienenstich dagegen grenzte bei den Protestanten wahrscheinlich bereits an Ketzerei. Bei den Katholiken gab es meistens etwas Deftiges, vor allem hier in Bayern. Warum man mit dem Verzehr von Gerichten aus totem Schwein das Leben bejahte, wollte Elli allerdings beim besten Willen nicht einleuchten.

Immer noch starrte sie auf die mit einer schwarzen Schleife umwickelte Kerze, die auf dem Tisch vor ihr stand. Das Personal hatte an diesem Tag gleich zwei Trauergesellschaften zu bedienen, wobei man ihre Gruppe, die gerade mal aus drei Personen bestand, eigentlich gar nicht als Gesellschaft bezeichnen konnte. Der Bienenstich auf ihrem Teller schien Elli regelrecht anzuflehen. »Nun iss mich endlich. Die anderen«, damit meinte das süße Teil wohl Frieda und Remys Nichte Christine, »tun das ja auch.«

Elli wurde schon beim Anblick schlecht. Bienenstich war sicherlich dazu gedacht, einem bleischwer im Magen zu liegen, vermutlich um die Tragik des Begräbnisses auch körperlich einzuzementieren. Seit einigen Jahren mied Elli die Kuchenecke beim Bäcker. Schon allein der Anblick eines dieser pappsüßen Teile war ihr zu viel. Trotzdem nahm sie sich vor, den Kuchen heute zu essen, ganz bewusst. Vielleicht sollte sie ein Testament aufsetzen und explizit darauf bestehen, dass es bei dem Essen im Anschluss an ihre Beerdigung keinen Bienenstich gab. Rein damit! Remy zuliebe. Schließlich war sie eine Süße gewesen – im wahrsten Sinne des Wortes.

»Es ist so unwürdig«, brach es urplötzlich aus Christine hervor, einer hübschen Frau mit blondem, glattem Haar, das sie dem Anlass entsprechend streng zu einem Dutt zusammengefasst hatte. »So unwürdig!«, schluchzte sie.

Frieda legte tröstend eine Hand auf den Arm von Remys einziger noch lebenden Verwandten. »Du hast ja so recht!«

Und wie recht Christine hatte. Eine Beerdigung, bei der der Urnenträger nicht aufzufinden war, hatte tatsächlich etwas Skurriles. Geschlagene zehn Minuten hatten sie vor Remys Urne gewartet, die ein Friedhofsangestellter einfach auf dem Boden abgesetzt hatte. Erst als Remys Nichte die Friedhofsleitung rebellisch gemacht hatte, stellte sich ein provisorischer neuer Urnenträger ein – der Azubi des Friedhofsgärtners, wie sich später herausstellen sollte. Völlig überfordert und vermutlich von der Friedhofsleitung falsch informiert, hätte er um ein Haar Remys sterbliche Überreste auch noch im falschen Grab versenkt.

»Ich muss mich frisch machen«, seufzte Christine und zog sich mit verweintem Gesicht in Richtung Toiletten zurück.

Nun fing Frieda wieder an, mit ihrer Kaffeetasse zu spielen, und ließ den Zeigefinger über den Rand kreisen. Das machte sie immer, wenn ihr irgendetwas auf der Seele brannte.

»Elli … Ich …«

»Ich weiß. Sie fehlt mir auch«, gab Elli ihr mit tröstendem Blick zu verstehen.

Überraschenderweise schüttelte Frieda den Kopf. »Das ist es nicht.« Sie sah Elli aus traurigen Augen an. »Ich muss morgen nach Frankfurt.«

Elli stutzte. Was konnte daran so schlimm sein, nach Frankfurt zu fahren? Vermutlich wollte Frieda ihre Tochter besuchen.

»Andrea hat endlich wieder einen Job gefunden, in einer Werbeagentur.«

»Das ist doch schön«, freute sich Elli aufrichtig.

»Benny ist noch zu klein für den Kindergarten, und einen Krippenplatz bekommt sie so schnell nicht. Ich hab ihnen angeboten, zu ihnen zu ziehen. Jemand muss sich doch um den Kleinen kümmern.«

Angesichts dieser Neuigkeiten konnte einem selbst ein Stück Bienenstich im Halse stecken bleiben.

»Du ziehst weg?«

Frieda nickte bedeutsam. »Ich wollte es dir schon gestern sagen, aber irgendwie …«

Na prima, das war dann wohl das Ende ihrer Kegelabende! Aber was noch viel schlimmer war: Von nun an hieß es für Elli, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass sie fortan wirklich mutterseelenallein war.

Nur zwei Filme in der Rückgabebox, darunter auch Zeit der Unschuld. Dabei hätte Elli nur zu gern gewusst, mit welcher »talentierten« Nachwuchsschauspielerin Norbert momentan zusammen war. Vermutlich war der Film am Vormittag zurückgegeben worden, als der Laden wegen der Beerdigung geschlossen war. Noch vor wenigen Jahren hatte Elli schon eine Stunde vor Beginn der Öffnungszeiten alle Hände voll zu tun gehabt. Vierzig bis sechzig Filme galt es aus der Einwurfbox herauszufischen, sie in der Datenbank als zurückgegeben zu markieren und in die Regale einzuräumen. Heutzutage waren zehn Filme schon viel.

Ellis bisheriger Trumpf war einzig und allein ihr profundes Filmwissen. Eine Online-Videothek konnte niemanden wirklich gut beraten. Das Dumme an der Sache war nur, dass die meisten Kunden gar keine Beratung mehr brauchten. Nach »irgendwas mit Action« konnte man auch online Ausschau halten. Wer interessierte sich heute noch für cineastische Leckerbissen? Höchstens eingefleischtes Filmfestpublikum und ein paar Medienschaffende. Davon konnte sie aber nicht leben.

Ein Blick auf die Wanduhr: erst zwei. Die Regale waren mehrfach abgestaubt. Kein Kunde in Sicht. Was tun? Vielleicht einen Film ansehen? Noch nicht einmal dazu hatte Elli mehr Lust. Die Post!, fiel ihr schlagartig ein. Sie hatte den Briefkasten heute noch gar nicht geleert, und zu ihrer großen Erleichterung stellte Elli fest, dass er gut gefüllt war. Zahlreiche Werbesendungen, Rechnungen und der Katalog eines Bücherclubs waren darunter – es gab also einiges zu tun. Zwischen den Prospekten entdeckte sie einen Briefumschlag aus grauem Umweltschutzpapier. O Gott! Bestimmt ein Brief vom Finanzamt. Etwa eine Betriebsprüfung? Oder ein Vorauszahlungsbescheid? Korrespondenz auf Umweltschutzpapier beinhaltete eigentlich immer unangenehme Neuigkeiten.

Diesmal war es allerdings ein Schreiben von der Bank. Sie wollten ihr den Kredit kündigen? »Die Einnahmen lassen keine glaubhaft darstellbaren Perspektiven mehr für den Dispositionskredit erkennen«, las Elli fassungslos. Dann folgte noch die Aufforderung, die laufenden Kontokorrentkredite bis zum Monatsende zurückzubezahlen. Das war das Aus! Woher sollte sie dreißigtausend Euro nehmen? Selbst wenn alle ihre Stammkunden – immerhin hatte sie noch gut dreihundert Einträge in der Kartei – künftig jeden Tag mindestens zehn Filme ausliehen, wäre die Pleite unvermeidbar.

Kraftlos ließ sich Elli auf den kleinen Bürostuhl am Tresen sinken. So kurz vor der Rente, schoss es ihr durch den Kopf. Hätte sie die paar Jahre nicht noch durchhalten können? Was hatte sie bloß falsch gemacht? Das bevorstehende Szenario lief wie ein Film vor ihrem geistigen Auge ab: Privatinsolvenz. Noch sieben Jahre, die sie von Sozialhilfe würde leben müssen. Gerade mal dreitausend Euro auf dem Sparbuch als eiserne Reserve – mehr hatte sie nicht. Das bisschen Schmuck, das sich über die Jahre angesammelt hatte, würde nicht reichen, um die Schulden zu bezahlen.

Elli verabscheute Selbstmitleid, doch woran sollte sie noch Halt finden? Ihr Freundeskreis kegelte mittlerweile mit Ausnahme von Frieda im Himmel. Remy leistete ihnen bestimmt schon Gesellschaft. Frieda würde wegziehen. Mit Steffi, die sowieso nur ab und zu kurzfristig eingesprungen war, als Kegel-Duo weiterzumachen oder sich künftig allein ins Ginos zu setzen – das waren keine verlockenden Perspektiven. Von Perspektiven zu sprechen war ohnehin eine Beschönigung der Situation. Nein, es wäre das nackte Grauen! Wie sollte es nun weitergehen? Worauf sollte oder konnte sie sich überhaupt noch freuen? Etwa auf ein paar Jahre mit bestenfalls kümmerlicher Rente? Rosemarie erschien vor ihrem geistigen Auge. Allein in einem Wohnstift?

Mittlerweile saß Elli völlig in sich eingesunken da, und auf einen Schlag erschien ihr alles schwarz. Die Frage, warum es sich überhaupt noch lohnen könnte, weiterzumachen, pochte wie ein Dampfhammer in ihrem Kopf. Vermutlich würde es noch nicht einmal jemand bemerken, wenn sie nicht mehr da wäre. Manchmal tat es einfach nur gut, förmlich in Selbstmitleid zu zerfließen. Und wie es gerade floss. Rauslassen! Einfach rauslassen!

Ob Doro überhaupt zu ihrer Beerdigung kommen würde? Immerhin hatte sie ihre ältere Schwester seit acht Jahren nicht gesehen. Ein Stück Bienenstich für Doro? Am Ende schmeckte ihr der Kuchen auch noch. Elli stellte sich vor, wie Frieda und ihre Schwester sich beim Leichenschmaus schweigend gegenübersaßen. Die beiden hatten sich nie kennengelernt, und da es der Anstand gebot, über Verstorbene nicht schlecht zu reden, würde Doro wohl lieber gar nichts sagen. Was für absurde Gedanken!

Elli starrte vor sich hin, betrachtete die bunten Werbeprospekte, die sich vor ihr stapelten, als ob diese ihr die vielen Fragen beantworten könnten.

Moment! Da hatte sich ja noch ein Brief mit in den Packen geschmuggelt. Ein orangefarbenes, hochwertiges Kuvert lugte heraus, allerdings ohne Absender. Elli zog es hervor. Was für eine schöne Briefmarke – aus Italien. Ein handgeschriebenes Adressfeld, eine schöne Schrift, so schwungvoll und lebendig. Elli konnte den Brief nicht schnell genug aufreißen. Unterschrieben von einem Fabrizio Cavalaro. Wer ist das denn?, überlegte sie. Schlagartig keimten Erinnerungen an zahlreiche Urlaube auf Capri auf – mit ihren Eltern. Was waren das für unbeschwerte Zeiten gewesen. Die goldenen Sechziger, als die Ferieninsel noch eine Perle war, der Inbegriff für Bella Italia, voller Magie und Tummelplatz der Reichen und Schönen. Jedes Jahr hatten sie die Sommerferien dort verbracht, in einer kleinen Pension. Wie hatte sie noch gleich geheißen?

Elli schloss die Augen und stellte sich das Gebäude vor: ein schnuckeliges altes Haus, umgeben von Zitronenplantagen. Augenblicklich hatte sie den Duft der Früchte förmlich in der Nase. Natürlich! Fabrizio von Capri. Unglaublich! Das war der kleine Fischerjunge, mit dem sie und Doro als Kinder immer gespielt hatten. Fabrizio hatte ihr noch nie geschrieben. Eigentlich kannten sie sich ja überhaupt nicht – jedenfalls nicht als Erwachsene. Woher er wohl ihre Adresse hatte? Elli konnte den Brief nicht schnell genug aufreißen. Das Telefon klingelte. Egal, es sollte ruhig klingeln. Nichts war jetzt wichtiger als herauszufinden, was der ehemalige kleine Fischerjunge von Capri ihr mitzuteilen hatte.

 

Liebe Eleonore,

mein Brief wird Dich sicher überraschen. Ich hatte schon die Befürchtung, Dich nicht zu finden, aber es gibt einen Eintrag von Dir im Internet. Elisabeth hat mir immer wieder von Dir erzählt, von Deinen aufregenden Reisen und von Eurem schönen Kino. Deine Mutter war sehr stolz auf Dich. Du hast also tatsächlich Deinen Traum gelebt und das Kino zu Deinem Beruf gemacht. Wer kann das schon von sich behaupten? Elisabeth hat mir auch vom Tod Deines Mannes und dem Verkauf Eures Lichtspielhauses berichtet. Bei uns in Italien gibt es ebenfalls ein Kinosterben. Ich vermisse die gute alte Zeit. Erinnerst Du Dich noch an den Film Cinema Paradiso?

Leider kann man die Uhr nicht zurückdrehen. Man muss nach vorne blicken, deshalb schreibe ich Dir auch in einer zugegebenermaßen eher delikaten Angelegenheit. Ich glaube nämlich, dass Dir eine größere Erbschaft zusteht. Vermutlich wirst Du keine Benachrichtigung von den Behörden bekommen, denn sie haben kein Interesse daran, den rechtmäßigen Erben ausfindig zu machen. Es geht um ein Haus, ein Grundstück und vermutlich noch einige andere Vermögenswerte. Mehr kann ich Dir nur persönlich sagen. Bitte komm so schnell wie möglich nach Capri. Um die Jahreszeit ist die Insel wunderschön, wie Du sicher noch weißt. Nimm Dir ein Zimmer in der Villa Palma. Ich werde es dann erfahren, wenn Du eingetroffen bist. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.

Fabrizio

Eine Erbschaft? Wer um Himmels willen sollte ihr etwas vererbt haben? Und warum diese Geheimnistuerei? Abgesehen davon hatte Fabrizio recht: Im Frühling war Capri ein Traum, auch heute noch. Das azurblaue Meer, die steilen Küsten, die salzhaltige, schwere Luft, der Duft von Zitronen … Wäre es nicht schön, die alte Pension wiederzusehen? »Casa Bella«, fiel ihr der Name endlich wieder ein. Was für ein bezaubernder Name.

Von den Erinnerungen für einen Moment überwältigt, machte Elli sich erst jetzt die materiellen Konsequenzen dieses Briefes klar. Es ging um eine Erbschaft! Um Geld! Um eine Existenz! Die Bank hatte ihr eine Frist bis zum Ende des Monats eingeräumt.

»Es gibt einen Gott!«, posaunte Elli lauthals hinaus, in der Gewissheit, dass niemand ihren nach Pathos riechenden peinlichen Auftritt hören konnte.

Kapitel 2