Kenneth Cukier,
Viktor Mayer-Schönberger,
Francis de Véricourt

FRAMERS

Kenneth Cukier
Viktor Mayer-Schönberger
Francis de Véricourt

FRAMERS

Wie wir bessere Entscheidungen treffen und warum uns Maschinen um diese Stärke immer beneiden werden

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

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1. Auflage 2022

© 2022 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Türkenstraße 89

D-80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

© der Originalausgabe 2021 by Kenneth Cukier, Viktor Mayer-Schönberger und Francis de Véricourt Die englische Originalausgabe erschien 2021 bei Dutton, einem Imprint der Penguin Random House LLC, unter dem Titel Framers.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Violeta Topalova, Nikolas Bertheau

Redaktion: Nikolas Bertheau

Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt

Umschlagabbildung: Shutterstock/ SkillUp

Satz: ZeroSoft, Timisoara

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-86881-794-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-216-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-217-1

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.redline-verlag.de

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INHALT

1. Kapitel: Entscheidungen

Nicht Muskelkraft oder Gedächtnis zeichnen den Menschen aus, sondern seine Fähigkeit zum modellhaften Denken

2. Kapitel: Framing

Gedankliche Modelle durchziehen alles, was wir tun, selbst wenn wir uns ihrer nicht bewusst sind

3. Kapitel: Kausalität

Wir sind Kausalitätsmaschinen und liegen oft falsch. Aber das ist auch gut so.

4. Kapitel: Kontrafaktisches Vorstellungsvermögen

Wir meistern unsere eigene Welt, indem wir uns andere Welten vorstellen

5. Kapitel: Bedingungen

Unsere Träume müssen bestimmten Bedingungen genügen, um effektiv zu sein

6. Kapitel: Reframing

Manchmal müssen wir Frames wechseln oder neue erfinden

7. Kapitel: Lernen

Eine große Vielfalt an Frames ist entscheidend für den Fortschritt

8. Kapitel: Pluralismus

Eine Koexistenz verschiedener Frames ist für das Überleben der Menschheit unerlässlich

9. Kapitel: Wachsamkeit

Wir müssen auf der Hut sein, um unsere Macht nicht abzugeben

Eine Anleitung zum Arbeiten mit Frames

Über die Autoren

Anmerkungen

Für meine Frau Heather

K. N. C.

Für Hans Kraus

V. M.-S.

Zum Gedenken an Hervé Raynaud

F. d. V.

There is always light,
if only we’re brave enough to see it,
if only we’re brave enough to be it.

Amanda Gorman, 20. Januar 2021

1. KAPITEL

ENTSCHEIDUNGEN

Nicht Muskelkraft oder Gedächtnis zeichnen den Menschen aus, sondern seine Fähigkeit zum modellhaften Denken

Es gibt Bedrohungen, die bauen sich plötzlich und unerwartet vor uns auf. Andere brauen sich so langsam zusammen, dass wir sie kaum bemerken. Für beide fehlt unserer modernen Gesellschaft oft der richtige Blick. Seien es nun Pandemien oder Populismus, neue Waffen oder neue Technologien, Klimawandel oder soziale Ungerechtigkeit – wie Menschen auf derartige Bedrohungen reagieren, kann über Leben und Tod entscheiden – und, ob der Mensch als Spezies überlebt oder ausstirbt. Was wir sehen, bestimmt, was wir tun.

Jährlich sterben etwa 700 000 Menschen an Infektionen, die früher durch Antibiotika geheilt werden konnten, inzwischen aber nicht mehr. Die Erreger sind resistent geworden. Die Zahl der dadurch verursachten Todesfälle nimmt rasant zu, und falls wir auf dieses Problem keine Lösung finden, wird sie schon bald auf zehn Millionen pro Jahr klettern – das entspricht etwa einem Opfer alle drei Sekunden. Daneben verblasst die Tragödie von Covid-19. Es ist ein Problem, das sich unsere Gesellschaft selbst eingebrockt hat. Antibiotika funktionieren immer schlechter, weil sie zu oft verwendet wurden: Genau die Medikamente, die früher die Bakterien eindämmten, tragen nun die Schuld für deren Mutation in Superkeime.

Antibiotika erscheinen uns wie eine Selbstverständlichkeit. Bevor aber das Penicillin 1928 entdeckt wurde und ein gutes Jahrzehnt später in die Massenproduktion ging, starben Menschen regelmäßig an Knochenbrüchen oder kleinen Kratzern. 1924 holte sich der sechzehnjährige Sohn des damaligen US-Präsidenten Calvin Coolidge beim Tennisspielen auf dem Rasen des Weißen Hauses eine Blase am Zeh. Sie entzündete sich, und eine Woche später war er tot. Weder sein Status noch sein Reichtum hatten ihn retten können. Heute sind Antibiotika in der Medizin unverzichtbar – vom Kaiserschnitt über die Schönheitschirurgie bis zur Chemotherapie. Sollte ihre Wirksamkeit nachlassen, würde vieles ungleich riskanter.

In ihrem bunten, von Pflanzen übersäten Büro arbeitete Regina Barzilay, Professorin für KI-Forschung am MIT in Cambridge, Massachusetts, an einer Lösung für dieses Problem. Konventionelle Medikamentenentwicklung ist hauptsächlich darauf fokussiert, Substanzen zu finden, deren molekulare »Fingerabdrücke« ähnlich den Stoffen ist, deren Wirksamkeit bereits bekannt ist. Im Allgemeinen funktioniert das gut, aber nicht bei Antibiotika. Denn dort sind die meisten ähnlich aufgebauten Substanzen bereits gefunden, und neue Antibiotika gleichen den existierenden strukturell so sehr, dass die Bakterien auch gegen sie rasch Resistenzen entwickeln. Also dachten Barzilay und ein aus Biologen und Informatikern zusammengesetztes Team unter Leitung von Jim Collins, Professor für Biotechnik am MIT, über einen alternativen Ansatz nach. Wäre es nicht besser, statt nach strukturellen Ähnlichkeiten zu suchen, sich auf die Funktion einer Substanz zu fokussieren: Tötet sie Bakterien? Sie begriffen das Thema nicht bloß als Biologie- sondern als Informationsproblem. Charismatisch und selbstbewusst, wie sie ist, wirkt Regina Barzilay nicht gerade wie der typische Nerd. Sie ist es gewohnt, aus dem Raster zu fallen. Sie wuchs im heutigen Moldawien unter kommunistischer Herrschaft russischsprachig auf, verbrachte ihre Schulzeit in Israel, wo sie Hebräisch sprach, und studierte schließlich in den USA. 2014, gerade Mutter geworden, wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert, den sie dank einer Reihe strapaziöser Therapien überlebte. Diese Erfahrung bewegte sie, ihren Forschungsfokus zu überdenken und sich fortan auf den Einsatz künstlicher Intelligenz in der Medizin zu konzentrieren. Ihre Forschungsergebnisse fanden viel Beachtung – und brachten ihr eines der heiß begehrten MacArthur-Stipendien ein.

Barzilay und ihr Team machten sich also an die Arbeit. Sie trainierten einen Algorithmus an mehr als 2300 Verbindungen mit antibakteriellen Eigenschaften, um herauszufinden, ob eine davon das Wachstum des berüchtigten E.Coli-Bakteriums hemmen konnte. Danach wurde dieses Modell auf rund 6000 Moleküle im Drug Repurposing Hub und später auf mehr als einhundert Millionen Moleküle in einer anderen Datenbank angewendet, um vorherzusagen, welche funktionieren könnten. Anfang 2020 knackten sie den Jackpot: Ein Molekül schien alle Anforderungen zu erfüllen. Sie nannten es »Halicin« – nach dem rebellischen Computer HAL aus 2001: Odyssee im Weltraum.

Die Entdeckung eines Supermedikaments, mit dem sich Superkeime bekämpfen ließen, schaffte es weltweit in die Schlagzeilen. Die Rede war vom »Video-killed-the-Radio-Star«-Moment – Symbol eines Epochenwechsels, der die Überlegenheit der Maschine gegenüber dem Menschen zu besiegeln schien. »AI Disovers Antibiotics to Treat Drug-Resistant Diseases«, verkündete die Titelseite der Financial Times: Künstliche Intelligenz findet Antibiotikum gegen resistente Keime.

Die Wahrheit aber war anders: Dies war kein Triumph für KI, sondern ein Erfolg menschlicher Erkenntnis – der Fähigkeit, eine kritische Herausforderung zu meistern, indem man sie aus einer anderen Perspektive betrachtet, sodass neue Lösungswege möglich werden. Die Ehre gebührt hier nicht einer neuen Technologie, sondern einer zutiefst menschlichen Gabe.

»Es waren Menschen gewesen, die die richtigen Verbindungen auswählten. Sie wussten, was sie taten, als sie das Modell mit diesem Material fütterten, damit es daraus lernte«, erklärt Barzilay. Menschen definierten das Problem, entwickelten den Ansatz, wählten die Moleküle, mit denen sie den Algorithmus trainieren wollten, und suchten dann die Datenbanken aus, deren Substanzen sie zu testen gedachten. Und als der Algorithmus vielversprechende Kandidaten identifizierte, nutzten erneut Menschen ihr Wissen aus der Biologie, um zu verstehen, warum diese Substanzen wirkten.

Der Prozess, der zur Entdeckung von Halicin führte, ist mehr als nur ein außergewöhnlicher wissenschaftlicher Durchbruch und ein wichtiger Schritt in Richtung einer Beschleunigung und Ökonomisierung der Medikamentenentwicklung. Barzilay und ihre Mitstreiter waren nur deshalb so erfolgreich, weil sie sich eine bestimmte Form kognitiver Freiheit zunutze machten. Sie bezogen ihre Idee nicht aus einem Buch, aus überlieferten Quellen oder indem sie bereits bekannte Tatsachen neu zueinander in Beziehung setzten. Sie kamen darauf, weil sie sich einer einzigartigen kognitiven Fähigkeit bedienten, über die alle Menschen verfügen.

Gedankenmodelle und die Welt

Wir Menschen denken in Modellen – Repräsentationen der Wirklichkeit, die uns die Welt verständlicher machen. Diese Modelle erlauben uns, Muster zu erkennen, Entwicklungen vorherzusehen und Situationen, mit denen wir konfrontiert werden, Sinn zu geben.

Ohne sie wäre die Realität für uns nichts weiter als eine Flut von Informationen – ein wildes Durcheinander unzusammenhängender Erfahrungen und Gefühle. Gedankenmodelle bringen Ordnung ins Chaos. Sie verleihen uns die Fähigkeit, uns auf essenziell Wichtiges zu konzentrieren und anderes zu ignorieren – in ähnlicher Weise, wie wir zum Beispiel auf einer Cocktailparty in der Lage sind, Hintergrundgeplauder auszublenden und uns ganz auf das Gespräch zu fokussieren, an dem wir gerade teilnehmen. Wir konstruieren in unseren Köpfen eine Simulation der Wirklichkeit, anhand der wir vorausberechnen, wie sich eine Situation entwickeln wird.

Wir verwenden ständig solche Modelle, auch wenn uns das vielleicht nicht bewusst ist. In manchen Momenten jedoch nutzen wir diese Fähigkeit ganz gezielt, um unseren Blickwinkel zu überdenken. Das ist häufig dann der Fall, wenn wir eine Entscheidung mit weitreichenden Konsequenzen treffen müssen – beispielsweise, ob wir den Job wechseln, ein Kind bekommen, ein Haus kaufen, eine Fabrik schließen oder einen Wolkenkratzer bauen wollen. In solchen Momenten wird uns klar, dass für unsere Entscheidungen nicht nur rationale Gründe für oder gegen bestimmte Argumente ausschlaggebend sind, sondern etwas viel Grundsätzlicheres: der Blickwinkel, aus dem wir die Situation sehen – unser Verständnis davon, wie die Welt funktioniert. Wir sprechen hier manchmal auch von der gedanklichen »Brille«, durch die wir schauen. Auf dieser elementaren Erkenntnisebene spielen mentale Modelle die entscheidende Rolle.

Dass wir die Welt interpretieren müssen, um in ihr zu überleben, und dass die Art und Weise, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen, Einfluss darauf hat, wie wir uns in ihr verhalten, ist uns im Prinzip nicht neu. Nur haben wir uns lange nichts dabei gedacht. Und genau das macht Regina Barzilays Leistung so beeindruckend: Sie sah das Problem aus einem anderen Blickwinkel, nutzte ein alternatives Modell und verlagerte damit ihren Fokus von der Struktur des Moleküls auf seine Funktion (ob es überhaupt wirkt). Indem sie und ihre Mitstreiter das Problem anders fassten, machten sie eine Entdeckung, die bis dahin niemand anderem gelungen war.

Menschen wie Barzilay bezeichnen wir als »Framers«. Framers »framen« Situationen – sie finden neue Lösungen, indem sie Situationen bewusst in einen kognitiven Rahmen stellen.

Die gedanklichen Modelle, die wir wählen und anwenden, bezeichnen wir als »Frames« (Rahmen): Sie bestimmen, wie wir die Welt begreifen und in ihr entscheiden und handeln. Frames erlauben uns zu generalisieren und zu abstrahieren und auf diese Weise Gemeinsamkeiten zwischen Situationen zu erkennen, die auf den ersten Blick unterschiedlich erscheinen. Mit ihrer Hilfe können wir uns in neuen Situationen zurechtfinden, ohne alles von Grund auf neu lernen zu müssen. Unsere Frames arbeiten normalerweise im Hintergrund, aber wir können auch bewusst innehalten und uns fragen, welchen Frame wir gerade wie verwenden und ob dieser den Umständen noch angemessen ist, um ihn gegebenenfalls durch einen passenderen zu ersetzen — und sei es, indem wir einen ganz neuen Frame erfinden.

Framing ist ein so elementarer Bestandteil des menschlichen Denkvermögens, dass sogar Kognitionsforscher sich bis vor Kurzem kaum explizit mit dem Phänomen befasst haben. Es stand gewissermaßen im Schatten anderer mentaler Fähigkeiten wie der Wahrnehmung oder dem Gedächtnis. Aber je bewusster uns wird, dass wir lernen müssen, bessere Entscheidungen zu treffen, desto mehr rückt die Rolle von Frames als Basis guter Entscheidungen in den Vordergrund. Wir wissen jetzt, dass der richtige Frame bei richtiger Anwendung eine ganze Reihe neuer Handlungsmöglichkeiten aufzeigt, aus denen wiederum bessere Entscheidungen resultieren. Welche Frames wir verwenden, hat Einfluss auf die Optionen, die wir erkennen, und die Ziele, die wir erreichen.

Viele schwierige Herausforderungen in unserer Gesellschaft betreffen im Kern die Frage, welcher Frame angemessen ist. Sollen die USA zwischen sich und anderen Ländern nicht nur gedanklich eine Mauer oder eine Brücke errichten? Will Schottland weiter zu Großbritannien gehören oder seine Unabhängigkeit erklären? Wird China im Sinne seiner »Ein-Land-zwei-Systeme«-Politik gegenüber Hongkong die Betonung auf den ersten oder den zweiten Teil dieses Grundsatzes legen? Häufig lesen wir in ein und dieselbe Situation völlig unterschiedliche Dinge hinein, nur weil wir verschiedene Frames nutzen.

Als Colin Kaepernick, der Quarterback der San Francisco 49ers, im Jahr 2016 während der US-Nationalhymne kniete, um auf Rassismus und Polizeigewalt aufmerksam zu machen, verstanden manche das als respektvolle und stille Form des symbolischen Protests. Er wandte niemanden den Rücken zu und streckte weder die Faust noch den Mittelfinger aus. Für andere aber war sein Verhalten eine groteske Respektlosigkeit gegenüber der Nation — die provokative Publicity-Aktion eines mittelmäßigen Spielers, der den »Krieg der Kulturen« in einen der wenigen Bereiche des US-Alltags trug, die bislang davon verschont geblieben waren. Es wurde nicht darüber gestritten, was passiert war, sondern darüber, was es bedeutete. Das war eine Art Rohrschach-Test: Was die Menschen in der Geste sahen, hing davon ab, in welchen Kontext — oder Frame — sie sie stellten.

Jeder Frame lässt uns die Welt von einem ganz bestimmten Blickwinkel aus betrachten. Der kapitalistische Frame zeigt stets Möglichkeiten, Profit zu machen, der kommunistische reduziert alles auf den Klassenkampf. Industrievertreter blicken auf einen Regenwald und sehen wirtschaftlich wertvolles Holz, während Umweltschützer die »Lunge des Planeten« erkennen, die wir für unser langfristiges Überleben brauchen. Sollen Bürger in einer Pandemie dazu verpflichtet werden, in der Öffentlichkeit eine Maske zu tragen? In den USA beantworteten Menschen mit Gesundheits-Frames diese Frage mit einem klaren »Ja«, jene, die einen Freiheits-Frame nutzten, mit einem ebenso klaren »Nein«. Gleiche Daten, verschiedene Frames, gegensätzliche Schlussfolgerungen!

Manchmal passen unsere Frames nicht zu der Wirklichkeit, auf die wir sie anwenden. Es gibt keine grundsätzlich »falschen« Frames (mit einer Ausnahme, auf die wir später noch eingehen werden), aber es gibt viele Fälle unpassender Frames. Tatsächlich ist die menschliche Geschichte gesäumt von den Überresten jener Frames, die sich in bestimmten Situationen als ungeeignet erwiesen haben. Nehmen wir nur Fasciculus Medicinae, ein Anatomiebuch aus dem 15. Jahrhundert. Es assoziierte menschliche Körperteile mit Sternzeichen und fand vielfältige Entsprechungen zwischen den himmlischen Sphären und den Organen im Körperinneren. Aber mit diesem Frame konnten keine Krankheiten geheilt werden, und so verwarf man ihn zugunsten anderer Frames, die sich als nützlicher erwiesen.

Auch heute noch machen wir diese Fehler. 2008 war Nokia Marktführer im Mobiltelefonsektor. Als Apple das iPhone vorstellte, glaubten nur wenige an seinen Erfolg. Schließlich ging der Trend in Richtung kleinerer und billigerer Handys, während Apples Gerät klobig, teuer und technisch unausgereift war. Nokias Frame stammte aus der reaktiven Telekommunikationsbranche, in der Wert auf Verlässlichkeit und unmittelbaren praktischen Nutzen gelegt wurde. Apples Frame stammte aus der hochgradig innovativen IT-Branche, die Wert auf Benutzerfreundlichkeit und die Möglichkeit legte, durch Software einfach neue Funktionen hinzuzufügen. Dieser Frame entsprach besser den Bedürfnissen und Erwartungen der Kunden – und schon bald dominierte Apple den Markt.

Die Verwendung unpassender Frames kann schreckliche Konsequenzen haben. In den 1930er-Jahren folgte die Sowjetunion dem Lyssenkoismus, einer pseudowissenschaftlichen Theorie zur Pflanzengenetik. Sie basierte nicht auf Botanik, sondern auf marxistisch-leninistischer Ideologie. Zu ihren Grundsätzen gehörte, dass Nutzpflanzen dicht gedrängt angepflanzt werden können, weil – es lebe die kommunistische Theorie! – Angehörige derselben Klasse ja solidarisch zusammenleben und sich nicht gegenseitig Ressourcen streitig machen.

Einen Frame aus der ökonomischen Ideologie unmittelbar auf die Landwirtschaft anzuwenden, ist natürlich Wahnsinn. Die politische Führung der UdSSR aber tat genau das: Sie machte den kommunistischen Frame zur Basis ihrer Landwirtschaftspolitik. Der Erfinder dieser Vorgehensweise Trofim Lyssenko stand in Stalins höchstpersönlicher Gunst. Wissenschaftler, die Zweifel an seinen Theorien äußerten, wurden gefeuert, eingesperrt, verbannt oder hingerichtet. Der große russische Biologe Nikolai Wawilow kritisierte Lyssenkos Wissenschaft und wurde daraufhin zum Tode verurteilt. Und was war das Ergebnis des Lyssenkoismus? Obwohl das Land die kultivierte Fläche verhundertfachte, ging der Ernteertrag zurück, da die Pflanzen eingingen oder verrotteten. Der falsch angewendete Frame führte zu tragischen Hungersnöten, die Millionen Menschen das Leben kosteten.

Die gute Nachricht aber lautet: Wir können einen unpassenden Frame jederzeit durch einen anderen ersetzen. Ja, es steht uns frei, neue und bessere Frames zu erfinden. Neue Frames sind für innovative Einsichten verantwortlich, welche die Welt für immer verändern. Darwins Evolutionstheorie lieferte eine Erklärung für die Entstehung des Lebens, die sich nicht länger auf die Religion bezog. Der Newtonschen Physik gelang es Jahrhunderte lang, die Bewegungen von Körpern im Raum hinreichend gut zu erklären. Dann aber zeigten sich immer mehr Phänomene, für die sie nicht mehr ausreichte. Einstein bereicherte die Physik um einen neuen Frame, indem er zeigte, dass die Zeit, die man lange für absolut gehalten hatte, in Wahrheit relativ war.

Der Wert von Frames lässt sich am einfachsten im Bereich der Naturwissenschaften zeigen, wo sie explizit sind (oder es zumindest sein sollten), und wo Forscher und Forscherinnen die Erkenntnisschritte dokumentieren, über die sie zu ihren Schlussfolgerungen gelangt sind. Wenn es jedoch um die gigantischen Herausforderungen geht, vor denen die Menschheit heute steht, fällt uns häufig gar nicht auf, welche Frames wir gerade verwenden. Es ist enorm wichtig, sich die Bedeutung des Framings für sämtliche Lebensbereiche bewusst zu machen. Wir müssen Probleme aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten, um sie lösen zu können. Der Schlüssel zur Bewältigung unserer schwierigsten Herausforderungen – egal, ob sie uns als Individuum, Gemeinschaft, Nation oder Zivilisation betreffen – liegt in uns selbst: Es ist unsere einzigartige menschliche Fähigkeit, Frames zu entwickeln und wie selbstverständlich zu nutzen.

Doch wir müssen besser darin werden. Wie, das verrät Ihnen dieses Buch.

Sehen, was nicht da ist

Infolge eines radikalen Umdenkens im Lauf der letzten Jahrzehnte gelten in der kognitiven Psychologie und der Entscheidungstheorie heute mentale Modelle als beste Beschreibung für die Art und Weise, wie wir Menschen leben und denken. Framing passiert normalerweise unbewusst. Aber Menschen, die zuverlässig gute Entscheidungen treffen oder sich in Positionen befinden, in denen ihre Entscheidungen weitreichende Konsequenzen haben, sind sich des Framing-Phänomens und der eigenen Framing-Fähigkeiten in der Regel sehr wohl bewusst. Das hat Einfluss darauf, welche Handlungsoptionen sie sehen und wie sie sich am Ende tatsächlich verhalten.

Wenn Risikokapital-Anleger Investitionen genauer unter die Lupe nehmen, Offiziere militärische Operationen gedanklich durchspielen oder Ingenieure und Ingenieurinnen sich mit technischen Problemen auseinandersetzen, geschieht das, indem sie das Problem »framen«. Angenommen, es gilt zu entscheiden, ob ein Windpark besser an diesem oder an jenem Ort errichtet werden sollte oder ob eine Solarfarm womöglich die bessere Lösung wäre. In diesem Fall sind die Informationen, die wir sammeln, nur Teil des Entscheidungsprozesses. Wichtiger ist, wie wir die Situation einschätzen — wie wir sie »framen«.

Aber Framing findet nicht nur bei besonders wichtigen Entscheidungen statt. Es durchzieht unseren Entscheidungsalltag. Wir werden ständig mit Fragen konfrontiert, die wir mithilfe unserer Modelle der Wirklichkeit beantworten. Wie verbessere ich die Beziehung zu meinem Partner? Wie beeindrucke ich meine Chefin? Wie kann ich mein Leben gesünder gestalten? Wie werde ich reicher? Auch für Fragen dieser Art ist Framing unverzichtbar. Es strukturiert unsere Gedanken und beeinflusst unsere Wahrnehmung und unsere Abwägungen. Indem wir unsere Frames sichtbar machen und lernen, uns bewusst für die Anwendung des einen oder anderen zu entscheiden, können wir unser Leben und unsere Welt zum Besseren verändern.

Framing ist eine Grundeigenschaft des menschlichen Denkens. Aber es ist vor allem auch ein praktisches Werkzeug, mit dessen Hilfe wir bessere Entscheidungen treffen.

Unser Gehirn verwendet Frames, um die relevantesten Aspekte der Welt klarer zu erkennen und die übrigen in den Hintergrund treten zu lassen. Ohne ein solches »Kontrastmittel« könnten wir das Leben in seiner komplexen Vielschichtigkeit nicht verstehen. Mithilfe gedanklicher Modelle bleibt die Welt für uns überschaubar und beherrschbar. In diesem Sinne vereinfachen Frames die Wirklichkeit, ohne sie allzu simpel werden zu lassen. Sie fokussieren unser Denken bloß auf die entscheidenden Aspekte.

Frames helfen uns auch, aus einzelnen Erfahrungen zu lernen und allgemeine Regeln aufzustellen, die wir dann auf andere Situationen anwenden können – auch auf solche, die noch nicht eingetreten sind oder die in dieser Form vielleicht nie eintreten werden. Sie erlauben uns, etwas über das Unbeobachtete bis hin zum Unbeobachtbaren in Erfahrung zu bringen; uns Dinge vorzustellen, zu denen schlechterdings keine Daten existieren. Frames lassen uns sehen, was nicht da ist. Mit der Frage »Was wäre, wenn?« können wir einschätzen, wie sich bestimmte Entscheidungen auswirken würden. Es ist diese Fähigkeit, sich andere Realitäten vorzustellen, die viele individuelle Leistungen und gesellschaftlichen Fortschritt überhaupt erst möglich machten.

Schon vor langer Zeit haben Menschen zum Himmel geblickt und gehofft, sie könnten fliegen. Mittlerweile können wir es – aber anders als die Vögel. Und keine Daten und keine Rechenpower hätten aus einem Haufen Fahrradteile ein Flugzeug zaubern können, wie es die Gebrüder Wright 1903 taten. Dafür war ein Gedankenmodell notwendig: ein Frame.

Auch davon, in den menschlichen Körper hineinzublicken, ohne ihn aufzuschneiden, träumten die Menschen über Jahrhunderte hinweg. Heute ist es uns möglich, aber nicht mit dem bloßen Auge, sondern zum Beispiel mithilfe von Röntgengeräten. Auch hierfür war 1895 ein neuer gedanklicher Rahmen nötig: ein Frame der Nutzung hochenergetischer Strahlung.

Manche Dinge, die wir täglich nutzen, sind das Ergebnis eines überraschenden Frame-Wechsels – was einer gewissen Komik mitunter nicht entbehrt. Das Telefon war ursprünglich dazu gedacht, Musik über große Distanzen zu übertragen: Interessierte hätten sich danach telefonisch in Konzerte einwählen können. Der Phonograph — der Vorläufer des Grammophons — wurde hingegen zum Zwecke der Nachrichtenübermittlung erfunden: Firmenchefs sollten ihre Anweisungen auf eine mit Zinnfolie bezogene Walze aufzeichnen und diese dann an entfernte Mitarbeiter senden. Erst als man die Nutzung vertauschte, fassten die Technologien Fuß. Thomas Edison glaubte Anfang des 20. Jahrhunderts, Filme würden schon bald Klassenzimmer ersetzen – eine Vision, die erst gute hundert Jahre später durch Zoom Wirklichkeit werden sollte.

Der Begriff »Framing« ist in den Sozialwissenschaften seit Langem etabliert. Wie die Psychologen Daniel Kahnemann und Amos Tversky überzeugend darlegten, genügt es, die möglichen Folgen einer Entscheidung auf eine bestimmte Weise zu charakterisieren — zu »framen« —, um Einfluss auf die Entscheidung selbst zu nehmen. Diesen »Framing-Effekt«, wie sie ihn nannten, bezeichneten sie als Fehler im menschlichen Denken.

Wir verwenden denselben Begriff, wenn auch in einer etwas anderen Bedeutung: Framing ist nach unserem Verständnis nicht, in welchem Licht etwas erscheint. Für uns steht »Framing« vielmehr für die bewusste Verwendung gedanklicher Modelle, um mehr und alternative Entscheidungsmöglichkeiten zu erkennen. Auch wenn wir bei der Wahl eines unpassenden Frames Gefahr laufen, schlecht zu entscheiden, ist Framing eine wertvolle, unsere menschliche Entscheidungskompetenz stärkende Fähigkeit. Sie erlaubt uns, die Welt besser zu verstehen und sie nach unserer Vorstellung zu formen. Ohne diese Fähigkeit wären wir weder als Individuen noch als Spezies die, die wir sind.

Man könnte versucht sein, den Wechsel von einem Frame zu einem anderen schlicht als Paradigmenwechsel zu verstehen, als radikale Veränderung grundlegender Konzepte und Sichtweisen. Im Jahr 1962 identifizierte der Wissenschaftsphilosoph Thomas Kuhn diese Paradigmenwechsel als treibende Kraft hinter jeder Form wissenschaftlichen Fortschritts. Aber Paradigmenwechsel und Reframing (also der Wechsel von einem Frame zu einem anderen) sind nicht dasselbe. Zwar ist jeder Paradigmenwechsel ein Fall von Reframing, wenn beispielsweise Kopernikus‹ heliozentrisches Weltbild Ptolemäus geozentrisches Erde-Sonne-Modell ablöste. Aber nicht jedes Reframing stellt zugleich auch einen Paradigmenwechsel dar.

Denn Reframing findet vergleichsweise häufig statt. Manchmal verändert es in der Tat die Weltanschauung einer ganzen Gesellschaft. Viel häufiger jedoch führt es zu einer kleinen aber wichtigen Veränderung in unserem individuellen Leben. Im einen wie im anderen Fall aber ermöglicht erfolgreiches Reframing bessere Entscheidungen.

Mit Frames zu arbeiten, hört sich vielleicht kompliziert und schwierig an. Es erfordert mit Sicherheit Geschick. Aber wir Menschen sind überraschend gut darin. Wir tun es schließlich schon seit Zehntausenden von Jahren, selbst wenn uns das nicht immer bewusst ist.

Ein Frame ist auch mehr als der bloße Blickwinkel einer Person. Frames sind kognitive Blaupausen. Die Vorstellung vom Blickwinkel ist dennoch eine nützliche Metapher. Bevor der italienische Architekt Filippo Brunelleschi um 1420 begann, mit perspektivischen Darstellungen zu experimentieren, stellten Künstler die Welt als flach dar und positionierten Gegenstände je nach der Bedeutung, die sie ihnen zuschrieben. Später aber folgten sie Brunelleschis Beispiel und lernten, räumliche Tiefe darzustellen und Szenen so zu malen, wie sie sich ihnen tatsächlich darboten. Ein Vergleich von Bildern aus der Zeit vor und nach dieser Veränderung lässt gut erkennen, wie folgenreich der Wechsel von einem Frame zum nächsten sein kann.

Wir alle sind Framers. Mithilfe unserer Frames können wir die unterschiedlichsten Dinge vorhersagen — vom Alltäglichen bis zum Spektakulären. In dieser Hinsicht können wir gedanklich sogar durch die Zeit reisen. Manche von uns vermögen es besser als andere, und wir alle können noch besser darin werden. Ja, wir müssen es.

Bedingtes Träumen

Bei der Bewältigung von zwei Aufgaben, auf die wir im 2. Kapitel näher eingehen werden, sind Frames besonders hilfreich. Zum einen helfen uns Frames in neuen Situationen, rasch gute Entscheidungsoptionen zu finden. Zweitens fokussieren Frames unsere Aufmerksamkeit und reduzieren so unsere kognitive Arbeit. Das bietet uns eine unglaublich effiziente Möglichkeit, gute situationsbezogene Entscheidungen zu treffen. Hier wirken drei Elemente zusammen: kausales Schlussfolgern, kontrafaktisches Vorstellungsvermögen und die Fähigkeit, die eigene Fantasie zu fokussieren und auf ein bestimmtes Ziel auszurichten. Lassen Sie uns diese drei Elemente der Reihe nach durchgehen.

Im 3. Kapitel beschäftigen wir uns zunächst mit der Kausalität. Menschen sehen die Welt unter dem Gesichtspunkt von Ursache und Wirkung. Das macht sie für uns verständlich. Wir können vorhersagen, welche Auswirkungen eine bestimmte Handlung haben wird, und auf dieser Basis entscheiden. Kausales Schlussfolgern bildet die Grundlage unseres Denkens. Kinder lernen schon früh, kausale Zusammenhänge zu erkennen, und ganze Gesellschaften verdanken ihre Entstehung und Entwicklung dem Denken in Ursache-Wirkung-Beziehungen. Wir sind Kausalitätsmaschinen.

Freilich: Die Welt ist komplex. Mitunter sind unsere Kausalschlüsse falsch. Es ist nicht leicht, mit den anderthalb Kilo Lipiden und Proteinen in unserem Schädel alle Feinheiten des Weltgefüges zu begreifen. Heute verlassen wir uns auf wissenschaftliche Methoden, um uns davor zu schützen, vorschnelle Schlüsse zu ziehen und Kausalbeziehungen zu vermuten, wo keine bestehen – etwa, dass ein bestimmter Tanz für Regen sorgt. Und unsere Vorliebe, überall Kausalbeziehungen zu wittern, hat eine wertvolle Nebenwirkung: Sie liefert uns ein Werkzeug, mit dem wir die Welt verstehen und — zumindest bis zu einem gewissen Grad — beherrschen können.

Das zweite Element des Framings ist unser kontrafaktisches Vorstellungsvermögen, von dem das 4. Kapitel handelt. Kontrafaktische Vorstellungen sind gedankliche Alternativen zur Wirklichkeit — hypothetische Denkbilder von einer Welt, in der ein oder mehrere Dinge bewusst verändert sind. Wie wir stets und überall in Kausalbeziehungen denken, so denken wir auch fortwährend in Hypothesen. Sie stellen sich ganz von selbst ein. Kontrafaktische Vorstellungen lassen uns dem kognitiven Hier und Jetzt entfliehen: Wir sind nicht gefangen in der Realität, die wir vor Augen haben – in unserem Geist können wir eine neue Wirklichkeit erfinden.

Dieses kontrafaktische Imaginieren ist eine entscheidende Voraussetzung für Fortschritt. Menschen können sich Nichtexistentes vorstellen, um auf diese Weise die existierende Welt besser zu verstehen und eine Ahnung davon zu bekommen, in welchen Punkten sie auch anders aussehen könnte. Wir tun das, indem wir »Was-wäre-wenn?«-Fragen stellen. Das sind nicht notwendigerweise bedeutungslose Hirngespinste. Vielmehr sind es unverzichtbare Vorbereitungsschritte, um die Welt mit unseren Entscheidungen zu gestalten. Wenn wir uns vor unserem inneren Auge etwas vorstellen, machen wir es häufig, indem wir kontrafaktische Szenarien entwickeln und bewerten. Kinder tun dies bei ihren »So-tun-als-ob«-Spielen und Wissenschaftler, wenn sie sich Experimente überlegen.

Durch dieses kontrafaktische Imaginieren können wir die Welt verbessern. Es wäre jedoch töricht, dabei allzu sehr in den Bereich des Unrealistischen abzudriften. Im 5. Kapitel werden wir das dritte Framing-Element — unsere Fähigkeit, die eigene Vorstellungskraft auf ein Ziel auszurichten — erläutern und über seine Rolle sprechen. Die richtigen Vorgaben und Bedingungen helfen uns, unsere Vorstellungskraft so zu fokussieren, dass unsere kontrafaktischen Szenarien umsetzbar bleiben und realistische Handlungsoptionen beinhalten. Framing bedeutet nicht, dass wir unsere Fantasie gänzlich von der Leine lassen und darauf warten, dass sie gleich einem Luftballon davonschwebt. Framing ist bedingtes Träumen. Unsere kontrafaktischen Szenarien sind nur dann nützlich, wenn sie unseren Bedingungen und Vorgaben genügen.

Diese Bedingungen sind der Klebstoff, der das mentale Modell zusammenhält, damit wir unsere »Was-wäre-wenn?«-Fragen strukturiert und absichtsvoll stellen können. Wenn wir einen Platten haben und noch nie zuvor einen Reifen wechselten, überlegen wir nicht, wie uns die Replikator-Technologie aus Star Trek weiterhelfen kann. Wir schauen stattdessen, was wir im Kofferraum finden — zum Beispiel einen Wagenheber und einen Schraubenschlüssel —, und stellen uns im Kopf vor, wie wir damit unser Problem lösen können.

Diese drei Dimensionen – kausales Schlussfolgern, kontrafaktisches Träumen und die Fokussierung unserer Vorstellungen durch geschickt gewählte Bedingungen – bilden gemeinsam die Basis des Framings. Sie sind die Werkzeuge, mit denen wir über das Offensichtliche hinausblicken und die Zukunft vorwegnehmen können.

Manchmal müssen wir jedoch den Frame wechseln — vor allem dann, wenn das Problemumfeld sich grundlegend verändert hat. Im 6. Kapitel beschreiben wir, wie wir aus den Frames, die wir kennen, einen auswählen, der besser auf die geänderte Situation passt. Wenn nötig, können wir Frames auch zweckentfremden. Auf diese Weise können wir das Anwendungsgebiet unserer Frames erweitern.

Mit zunehmender Erfahrung entwickeln wir ein Repertoire an Frames, aus dem wir bei Bedarf jederzeit einen passenden auswählen können — vergleichbar guten Pianisten, die auf ihr Repertoire an unterschiedlichen Stilrichtungen zugreifen. Erfahrene Musikerinnen und Musiker haben keine Mühe, in Stücken unterschiedlichster Stilrichtungen, die sie vielleicht noch nie zuvor gehört haben, Tonarten, Tempi, Rhythmen und Harmonien herauszuhören. Das ist der Schlüssel zur Improvisation. Jedes Genre ist verschieden und unterliegt seinen eigenen Regeln. Es ist nicht leicht, von einem melancholischen Chopin-Stück unversehens zu Lady Gaga zu wechseln. Aber Reframing ist auf den schwarz-weißen Tasten genauso möglich wie auf der Klaviatur des Lebens.

Nicht immer finden wir einen passenden Frame. Manchmal existiert der richtige Frame schlichtweg noch nicht, und wir müssen einen neuen erfinden. Menschen, die das erfolgreich schaffen, finden große Beachtung, denn die Welt ist danach oft nicht mehr dieselbe.

Wie aber werden wir bessere Framers? Darum wird es im 7. Kapitel gehen. Wir stellen Ihnen dazu drei Strategien vor: Repertoireerweiterung, kognitives Stöbern und — als ultima ratio — mentales tabula rasa.

Im 8. Kapitel sprechen wir über die Bedeutung von Frames für Gruppen, Gesellschaften und die Menschheit. Das Ziel ist Pluralismus: Differenzen zu pflegen, anstatt das Heil darin zu suchen, die Welt in aller Augen gleich aussehen zu lassen. Wir müssen die »Farbenvielfalt« fördern, anstatt uns vorsätzlich »farbenblind« zu stellen.

Was wir nicht zulassen dürfen, sind Frames, die anderen Frames die Existenz absprechen (die einzige Ausnahme von der Regel, dass es keine grundsätzlich falschen Frames gibt). Gleichförmigkeit der Denkmodelle erstickt den menschlichen Fortschritt. Sie macht uns Menschen nicht klüger als Maschinen, die stets nur die Vergangenheit reproduzieren, weil sie nicht über die Gegenwart hinausblicken können. Wenn unsere unterschiedlichen Frames nicht nebeneinander existieren können, wie sollen wir Menschen es dann schaffen?

Die wahren Helden des menschlichen Framings leben nicht in Palästen, managen keine Konzerne und unterrichten an keinen Eliteuniversitäten. Sie befinden sich mitten unter uns – wir sind es selbst. Unser individuelles Framing ist wichtig, weil es unser Leben verändert. Für die Menschheit insgesamt aber zählt die Summe der Denkmodelle. Aus Expertenkreisen ist des Öfteren zu hören, Gesellschaften müssten sich auf eine einheitliche Sichtweise verständigen, um dieser oder jener großen Herausforderung zu begegnen. Das Gegenteil ist der Fall: Unsere Stärke liegt in der Vielfalt menschlicher Frames und in unserer Fähigkeit, die Welt aus ganz vielen unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Nur indem wir aus den Vollen dieses Reichtums menschlicher Frames schöpfen, werden wir jene Entscheidungsoptionen finden, die wir zum Überleben so dringend benötigen.

Maschine und Mob

Wert und Wichtigkeit des Framings aber sind bedroht. Auf der ganzen Welt verlieren immer mehr Menschen das Vertrauen in ihre geistigen Fähigkeiten und wenden sich Lösungen zu, die den Wert gedanklicher Modelle negieren. Auf der einen Seite stehen die Technikgläubigen, auf der anderen die Anhänger des populistischen Mobs.

Die erste Gruppe wird von den Hyperrationalisten repräsentiert, die nur »Fakten« gelten lassen. Ihrer Überzeugung nach sind Daten und Algorithmen das Einzige, auf das Verlass ist, wenn es darum geht, die Probleme der Menschheit zu lösen. Sie verzichten auf menschliches Framing zugunsten von künstlicher Intelligenz. Es sind nicht nur eine Handvoll Geeks, die auf die »technologische Singularität« warten — jenen Augenblick, von dem an die Maschine dem Menschen geistig unwiederbringlich überlegen sein wird. Eine stetig wachsende Zahl von Menschen vertraut darauf, dass Computer genau die nüchternen, objektiven und superrationalen Entscheidungen treffen werden, zu denen wir Menschen scheinbar selbst nicht in der Lage sind. Sie zweifeln nicht daran, dass wir Menschen formal auch weiterhin die Zügel in der Hand halten werden. Unsere alltäglichen Entscheidungen jedoch wollen sie besser den Maschinen überlassen.

Schnellste Route nach Delhi? Verbrechensbekämpfung in Berlin? Lebensmittelversorgung in Wuhan? Dafür gibt es doch einen Algorithmus. Je weiter sich die Technik entwickelt, desto mehr Menschen sehen in der KI das Allheilmittel gegen gesellschaftliche Missstände, für die wir Menschen bis heute noch keine Lösungen gefunden haben. Das, so hoffen sie, wird die Menschheit aus dem Dunkel der Irrationalität führen und der Rationalität zum Sieg verhelfen. Die Befürworter künstlicher Intelligenz sehen das Potenzial, Entscheidungen dem Menschen abzunehmen und stattdessen den Computer treffen zu lassen.

Die Emotionalisten andererseits behaupten, die Menschheit leide an zu viel Rationalität, einer zu großen Datenabhängigkeit und an gefühlloser, analytischer Vernunftskälte. Sie glauben, dass das Grundproblem der Menschheit nicht zu viel, sondern zu wenig Leidenschaft ist, und dass wir uns viel mehr auf unser Bauchgefühl und unsere Instinkte verlassen sollten. Sie sehnen sich danach, in Gemeinschaften von Gleichgesinnten zu leben, die klar von den »anderen«, nicht Dazugehörigen abgegrenzt sind. Dieser Appell an unsere emotionalen Wurzeln ist ein Aufruf, die Irrationalität als Grundelement des Menschseins zu zelebrieren.

Wir finden dieses Phänomen auf der rechten wie auf der linken Seite des politischen Spektrums, in industrialisierten Demokratien wie in Entwicklungsländern. Wir verbinden es mit rechten Populisten, die vereinfachendes Denken und schnelles Handeln mühsamen und langwierigen Entscheidungsfindungsprozessen vorziehen. Regieren ist für sie ein Gefühlsakt, Führen eine Sache von Emotionen. Entscheidungen werden aus der Unerschütterlichkeit der eigenen Überzeugung heraus getroffen. Aber auch im linken gesellschaftlichen Spektrum taucht das Phänomen immer wieder auf, wenn Aktivisten Kritiker ihrer Weltanschauung mundtot zu machen versuchen oder Andersgesinnten die Legitimation ihrer Perspektive absprechen.

Künstliche Intelligenz ist geschichtlich betrachtet ein junges Phänomen. Der Kampf zwischen Rationalität und Emotionalität aber ist Jahrhunderte alt. Nur in diesem Spannungsfeld zwischen Denken und Fühlen, Technik und Natur, Kalkül und Intuition konnten sich unsere heutigen Lebensformen und die Strukturen unserer Gesellschaften herausbilden. Im 17. Jahrhundert plädierte der französische Philosoph und Mathematiker René Descartes für ein Leben der Vernunft, Ordnung und Evidenz. Die in perfekter Symmetrie angelegten Parks von Paris zeugen noch heute von seinem Einfluss.

Ein Jahrhundert später warb Jean-Jacques Rousseau für einen ganz anderen Zugang zum Leben — dafür, dass wir auf unsere Gefühle und Impulse vertrauen und Antworten in uns selbst suchen. »Alles Üble, was ich in meinem Leben je getan habe, entsprang der Reflektion«, schrieb er. »Und das wenige Gute, zu dem ich fähig war, tat ich aus dem Impuls heraus.«

Es ist eine Welt der Ahnungen, Leidenschaften und Triebe, in der selbst wilde Wutausbrüche als Ausdruck der eigenen Menschlichkeit salonfähig sind. Wenn britische und amerikanische Landschaftsgärtner urbane Parks so gestalten, dass sie an die ungezähmte Natur erinnern, ist das ein indirekter Tribut an Rousseaus Weltanschauung.

Dieselbe Dichotomie finden wir auch in der Wirtschaft des 20. Jahrhunderts. Frederick Taylors einflussreiche Theorie des wissenschaftlichen Managements zielte darauf ab, sämtliche Aspekte des Arbeitsalltags einer Fabrik zu regulieren. Die Vorgesetzten patrouillierten mit Stoppuhren und Klemmbrettern durch die Werkhallen, um die Produktivität zu messen – und sicherzustellen. Aber das Jahrhundert endete mit dem gefeierten Erfolg von Jack Welch, dem Geschäftsführer von General Electrics, dessen Autobiographie im englischen Original den passenden Titel Straight from the Gut (»aus dem Bauch heraus«) trägt.

Sich bei der Entscheidungsfindung nicht — oder nicht primär — auf lineare, faktenbasierte Rationalität zu verlassen, sondern einer fröhlichen, menschlichen Emotionalität Raum zu geben, fühlt sich irgendwie romantisch und authentisch an. Nicht alles lässt sich auf eine Zahl oder eine logische Formel reduzieren. Aber ein solches Ethos kann keine Probleme lösen – es kann sie nur glorifizieren. Es kann einreißen, aber nicht aufbauen. Im Lauf der letzten fünfzig Jahre haben Psychologen und Verhaltensökonomen Massen von Belegen dafür gesammelt, dass Entscheidungen, die aus dem Bauch heraus getroffen werden, tendenziell schlechter sind als rationale Entscheidungen. Zwar werden wir, wann immer wir uns auf unseren Instinkt verlassen, mit dem guten Gefühl belohnt, dass wir das tun, was wir für richtig halten. Das liefert uns aber keine nachhaltige Strategie, die uns befähigen würde, unsere Probleme zu lösen.

Künstliche Intelligenz mag mittlerweile aus zwei Entscheidungsoptionen die bessere wählen und uns Menschen die Jobs wegnehmen. Was Computer und Algorithmen aber nicht beherrschen, ist Framing. Künstliche Intelligenz ist bestens dafür geeignet, Fragen zu beantworten; Framers hingegen stellen Fragen, die so noch nie zuvor gestellt wurden. Computer funktionieren ausschließlich in der bestehenden Welt; Menschen aber leben in geistigen Welten, die sie sich mithilfe von Framing erschaffen.

Betrachten wir die Nachteile, die Computer gerade auf dem Gebiet aufweisen, auf dem sie normalerweise für ihre grandiosen Leistungen gefeiert werden: Brettspiele. Sogar Menschen, die diese Geschichte kennen, ziehen oft die falsche Lehre daraus.

Im Jahr 2018 brachte DeepMind ein System namens AlphaZero heraus, das Schach, Go und Shogi allein dadurch lernte, dass es gegen sich selbst spielte. Einziger menschlicher Input waren die Spielregeln. Nach nur neun Stunden, in denen das System vierundvierzig Millionen Partien Schach gegen sich selbst gespielt hatte, gewann es bereits gegen Stockfish, das beste Schachprogramm der Welt. Als dann die Großmeister gegen das System antraten, staunten sie über seine seltsame Spielweise. Seit über einem Jahrhundert hatten sich die Schachexperten auf bestimmte Grundkonzepte und Strategien verständigt, indem sie beispielsweise einzelnen Figuren und Brettpositionen Wertigkeiten zuordneten. AlphaZero machte radikale Züge, stellte Beweglichkeit über Positionen und hatte keinerlei Skrupel, Figuren zu opfern. AlphaZero hatte ganz offensichtlich eine völlig neue Strategie für das Spiel erfunden.

Oder doch nicht?

Ein KI-System kann nichts erfinden. Es kann keine gedanklichen Modelle entwickeln. Es kann weder verallgemeinern noch erklären. AlphaZero ist eine Blackbox – für uns und für sich selbst. Es waren Menschen und nicht KI, die die Spielzüge analysierten und daraus Konzepte wie »Brettposition« und »Opfer« entwickelten. Es sind Menschen, die AlphaZeros Züge »framen«. Sie machen sie erklärbar und allgemein anwendbar. Wir Menschen werden schlauer, weil wir es verstehen, von den Errungenschaften der künstlichen Intelligenz zu lernen. Die Bedeutung des Lernens zu ermessen und das Gelernte entsprechend anzuwenden, ist etwas, wozu künstliche Intelligenz selbst nicht in der Lage ist.

Rationalisten wie Emotionalisten liegen beide richtig mit manchen der Stärken und Schwächen, die sie den Menschen zuschreiben. Doch beide übersehen dabei das Entscheidende. Weder die einen noch die anderen liefern befriedigende Antworten auf die Herausforderungen, mit denen sich die Menschheit heute konfrontiert sieht. Und auch von einer Synthese beider Herangehensweisen ist nicht viel zu erwarten. Die Kombination zweier Ansätze, deren jeder auf unsicherem Fundament steht, schafft bestenfalls ein fragiles Spannungsfeld ohne Hoffnung auf echten Fortschritt.

Aber: Wir sind nicht auf diese beiden Optionen beschränkt. Wir müssen uns nicht zwischen einer entmenschlichenden »Singularität« oder einem Tsunami populistischen Terrors entscheiden. Und es besteht auch keine Not, beides zu einer suboptimalen Mischung zu verschmelzen. Uns steht eine alternative Strategie zur Verfügung — eine zutiefst menschliche Qualität, die allzu oft übersehen wird: Framing. Unsere Fähigkeit, Denkmodelle zu entwickeln, anzuwenden und immer weiter zu verfeinern, versetzt uns in die Lage, unsere Probleme auch ohne Maschinenherrschaft oder Mobmentalität zu lösen.

Das bringt uns zurück zu Regina Barzilay. Wir stehen an einer Wegkreuzung. Gigantische Herausforderungen warten auf uns. Wie im Fall der Antibiotika sind viele unserer Verwundbarkeiten hausgemacht. Sie sind die Folge schlechter Entscheidungen, die wir selbst getroffen, Alternativen, die wir nicht erkannt, und Handlungen, die wir unterlassen haben. Wir haben uns in unsere aktuelle Lage selbst hineinmanövriert. Die gute Nachricht lautet: Wir können uns auch selbst wieder aus ihr befreien. Das geht aber nur mit einem radikal alternativen, wenn auch altvertrauten Denkansatz.

Was um uns ist, fängt in uns an

Ein von einem Team der Oxford University geleitetes Projekt namens »Our World in Data« hat sich, wie der Name schon sagt, zum Ziel gesetzt, sämtliche Aspekte des Lebens unter dem Blickwinkel der Erfassbarkeit in Zahlen unter die Lupe zu nehmen. Daten zur Säuglingssterblichkeit? Findet man dort. Globales Bruttosozialprodukt? Ein Blick genügt. Bill Gates ist ein Fan dieser Sammlung, und seine Stiftung unterstützt das Projekt finanziell. Gelegentlich retweetet er einzelne Diagramme. Den regelmäßig erscheinenden regenbogenfarbenen Linien- und Balkendiagrammen nach zu urteilen hatten wir Menschen es noch nie so gut wie heute.

Es stimmt, dass sich die Welt gemessen an (fast) allen Maßstäben unaufhaltsam verbessert. Es gibt immer weniger Kriege, weniger Krankheiten, weniger Analphabeten, saubereres Wasser, reichere Länder, glücklichere Menschen, längere Lebenserwartungen. Covid-19 wird in einigen dieser Trendlinien für Knicke sorgen, aber nur vorübergehend. Richten wir den Blick in die fernere Zukunft, so werden diese Dellen immer weniger ins Gewicht fallen.

Bei all diesen Verbesserungen spielt die Evolution des menschlichen Denkens eine entscheidende Rolle. Bevor sich eine Veränderung in der Welt vollzieht, muss zuerst etwas in den Köpfen geschehen. Was um uns ist, fängt in uns an. Wir framen und reframen die Welt, und die Menschheit entwickelt sich weiter.

Aber uneingeschränkter Optimismus hat keine Berechtigung. Seine Verfechter sehen die Zukunft als Fortschreibung der Gegenwart. Ihre Analysen verschleiern die wahren Herausforderungen. Die pathologische Qualität des Fortschritts liegt in der Gefahr, dass die Früchte unseres Schaffens zur Quelle unserer Zerstörung werden.