Das Buch:
Oliver Twist ist ein Buch der Überraschungen und Wendungen, die Personen und Teilhandlungen sind kreuz und quer verknüpft – das ist große Dramaturgie. Die Personen sind klar gezeichnet und haben ihren Charakter. Da ist Oliver selbst, der unter schlimmsten Umständen die Ehre seiner Mutter verteidigt, da ist Nancy, eine sehr starke Frauen-Figur, da sind die „Bösen“, in denen sich oft noch ein wenig Gutes findet...
Es ist auch ein Buch der Moral – die Gier nach Reichtum geht quer durch die Gesellschaftsschichten. Und es zeigt die Kinder als die Verlierer in einem System, das deren Missbrauch nicht verhindern kann. Verhältnisse, die wir hier nicht mehr kennen, die es aber noch heute in vielen Teilen der Welt gibt.
Der Autor:
Dirk Walbrecker, geboren in Wuppertal, Wahl-Münchener, Studium der Literatur- und Theaterwissenschaft, Regie-Assistent, Aufnahmeleiter, Drehbuchschreiber, Kinder- und Jugendbüchern mit zahlreichen Veröffentlichungen, Leseveranstaltungen in Deutschland, Österreich, Schweiz, Italien, Türkei – und auch Pädagoge. Er war als Lehrer tätig und weiß genau, wie man die verschiedenen Altersgruppen ansprechen kann und was wirklich spannend ist und wie man die Lust weckt, durch Literatur gehaltvoller, spannender und auch humorvoller leben zu können.
Hörbuch:
Der Text dieses Buches ist auch als Hörbuch in der Reihe „Klassiker für Kids“ erschienen:
Oliver Twist
nacherzählt und gesprochen von Dirk Walbrecker,
Hörbuch auf 3 Audio-CDs, ISBN 978-3-942270-58-8
Klassiker für die ganze Familie
Oliver Twist
von Charles Dickens
nacherzählt von Dirk Walbrecker
Impressum
ISBN: 978-3-942270-74-8
© Kuebler Verlag GmbH,
Lampertheim – Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung Daniela Hertel,
www.grafissimo-design.de,
Bildmaterial © shocky-Fotalia.com,
© dancerP & AF Hair-Fotalia.com
Kuebler Verlag im Internet:
www.kueblerverlag.de
www.klassiker-fuer-die-familie.de
Kapitel 1
Wie alles begann
In einer kleinen Stadt in England fängt sie an – die unglaublich traurige und spannende Geschichte von Oliver Twist. Irgendjemand aus dem Städtchen hatte die Mutter des Jungen am Vorabend der Geburt ins Armenhaus gebracht.
„Sie lag hier in der Nähe auf der Straße“, hieß es.
„Von ziemlich weit muss sie hergekommen sein, denn ihre Schuhe sind ganz zerfetzt und abgelaufen. Kein Mensch kennt sie, und einen Mann scheint sie auch nicht zu haben, weil sie keinen Trauring trägt.“
Die folgende Nacht verbrachte die Frau unter Qualen in dem Haus, das die Gemeinde für die Ärmsten der Armen zur Verfügung hielt. Und am nächsten Morgen fand mit Hilfe eines nicht besonders freundlichen Arztes und einer Krankenschwester, die vom Biergenuss schon reichlich benebelt war, die Geburt statt. Doch bis sich der kleine Oliver entschloss, seinen ersten Schrei zu tun, dauerte es einige Zeit.
Dann bat die Mutter mit schwacher Stimme: „Lasst mich, bevor ich sterbe, wenigstens einmal mein Kind sehen.“
„Sie dürfen jetzt nicht vom Sterben reden!“, wandte sich der Arzt an die Frau.
Und die Krankenschwester fügte hinzu, während sie die Bierflasche vor dem Arzt verbarg: „Gott behüte, was weiß die vom Mutterdasein! Wenn sie erst mal wie ich dreizehn Kinder zur Welt gebracht hat und nur zwei davon überleben, dann wird sie sich nicht mehr so anstellen.“
Inzwischen hatte der Gemeindearzt der fremden Frau das Neugeborene gereicht. Die hielt das kleine Wesen, das alsbald den Namen Oliver Twist bekommen sollte, fest in ihren Armen, presste ihre blassen Lippen leidenschaftlich auf seine Stirn, blickte verloren um sich – und starb.
Der Arzt und die Schwester rieben ihr Brust, die Hände – doch vergeblich: Das Blut war schon im Begriff zu erkalten, und jedes Wort des Trostes und der Hoffnung kam zu spät.
„Es ist aus, Frau Namenlos“, sagte der Arzt.
„Das arme Ding!“ sagte die Schwester und nahm den kleinen Oliver wieder an sich. Nur zu genau wusste sie, was dem Jungen nun bevorstand. Er war ein Gemeindekind, ein Waisenkind, welches man fortan herumstoßen würde – von allen verachtet und von niemandem bemitleidet. Die ersten Wochen würde man es mit dem Fläschchen großziehen, und dann hätte man keinen Platz und keine Zeit mehr für das Kind. Dann würden die Gemeindevertreter beraten und beschließen, den Jungen einer Ziehmutter zu geben.
Hier würde Oliver nicht das einzige Kind sein, im Gegenteil: In einem solchen Ziehhaus tummelten sich zwanzig oder dreißig solcher armen Geschöpfe unter der Obhut einer älteren Frau. Die bekam für jedes Kind siebeneinhalb Pence Kostgeld pro Woche und wusste, was den Kindern gut tat – aber noch viel mehr, was zu ihrem eigenen Vorteil war.
So gab sie den Kindern nur das Allernötigste oder noch etwas weniger zu essen und zu trinken und steckte das meiste Geld in die eigene Tasche. Kein Wunder also, dass gar nicht selten ein Kind ganz einfach verhungerte oder im Winter erfror. Und damit nicht genug: Es gab auch Kinder, die durch „Unfälle“, wie man es nannte, ums Leben kamen. Zwar tauchte dann ein Gemeindevertreter im Ziehhaus auf, um nach dem Rechten zu sehen, doch da hatte Mrs. Mann längst alle Spuren beseitigt, hatte ihre Zöglinge aufs Feinste herausgeputzt und spielte die fürsorgliche und rührende Ziehmutter.
Unter solchen Bedingungen also lebte der kleine Oliver jahraus, jahrein, war Tag und Nacht in dem Ziehhaus eingesperrt und wusste nichts von dem, was in der Welt draußen geschah. Er ein blasses, schmächtiges Kind, das wahrscheinlich längst gestorben wäre, wenn er nicht ungewöhnlich starken Lebenswillen geerbt hätte. Mit dem ertrug alle Entsagung und auch die Prügel, die er regelmäßig für nichts und wieder nichts bekam.
So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass er seinen neunten Geburtstag zusammen mit zwei seiner Leidensgenossen im Kohlenkeller des Ziehhauses feiern durfte.
Was wohl hatte ihm dieses großzügige Geschenk eingebracht?
Oliver und seine beiden Freunde hatten nichts anderes gewagt, als Hunger zu haben, und dieses mit ein paar bitteren Worten kundzutun.
Aber so düster es auch um Oliver aussah – es sollte an diesem Tag noch etwas höchst Überraschendes geschehen!
Der Gemeindediener höchstpersönlich tauchte an der Pforte des Ziehhauses auf und verlangte unwirsch Einlass.
„Ach, gütiger Gott! Sind Sie es, Mr. Bumble, mein Herr?“ Verschreckt stand Mrs. Mann am Fenster des Ziehhauses und musste zusehen, wie sich der Gemeindediener gewaltsam Zutritt verschaffte.
„Ach, wie ich mich freue, Sie wiederzusehen, Mr. Bumble!“, rief Mrs. Mann dem überraschenden Gast zu und konnte ihrer Küchenhilfe gerade noch zuflüstern: „Hol die Jungs schnell aus dem Keller, und wasch sie gründlich!“
Dann stand der beleibte Gemeindediener schon im Haus und wurde von Mrs. Mann mit einem tiefen Knicks begrüßt: „Tut mir leid, dass ich nicht gleich an der Pforte war. Ich muss sie geschlossen halten wegen der lieben Kinderchen.“
Mrs. Mann führte ihren Gast, der sich nicht gerade wenig auf sich, seine Anstellung und seine Uniform einbildete, in das kleine Besuchszimmer und bat ihn mit unterwürfigem Tonfall, doch bitte und freundlicherweise Platz zu nehmen.
„Ich komme in einer wichtigen Geschäftsangelegenheit“, erklärte Mr. Bumble und machte es sich bequem.
„Ach, Sie haben einen langen Weg hinter sich“, versuchte Mrs. Mann etwas Zeit zu gewinnen, „darf ich Ihnen vielleicht ein Tröpfchen anbieten?“
„Keinen Tropfen!“ winkte der Gemeindediener ab und machte zugleich ein begehrliches Gesicht.
Mrs. Mann wusste nur zu gut, wie sie mit ihrem Gast umzugehen hatte, und bald darauf servierte sie ihm einen Wacholderschnaps und dazu noch eine ganze Menge der süßesten Komplimente.
„Sie verwöhnen mich wohl so wie Ihre lieben Kinder“, bedankte sich Mr. Bumble und kam auf den Anlass seines Besuches zu sprechen: „Ich komme wegen dieses Oliver Twist, der heute neun Jahre alt geworden ist. Obwohl wir eine Belohnung von zwanzig Pfund ausgesetzt haben, konnten wir nichts über seine Herkunft erfahren. Könnte ich ihn mal sprechen, bitte?“
„Verbeuge dich vor diesem Herrn!“ sagte die Ziehmutter kurz darauf zu einem frisch herausgeputzten Oliver. „Das ist Mr. Bumble, der sich auf netteste Weise um das Wohl der ganzen Gemeinde kümmert.“
„Nun ... nun“, wehrte sich Mr. Bumble, sichtlich beglückt von so vielen Komplimenten. „Ach, Mrs. Mann, Sie sind uns nicht minder nützlich und hilfreich, und ich verspreche Ihnen, bei der nächsten Gemeinderatssitzung ein gutes Wort für Sie einzulegen. Ich trinke auf Ihre Gesundheit!“
Nach einigen weiteren artigen Komplimenten und Schmeicheleien hin und her wandte sich der Gemeindediener Oliver zu, der verschüchtert und mit Herzklopfen vor den beiden Erwachsenen stand.
„Oliver!“, sagte er mit feierlicher Stimme, „möchtest du mit mir kommen?“
Oliver blickte erstaunt auf Mr. Bumble. Er hätte wer auch immer sein können – jedem Menschen hätte er diese Frage mit „Ja“ beantwortet. Doch bevor er wagte, den Mund aufzumachen, sah er, wie Mrs. Mann hinter dem Rücken des Gemeindedieners mit der Faust drohte. Sofort hatte er begriffen, was dieser Wink zu bedeuten hatte. Schließlich hatte er diese Hand so oft zu spüren bekommen, dass sie für immer tief in sein Gedächtnis eingeprägt war.
„Geht sie denn auch mit?“, war das einzige, was dem verschreckten Oliver einfiel.
„Das kann sie leider nicht“, erwiderte Mr. Bumble. „Aber sie wird dich gewiss öfters besuchen.“
Genau das war kein Trost für Oliver. Aber so jung er auch noch war – er war schlau genug, um größtes Bedauern über seinen bevorstehenden Abschied vorzutäuschen. Ja, es fiel ihm auch überhaupt nicht schwer, Tränen in seine Augen zu locken. Er musste nur an den dauernden Hunger und die vielen Misshandlungen denken, und die Tränen kamen schon ganz von selbst.
Und was tat seine Ziehmutter? Sie umarmte Oliver ein ums andere Mal, spielte die Tröstende und die Untröstliche in einem und lief sogar, um ihrem Zögling umgehend ein Butterbrot zu holen, damit er nur ja nicht hungrig ins Armenhaus komme.
Als Oliver wenig später den Ort verließ, wo er fast neun Jahre ohne ein freundliches Wort und ohne einen lieben Blick hatte auskommen müssen, da war ihm trotzdem beklommen zumute, und er fühlte sich unbeschreiblich einsam.
Kapitel 2
Noch mehr Qualen
So unfasslich es klingt – Oliver Twist war wieder in dem Haus gelandet, wo er vor Jahren das Licht der Welt erblickt und seine Mutter verloren hatte. Wer aber nun glaubt, es hätte jetzt eine bessere Zeit für ihn begonnen, der irrt gewaltig. Es gab Arme in großer Zahl in diesem Städtchen, in England und fast in der ganzen Welt. Und es waren hier an diesem Ort inzwischen so viele geworden, dass sich sogar der Gemeinderat genötigt sah, eine Sitzung diesem Problem zu widmen.
„Den Armen geht es zu gut in unserem Armenhaus!“, stellten die weisen Männer der Gemeinde alsbald fest. „Sie haben die Mahlzeiten umsonst, sie genießen freie Unterkunft, und arbeiten müssen sie auch nicht! Wir müssen etwas dagegen unternehmen.“
Und nach einvernehmlicher Beratung wurde beschlossen, das Wasser und das Essen knapper zu bemessen. Und da man einmal beim Beschließen war, widmete man sich den Frauen, deren Rechte den Herren eindeutig zu umfassend waren. Und damit auch die armen geschiedenen Ehemänner nicht zu kurz kamen, befreite man sie von einem Großteil ihrer Zahlungsverpflichtungen gegenüber den ehemaligen Frauen. Schlussendlich gönnte man sich sogar das Vergnügen, einen Bewohner des Armenhauses höchstpersönlich in Augenschein zu nehmen. „Holen Sie uns den jüngsten Bewohner des Hauses!“ wurde dem Gemeindediener aufgetragen, und wenig später erschien Oliver Twist ängstlich und zitternd vor dem hohen Rat.
„Sei nur ja höflich zu den ehrwürdigen Herren!“, hatte Mr. Bumble den Jungen gewarnt und ihm zur Sicherheit zwei Schläge auf den Rücken verabreicht. Trotzdem bekam Oliver keinen Laut heraus, als einer der Herren ihn nach seinem Namen fragte. Statt dessen liefen ihm mal wieder Tränen über die Wangen, und einer der dickleibigen Herren fragte auch noch: „Warum weinst du denn, Junge?“
Oliver wusste auf diese Frage nicht zu antworten.
„Hör zu, Knabe“, sprach ihn daraufhin ein anderer Herr an, „du weißt hoffentlich, dass du ein Waisenkind bist, oder?“
„Was ist das?“ fragte Oliver und erntete damit verächtliches Lachen.
Um es kurz zu machen: Der Gemeinderat befasste sich nicht lange mit dem kleinen Oliver. Es wurde verfügt, ihn zu den anderen verstoßenen und verwaisten Kindern im Armenhaus zu tun. Dort ging es kaum anders zu als bei der gemeinen Mrs. Mann – ja, manches wurde sogar noch schlimmer.
Der Raum, in dem die Jungen ihr Essen bekamen, war eine steinerne Halle, in der sich kaum mehr befand als ein großer Kupferkessel. Aus dem schöpfte der Vorsteher im Beisein von zwei Gehilfinnen zu den Mahlzeiten eine Art Grütze, ein Napf pro Junge, und an Festtagen gab es sage und schreibe auch noch ein Stückchen Brot extra. Nun muss man auch noch erwähnen, dass es sich bei den Näpfen um nicht gerade große Gefäße handelte. Man könnte sagen: Die Löffel waren kaum kleiner als die Näpfe. Nur die Mägen der Jungen ... die waren wohl deutlich größer als beides.
Kurz gesagt: Die Anordnungen des Gemeinderates taten ihre Wirkung. Zwar entstanden neue Kosten im Armenhaus, weil plötzlich so viel mehr Bestattungen bezahlt werden mussten, aber dies wollte man ja gerne auf sich nehmen.
So litten Oliver und seine verbliebenen Leidensgenossen Tag für Tag, Woche für Woche Höllenqualen, und jeder, aber auch jeder war vom Hungertod bedroht. Als schließlich sogar einer der größeren Jungen ankündigte, eines Nachts über seinen kleinen Bettgenossen herzufallen, wenn er nicht umgehend einen zweiten Napf Grütze pro Tag bekäme, da wurde heimlich Rat gehalten und beschlossen, dass sich ein Junge zum Vorsteher begeben musste, um ihn um mehr Essen zu bitten – und das Los fiel auf Oliver Twist.
Der Abend kam, und die Jungen versammelten sich wie gewohnt im Essraum. Der Vorsteher rührte in der dünnen Brühe, und die Helferinnen verteilten die Näpfe. Ein Gebet wurde gesprochen, und man darf es laut sagen: Dies dauerte länger als das Leeren der Schüsselchen. Und dann kam der Moment, vor dem Oliver riesige Angst hatte: Nach ein paar Knuffen von seinen Nachbarn stand er vom Tisch auf, ging mit seinem Napf zu dem Vorsteher und sagte: „Bitte, mein Herr, ich möchte noch etwas mehr!“