Das Buch
Grenzen begleiten die Menschheit von ihrem Anbeginn. In frühesten Kulturen gab es Stammesgrenzen, die zugleich die Jagdgründe markierten. Frühe Hochkulturen kannten sprachliche, kulturelle und ethnische Räume, die es zu schützen galt. Wer eindrang, wurde als Feind bekämpft. Das hat sich bis heute kaum geändert. Alexander Demandt nimmt uns mit auf eine Reise zu den Grenzen der Welt – nicht nur zu denen von Raum und Zeit, sondern auch zu den Grenzen des Denkens und Wissens.
Der Autor
ALEXANDER DEMANDT, geboren 1937 in Marburg, war von 1974 bis 2005 Althistoriker und Kulturwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. Zu seinem umfangreichen Werk gehören Bücher über das Römische Reich und über Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Zuletzt erschienen bei Propyläen Zeit. Eine Kulturgeschichte, Über die Deutschen. Eine kleine Kulturgeschichte und Es hätte auch anders kommen können. Wendepunkte deutscher Geschichte.
Alexander Demandt
GRENZEN
Geschichte und Gegenwart
2020
Propyläen
Propyläen wurde 1919 durch die Verlegerfamilie Ullstein als Verlag für hochwertige Editionen gegründet. Der Verlagsname geht zurück auf den monumentalen Torbau zum heiligen Bezirk der Athener Akropolis aus dem 5. Jh. v. Chr. Heute steht der Propyläen-Verlag für anspruchsvolle und fundierte Bücher aus Geschichte, Zeitgeschichte, Politik und Kultur.
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ISBN: 978-3-8437-2185-1
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Lektorat: Jan Martin Ogiermann
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Umschlagmotiv: © Bridgeman Images
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Im Gedenken an Jürgen Deininger
(1937 bis 2017)
VORREDE
* M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1968, 206, von 1904.
Max Weber hat der Geschichtswissenschaft einmal »ewige Jugendlichkeit« zugesprochen, weil der Lauf der Zeit dem Historiker immer neue Fragestellungen zuführt.* Denn während die Natur uns ein im wesentlichen gleichbleibendes Bild darbietet, ändert sich das, was uns die Geschichte zeigt, vor unseren Augen, seit jüngeren Jahren immer schneller, und so erscheint die Vergangenheit in wechselndem Licht.
Heute gilt das zumal für Nutzen und Nachteil von Grenzen, worüber man wohl noch nie so viel gesprochen, geschrieben und gestritten hat wie in den letzten Jahrzehnten. Der Grund liegt auf der Hand. Alte Grenzen öffnen sich, neue Grenzen schließen sich. Grenzen garantieren Frieden und motivieren Kriege. Grenzen schützen Gemeinschaften, aber erschweren den Verkehr. Es gibt Eingrenzungen und Ausgrenzungen, Abgrenzungen und Entgrenzungen auf allen Lebensgebieten: in der Gesellschaft und in der Wirtschaft, in der Religion und in der Kultur, vor allem aber in der Politik. Was der Begriff des Staates bedeutet, hängt davon ab, wie er seine Grenzen handhabt. In früheren Jahrhunderten ging es darum: Wo liegen sie? Heute fragen wir: Wie sehen sie aus?
Der Historiker setzt gegenwärtige Probleme mit vergangenen Phänomenen in Bezug. Er öffnet Perspektiven, sucht das Gewordene aus dem Werden zu verstehen und durch Vergleiche Urteilsmaßstäbe zu gewinnen. Wie kann man heute etwas, für sich gesehen, treffend einschätzen? Ob es früher schon genauso oder ganz anders war, ist gleichermaßen erkenntnisfördernd. Das läßt sich nicht zuletzt durch einen Blick auf Geschichte und Gegenwart der Grenzen zeigen.
Der Plan zu dem vorliegenden Buch geht zurück auf die wie immer anregenden Gespräche mit Christian Seeger vom Propyläen-Verlag in Berlin. Im Anschluß an meine Kulturgeschichte der Zeit von 2015 wünschte er ein ähnliches Werk über den Raum. Das aber hätte mich überfordert. Machbar schien ein Buch über Grenzen. Daß dabei auch der abgegrenzte, zumeist staatliche Raum wenigstens benannt werden mußte, gehört zur Sache. Staatsgrenzen sind untrennbar von Staatengeschichte. Eine Vorarbeit bot mein Sammelband ›Deutschlands Grenzen in der Geschichte‹. Er beruht auf einer Ringvorlesung am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin im Winter 1987/88, als eine große Grenzveränderung in der Luft lag. Als sie eingetreten war, erschien das Buch 1990 bei C. H. Beck in München.
Dem hier unternommenen thematischen Längsschnitt durch die Zeiten, den ich mutandis mutatis schon an anderen Themen versucht habe, gehen Überlegungen zur Grenze als Grundkategorie voraus. Denn alles ist irgendwo begrenzt, nicht zuletzt unser Leben. Wenn ich verschiedentlich eigene ältere Publikationen herangezogen habe, auch Selbsterlebtes aus meinen Tagebüchern und Briefen und bloß Erinnertes einfließen lasse, bitte ich dafür um Nachsicht. Ein Alterswerk enthält irgendwie die Biographie des Autors. Daß ihn Auswahl und Schwerpunkte des Dargestellten verraten, ist dem Leser nicht zu verheimlichen. Auch er wird bei der Lektüre auswählen und gewichten. Findet er nicht, was er sucht, so könnte er doch finden, was er nicht gesucht hat.
Verzichten mußte ich auf die Nennung sämtlicher Quellen und auf die Beigabe aller zum Verständnis erforderlichen Landkarten sowie auf die Erörterung der Um- und Abwege der Forschung, die sich meist aus unberechtigten Verallgemeinerungen von zutreffenden Einzelbeobachtungen ergaben. Zu jedem Kapitel gibt es Hunderte von Publikationen. Die Kenntnisse mehren sich auf dem Papier schneller als in den Köpfen. Mit wachsendem Wissen wächst die Ahnung vom Nichtgewußten. Mich tröstet Cornelius Nepos in seiner Atticus-Vita (11,3): Difficile est omnia persequi et non necessarium. Immerhin konnte und mußte ich beim Schreiben keines meiner Bücher so viel lesen und lernen wie bei diesem. Ich habe meinen Lohn darin und kann mit Marie von Ebner-Eschenbach sagen: Der Tag der Aussaat war der Tag der Ernte.
Danken muß ich für Hilfen verschiedenster Art: Peter Bernard in Lindheim, Manfred Clauss in Hennef, Julian Führer in Zürich, Josef Isensee in Bonn, Sven Kellerhoff in Berlin, Peter Lachmann in Marburg, Norbert Oellers in Bonn, Manfried Rauchensteiner in Wien und Heinrich Schlange-Schöningen in Saarbrücken. Alina und Tudor Soroceanu in Berlin haben Literatur beschafft, Gernot Eschrich in Breitbrunn hat den gesamten Text ein erstes Mal lektoriert. Der Lektor des Verlags Jan Martin Ogiermann hat mich vor manchem Irrtum bewahrt.
Auch Bruder Ecke und meine Söhne Acis und Philipp haben beigesteuert. Insbesondere aber danke ich einmal mehr Hiltrud Führer, nicht nur für ihre unermüdlich tätige und wachsam kritische Mitarbeit. Gewidmet sei das Buch dem Andenken an Jürgen Deininger, dem ich meine Berufung nach Berlin 1974 verdanke. Nirgend anderswo hätten sich mir solche Wirkungsmöglichkeiten geboten. Damit verabschiede ich mich erst einmal aus der res publica litteraria bis auf weiteres. Scripsi quod placuit, legat cui prodest!
Lindheim, im Februar 2020
Alexander Demandt
I. GRENZE ALS GRUNDKATEGORIE
I. Grenze als Grundkategorie
Nullius rei finis est,
sed in orbem nexa sunt omnia.
Seneca
»Es muß bei jedem Wort das ursprünglich Gemeinte beachtet werden«, heißt es bei Epikur.1 Auch wenn der Sinn sich wandelt, bleibt die Grundbedeutung im Hintergrund für das Verständnis wirksam. Das gilt bei dem Wort »Grenze« nicht nur für seine verschiedenen räumlichen Bedeutungen, sondern ebenso für die Verwendung in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang, für die positiven und negativen Funktionen und die Formen grenzübergreifender Übergänge. Treffend meinte Seneca: Nichts hat ein wirkliches Ende, sondern alles ist irgendwie miteinander verknüpft im Kreislauf der Dinge.2
A.
Wort und Begriff
1. Wörter
Das Wort »Grenze« geht zurück auf polnisch granica oder graniza, zuerst belegt in einer Urkunde des Herzogs Kasimir I von Pommern, datiert 1174. Er bestätigt und beschreibt den Grundbesitz des Zisterzienserklosters Dargun bei Neubrandenburg und notiert genau die termini. Unter den Fixpunkten erscheint eine mit einem Kreuz gekennzeichnete Eiche, quod signum dicitur Slavice Knezegranica – »Fürstengrenzmarke«. Markante Eichen oder Buchen sind im Osten mehrfach als Grenzpunkte bezeugt. Das Wort graniza wird von einem Stamm abgeleitet, der »hervorragen, spitz sein« bedeutet und im deutschen Wort »Granne« steckt. Das Wort graniza begegnet uns danach mehrfach in Urkunden aus dem slawisch-deutschen Grenzbereich, eingedeutscht als graniz in der Kanzlei des Deutschen Ordens in Preußen ab 1258.3
In die Umgangssprache gelangte das Wort »Grenze« durch Luthers Bibelübersetzung, wo es oft auftaucht, so im Deuteronomium: »Verflucht sei, wer seines Nächsten Grenzen engert!«,4 und im 74. Psalm: »Du hast dem Land seine Grenzen gesetzt.« Herodes befahl den Kindermord in Bethlehem und »an ihren ganzen Grenzen«. In der revidierten Lutherübersetzung der Württembergischen Bibelanstalt Stuttgart von 1967 heißt es verständlicher: »und in der ganzen Gegend«.5 Im griechischen Text steht hier horia, Plural von horion; in der Vulgata des Hieronymus fines. Mit der Lutherbibel verbreitete sich das Wort »Grenze« zunächst im hochdeutschen Sprachgebiet der sächsischen Kanzleisprache, kam dann in den Gebieten in Umlauf, die sich der Reformation anschlossen, so in der Schweiz. In Bayern drang das Wort erst im späteren 16. Jahrhundert durch, findet sich indessen beim bayerischen Hofhistoriographen Aventinus († 1534), der freilich als scharfer Kritiker des Papsttums wegen Ketzereiverdacht zeitweilig einsitzen mußte.6
Das altdeutsche Wort für Grenze lautet »Mark«. Schon Wulfila im 4. Jahrhundert übersetzt in seiner gotischen Bibel das griechische horion mit marcha. Das Wort hat nichts zu tun mit »Mark« im Sinne von »Knochenmark«, wohl aber mit »Marke, markieren, merken« und mit lateinisch margo – »Rand« und daher »marginal«. So wie »Grenze« bedeutet »Mark« ursprünglich »Kennzeichen« und wurde für die Landabgrenzung verwendet. Aus Grenzpunkten wurden Grenzlinien und aus diesen Grenzflächen und zwar einerseits im Sinne von »begrenzter Fläche«, denken wir an die mittelalterliche Dorfmark, und andererseits im Sinne von »Gebiet an der Reichsgrenze«, wie die Mark Brandenburg,7 damals Grenzland und Landesgrenze zugleich. Die »Mark Silbers« ist ein gekennzeichnetes Gewicht, die »Reichsmark« ein gestempeltes Geldstück.
Im Griechischen steht meist horos für »Grenze« im geographischen Sinn, oft als Inschrift auf Grenzsteinen.8 Unser Wort »Horizont« stammt daher. Im übertragenen Sinn gibt es bei Platon die »Grenze des Bedarfs« im Gegensatz zum unbegrenzten Geldstreben und die »Grenzen des Warenangebots« auf dem Markt.9 Horos heißt bei Platon zudem soviel wie »Begriffsdefinition«; unter den ihm zugeschriebenen Werken gibt es die ›Horoi‹, kurzgefaßte Definitionen, darunter auch die von horos selbst: es sei der Begriff für die »Unterschiede der sprachüblichen Arten«. Gleichbedeutend ist horismos. Aphorismen, aphorismoi, sind kurzgefaßte Lehrsätze, so die zur Medizin von Hippokrates aus dem 4. Jahrhundert v. Chr., aus den Komödien des Publilius Syrus aus dem 1. Jahrhundert v. Chr., aus der Neuzeit die der französischen Moralisten und die ›Aphorismen zur Lebensweisheit‹ von Arthur Schopenhauer (†1860), die von Marie von Ebner-Eschenbach (1879) und vom Autor huius (2006). In der Bedeutung »Grenze« findet sich auch das Wort to telos, sonst soviel wie »Ende, Ziel, Vollendung«. Teleologie ist die Lehre von der Entwicklung auf einen vorbestimmten Endzweck zu. Bei den griechischen Philosophen gibt es oft to peras im Sinne von »Begrenzung, Ende«, meist übertragen gebraucht, im Gegensatz zu apeiron, dem Unbegrenzten.
Vielfältige Bedeutungen hat auch lateinisch finis, Plural fines. Im Sinne von »Ende« ist finis ein zeitlicher oder ein räumlicher Grenzpunkt; mit dem Plural fines ist eine Grenzlinie gemeint oder dann die umgrenzte Fläche. Fines auxi, rühmt sich Augustus testamentarisch,10 denn er hat das »Reichsgebiet vergrößert«, indem er die Grenze bis zum Rhein und zur Donau vorgeschoben hat. Aus dem westlichen Reichsgebiet sind 27 Orte bekannt, die Fines oder Ad fines heißen. Sie liegen an Provinz-, Stammes- oder Reichsgrenzen und verweisen teilweise in ihrem heutigen Namen auf den römischen Ursprung, so der Vinxtbach am Niederrhein oder Pfyn am Hochrhein.
Wo die Grenze nicht als End- und Außengrenze gedacht ist, sondern als Grenzscheide, die nach beiden Seiten blickt, verwendet der Lateiner confinium; confinis ist der Grenznachbar. Im übertragenen Sinne ist confinium die Grenze zwischen Lebensaltern, Monaten oder zwischen Tag und Nacht, Wissenschaft und Irrtum. Da finire auch »bestimmen« heißt, ist infinitum das nach Maß und Art Unbestimmte; der Infinitiv ist die unbestimmte Verbform, zum Beispiel finire – »bestimmen«, während eine finite Verbalform wie finio – »ich bestimme« bestimmt ist durch »erste Person Singular, Präsens, Indikativ, Aktiv«.
Räumliche und zeitliche Bedeutung hat auch der Begriff terminus.11 Im Singular ist es der Grenzstein, im Plural sind termini die Grenzlinien. Die indogermanische Wurzel des Wortes ter, verwandt mit »durch«, heißt »überschreiten« und hebt auf die Passierbarkeit ab. Im Sinne von Ende, Ziel, Höchstmaß wird terminus zeitlich und sachlich gebraucht, so terminus vitae und terminus gloriae. Wir organisieren unsere Zeit mit Hilfe eines »Terminkalenders«. Das Wort terminus technicus ist eine moderne Prägung. Die Verheißung Juppiters an die Römer bei Vergil his ego nec metas rerum nec tempora pono12 (»diesen setze ich weder im Raum noch in der Zeit Grenzen«) verwendet meta im Sinne von Spitzsäule am Ziel, an der Grenze des Erdkreises, und tempora als befristete Zeit. Das folgende Versprechen eines imperium sine fine zielt auf die erhoffte – und bisher bestätigte – aeternitas Romae. Rein räumliche Bedeutung haben lateinisch limes – »Grenzweg, Grenzlinie« – und frons – »Stirn, Vorder- oder Außenseite«, auch im Sinne von »Front«.13
2. Funktionen
Grenze ist eine Grundkategorie der Conditio humana, eine universale, unabdingbare Voraussetzung beim Wahrnehmen und Bezeichnen, beim Denken und Handeln. Grenzen liegen bereits der Annahme von Kategorien zugrunde, von denen es ja mehrere gibt, seit sie Aristoteles in die Philosophie eingeführt hat, der Sache nach aber bei Platon schon vorfand, nämlich Identität und Differenz, Beharrung und Wandel. Identität beruht auf Diversität und Kontinuität, auf Resistenz gegen beliebige Veränderung. Alles, was Form hat, gewinnt diese durch seine Grenzen; jeder Gegenstand, den wir erkennen, zeigt sich in seinen Konturen, seinem Profil. Begrenzung ermöglicht die Erkenntnis von Formen und Gestalten. Neugeborene sehen zunächst nur Helleres oder Dunkleres, verschwommene Farben, bevor sie Konturen wahrnehmen, Gegenstände sehen und dann auch benennen lernen.
Überall da, wo Unterscheidung erforderlich ist (Wo beginnt das andere?), wo Trennung erfolgt (Wo liegt die Scheidelinie?), überall da, wo Steigerung möglich ist (Von wo aus, bis wohin?), wo Verneinung geschieht (Wie weit gilt ein Begriff?), da wird eine Grenze vorgefunden, vermutet oder gesetzt. Alles hat irgendwo, irgendwann, irgendwie einen Anfang und ein Ende. Quelle und Mündung begrenzen einen Fluß; Angriff und Friede begrenzen einen Krieg; Geburt und Tod begrenzen unser Leben, das uns begrenzte Möglichkeiten des Handelns und schier unbegrenzte Möglichkeiten des Denkens eröffnet.
Aristoteles »definiert« das Wort peras als »äußerste Erstreckung jeder Sache«,14 als Umfang eines Raumes oder einer Zeit, eines Sachbereichs und eines Begriffsinhalts, jeweils durch eine Benennung bestimmt. Diese gilt nur innerhalb gewisser Grenzen, die damit in die Inhaltsangabe eingehen. Jeder Begriff, den wir verwenden und »definieren«, gilt nur innerhalb seiner Begrenzung, räumlich, zeitlich und sachlich. »Definierte« Bedeutungsgrenzen für Wörter und Zeichen sind Grundbedingung sprachlicher und gedanklicher Erfassung der Welt, eine Voraussetzung für soziale Verständigung und menschliches Zusammenleben. Insbesondere die Wissenschaft erfordert möglichst eindeutig und genau abgegrenzte Einheiten im Reich der Phänomene, damit ihre Bezeichnung, Messung und Zählung möglich werden.
Grenzen trennen durch Feindschaft und verbinden durch Nachbarschaft. Elsässer und Badener sind durch eine Staatsgrenze getrennt, und dennoch stehen sie einander näher als Erstere den gleichfalls französischen Basken an der Biskaya und Letztere den ebenfalls deutschen Wenden im Spreewald. Durch eine Grenze getrennte Bereiche haben räumlich den Boden gemeinsam, auf dem die Linie verläuft, so Frankreich und Deutschland den Boden Europas. Spätantike und Frühmittelalter stoßen im ersten Jahrtausend aneinander, wo genau auch immer die Grenze liegen mag. Affen und Menschen, als Arten geschieden, sind als Primaten verbunden. Grenzen haben ein Janusgesicht. Sie blicken nach zwei Seiten, nach innen und außen, als Bewegung gedacht »bis hier« oder »von hier«, als Ende und Anfang.
Grenzen gliedern das Universum der Phänomene, sie konstituieren Identität durch Differenz, trennen Eigenart von Andersartigkeit, Innen von Außen, Diesseits von Jenseits. Sie prägen das Begrenzte, den jeweils endlichen Ausschnitt aus der unendlichen Menge der Phänomene. Diesen Gedanken führt Platon in seinem Dialog ›Philebos‹ aus. Sokrates erklärt dort seinem jungen Freund Protarchos, daß die Erkennbarkeit der Dinge auf einer Mischung von Begrenztheit (peras) und Unbegrenztheit (apeiron) beruhe. Was ist damit gemeint? Vielleicht läßt sich der Gedankengang folgendermaßen nachzeichnen: Die Dinge erscheinen uns als in sich geschlossen und gegen ihre Umgebung abgegrenzt, gehören somit zur »Sippe« (genna) der Begrenztheit. Was wir wahrnehmen, das sind aber nicht die Dinge selbst, sondern das ist die Summe ihrer Eigenschaften, die wir separat registrieren und sofort zu einem Ganzen zusammenfügen. Eigenschaften wie Größe, Helligkeit, Temperatur und so weiter sind steiger- oder verminderbar, unterliegen einem Mehr oder Weniger und gehören daher zur Sippe des Unbegrenzten. Diese doppelte Zugehörigkeit der Dinge, ihre Abgegrenztheit im Unbegrenzten macht sie erkennbar und zählbar. So erklärt Sokrates auch die Wahrnehmung der Jahreszeiten und der musikalischen Intervalle.15 Das erinnert an die Zahlenlehre des Pythagoras.16
Sinngrenzen, die den Inhalt einer räumlichen, zeitlichen oder sachlichen Einheit umfassen, sind von innen her gedacht. Sie liegen da, wo es nicht mehr weitergeht, wo real oder begrifflich etwas Neues beginnt; sie sind das Ende eines Weges oder der Rand eines Raumes, der Gipfel eines Berges oder das Ziel einer Bemühung. Erst nach der Festlegung dessen, was innen ist, stellt sich die Frage, was außerhalb, jenseits, dahinter ist oder sein könnte, so daß auch ein neuer Anfang gemeint sein kann. Jede Grenze ist eine Negation, und eine Negation enthält eine positive Aussage: die Gattung des Negierten. Sage ich: Bier mag ich nicht, so heißt das: Andere Getränke kommen durchaus in Betracht. Sage ich: Der Mond ist kein Stern, so heißt das: Er ist ein anderer Himmelskörper. Sage ich: Die Demokratie ist am Ende, so heißt das: Der Staat besteht weiter. Außerhalb der römischen Reichsgrenzen liegt ebenfalls eine, eben nicht römische Fläche, sei es Meer oder Wüste, ein befreundeter oder feindlicher Nachbarstaat, je nachdem. Jenseits einer Raumgrenze liegt innerkosmisch17 keine Zeiteinheit und umgekehrt. Nur das Schlaraffenland liegt gemäß Hans Sachs drei Meilen hinter Weihnachten.18
3. Übergänge
Der Begriff »Übergang« beruht auf der Passierbarkeit von Grenzen und anderen Hindernissen und ist wie diese zunächst räumlich gemeint. Der Gedanke an das »Gehen« findet sich ebenso im Lateinischen transitus von ire – »gehen« und transgressio von gradior – »schreiten« sowie im Griechischen metabasis von bainō – »die Beine bewegen«. Eine Überquerung nach beiden Seiten ermöglicht der Schlagbaum oder die Schranke, kontrolliert geöffnet oder geschlossen, so bei einem Grenz- oder Bahnübergang. Naturgegebene Über- und Durchgänge bieten auf Gebirgen Paßstraßen durch eine Klause, denken wir an den Ort Klausen, italienisch Chiusi beim Kloster Säben in Südtirol, in Wüsten tun dies Pisten, durch Flüsse Furten. Wo sie bewacht wurden, um Feinde abzuwehren oder um Zölle einzunehmen, entstanden Städte wie Frankfurt am Main oder Frankfurt an der Oder. Viele Orte entstanden an Brücken, so Osnabrück und Zweibrücken, Brugg an der Aare und Bruck an der Salzach, aber auch Lindheim an der Nidder.
Das klassische Bild des Übergangs bietet die Brücke. Sie bringt einen Weg über ein Verkehrshindernis, gewöhnlich über einen Fluß. Die Brücke verbindet Getrenntes, sie führt durch die Luft wie der Tunnel durch die Erde. Die Technik bezwingt die Natur. Sie rächt sich, wenn der Boden wankt oder der Sturm wütet. Daher steht der heilige Nepomuk »mitten auf der Prager Bruck«. Ist der Fluß eine Hoheitsgrenze, so muß der Übergang gesperrt werden. So hat Horatius Cocles nach der Sage den Zugang zur Tiberbrücke gegen die Etrusker verteidigt, bis sie abgebrochen war, und sich dann selbst schwimmend nach Rom gerettet.19 Varro bringt damit die Worterklärung für pontifex zusammen.20 Priester als »Brückenbauer«, das läßt eher an Vermittlung zu den Göttern denken, so wie nach der Lehre Zarathustras die Seele des Toten die Cinvatbrücke ins Paradies überschreiten muß, aber die des Sünders in die Hölle abstürzt.21
Der Übergang, wird auch aus dem räumlichen auf den zeitlichen und sachlichen Zusammenhang übertragen. Das zeigt der Begriff der Schwelle. Sie erlaubt einen Grenzübertritt zunächst in einen überdachten Raum oder aus ihm heraus,22 dann zeitlich in einen anderen Zustand.23 Die Höhe der Schwelle, etwa der Schwierigkeitsgrad einer Prüfung, verbildlicht die Herausforderung, sie zu überschreiten. Die Schwellenangst betrifft zugleich das, was uns dabei oder danach erwartet. So kann »Übergang« eine menschliche Handlung oder einen begrifflichen Wechsel bezeichnen, einen passierbaren Ort auf einer Grenzlinie sowie eine schmalere oder breitere Grenzzone. Räumlich liegt zwischen Wüste und Savanne die Sahelzone südlich der Sahara, zwischen Land und Meer an der Nordsee das Watt, zeitlich zwischen Tag und Nacht in gemäßigten Breiten die Dämmerung. Eine Pause oder ein Intermezzo, ein Zwischenhalt oder ein Waffenstillstand unterbricht einen Vorgang.
Eine endlose Kette von Übergängen bilden die Umschläge des Wetters, die Mutationen und Metamorphosen in der Evolution, die Macht- und Systemwechsel in der Politik. Der römische interrex, der »Zwischenkönig« übte die Übergangsregierung bei einer Vakanz des Konsulats aus. Das vom Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee erarbeitete Grundgesetz der Bundesrepublik war als »Übergangsordnung« bis zur Wiedervereinigung gedacht. Die Übergangszeit währte von 1949 bis 1990, dann wurde aus der Vorläufigkeit eine Dauerlösung. Ein Provisorium ist ein Wechsel auf die Zukunft. Erst einmal abwarten! Ein kritischer Übergang in der Zeit heißt Krise, abgeleitet von griechisch krinō – »entscheiden«.24
Ein methodisches Problem des Übergangs erwächst daraus, daß eine scharfe Grenze eine Linie erfordert, die der Länge nach durch ausdehnungslose Punkte begrenzt sein kann, aber keine Breite besitzt, also ohne eigene Flächenausdehnung im Raum verläuft, während eine unscharfe Grenze einen Zwischenraum ausfüllt, in dem ein Übergang stattfindet. Die aristotelische Formel ouk estin metabasis eis allo genos (»es gibt keinen Übergang in eine andere Gattung«) betont, daß Begriffsgrenzen ohne Zwischenformen hart aneinanderstoßen, nur ein Entweder-Oder zulassen, während reale Erscheinungen zumeist gleitende Übergänge aufweisen.25
Ein Übergang ist nicht nur die Passage einer Grenze, sondern er hat als Prozeß auch selber Grenzen, einen Anfang und ein Ende. Das gilt wie räumlich so zeitlich, aber auch sachlich im Zuge einer Veränderung auf der Skala der Annäherung an einen anderen Zustand oder Sachbereich durch wachsende Ähnlichkeit bis hin zur Zugehörigkeit, so beim Übergang des Polytheismus zum Monotheismus, von der Novelle zum Roman, von der Kunst zum Kitsch früher und zum Klamauk heute. Wer hier unterscheiden will, muß eine Grenze ziehen. Gleitend ist der Übergang von der Demokratie zur Diktatur. Caesar war zunächst dictator für sechs Monate, dann für zehn Jahre, zuletzt auf Lebenszeit, jeweils durch Volksbeschluß. Der Übergang von der Republik zum Prinzipat vollzog sich in Stufen. Klar ist, wann der Übergang vollzogen ist, nämlich dann, wenn die Macht von der Institution (dem Senat) auf eine Person (den Prinzeps) übergegangen ist. Ein Namenswechsel ist nicht erforderlich. Das Imperium Romanum hieß bis in byzantinische Zeit amtlich res publica Romana.
Der Übergang vollendet sich mit der Überquerung einer Grenzlinie, die zwei Flächen trennt, ohne selbst Fläche zu beanspruchen, zu einem Zeitpunkt, der zwei Zeiträume scheidet, selbst aber keinen Zeitraum einnimmt, momentan erfolgt. Platon substantivierte den Wechsel durch den Begriff der Plötzlichkeit, die keinen Raum und keine Zeit füllt, to exaiphnēs, atopos en chronō oudeni.26 Das erfordert die Logik. Besäße ein Grenzpunkt oder eine Grenzlinie eine noch so kleine Fläche, hätte auch diese wiederum lineare Außengrenzen und so weiter ad infinitum in immer kleinere Bereiche, bis die Breite der Grenze verschwindet, so daß wir dem Grenzpunkt und der Grenzlinie Fläche von vornherein absprechen dürfen.
Unklar ist in der Praxis oft, wo, wann und wie ein Übergang beginnt, denn es handelt sich ja um einen Prozeß. Wollen wir seinen Anfang festlegen, stellt sich die Frage: Wie weit gehen wir zurück? Wo fängt der Übergang an, wo liegt der Übergang zum Übergang? Räumlich ist das die Schutzzone vor der Staatsgrenze, etwa der Zollgrenzbezirk mit Sondervollmachten der Zollpolizei. Einer Militärgrenze wie dem Eisernen Vorhang war westlich ein schmaler Schutzstreifen, östlich eine Sperrzone vorgelagert, die nur mit Sonderausweis betreten werden durfte. Das Zonenrandgebiet im Westen genoß besondere Wirtschaftshilfe.
Zeitlich geht es um den Vorlauf des Übergangs, der ja oft ein Untergang ist. Wann und wo begann der Niedergang Roms? Wo lag der Punkt ohne Umkehr? Auch ein plötzlicher Übergang hatte einen Vorlauf, nicht nur der über den Rubico, sondern jeder Kriegsausbruch, jede Revolution, jede Bekehrung. Historische Prozesse, die auf einen Übergang zusteuern, zeigen Trichterstruktur, indem sich die möglichen Auswege verengen, die Entwicklung sich beschleunigt, der Druck sich steigert. Die Wahrscheinlichkeit eines Endes wächst mit der zeitlichen Annäherung, und es wird immer schwieriger, zuletzt unmöglich, den Gang der Dinge aufzuhalten oder umzulenken.27
Den Begriff des Übergangs verspottet Goethe einmal in ›Dichtung und Wahrheit‹ (III 12). In Wetzlar begeisterte die jungen Männer das Ritterwesen mit seinen Sitten und Riten. So gab es damals einen philosophisch-mystischen »Orden« mit Rangstufen. »Der erste Grad hieß Übergang, der zweite des Übergangs Übergang, der dritte des Übergangs Übergang zum Übergang und der vierte des Übergangs Übergang zu des Übergangs Übergang.« Damit hatte die Steigerung ihre praktische Grenze erreicht, die theoretische wurde offenbar nicht ins Auge gefaßt.
Grenzübergänge haben Ereignisqualität und werden durch besondere Zeremonien hervorgehoben. Die Ethnologen sprechen nach Arnold van Gennep (1909) von rites de passage. Der Jahreswechsel ist bei vielen Völkern ein hohes Fest, das höchste im kaiserzeitlichen Rom, im heutigen Persien, in China. Vielgestaltig sind die Übergänge in ein anderes Lebensalter: der Eintritt in die Mündigkeit durch das Anlegen der Männertoga bei den Römern, der Ritterschlag mit der Waffenleite im Mittelalter, die Taufe mit der Namensgebung bei den Christen, die Konfirmation als »Entlassung ins Leben«, das Tragen des Kopftuchs mit Eintritt der Geschlechtsreife bei muslimischen Mädchen. Das sieht der Koran so nicht vor und geht nach altpersischer Legende auf Alexander den Großen zurück, der verhindern wollte, daß seine Krieger sich verlieben.28
Ein Spaß ist die Äquatortaufe für den Schiffsjungen, der zum ersten Mal den Äquator überquert. Eine Beschreibung der Zeremonie liefert der Korvettenkapitän Felix Graf von Luckner im Zusammenhang mit seinen Abenteuern zur See im Ersten Weltkrieg. Am Abend zuvor taucht Neptun mit Gefolge aus dem Meer auf und fragt nach dem Namen des Schiffes. Es hieß »Niobe«. Dann fordert er vom Kapitän die Liste mit den passierwilligen Täuflingen und verschwindet wieder in der Tiefe. Am nächsten Tag erscheint der Meergott wieder, phantastisch kostümiert und begleitet von seiner »Frau«, vom Pastor, dem Barbier, dem Einseifer mit der großen Quaste und dem Teerpott. »Neger« bilden den Geleitschutz. Begrüßung, Aufstellung, ein riesiges Taufbecken, darüber ein Sitzbrett. Jedem Täufling verliest der Pastor die Epistel und das Gelübde. Nach dem »Ja« wird der Täufling geschwärzt, »rasiert« und ins Becken gestürzt, wo er sechsmal untertauchen muß. Nun erhält er die Taufurkunde für die vollzogene Reinigung, und der nächste Täufling steht bereit. Früher habe, so Luckner, die Taufe im »Kielholen« bestanden, einer grausamen Strafaktion, bei der mancher ein Opfer der Haie geworden sei, so daß man diese Prozedur abgeschafft habe.29