Das Buch
Seien Sie radikal ehrlich. Denken Sie daran, dass es sich um ein Team handelt, nicht um eine Familie. Und versuchen Sie nie, Ihrem Chef nach dem Mund zu reden. Dies sind einige der Prinzipien, die für alle gelten, die bei Netflix arbeiten.
Gründer und CEO Reed Hastings verrät erstmals die Erfolgsstrategien, mit denen sein Unternehmen vom Versandhändler für DVDs zur gefeierten Streaming-Supermacht geworden ist: nicht nur durch Spitzengehälter, sondern vor allem durch eine Kultur der Offenheit und Transparenz, die Erhöhung der Talentdichte sowie die konsequente Abschaffung von Kontrollmechanismen.
Die Autoren
Reed Hastings ist Gründer und CEO von Netflix. Er hat einen Abschluß des Bowdoin Colleges und einen Master in Künstlicher Intelligenz der Stanford University. Dazwischen diente er als Freiwilliger im Friedenscorps in Swasiland. Reed Hastings ist aktiver Bildungsphilanthrop. Von 2000 bis 2004 war er Mitglied des California State Board of Education.
Erin Meyer ist Professorin an der INSEAD Business School in Paris, einer der renommiertesten privaten Wirtschaftshochschulen weltweit. Sie ist Autorin von The Culture Map und wurde 2019 von Thinkers50 in die Rangliste der 50 wichtigsten Management-Denker aufgenommen.
Reed Hastings | Erin Meyer
KEINE
REGELN
Warum Netflix so erfolgreich ist
Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Stephan Gebauer
ECON
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel
No Rules Rules. Netflix and the Culture of Reinvention
bei Penguin Press, New York.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.ullstein-buchverlage.de
Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.
Hinweis zu Urheberrechten
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.
Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
ISBN: 978-3-8437-2268-1
© Netflix, Inc., 2020
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Redaktion: Michael Schickerling, schickerling.cc, München
Umschlaggestaltung: FHCM® Designagentur, Berlin
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
EINLEITUNG
Reed Hastings: »Blockbuster ist tausendmal größer als wir«, flüsterte ich Marc Randolph zu, als wir den weitläufigen Sitzungssaal im 27. Stock des Renaissance Tower in Dallas betraten. Es war im Jahr 2000, und dies war der Firmensitz von Blockbuster Inc., einem 6 Milliarden Dollar schweren Unternehmen, das mit seinen fast 9000 Filialen in aller Welt das Home Entertainment beherrschte.
Der Geschäftsführer von Blockbuster, John Antioco, der als gewiefter Stratege galt und dem klar war, dass ein allgegenwärtiges, schnelles Internet die Branche auf den Kopf stellen würde, begrüßte uns freundlich. Er hatte einen grau melierten Ziegenbart und trug einen teuren Anzug.
Während Antioco vollkommen entspannt wirkte, konnte ich meine Nerven kaum im Zaum halten. Marc und ich hatten gemeinsam ein Unternehmen gegründet, das den Leuten die Möglichkeit gab, auf einer Website DVDs zu bestellen, die wir ihnen mit der Post zuschickten. Nach zwei Jahren hatte unser winziges Start-up-Unternehmen hundert Mitarbeiter, etwa dreihunderttausend Abonnenten und viele Anlaufschwierigkeiten. Allein in jenem Jahr sollten sich unsere Verluste auf 57 Millionen Dollar belaufen. Wir wollten unbedingt mit Blockbuster ins Geschäft kommen und hatten uns monatelang abgestrampelt, nur um einen Termin bei Antioco zu erhalten.
Wir ließen uns an einem massiven Glastisch nieder, und nach ein paar Minuten freundlichen Geplauders legten Marc und ich unser Angebot vor. Wir schlugen Blockbuster vor, Netflix zu übernehmen, damit wir Blockbuster.com als Online-Videoverleih des Unternehmens aufbauen konnten. Antioco hörte aufmerksam zu, nickte wiederholt und fragte schließlich: »Wie viel müsste Blockbuster für Netflix bezahlen?« Als er unsere Antwort hörte, lehnte er rundweg ab: Netflix schien ihm keine 50 Millionen Dollar wert. Marc und ich verließen das Gebäude niedergeschlagen.
Als ich mich in der Nacht ins Bett legte und die Augen schloss, sah ich die sechzigtausend Mitarbeiter von Blockbuster vor mir, die über unseren lächerlichen Vorschlag in schallendes Gelächter ausbrachen. Selbstverständlich war Antioco nicht interessiert. Warum sollte ein marktbeherrschendes Unternehmen wie Blockbuster, das Millionen Kunden hatte, hohe Einnahmen erzielte, einen fähigen Geschäftsführer und eine Marke hatte, die als Synonym des Heimkinos galt, an einem Möchtegern wie Netflix interessiert sein? Gab es irgendetwas, was wir besser machen konnten als sie?
Aber Stück für Stück änderte sich die Welt. Unser Unternehmen behauptete sich und wuchs. Im Jahr 2002, nur zwei Jahre nach jenem Gespräch mit Antioco, brachten wir Netflix an die Börse. Blockbuster war immer noch hundertmal größer als wir (mit einem Jahresumsatz von 5 Milliarden gegenüber unseren 50 Millionen). Außerdem gehörte Blockbuster zu Viacom, das zu jener Zeit das wertvollste Medienunternehmen in der Welt war. Doch im Jahr 2010 meldete Blockbuster Konkurs an. Neun Jahre später gab es auf der ganzen Welt nur noch eine einzige Blockbuster-Filiale in Bend (Oregon). Das Unternehmen hatte den Sprung vom DVD-Verleih zum Streaming nicht geschafft.
Im Jahr 2019 wurde unser Film Roma in der Kategorie »Bester Film« für den Oscar nominiert und gewann drei Statuetten, was ein großer Erfolg für den Regisseur Alfonso Cuarón war und die Verwandlung von Netflix in ein echtes Unterhaltungsunternehmen unterstrich. Es war lange her, dass wir nicht nur vom DVD-Verleih per Post zum Internet-Streaming-Dienst mit über 167 Millionen Abonnenten in 190 Ländern übergangen waren, sondern uns zu einem wichtigen Produzenten von Fernsehserien und Filmen in aller Welt gemausert hatten. Wir hatten die Ehre gehabt, mit einigen der begabtesten Filmschaffenden zusammenzuarbeiten, darunter Shonda Rhimes, Joel und Ethan Coen sowie Martin Scorsese. Wir hatten den Zuschauern in aller Welt eine neue Möglichkeit eröffnet, schöne Geschichten zu genießen, die in ihren schönsten Augenblicken Grenzen überwanden und das Leben der Menschen bereicherten.
Ich werde oft gefragt: »Wie war das möglich?« Wie schaffte es Netflix wiederholt, sich anzupassen, während Blockbuster nicht dazu in der Lage war? An jenem Tag in Dallas hatte Blockbuster alle Trümpfe in der Hand. Es hatte die Marke, die Macht, die Ressourcen und die Vision. Blockbuster konnte uns in die Tasche stecken.
Doch es gab etwas, das zu jener Zeit nicht einmal mir selbst klar war: Wir besaßen etwas, das Blockbuster nicht hatte: eine Kultur, die Menschen über Prozesse stellte, die Innovation Vorrang vor Effizienz gab und weitgehend auf Kontrollmechanismen verzichtete. Unsere Kultur war darauf ausgerichtet, mit einer hohen Talentdichte Spitzenleistungen zu erzielen und die Mitarbeiter nicht zu kontrollieren und zu lenken, sondern ihnen einen Kontext zu bieten, an dem sie sich orientieren konnten, um eigenständig zu entscheiden. Diese Kultur hat es Netflix ermöglicht, kontinuierlich zu wachsen und sich im Gleichschritt mit einer Welt und mit den Bedürfnissen unserer Abonnenten zu wandeln.
Netflix ist anders. Es hat eine Kultur, in der nur eine Regel gilt: keine Regeln.
DIE KULTUR VON NETFLIX IST VERRÜCKT
Erin Meyer: Eine Unternehmenskultur kann ein matschiges Marschland sein, in dem man nie festen Boden unter den Füßen hat, weil die Sprache unbestimmt ist und die Definitionen unvollständig und mehrdeutig sind. Noch schlimmer ist es, wenn die – bekundeten – Werte kaum mit dem tatsächlichen Verhalten der Mitglieder der Organisation übereinstimmen. Die schönen Slogans auf Postern oder in Jahresberichten erweisen sich oft als leere Worte.
Eines der größten amerikanischen Unternehmen verkündete jahrelang in der Eingangshalle seiner Zentrale die folgende Liste von Werten: »Integrität. Kommunikation. Respekt. Vortrefflichkeit.« Das Unternehmen hieß Enron. Es brüstete sich seiner hehren Werte bis zu dem Augenblick, als es in einem der spektakulärsten Betrugs- und Korruptionsskandale der Wirtschaftsgeschichte versank.
Die Netflix-Kultur hingegen ist berühmt – oder berüchtigt, je nachdem, von welcher Seite man es betrachtet – dafür, die Dinge beim Namen zu nennen. Millionen Geschäftsleute haben das »Netflix Culture Deck« studiert, eine Sammlung von 127 Folien, die ursprünglich für den internen Gebrauch bestimmt waren, bevor Reed sie im Jahr 2009 ins Internet stellte. Sheryl Sandberg, COO von Facebook, sagte, das »Culture Deck« sei, »möglicherweise das wichtigste Dokument, das je im Silicon Valley verfasst wurde«. Ich liebte das »Netflix Culture Deck« wegen seiner Aufrichtigkeit, und ich verabscheute es wegen seines Inhalts.
Hier ein Beispiel, um Ihnen zu zeigen, was ich meine:
Abgesehen von der Frage, ob es moralisch richtig ist, tüchtige Mitarbeiter auf die Straße zu setzen, weil es ihnen nicht gelingt, etwas Außergewöhnliches zu leisten, wirkten diese Folien auf mich wie richtig schlechtes Management. Sie verstoßen gegen das Prinzip, das Amy Edmondson von der Harvard Business School als »psychologische Sicherheit« bezeichnet. In ihrem Buch Die angstfreie Organisation erklärt sie, dass man, wenn man Innovation fördern will, eine Umgebung schaffen muss, in der sich die Menschen sicher genug fühlen, um zu träumen, ihre Meinung zu sagen und Risiken einzugehen. Je sicherer die Atmosphäre, desto mehr Innovationen.
Anscheinend hatte niemand bei Netflix dieses Buch gelesen. Man engagiert die besten Leute und flößt seinen talentierten Mitarbeitern anschließend Angst ein, indem man ihnen sagt, dass man sie mit einer »großzügigen Abfindung« auf die Straße setzen wird, wenn sie keine herausragenden Leistungen bringen? Das klang nach einer sicheren Methode, um jegliche Hoffnung auf Innovation zunichtezumachen.
Hier eine weitere Folie aus dem Culture Deck:
Den Mitarbeitern keine Urlaubstage zuzuteilen, schien mir vollkommen unverantwortlich. Das ist eine ausgezeichnete Methode, um Bedingungen wie in einem Sweatshop zu schaffen, in dem niemand wagt, sich einen Tag freizunehmen – und das Ganze wird dann noch als Vergünstigung dargestellt. Doch Mitarbeiter, die Urlaub machen können, sind glücklicher, haben mehr Freude an der Arbeit und sind produktiver. Aber viele Arbeitskräfte zögern, ihre Urlaubszeit auszuschöpfen. Glassdoor gelangte im Jahr 2017 in einer Studie zu dem Ergebnis, dass amerikanische Beschäftigte nur 54 Prozent der ihnen zustehenden Urlaubstage in Anspruch nahmen.
Die Mitarbeiter eines Unternehmens werden wahrscheinlich noch weniger Urlaubstage nehmen, wenn man die Zuteilung von Urlaubszeiten vollkommen beseitigt. Der Grund ist ein gut erforschtes menschliches Verhalten, das die Psychologen als »Verlustaversion« bezeichnen: Wir hassen es, das zu verlieren, was wir bereits haben – und zwar noch mehr, als es uns gefällt, etwas Neues zu bekommen. Angesichts der Möglichkeit, etwas zu verlieren, werden wir alles tun, um diesen Verlust zu vermeiden. Wir nehmen diesen Urlaub.
Teilt man uns jedoch keinen Urlaub zu, so haben wir keine Angst, ihn zu verlieren, was die Wahrscheinlichkeit verringert, dass wir überhaupt Urlaub machen. Der in viele traditionelle Urlaubsregelungen eingebaute Grundsatz »Nimm ihn, oder verzichte darauf!« klingt wie eine Einschränkung, aber tatsächlich ermutigt er die Leute, eine Pause einzulegen.
Und hier eine letzte Folie:
Natürlich würde sich niemand offen für eine Arbeitsumgebung aussprechen, die von Geheimnistuerei und Verlogenheit geprägt ist. Aber manchmal ist es besser, diplomatisch zu sein, als jemandem unverblümt die Meinung zu sagen, zum Beispiel, wenn ein Teammitglied überfordert ist und moralische Unterstützung oder einen Schuss Selbstvertrauen braucht. Jedermann wird dem Grundsatz zustimmen, dass »Ehrlichkeit manchmal das Beste« ist. Aber eine Blankovollmacht für »Ehrlichkeit in jeder Situation« dürfte eher geeignet sein, Beziehungen zu zerstören, die Motivation zu untergraben und eine unangenehme Arbeitsumgebung zu schaffen.
Alles in allem schien mir das »Netflix Culture Deck« übertrieben maskulin, konfrontationsbetont und geradezu aggressiv – was vielleicht zu einem Unternehmen passt, das von einem Ingenieur mit einer etwas mechanistischen, rationalistischen Vorstellung von der menschlichen Natur aufgebaut wurde. Doch trotz alledem ist eines nicht zu leugnen:
NETFLIX IST BEMERKENSWERT ERFOLGREICH
In den 17 Jahren, die zwischen dem Börsengang des Unternehmens und dem Jahr 2019 vergingen, stieg der Kurs der Netflix-Aktie von 1 auf 350 Dollar. Zum Vergleich: Hätte man zum Zeitpunkt des Börsengangs von Netflix 1 Dollar in den S&P 500 oder den NASDAQ investiert, so wären im selben Zeitraum zwischen 3 und 4 Dollar daraus geworden.
Aber nicht nur die Börse liebt Netflix. Konsumenten und Kritiker tun es ebenfalls. Eigenproduktionen wie Orange Is the New Black und The Crown zählen zu den beliebtesten Serien des Jahrzehnts, und Stranger Things ist die vielleicht meistgesehene Fernsehserie der Welt. Nichtenglischsprachige Serien wie Elite in Spanien, Dark in Deutschland, The Protector in der Türkei und Sacred Games (Der Pate von Bombay) in Indien haben die Latte für die heimischen Erzähler höher gelegt und eine neue Generation globaler Serienstars hervorgebracht. In den Vereinigten Staaten hat Netflix in den letzten Jahren mehr als dreihundert Emmy-Nominierungen erhalten und mehrere Oscars gewonnen. Obendrein hat das Unternehmen siebzehn Nominierungen für Golden Globes erhalten, mehr als jeder andere Fernsehsender oder Streaming-Dienst. Es nimmt im jährlichen Ranking des Reputation Institute den ersten Rang als angesehenstes Unternehmen Amerikas ein.
Auch die Mitarbeiter lieben dieses Unternehmen. In einer Umfrage von Hired (einer Online-Jobbörse für Tekkies) wurde Netflix im Jahr 2018 als beliebtester Arbeitgeber eingestuft, womit es vor Unternehmen wie Google (Rang 2), Tesla (Rang 3) und Apple (Rang 3) landete. In einem weiteren Ranking, das von Comparably, einer auf Gehaltsvergleiche und Karrieremöglichkeiten spezialisierten Online-Plattform, anhand von mehr als fünf Millionen anonymen Beurteilungen von Arbeitskräften aus 45000 amerikanischen Großunternehmen erstellt wurde, nahm Netflix unter Tausenden Unternehmen den zweiten Rang hinsichtlich der Mitarbeiterzufriedenheit ein. (Es musste nur HubSpot den Vortritt lassen, einer in Cambridge ansässigen Software-Firma.)
Besonders interessant ist, dass Netflix anders als die große Mehrheit der Unternehmen, die dann scheitern, wenn sich ihre Branche grundlegend wandelt, innerhalb von nur fünfzehn Jahren erfolgreich auf vier massive Umwälzungen im Unterhaltungs- und Geschäftsumfeld reagiert hat:
Diese waren:
• der Übergang vom DVD-Verleih per Post zum Streaming alter Fernsehserien über das Internet,
• der Übergang vom Streaming alter Inhalte zu Originalproduktionen (wie House of Cards), die von externen Filmstudios übernommen wurden,
• der Übergang von der Ausstrahlung von Lizenzproduktionen externer Filmstudios zum Aufbau eines eigenen Studios, das preisgekrönte Serien und Filme wie Stranger Things, Haus des Geldes und The Ballad of Buster Scruggs produziert,
• der Übergang von einem auf die Vereinigten Staaten beschränkten zu einem global tätigen Unternehmen, das Zuschauern in 190 Ländern Unterhaltung anbietet.
Der Erfolg von Netflix ist mehr als außergewöhnlich, er ist unglaublich. In diesem Unternehmen geschieht offensichtlich etwas Einzigartiges, etwas, das bei Blockbuster nicht geschehen war, als das Unternehmen 2010 Konkurs anmeldete.
EIN ANDERSARTIGER ARBEITSPLATZ
Die Geschichte von Blockbuster ist keine Anomalie. Die große Mehrheit der Unternehmen geht unter, wenn sich ihre Branche grundlegend wandelt. Kodak war nicht in der Lage, sich von der Papierfotografie auf die Digitalfotografie umzustellen. Nokia schaffe es nicht, sich vom Klapphandy auf das Smartphone umzustellen. AOL war nicht in der Lage, sich von der Datenübertragung per Einwahlverbindung auf das Breitband umzustellen. Mein erstes Unternehmen Pure Software konnte sich ebenfalls nicht an Branchenveränderungen anpassen, weil unsere Unternehmenskultur nicht auf Innovation und Flexibilität ausgerichtet war.
Ich hatte Pure Software im Jahr 1991 gegründet. Anfangs funktionierte unsere Unternehmenskultur sehr gut. Wir waren nur ein Dutzend Leute, die etwas Neues entwickelten (eine Reihe von Debugging-Werkzeugen für komplexe Software-Systeme) und viel Spaß hatten. Wie viele kleine Unternehmen wurden wir bei der Arbeit kaum durch Regeln oder Verfahren eingeengt. Wenn unser Marketingexperte beschloss, daheim zu arbeiten, weil er »besser denken konnte«, wenn er sich eine Schale mit Lucky-Charms-Flakes füllen konnte, wann immer ihm danach zumute war, musste er dazu nicht erst die Erlaubnis des Managements einholen. Wenn die für die Gebäudeverwaltung zuständige Frau vierzehn Schreibtischsessel im Leopardenfelllook kaufen wollte, weil Office Depot sie im Sonderangebot hatte, musste sie kein Bestellformular ausfüllen, um sich grünes Licht vom Finanzchef zu holen.
Dann begann Pure Software zu wachsen. Wir stellten neue Mitarbeiter ein, von denen einige blöde Fehler begingen, die das Unternehmen Geld kosteten. Wann immer so etwas geschah, führte ich einen Prozess ein, damit sich dieser Fehler nicht wiederholt. Beispielsweise fuhr unser Verkaufsmanager Matthew eines Tages nach Washington, um sich mit einem potenziellen Kunden zu treffen. Der Kunde war im Fünfsternehotel Willard International untergebracht, weshalb sich Matthew ebenfalls dort einmietete – für 700 Dollar pro Nacht. Als ich das herausfand, war ich frustriert. Ich wies unsere Ein-Mann-Personalabteilung an, eine Reiserichtlinie aufzusetzen, aus der hervorging, wie viel die Mitarbeiter für Flugreisen, Essen und Hotelzimmer ausgeben durfte; ab einem bestimmten Betrag mussten Spesen vom Management abgesegnet werden.
Sheila, die für unsere Finanzen zuständig war, hatte einen schwarzen Pudel, den sie manchmal ins Büro mitbrachte. Eines Morgens kam ich ins Büro und stellte fest, dass der Hund im Konferenzzimmer ein großes Loch in den Teppich gefressen hatte. Es kostete ein Vermögen, den Teppich zu ersetzen. Also stellte ich eine weitere Regel auf: keine Hunde im Büro ohne Sondergenehmigung der Personalabteilung.
Verfahren und Kontrollmechanismen wurden ein fester Bestandteil unserer Arbeit, was zur Folge hatte, dass jene Leute befördert wurden, die nie über die Linien malten, während sich viele unangepasste kreative Personen erstickt fühlten und sich einen anderen Job suchten. Ich bedauerte es, dass sie gingen, aber ich war der Meinung, das sei normal, wenn ein Unternehmen wuchs.
Dann passierten zwei Dinge. Erstens verloren wir die Fähigkeit zu rascher Innovation. Wir gewannen an Effizienz und büßten Kreativität ein. Um wachsen zu können, mussten wir Unternehmen kaufen, die in der Lage waren, innovative Produkte zu entwickeln. Das erhöhte die Komplexität unserer Tätigkeit, was wiederum zur Einführung weiterer Regeln und Prozesse führte.
Zweitens ging der Markt von C++ zu Java über. Wenn wir überleben wollten, mussten wir in eine ganz andere Richtung gehen. Aber wir hatten Mitarbeiter ausgewählt und geprägt, die Prozessen folgten; wir hatten keine Mitarbeiter, die eigenwillig dachten oder flexibel waren. Wir waren unfähig, uns anzupassen, und 1997 verkauften wir schließlich das Unternehmen an unseren größten Konkurrenten.
In meinem nächsten Unternehmen Netflix wollte ich die Flexibilität fördern, den Mitarbeitern Freiheit geben und Innovation anregen, statt Fehler zu vermeiden und Regeln durchzusetzen. Gleichzeitig war mir bewusst, dass ein Unternehmen, das wächst, wahrscheinlich ins Chaos abgleiten wird, wenn es nicht mit Regeln und Kontrollmaßnahmen geführt wird.
Dank einer schrittweisen langjährigen Entwicklung durch Versuch und Irrtum fanden wir einen Weg, das zu bewerkstelligen. Wenn man den Mitarbeitern größere Freiheit gibt, statt Prozesse zu entwickeln, die sie davon abhalten, ihr eigenes Urteilsvermögen anzuwenden, werden sie bessere Entscheidungen fällen, und es wird leichter, sie zur Verantwortung zu ziehen. So erhält man zudem glücklichere und besser motivierte Mitarbeiter und ein schlankeres Unternehmen. Aber um ein Fundament für ein solches Maß an Freiheit zu legen, muss man sich zuerst auf zwei andere Elemente konzentrieren:
+ Erhöhung der Talentdichte:
In den meisten Unternehmen werden Regeln und Kontrollverfahren eingeführt, um Mitarbeiter in Schach zu halten, die sich nachlässig, unprofessionell oder unverantwortlich verhalten. Aber wenn man solche Mitarbeiter erst gar nicht einstellt oder wieder entlässt, braucht man die Regeln nicht. Wenn man eine Organisation aufbaut, die aus Spitzenkräften – auch High Performer genannt – besteht, kann man die meisten Kontrollmechanismen beseitigen. Je größer die Talentdichte, desto mehr Freiheit kann man anbieten.
+ Mehr Offenheit:
Talentierte Mitarbeiter müssen sehr viel voneinander lernen. Aber die normalen Spielregeln für das menschliche Miteinander hindern die Mitarbeiter oft daran, einander das Feedback zu geben, das nötig ist, um ihre Leistungen auf eine höhere Stufe zu heben. Wenn sich talentierte Mitarbeiter daran gewöhnen, Feedback zu geben und anzunehmen, werden sie alle ihre Arbeit besser ausführen und implizit Verantwortung füreinander übernehmen, womit die Notwendigkeit traditioneller Kontrollen weiter verringert wird.
– Weniger Kontrollmechanismen:
Zunächst muss man ein paar Seiten aus dem Mitarbeiterhandbuch herausreißen. Regelungen für Reisespesen, Ausgaben, Urlaubszeiten – all das ist verzichtbar. Wenn die Talentdichte größer und das Feedback häufiger und offener werden, kann man Genehmigungsverfahren in der gemeinsamen Organisation beseitigen, den Managern stattdessen Prinzipien wie »Führung durch Kontext, nicht Kontrolle« beibringen und den Mitarbeitern Leitlinien wie »Versuche nicht, es dem Chef recht zu machen« einschärfen.
Hat man einmal begonnen, eine solche Kultur zu errichten, kommt ein positiver Kreislauf in Gang. Die Beseitigung von unnötigen Kontrollmechanismen ermöglicht die Entstehung einer Kultur der »Freiheit und Verantwortung«, welche die besten Leute anlockt und eine weitere Verringerung der Kontrolle ermöglicht. So erreicht man ein Niveau von Geschwindigkeit und Innovation, mit dem die meisten anderen Unternehmen nicht mithalten können. Aber es ist unmöglich, dieses Niveau auf einen Schlag zu erreichen.
Die ersten neun Kapitel dieses Buchs sind diesem dreistufigen Implementierungsverfahren gewidmet, wobei jeder Zyklus einem Teil entspricht. Im zehnten Kapitel sehen wir uns dann an, was passierte, als wir begannen, unsere Unternehmenskultur in verschiedene nationale Kulturen zu integrieren – ein Schritt, der uns vor interessante und große Herausforderungen stellte.
Selbstverständlich gehören zu jedem experimentellen Projekt Erfolge und Fehlschläge. Das Leben bei Netflix ist – wie das Leben im Allgemeinen – ein bisschen komplizierter, als man aus diesem tornadoförmigen Schaubild schließen könnte. Deshalb bat ich eine außenstehende Person, unsere Kultur zu studieren und gemeinsam mit mir dieses Buch zu schreiben. Ich wollte, dass sich ein unvoreingenommener Experte genau ansieht, wie die Kultur in unserem Unternehmen tatsächlich im Alltag funktioniert.
Ich kam auf Erin Meyer, deren Buch Die Culture Map ich gerade gelesen hatte. Erin unterrichtete am INSEAD in Paris und war gerade von den Thinkers 50 als einer der innovativsten Köpfe auf dem Gebiet der Betriebswirtschaft eingestuft worden. Sie veröffentlicht regelmäßig in der Harvard Business Review ihre Forschungsergebnisse zu kulturellen Unterschieden am Arbeitsplatz, und aus ihrem Buch erfuhr ich, dass sie zehn Jahre vor mir ebenfalls als Freiwillige mit dem Friedenskorps im südlichen Afrika gewesen war und als Lehrerin gearbeitet hatte. Ich schickte ihr eine Nachricht.
Im Februar 2015 las ich in der Huffington Post einen Artikel mit der Überschrift »Ein Grund für den Erfolg von Netflix: Es behandelt seine Mitarbeiter wie Erwachsene«. Darin hieß es:
Netflix geht davon aus, dass seine Leute ein großartiges Urteilsvermögen besitzen. [ …] Und ein gutes Urteilsvermögen ist die Lösung für fast jedes komplexe Problem. Nicht die Prozesse.
Die Kehrseite [ …] ist, dass von den Mitarbeitern extreme Spitzenleistungen erwartet werden. Andernfalls wird ihnen rasch der Weg zur Tür gezeigt (mit einer großzügigen Abfindung).
Meine Neugier wuchs, ich wollte wissen, wie ein Unternehmen im Alltag erfolgreich arbeiten konnte. Ein Mangel an Prozessen muss eigentlich zum Chaos führen, und indem man Mitarbeiter, denen es nicht gelingt, Spitzenleistungen zu bringen, automatisch auf die Straße setzt, versetzt man die Belegschaft zwangsläufig in Angst und Schrecken. Doch einige Monate später fand ich eines Morgens folgende E-Mail in meinem Posteingang:
Von: Reed Hastings
Datum: 31. Mai 2015
Betreff: Friedenskorps und Buch
Erin,
ich war mit dem Friedenskorps in Swasiland (1983–85). Heute bin ich der Geschäftsführer von Netflix. Ihr Buch hat mir sehr gefallen, und wir geben es allen unseren Managern zu lesen.
Ich würde mich gerne einmal mit Ihnen auf einen Kaffee treffen. Ich bin oft in Paris.
Die Welt ist klein!
Reed
Reed und ich lernten einander kennen, und schließlich schlug er mir vor, ich sollte Netflix-Mitarbeiter interviewen, um mir aus erster Hand ein Bild von der Netflix-Kultur zu machen, und Material sammeln, damit ich gemeinsam mit ihm ein Buch schreiben könne. Ich hatte die Chance, herauszufinden, wie ein Unternehmen, dessen Kultur allem widersprach, was wir über Psychologie, Betriebsführung und das menschliche Verhalten wissen, so bemerkenswerte Resultate erzielen konnte.
Mittlerweile habe ich mehr als zweihundert Interviews mit gegenwärtigen und ehemaligen Mitarbeitern von Netflix im Silicon Valley, in Hollywood, São Paulo, Amsterdam, Singapur und Tokio geführt. Ich habe mit Mitarbeitern auf allen Ebenen gesprochen, von Spitzenmanagern bis zu Angestellten in der Verwaltung.
Netflix hält im Allgemeinen wenig von der Anonymität, aber ich bestand darauf, allen Mitarbeitern, mit denen ich sprach, die Möglichkeit zu geben, die Interviews unter dem Schutz der Anonymität durchzuführen. Bei den Personen, die diese Option wählten, gebe ich in diesem Buch nur fiktive Vornamen an. Doch in Einklang mit dem Netflix-Grundsatz »Ehrlichkeit in jeder Situation« waren viele gerne bereit, verschiedenste überraschende und teilweise wenig schmeichelhafte Erkenntnisse und Geschichten über sich selbst und ihren Arbeitgeber mit mir zu teilen und dabei auch namentlich genannt zu werden.
MAN MUSS DIE PUNKTE ANDERS VERBINDEN
In seiner berühmten Rede an der Universität Stanford erklärte Steve Jobs: »Man kann die Punkte nicht zu einem Gesamtbild zusammenfügen, indem man in die Zukunft schaut, man kann das nur im Rückblick. Daher muss man darauf vertrauen, dass sich die Punkte in der Zukunft zusammenfügen werden. Man muss auf etwas vertrauen – auf sein Gespür, Schicksal, Leben, Karma, was auch immer. Dieser Zugang hat bei mir nie versagt und mein Leben geprägt.«
Jobs ist nicht allein mit dieser Einstellung. Richard Bransons Mantra ist »ABCD« (»Always Be Connecting the Dots«). Und David Brier und Fast Company haben ein faszinierendes Video veröffentlicht, in dem sie erklären: Wie ein Mensch die Realität sehe, hänge davon ab, wie er das Bild des Lebens zusammenfüge, Entscheidungen fälle und zu Schlussfolgerungen gelange.
Es geht darum, die Menschen zu ermutigen, sich zu fragen, in welchem Zusammenhang die Dinge stehen. In den meisten Unternehmen verbinden die Leute die Punkte auf dieselbe Art zu einem Gesamtbild, wie es alle anderen tun und immer getan haben. Auf diese Art wird der Status quo erhalten. Aber eines Tages kommt jemand vorbei und verbindet die Punkte anders, wodurch ein vollkommen anderes Bild der Welt entsteht.
Genau das geschah bei Netflix. Trotz seiner Erfahrung bei Pure Software hatte sich Reed nicht unbedingt vorgenommen, ein Unternehmen mit einem einzigartigen Ökosystem aufzubauen. Stattdessen strebte er organisatorische Flexibilität an. Dann passierten einige Dinge, die ihn dazu brachten, die Teile der Unternehmenskultur anders zusammenzusetzen. Als sich die Puzzleteile schließlich zusammenfügten, verstand er – natürlich nur im Nachhinein –, welche Eigenschaften der Unternehmenskultur den Erfolg von Netflix ermöglicht hatten.
In diesem Buch werden wir die Puzzleteile Kapitel für Kapitel in derselben Reihenfolge zusammensetzen, in der wir sie bei Netflix entdeckten. Wir werden uns ansehen, wie sie sich zum gegenwärtigen Arbeitsumfeld bei Netflix zusammenfügen, was wir entlang des Weges gelernt haben und wie der Leser seine eigene Version der Freiheit und Verantwortung in seinem Unternehmen verwirklichen kann.
TEIL I
ERSTE SCHRITTE AUF DEM WEG ZU EINER KULTUR DER FREIHEIT UND VERANTWORTUNG
Zuerst die Talentdichte erhöhen:
1 Ein hervorragender Arbeitsplatz besteht aus großartigen Kollegen
Sodann mehr Offenheit:
2 Mit positiver Grundhaltung aussprechen, was man wirklich denkt
Und nun zur Beseitigung der Kontrollmechanismen:
3 a Abschaffung der Urlaubsregelungen
Weiter mit der Beseitigung von Kontrollmechanismen:
3 b Abschaffung des Genehmigungsverfahrens für Reisespesen und Ausgaben
In diesem Abschnitt werden wir uns ansehen, wie ein Team oder eine Organisation eine der Freiheit und Verantwortung geprägte Kultur errichten kann. Diese Konzepte bauen aufeinander auf. Sie können versuchen, die in den einzelnen Kapiteln beschriebenen Elemente isoliert umzusetzen, aber das kann riskant sein. Sobald Sie über eine hohe Talentdichte verfügen, können Sie sich ohne Risiko der Offenheit zuwenden. Und erst dann können Sie gefahrlos beginnen, die Regelungen zur Kontrolle Ihrer Belegschaft zu beseitigen.
ZUERST DIE TALENTDICHTE ERHÖHEN: