Die Autoren

Naomi Ryland,*1985, lebt seit 2008 in Berlin und ist Gründerin von tbd*, der Karriere-Plattform für Menschen, die sich auf Sinnsuche befinden. Durch tbd* konnten sich bereits eine Million Menschen über nachhaltige Jobs informieren, sich mit Gleichgesinnten vernetzen oder das richtige Team rekrutieren. Naomi hat Germanistik und Intercultural Conflict Management studiert und ist Gründungsmitglied von SEND (Social Entrepreneurship Netzwerk Deutschland).
Lisa Jaspers, *1983, ist mit „Folkdays“ angetreten, das angestaubte Image von Fair-Trade-Produkten aufzupolieren. Durch den Verkauf von Kleidung, Schmuck, Taschen usw. hat sie für hunderte von Menschen aus den ärmsten Regionen der Welt ein Einkommen geschaffen. Lisa hat Politik und Entwicklungsökonomie studiert und arbeitete als Beraterin u.a. für Oxfam, wo sie Naomi Ryland kennenlernte.

Das Buch

Die Berliner Startup-Gründerinnen Lisa Jaspers und Naomi Ryland sehnten sich nach neuen Wegen für ihren Berufsalltag: Wie können Normen wie Wachstum um jeden Preis, Wettbewerb, Druck, Konkurrenz und Aggressivität gebrochen werden? Wie kann angesichts der globalen Herausforderungen in Zeiten der digitalen Transformation und desillusionierter Arbeitnehmer*innen ein Kulturwandel in Firmen gelingen?
Sie sprachen mit sieben internationalen Unternehmerinnen, die Themen wie Führung und Leadership, Personal- und Organisationsentwicklung, Innovation und Finanzierung fundamental anders angehen und damit erfolgreich sind. Die Frauen stellen konventionelle Business-Wahrheiten auf den Kopf. Mit klugen Überlegungen und handfesten Tipps machen sie Lust auf eine Revolution in der Arbeitswelt – für alle.
Ein horizonterweiterndes, mit vielen persönlichen Erfahrungen angereichertes Buch und ein wegweisendes Manifest für die Wirtschaftswelt von morgen.

Naomi Ryland und Lisa Jaspers

Starting a Revolution

Was wir von Unternehmerinnen über die Zukunft der Arbeitswelt lernen können

Aus dem Englischen
von Violeta Topalova

Ullstein

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www.ullstein-buchverlage.de

Econ ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
© für Illustrationen: Thulani Yose-Simantov
Autorinnenfoto Naomi Ryland: © Carolin Weinkopf
Autorinnenfoto Lisa Jaspers: © Catherine Schröder
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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2331-2

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Widmung

Für unsere Eltern

Vorwort



Naomis Geschichte:
Der Funke, der das Feuer entfachte

Sei aggressiv. Zeig keine Schwäche. Gib nie zu, dass du etwas nicht weißt, sondern rede einfach irgendetwas, und löse die Probleme später. Übertreibe bei der Umsatzprognose. Sprich darüber, wie du deine Konkurrenz ausschalten wirst. Erzähle den potenziellen Investor*innen, dass es bereits andere Interessent*innen gibt, egal, ob das stimmt oder nicht. Stelle beide Füße fest auf den Boden, und straffe die Schultern. Senke deine Stimme.

All diese Ratschläge bekamen meine Mitgründerinnen und ich zu hören, als wir uns für unsere Firma tbd* auf Investor*innen-Suche begaben. Es sind gute Tipps. Genau so muss man es machen, wenn man im Start-up-System von heute an Kapital kommen will. Teilweise basieren diese Ratschläge auf unserer menschlichen Konditionierung: Wir setzen Maskulinität mit Selbstbewusstsein gleich und verwechseln dieses dann mit Kompetenz.1 Soweit ich es beurteilen kann, funktioniert diese Herangehensweise für ziemlich viele Start-up-Gründer*innen. Aber mich brachte sie zum Nachdenken. Führt nicht genau dieses System, in dem vor allem die extrovertierten, vor Selbstbewusstsein strotzenden Blender*innen erfolgreich sind, zu einer Welt, in der acht Männer genauso viel Vermögen besitzen wie 50 Prozent der Weltbevölkerung?2 Und will ich ein Teil dieses Wirtschaftssystems sein? Gibt es keinen anderen Weg?

Zugegeben, meine Mitgründerinnen und ich sind vielleicht etwas naiv an die ganze Start-up-Sache herangegangen. 2014 gewannen wir einen Platz in einem Inkubator-Programm zur Förderung von Unternehmensgründungen. Von den insgesamt 20 Teams waren wir das einzige rein weibliche. Außerdem waren wir die einzige Firma mit einer sozialen Mission: Mit tbd*, einer Jobbörse und Online-Community, wollten wir Menschen in Arbeit bringen, die dem Planeten und der Gesellschaft zugutekommt, zu einer Zeit, bevor es so richtig im Trend war. Wir waren Pionierinnen.

Doch ohne es zu merken, verloren wir uns schon bald in den Untiefen des unternehmerischen »Business as usual«. Nach ein paar Monaten begannen wir mit der Suche nach Investor*innen, weil wir dachten, das sei der logische nächste Schritt. Wir wollten Impact-Investor*innen, die unsere sozialen Ziele unterstützen würden, aber von allen Seiten riet man uns, außerdem auch nach klassischen Investor*innen Ausschau zu halten. Und dem Rat folgten wir.


Diese Entscheidung veränderte alles. Dank meiner Privilegien als weiße Europäerin aus der Mittelschicht war die Suche nach Investor*innen tatsächlich das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, mich bewusst für ein Spiel entscheiden zu müssen, das ich eigentlich nicht mitspielen wollte. Doch ich dachte, um eine Finanzierung für tbd* zu bekommen, würde ich die Zähne zusammenbeißen und in die Schlacht ziehen müssen. Mit einem klaren Fokus auf die monetären Ziele und mit wenig Rücksicht darauf, was dies für mich, die eigenen Mitarbeiter*innen, Zulieferer*innen, Konkurrent*innen oder Investor*innen bedeuten könnte.

Ich hatte nie Angst davor, hart zu arbeiten. Dieses Spiel spiele ich schon mein ganzes Leben und bin bisher immer ganz gut damit gefahren. Also versuchte ich, mich auch dieses Mal mit harter Arbeit durchzubeißen. Aber irgendetwas sträubte sich in mir, und ich fühlte mich immer unwohler. Jeden Tag gegen meine eigene Intuition ankämpfen zu müssen, war nicht leicht. Trotzdem trafen wir immer neue Investor*innen (es war tatsächlich nur eine Frau dabei) und erzählten ihnen, was sie hören wollten. Ich kam an den Punkt, dass mir vor Meetings regelmäßig übel wurde und ich am liebsten losgeheult hätte. Auf Pitch-Veranstaltungen beobachtete ich die Männer auf dem Podium, die oft vor Selbstbewusstsein nur so strotzten (selbst, wenn sie schlecht vorbereitet waren), und versuchte, sie zu imitieren. Und wenn ich mich einschleimen und das Ego von Investor*innen streicheln musste, machte ich auch das. Ich fühlte mich schrecklich dabei, und es schien noch nicht mal wirklich zu fruchten. Zu unserem ersten Investoren-Meeting hatten wir einen männlichen Angestellten mitgebracht – und der Investor sprach tatsächlich ausschließlich ihn namentlich an und richtete das Wort kein einziges Mal an mich oder meine Mitgründerinnen. Von einem anderen Investor bekamen wir das Feedback, dass wir arrogant wirken würden. Andere gaben uns unterschwellig das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden – wir wurden häufiger nach unserer Freundschaft untereinander als nach unserer Qualifikation gefragt.


Zu guter Letzt bekamen wir unser Kapital von klugen und herzlichen Impact-Investor*innen, die hinter unserer sozialen Mission standen. So konnten wir eine Firma aufbauen und am Laufen halten, die Tausenden Einzelpersonen und Organisationen dabei hilft, die Welt jeden Tag ein bisschen besser zu machen.

Unsere Erfahrungen bei der Kapitalbeschaffung hatten uns jedoch einen Einblick in eine Welt verschafft, mit der wir bis dahin im Grunde nichts zu tun hatten. Durch den Prozess wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass die Start-up-Szene meist stereotypes Alpha-Verhalten belohnt, das meiner Meinung nach aus einer Kombination der unangenehmsten menschlichen Eigenschaften besteht. Spürte ich dieses Unbehagen, weil ich eine Frau bin? Bis zu einem gewissen Grad sicherlich. Aber ich kenne auch viele Männer, die diese Investment-Kultur ablehnen. Unsere Erkenntnis, dass wir dieses Spiel nicht länger mitspielen wollten, kam leider spät. Nach der ersten Finanzierungsrunde schwor ich mir und meinen Mitgründerinnen: so nie wieder!

Aber wie finanziert man sein Unternehmen, wenn man den altbekannten Weg nicht gehen will? Und was noch wichtiger ist: Wie baut man eine Firma auf? Die Gründung und Finanzierung meiner Firma war der Anfang eines langen und schmerzhaften Prozesses: Ich erkannte langsam, dass ich unabsichtlich einen Beitrag dazu leistete, ein kaputtes System aufrechtzuerhalten, das viel mehr umfasst als die Beschaffung von finanziellen Mitteln. Denn unsere Wahrnehmung davon, wie man richtig führt und welche Rolle Wachstum spielt, ist durch ein Bild von Erfolg bestimmt, das bisher von einer sehr kleinen, sehr homogenen Gruppe von Menschen geprägt wurde. Dieses Buch zu schreiben, war das letzte Puzzlestück, das mir noch fehlte: Denn endlich lernte ich, wie man es anders machen kann. Ich lernte, wie man eine Revolution startet.

Als das Haus einstürzte

Meine Mitgründerinnen und ich wollten unsere Firma von Anfang an anders führen. Wir wollten menschlich, nahbar und wertschätzend sein. Wir wollten eine Arbeitsumgebung schaffen, in der wir uns wohlfühlten. Wir wollten selbst Spaß bei der Arbeit haben, aber vor allem eine Atmosphäre ermöglichen, in der sich unser Team wohlfühlte. Wir wollten unsere Arbeit gut machen, und mehr als das, wir wollten die Welt verändern (zu niedrig gesteckte Ziele waren noch nie unser Problem). Wir wollten die größte globale Marke für Impact-Berufe werden und dabei finanziell abgesichert sein, ja vielleicht sogar in Wohlstand leben. Das alles wollten wir erreichen, ohne Kompromisse einzugehen und ohne unsere Integrität zu gefährden. Wir wollten unsere Konkurrenz nicht ausschalten, sondern mit ihr zusammenarbeiten. Wir wollten nicht ausschließlich gewinnorientiert arbeiten. Wir wollten unsere Mitarbeiter*innen nicht unter Druck setzen. Wir haben Millionen Menschen erreicht, Preise gewonnen, Keynote-Vorträge gehalten und Interviews gegeben. Und trotzdem haben wir genau das gemacht, was wir eigentlich nicht wollten: Wir haben uns so sehr unter Druck gesetzt, dass wir fast daran zerbrochen sind. In den letzten Jahren hatten meine beiden Mitgründerinnen Burn-outs. Auch im restlichen Team kriselte es immer wieder, was dazu führte, dass wir ein paar großartige Leute verloren.

Aber diese Krisenmomente waren nur die Spitze des Eisbergs. Wir hatten uns zwar vorgenommen, alles anders zu machen – aber als wir uns umschauten, wurde uns klar, dass wir weiterhin Gefangene des Systems waren. Wir waren bestimmt keine Tyrannen und behandelten unsere Angestellten respektvoll, ließen ihnen eine Menge Freiheit, waren freundlich und versuchten, die Chefinnen zu sein, die wir selbst gerne gehabt hätten. Doch wir arbeiteten bis zur Erschöpfung, weil wir ihnen ein »gutes Beispiel« sein wollten, und das spiegelte auch unsere Erwartungen an das Team wider. Vor allem ich hatte verinnerlicht, dass allein Stress und Druck zu produktiver Arbeit führen können, und gab diese Einstellung – bewusst wie unbewusst – an unsere Mitarbeiter*innen weiter. Einige begannen, uns zu abzulehnen. Schlecht über uns zu sprechen. Obwohl wir »nette Chefinnen« waren, hatten wir es irgendwie geschafft, die Arbeitsatmosphäre zu vergiften und dadurch auch unseren eigenen Alltag unangenehm und belastend zu machen. Warum war es uns nicht möglich gewesen, die Arbeitsumgebung so zu gestalten, wie wir es uns vorgenommen hatten?

Weil wir nicht wussten, wie man die Dinge anders macht. Und ich meine nicht ein bisschen anders. Ich meine radikal anders. Uns fehlten Vorbilder, und im Alltagsgeschäft unserer kleinen, ehrgeizigen Firma waren wir in alte Gewohnheiten verfallen, die wir in früheren Jobs verinnerlicht hatten und die in der uns umgebenden Start-up-Kultur gefeiert wurden.

Eines Abends, eine besonders anstrengende Arbeitsphase lag gerade hinter mir, verließ ich tränenüberströmt mein Büro. Schon wieder gab es Probleme mit einer Mitarbeiterin, und ich wusste nicht weiter. Ich rief Lisa an und sagte ihr, dass ich alles hinschmeißen wolle (nicht zum ersten Mal). Sie kam vorbei und setzte sich zu mir aufs Sofa, hörte mir wie schon so oft mit viel Mitgefühl zu und sagte mir dann so bestimmt, wie es nur eine Deutsche kann, dass ich endlich etwas ändern müsse. Es könne doch nicht sein, dass ich den Job in meiner eigenen Firma nicht wirklich möge. »Arbeit muss nicht hart sein, und man muss sich nicht schlecht dabei fühlen«, sagte sie. »Wenn es sich falsch anfühlt, dann mach es eben anders.«

»Ich weiß nicht, ob das geht«, antwortete ich.

»Lass es uns versuchen«, sagte Lisa.

Und so begann unsere Revolution.



Lisas Geschichte:
Der Geruch von Büroteppich

Arbeiten hat mir eigentlich nie wirklich Spaß gemacht, trotzdem war ich objektiv betrachtet »erfolgreich«. Ich arbeitete für renommierte Firmen und Organisationen, meine Projekte liefen gut. Meist stand ich, gemeinsam mit motivierten Kolleg*innen, im Dienst einer guten Sache. Die Arbeitsatmosphäre war freundlich, die Hierarchien waren flach, Diversität wurde großgeschrieben – obwohl die Geschäftsleitungen hauptsächlich männlich waren. Ich weiß, ich hätte mich mit diesen Jobs auch glücklich schätzen können.

Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, an einen Ort gefesselt zu sein, an dem ich eigentlich nicht sein wollte. Noch heute habe ich den Geruch des Büroteppichs in der Nase, der meine Stimmung jeden Morgen verdüsterte, sobald ich das Büro betrat. Rückblickend gab es ein paar Schlüsselmomente, in denen sich mein Unbehagen immer mehr steigerte. Ich weiß noch, wie ich in einem wichtigen Meeting einige Ideen präsentierte, mit denen sich die Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen verbessern lassen könnte. Fast sofort schnitt mir eine Abteilungsleiterin das Wort ab. Sie sagte, meine Ideen interessierten sie nicht, da mir ganz offensichtlich die nötige Expertise fehle. Vielleicht wirkte ich damals jung und unerfahren auf sie, wie eine naive Besserwisserin. Ich wollte mit meinen Vorschlägen aber einfach nur etwas Gutes erreichen, ohne irgendwelche Hintergedanken. Der Führungsstil dieser Abteilungsleiterin war schwierig – möglicherweise, weil sie selbst nie gelernt hat, dass Führung auch anders funktionieren kann.

Nach und nach wurde mir klar, dass ich zwar zu Hause ich selbst sein konnte, bei der Arbeit aber andere Regeln galten, denen ich folgen musste. Ich beobachtete, wie meine Kolleg*innen sich verhielten, und passte mich an. Ich lernte, meine Meinung für mich zu behalten, dem vorgegebenen Weg zu folgen und sogar Wissen zurückzuhalten, um es im richtigen Moment einzusetzen und damit zu glänzen. Ich akzeptierte, dass Entscheidungen, die direkten Einfluss auf meine Arbeit hatten, oft von anderen getroffen wurden und mein Einfluss drauf begrenzt war. Und obwohl alle immer sagten, dass nur die Ergebnisse zählten, galten die am längsten im Büro sitzenden Kolleg*innen als die fleißigsten. Außerdem stellte ich fest, dass es nicht gern gesehen war, wenn jemand bei der Arbeit »emotional« wurde, Gefühle wie Enttäuschung, Zweifel, Trauer, aber auch Euphorie und Begeisterung wirkten fehl am Platz. Man durfte »überrascht« oder »verwundert«, vielleicht sogar mal »irritiert« sein, aber das war’s dann auch.

Um mich diesen Regeln anzupassen, musste ich einen Teil dessen, was mich als Person ausmacht, zu Hause lassen. Ich teilte meine Identität in mein »Arbeits-Ich« und mein »Privat-Ich«, was dazu führte, dass ich mich bei der Arbeit nie als ganzer Mensch fühlte, egal, wie erfolgreich ich war. Ich war überzeugt davon, dass etwas mit mir nicht stimmte. War ich wirklich so unprofessionell, so unreif, so unsicher und so übertrieben emotional? Ich war nie besonders selbstbewusst gewesen, und diese ständigen Selbstzweifel machten mich noch unsicherer. Außerdem war es nicht leicht, ständig zwischen den beiden Persönlichkeiten hin und her zu wechseln. Je dominanter mein »Arbeits-Ich« wurde, desto mehr litt mein »Privat-Ich«. Mein Erfolg im Job wuchs, aber privat wurde ich immer unglücklicher.

Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung, also suchte ich mir Hilfe und begann eine Therapie. Langsam verstand ich, dass das Gefühl, bei der Arbeit nicht dazuzugehören, nicht bedeutete, versagt zu haben – vielleicht war dieses Gefühl berechtigt und wichtig. Ich lernte, dass ich zu streng und kritisch mit mir war und dass es kein Zeichen von Stärke ist, in einem Job zu bleiben, der mir keinen Spaß machte. Voller Zuversicht kündigte ich schließlich und gründete im August 2013 meine eigene Firma, das Fair-Fashion-Label Folkdays. Ich war beflügelt von der Vorstellung, endlich eine Arbeit zu haben, die mich erfüllt und glücklich macht.

Mein selbst gebautes Gefängnis

Ich fand es großartig, meine eigene Chefin zu sein und mich nicht nach Strukturen und Regeln richten zu müssen, die andere mir aufzwangen. Jetzt hatte ich die Freiheit, kreativ zu sein und so zu arbeiten, wie es meinen Werten entsprach. Mein neuer Alltag machte mir Spaß, war abwechslungsreich und zutiefst erfüllend. Bald verzeichnete die Firma erste Erfolge, was sehr aufregend war. Doch mit meinen ersten Mitarbeiter*innen rutschte ich langsam in alte Verhaltensmuster zurück. Ich setzte mich selbst unter enormen Druck, und sosehr ich mich auch anstrengte, ich hatte das Gefühl, meinen eigenen Erwartungen nie gerecht zu werden. All die unguten Verhaltensweisen, die ich in meinen vorherigen Jobs verinnerlicht hatte, gab ich fast ungefiltert ins Unternehmen weiter. Auch mit meinen Mitarbeiter*innen war ich streng. Obwohl sie großartige Arbeit leisteten und enorm engagiert waren, äußerte ich Kritik häufiger als Lob. Schlichtweg deshalb, weil ich das für normales Chef*innen-Verhalten hielt.

Dies ging ungefähr zweieinhalb Jahre lang so, bis ich mit einer engen Mitarbeiterin extrem aneinandergeriet. Sie sagte, für mich zu arbeiten, mache sie unglücklich, und sie fühle sich nicht wertgeschätzt. Ich war geschockt. Während dieser sehr emotionalen Auseinandersetzung wurde mir bewusst, dass ich keinesfalls die Chefin war, die ich eigentlich hatte sein wollen. Der Konflikt führte zu einem ziemlich schmerzhaften Feedback-Prozess: Mein »Arbeits-Ich« war, so musste ich feststellen, ziemlich unbeliebt, ich war weder eine positive noch eine effektive Führungspersönlichkeit. Wieder einmal musste ich mir eingestehen, dass ich in meinem Job nicht glücklich war. Sogar in meiner eigenen Firma hatte ich das Gefühl, nicht ich selbst sein zu können! Ich fühlte mich einsam, traurig und gefangen. Aber diesmal hatte ich mir mein Gefängnis selbst gebaut und wusste einfach nicht, wie ich mich daraus befreien sollte.

Wie ich ausbrach

In dieser schwierigen Phase hatte es auch mein »Privat-Ich« nicht leicht. Ich erlitt eine Fehlgeburt, was mich kurzzeitig völlig aus der Bahn warf. Ich versuchte mich abzulenken, um der Traurigkeit nicht zu viel Raum zu geben, und wurde glücklicherweise recht schnell wieder schwanger. Ich erwartete die üblichen Begleiterscheinungen wie Morgenübelkeit, Stimmungsschwankungen, geschwollene Füße und den ganzen Rest, war aber völlig unvorbereitet darauf, wie sehr das in mir heranwachsende Baby meine Einstellung zu mir selbst veränderte. Um dieses Kind beschützen, lieben und umsorgen zu können, musste ich mich selbst beschützen, lieben und umsorgen. Ich hörte auf, bis spät in die Nacht zu arbeiten. Wenn ich schlecht schlief, gönnte ich mir am nächsten Tag ein Nickerchen. Ich hetzte nicht mehr von Termin zu Termin, sondern nahm mir Zeit und versuchte, meine Tage bewusst zu entschleunigen. Und seltsamerweise war ich, obwohl ich weniger Zeit im Büro verbrachte, produktiver als jemals zuvor. Außerdem hatte ich auf diese Weise viel mehr Spaß an der Arbeit, was natürlich auch auf meine Mitarbeiter*innen abfärbte.

Mir war klar, dass ich nach der Geburt Arbeit und Privatleben irgendwie unter einen Hut bekommen musste, was dazu führte, dass die Trennlinie zwischen meinem »Arbeits-Ich« und meinem »Privat-Ich« zu verschwinden begann. Ich öffnete mich einer neuen Art von Beziehung zwischen mir und meinen Mitarbeiter*innen: Freundschaft. Heute ist mein Arbeitsplatz mein zweites Zuhause, und ich liebe meinen Job. Meinen Mitarbeiter*innen gegenüber fühle ich Freundschaft und Verbundenheit. Jede Minute, die wir miteinander verbringen, empfinde ich als Bereicherung.

Als Naomi mir an jenem Abend auf dem Sofa sitzend gestand, dass sie am liebsten alles hinschmeißen würde, verstand ich ihren Schmerz und ihre Enttäuschung sehr gut. Ich wusste aber auch, dass ich es irgendwie geschafft hatte, mich von diesen Gefühlen zu befreien, und dass ich endlich Licht am Ende des Tunnels sah. Nur wusste ich nicht so recht, wie ich dort hingekommen war und was ich Naomi raten sollte.

Eins war klar: Die meisten Tipps, die wir bisher von anderen Gründer*innen bekommen hatten, brachten uns nicht wirklich weiter. Also machten wir uns auf die Suche nach anderen Perspektiven. Und so entdeckten wir die unglaublichen Frauen, ohne die dieses Buch nicht entstanden wäre.