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© 2019 Ernst-Adolf Chantelau
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7494-0210-6
In Berlin-Mitte, zwischen Brandenburger Tor und Leipziger Platz, zieht die Voß-Straße von der Wilhelmstraße zur Ebert-Straße (diese hieß 1938 Hermann-Göring-Straße). Auf dem Gelände zwischen diesen drei Straßen befand sich in den 1930er Jahren die Machtzentrale des Deutschen Reiches mit dem Reichs-Präsidialamt, dem Auswärtigen Amt und der Reichskanzlei, wie ein damaliger Stadtplan belegt. (Abb. 1)
Hier sollte Albert Speer (1905-1981)1 von 1935 bis 1939 für Adolf Hitler (1889-1945) eine Nazi-Reichskanzlei völlig neu erbauen, die sogenannte »Neue Reichskanzlei« (NRK).
Mit 26 Jahren war Speer in die NSDAP eingetreten. Am 30.1.1937 wurde er von seinem Idol Adolf Hitler zum »Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt« bestellt2. Dem damaligen Staatssekretär und Chef der Reichskanzlei, Lammers, gab er sogleich seine Gehaltsvorstellungen bekannt und den Anspruch, neben diesem Amt auch künftig »weiter als Architekt tätig sein zu können, allerdings mit der Einschränkung, dass die von mir zu entwerfenden Bauvorhaben nur vom Führer bestimmt werden können (z.B. Voßstraße)«3. Mit »z.B.Voßstraße« war ein riesiger, burgartiger Gebäudetrakt entlang der Voßstraße gemeint, der seit 1935 geplant wurde, die NRK. Die Bauarbeiten trieb Hitler besonders voran während seiner Aktivitäten zur Expansion des Deutschen Reichs zum »Großdeutschen Reich« durch die gewaltsame Annexion Österreichs: mit der NRK sollte »der erste Staatsbau des Großdeutschen Reiches« entstehen.
Die Straßenfront diente als Kulisse für Hitlers öffentliche Auftritte und als architektonische Machtdemonstration, u.a. gegenüber dem »Versailler Vertrag«4. Die Gebäude-Rückseite (Gartenfront) dagegen wurde als Teil einer nicht-öffentlichen, ca. 28.000 m2 großen Parkanlage inszeniert, Hitlers quasi-privater »Garten«. Demgemäß erweiterte Speer den sogenannten Altbau, d.h. das Reichskanzlerpalais Wilhelmstraße Nr. 77 samt Anbauten und Borsigpalais Wilhelmstraße Ecke Voßstraße, durch einen 421 Meter langen dreigeschossigen Bau an der Voßstraße. Die Gartengrundstücke der Häuser Wilhelmstraße Nr. 74-78 mit ihrem alten Baumbestand5 vereinigte er zu einem Park, der nach Westen und Norden durch eine Mauer mit Pergola begrenzt wurde, nach Süden von den Neubauten an der Voßstraße, und nach Osten vom Altbau. Ein 30x15 m großes rechteckiges, mit Steinplatten eingefasstes Wasserbassin (»Brunnen«) wurde angelegt, sowie rechteckige Blumenrabatten ähnlicher Größe mit Kieswegen. An der Nordseite des »Gartens« wurde – für kleine Geselligkeiten – ein 30 m langes, eingeschossiges Gebäude errichtet (»Gewächshaus« bzw. »Teehaus« genannt). An der Westseite, angrenzend an die beiden Bediensteten-Wohnblocks an der Hermann-Göring-Straße (jetzt Ebert-Straße), waren unterirdisch Garagen mit Werkstatt und Bunker für Kraftfahrer eingebaut worden. Im mittleren Gartenbereich gab es nach 1943 einen unterirdischen Bunker für Hitlers Personal, und im östlichen Bereich den »Führerbunker«.
Als das Hauptgebäude der NRK am 9. Januar 1939 in Betrieb genommen wurde – die bekannten 3 Meter hohen Breker-Bronzen »Die Wehrmacht« und »Die Partei«6 im Eingangsbereich (»Ehrenhof«) waren gerade noch rechtzeitig fertig geworden – war das Parkgelände noch Baustelle7. Erst am 25. Mai 1939 konnte die Fertigstellung vermeldet werden8. Da standen insgesamt vier Bronzeplastiken von Thorak, Klimsch und Tuaillon auf ihren Podesten und wurden sogleich bei Sonnenschein, blühenden Blumenbeeten und frisch begrünten Bäumen fotografiert9. Vier weitere Sockel – an den Ecken des Wasserbassins – waren dagegen noch leer10 und sollten es bis zum totalen Ende der NRK bleiben.
Schmuckfiguren im Areal hinter der Reichskanzlei hatte es schon einmal gegeben, seit Hitler dort eingezogen war: nach dem Ende der Olympiade in Berlin 1936. Damals wurden im östlichen Gartenbereich hinter dem Altbau (dem alten Reichskanzlerpalais) zwei bronzene Antikenkopien aus dem Besitz des »Deutschen Organisationskomitees für die XI. Olympischen Spiele« aufgestellt: »Ringer aus Herculaneum« und »Poseidon«. Sie sind seit Fertigstellung des »Gartens« der NRK Ende Mai 1939 dort nicht mehr nachgewiesen (s.u.).
Hitler hat offenbar kaum einen Fuß in den »Garten« seiner NRK gesetzt. Jedenfalls ist er auf Fotos nie darin zu sehen – wenn überhaupt, nur im »alten« Garten hinter dem sogenannten Altbau, dem Reichskanzlerpalais Wilhelmstr. Nr. 77, wo ihn sein Leibfotograf Heinrich Hoffmann geknipst hat (u.a. beim Füttern eines Eichhörnchens (1939), bei der Vorführung eines »Volkstraktors« (1941), beim Promenieren mit Familie Goebbels (1936), bei Kaffee und Kuchen (1936)11). Im Park der NRK sind solche und andere Zusammenkünfte fotografisch nicht nachgewiesen (siehe die Bildarchive von Bundesarchiv, bpk, akg) – mit Ausnahme einer Szene am 20. März 1945, als Kindersoldaten (»Hitlerjungen«), die eine militärische Auszeichnung (»Eisernes Kreuz«) erhalten hatten, vor der Gartenterrasse angetreten waren, um vom »Führer« samt seinem Gefolge belobigt zu werden12.
In der Schlacht um Berlin war die NRK bis zuletzt umkämpft. Hier beging Hitler am 30. April 1945 Selbstmord, hier im Garten verbrannten seine Leute die Leiche. Was von der NRK bei Kriegsende übrig geblieben war, wurde 1947-1949 gesprengt und bis 1988 abgerissen und enttrümmert. Anschließend wurde das Gelände neu bebaut. Den Schmuckfiguren im Garten wurde nach 1945 kein besonderes Interesse entgegen gebracht; lange fehlte von ihnen jede Spur.
In diesem Bereich sind vor 1933 keinerlei dekorative Figuren überliefert. Um 1936 bis 1938 jedoch zeigen historische Bilddokumente hier erstmals zwei Großplastiken: einen antiken »Ringer aus Herculaneum« (auch »Statue eines Epheben« genannt)13 und den »Gott vom Kap Artemision (Poseidon)«14. Beide Plastiken (Abb. 2, 3) waren höchstwahrscheinlich Bronze-Kopien aus der Ausstellung »Der Sport der Hellenen«, die vom 29.7. bis 16.8.1936 im Deutschen Museum in Berlin veranstaltet wurde15. Die Plastiken sind weder in den Bauzeichnungen noch sonst im von Speer herausgegebenen Bildband »Die Neue Reichskanzlei«16 erwähnt, oder je publiziert worden.
Fotografisch ist die Plastik im Garten hinter dem alten Reichskanzlerpalais dokumentiert, allerdings nur zufällig und unvollständig. Schriftlich ist sie ebenfalls nur beiläufig dokumentiert, und zwar in Speers Memoiren.
Das Foto, auf dem diese Statue in Teilen und etwas unscharf mit abgebildet ist, hat Hitlers Leibfotograf Heinrich Hoffmann am 1.10.1936 für die Presse aufgenommen (publiziert in der Berliner Zeitung am 30.10.1936). Es zeigt die Familie Goebbels, Hitler und andere Personen beim Promenieren bei milden Temperaturen im Garten hinter dem Altbau. Im Bildhintergrund vor der Gartenfront des Altbaus ist zweifelsfrei der Oberkörper des »Poseidon« in Rückansicht17 zu erkennen (Abb. 4, 5, 6). Andere Schmuckfiguren sind nicht mit dargestellt.
Albert Speer wollte den »Poseidon« dort noch am 19.6.1941 gesehen haben, wie er in seinen »Spandauer Tagebüchern« am 27. März 1952 notierte: »Im Sommer 1941, drei Tage vor dem Angriff auf die Sowjetunion, gingen Hitler, sein Leibarzt Karl Brandt und ich auf den breiten Kieswegen des kleinen Parks der Reichskanzlei spazieren. Zur Linken18 lag hinter Bäumen die lange hellgelbe Gartenfassade der Reichskanzlei mit den grauen Muschelkalkumrahmungen der großen Fensteröffnungen. Zu Seiten der zweihundert Meter langen Promenade stand die von mir aufgestellte übergroße Plastik von Louis Tuaillon, die einen Stierbändiger darstellt, dann war da ein Akt von Fritz Klimsch, während vor dem Wohnflügel Hitlers, unserem Wendepunkt, eine griechische Bronze placiert war, Poseidon, den Welterschütterer, darstellend, wie er zornig seinen Dreizack ins Meer schleudert; sie war einige Jahre zuvor bei Kap Sunion aus der See gefischt worden.«19
Über Herkunft und Verbleib des »Poseidon« kann nur spekuliert werden. Die Figur ist vermutlich die 2,10 m hohe Bronze-Nachbildung aus der Ausstellung »Sport der Hellenen«, die vom »Deutschen Organisationskomitee für die XI. Olympischen Spiele« in Berlin veranstaltet und finanziert worden war. Bronze-Nachbildungen von mehr als 30 antiken Statuen, darunter »Gott/Poseidon«(Abb. 3), waren eigens für diese Kunstausstellung des Rahmenprogramms der XI.Olympischen Spiele vom 1.8.-16.8.1936 von der Berliner Gießerei Sperlich abgegossen worden. Der Archäologe Professor Alfred Schiff (1863-1939) hatte das Ausstellungskonzept schon am 1.Dezember 1934 vorgelegt. Es sah unter anderem vor, nach Beendigung der Ausstellung die Nachgüsse an Universitätsinstitute für ihre Sammlungen abzugeben20. Nicht eine Universität, sondern das Haus des Deutschen Sports auf dem Olympiagelände erhielt die Nachbildungen des sogenannten »Faustkämpfers des Apollonius«21 und des sogenannten »Schabers von Ephesus«22. Beide Bronzen sind noch heute auf dem Gelände vorhanden. Von der »Poseidon«-Statue könnten mehrere Abgüsse angefertigt worden sein. Der Chef-Organisator der Olympischen Spiele von 1936, Carl Diem (1882-1962), behauptete nach 1945 (unbestätigt), ein »Poseidon«-Abguss sei auf dem Olympiagelände aufgestellt gewesen und später Metalldieben zum Opfer gefallen. Ein von Firma Sperlich um 1935 gefertigter Nachguss gelangte ins Kaiser-Friedrich-Museum (heute Kulturhistorisches Museum) in Magdeburg und befindet sich noch heute dort23; Unterlagen zur Provenienz sind im Zweiten Weltkrieg verbrannt (freundliche Auskunft von Uwe Gellner, Magdeburg). Das Original aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. war 1926-1928 bei Kap Artemision vom Meeresgrund geborgen worden und befindet sich seither im Archäologischen Nationalmuseum in Athen, Inventar Nr. X 15161 (ARACHNE Nr. 48421).
Die »Poseidon«-Nachbildung hinter dem alten Reichskanzlerpalais könnte vor Baubeginn der NRK 1937/38 entfernt, und in den Kriegsjahren vielleicht, wie viele andere Plastiken auch, nach Schloss Jäckelsbruch24, dem Refugium von NS-Staatsbildhauer Arno Breker (1900-1991) bei Wriezen/Oder, verbracht worden sein. Immerhin berichtete Kurt Reutti, »der renommierteste Kunstfahnder der Nachkriegszeit«, nach seinem Besuch im dortigen Park um 1947: »Es sollen sich hier auch noch Bildwerke der Antike befunden haben, die aber die Russen abtransportiert hatten.«25 Ein Gerücht – mehr nicht.
Filmaufnahmen und ein Foto zeigen die Plastik in winterlicher Umgebung, etwa 10 Meter vor dem Saalanbau stehend, der als Erweiterung des Wintergartens des Altbaus im Januar 1936 fertiggestellt worden war. Die schneebedeckte Figur auf einem ca. 80 cm hohen Steinsockel war auf die Fensterfront des Saalanbaus ausgerichtet. Sie ist nur zufällig – von hinten- auf einem unbezeichneten Foto des Anbaus mit abgebildet26, das vermutlich im Winter 1938/39 von einem Mitarbeiter der Firma Puhl & Wagner27 aufgenommen wurde (Abb. 7). Die Firma führte um 1936 Glas- und Mosaikarbeiten im Saalanbau und später in der NRK aus.