Herausgegeben in Kooperation mit dem
Ökumenischen Institut für Friedenstheologie
https://friedenstheologie-institut.jimdo.com

Zur Abbildung auf dem Deckblatt:
Zwei Freunde Jesu haben das Brot geteilt.
Sie haben an ihn gedacht.
War er nicht zwischen ihnen?
Rot zeigt in der christlichen Malerei
die Gegenwart Gottes, der Liebe an,
blau die des Menschen.
Vorlage: Italienische Eitempera auf Gold,
um 1400; bearbeitet von Matthias-W. Engelke,
Kairo, Ard el Golf September 2018.

© 2019

Matthias-W. Engelke
ZELT DER FRIEDENSMACHER
Die christliche Gemeinde in
Friedenstheologie und Friedensethik

edition pace 5

Satz & Gestaltung: Matthias-W. Engelke
Herstellung & Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7494-1340-9

Inhalt

  1. Ausgangslage
  2. Grundlegende inhaltliche und begriffliche Klärungen
  3. Zur Methode
  4. Die Bedeutung der Gemeinde in Werken friedenstheologischer Autoren
  5. Die Bedeutung der Gemeinde in friedensethischen Schriften
  6. Ergebnisse der Untersuchung
  7. Gemeinde als Friedensgeschehen

„Seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus an euch“ (1 Thess 5,18 LUT), empfiehlt Paulus. Das ist sehr viel. An dieser Stelle bin ich besonders meiner Frau und unseren Kindern, nicht zuletzt für deren auch finanzielle Unterstützung dankbar; Waldemar Schulz, der mich als Diakon in der Jugendarbeit für die Friedensthematik aufgeschlossen hat; der Bundeswehr, in der Zeit als Militärpfarrer gewann ich die Haltung, die gerne Radikalpazifizmus genannt wird; der Leitung und den Mitarbeitern der Stadtbibliothek Nettetal für das Besorgen selbst abgelegener Titel; der Evangelischen Landeskirche im Rheinland, die mich zu diesen Studienzwecken in den unbezahlten Urlaub gehen ließ; den Steyler Missionaren im Missionshaus St. Michael in Steyl für zwei Studienjahre im Konvent; Annette Nauerth für den entscheidenden Anstoß zu dieser Studie; Ingrid von Heiseler für Lektorieren und Übersetzen; Thomas Nauerth und Peter Bürger für die Aufnahme in die Reihe der edition pace und weiteren Freunden und Mitgliedern des Internationalen Versöhnungsbundes / deutscher Zweig sowie der ‚International Fellowship of Reconciliation‘, IFOR.

1.
Ausgangslage

Das Gleichnis vom verlassenen Schaf

Ein Schaf ist von seiner Herde verlassen worden. Noch ist die
Herde nicht zurückgekehrt. Einzelne wohl. Und das Schaf sucht
seine Herde, hofft, dass sie zurückkehrt. „Lamm sucht Herde –
Friedenstheologie auf der Suche nach ihrer Kirche“.
So könnte dieses Projekt auch heißen.

Die Evangelische Kirche in Deutschland vertritt eine Haltung, die die Anwendung tötender Gewalt nicht von vorneherein ausschließt. Dies hat sie in ihren Denkschriften und Veröffentlichungen über die Jahrzehnte ihres Bestehens immer wieder aufs Neue bekundet, zuletzt 2007 in der friedensethischen Denkschrift Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen1. Gewaltfreiheit wird als bedingt und befristet verstanden, vorrangig zwar, aber nachrangig ist die militärische Gewalt stets präsent.2

Historische Friedenskirchen – Quäker, Church of the Brethren, viele Gemeinden der Mennoniten – und der Kirche nahestehende Gruppierungen wie ‚Gewaltfrei handeln!‘, Internationaler Versöhnungsbund, Church and Peace, Teile von Pax Christi lehnen die Anwendung tötender Gewalt kategorisch ab.

Ein Minimalkonsens besteht zwischen beiden Seiten darin, dass, in Fällen der Nothilfe nichts zu tun, keine Option ist.3

Trotz über 65jährigen Dialogbemühungen ist es zwischen beiden Gruppen in der Frage der Anwendung tötender Gewalt zu keinem darüber hinausführenden Konsens gekommen.

Allerdings hat es Annäherungen gegeben. WOLFGANG LIENEMANN4 sieht Gemeinsamkeiten:

im gemeinsamen Eintreten gegen Massenvernichtungswaffen und jene Militärstrategien, welche die Androhung des Einsatzes und den Einsatz eben dieser Waffen im Extremfall nicht ausschliessen. …

Niemand kann und darf heute mehr behaupten, dass der Pazifismus eine privatistische Gesinnungsethik vertritt und die politische Verantwortlichkeit scheut. Niemand kann ernsthaft noch bezweifeln oder bestreiten, dass Perspektive und Zielrichtung des christlichen Friedenszeugnisses grundlegend und unzweideutig durch die Gewaltfreiheit bestimmt sind. Und kaum jemand wird widersprechen, wenn von Kirchen und Christen die verbindliche und wirksame Ächtung jedes Krieges gefordert wird. (Lienemann, Bedeutung)5

Der „radikale Pazifismus“6 wird als gültige Form christlichen Bekenntnisses anerkannt und gilt als „Stachel im Fleisch“7 der Kirche. Wird damit zugleich ausgeschlossen, dass die Mehrheitskirche8 sich dieser Minderheitenmeinung anschließt?

Warum gelang es trotz anhaltender Bemühungen nicht, über diesen Minimalkonsens hinauszugelangen? Liegen Gründe für dieses Scheitern möglicherweise im unterschiedlichen Gemeindeverständnis?

Hier wird nicht die Auffassung vertreten, als wären kleinere Kirchen ihrem Wesen nach pazifistischer – ein Blick auf baptistische Freikirchen lehrt anderes – oder Großkirchen selbstredend Kriegsbefürworter – die United Church of Christ in den Vereinigten Staaten nähert sich seit Jahren zusehends der pazifistischen Position auf dem Weg zu einer „Kirche des gerechten Friedens“ an.

Hier geht es um die Frage: Gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen einem pazifistisch geprägten Friedensverständnis und dem jeweiligen Verständnis von Gemeinde? Und umgekehrt: Hat ein bestimmtes Gemeindeverständnis eine pazifistische Position zur Folge?

Die vorliegende Studie widmet sich dem ersten Teil dieser Frage: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Friedensverständnis und Gemeindeverständnis? Zugleich werden ca. 100 Jahre Friedenstheologie daraufhin gesichtet, was für eine zukünftige Friedenstheologie bewahrenswert oder doch zumindest bedenkswert ist. Dem dienen die Abschnitte „Diskussion“.

Mein eigenes Verständnis von Frieden sowie von Kirche und Gemeinde lege ich im Folgenden offen, ebenso wie die Gründe für die Auswahl der bearbeiteten Texte und die Wahl der Vorgehensweise.


1 Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen, Gütersloh 2007, 2. Auflage.

2 „‚Si vis pacem para pacem’ (Wenn du den Frieden willst, bereite den Frieden vor.[sic mE]) – unter dieser Maxime steht das Leitbild des gerechten Friedens, das in Deutschland, aber auch in großen Teilen der ökumenischen Bewegung weltweit als friedensethischer Konsens gelten kann. Damit verbunden ist ein Perspektiven-wechsel: Nicht mehr Krieg, sondern der Frieden steht im Fokus des neuen Konzeptes. Dennoch bleibt die Frage nach der Anwendung von Waffengewalt auch für den gerechten Frieden virulent, gilt diese nach wie vor als Ulima Ratio.“ Eingangswort zur friedensethischen Reihe von Veröffentlichungen von Arbeitsgruppen eines „dreijährigen Konsultationsprozesses, der vom Rat der EKD und der Evangelischen Friedensarbeit unterstützt und von der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr gefördert wird“. In: JÄGER, SARAH; WERKNER, INES-JACQUELINE, Hrsg.: Gewalt in der Bibel und in kirchlichen Traditionen. Fragen zur Gewalt, Band 1, Wiesbaden 2018, S. II.

3 ENNS Friedenskirchen S. 362.

4 LIENEMANN Bedeutung.

5 Längere Zitate werden ohne Anführungszeichen eingerückt. Die vorgefundene Rechtschreibung wird im Wesentlichen unverändert beibehalten.

6 HOFHEINZ Pazifismus S. 413.

7 „Darum ist für uns das Zeugnis der Friedenskirchen und des prinzipiellen Pazifismus innerhalb und außerhalb unserer Kirche ein notwendiger ‚Stachel im Fleisch’.“ In: Diskussionspapier Frieden.

8 „Die Denkschrift bekennt sich nicht zu einem reinen und radikalen Pazifismus, also zu einer Haltung, die in jedem Fall und ohne Berücksichtigung der jeweiligen Umstände den Verzicht auf die Anwendung von militärischer Gewalt vorsieht. Folglich richten sich aus radikalpazifistischer Sicht kritische Anfragen an die EKD. Doch muss man bedenken, dass es in der Geschichte der christlichen Kirchen von wenigen Ausnahmen abgesehen – in den ersten drei Jahrhunderten nach der Zeitenwende und in den historischen Friedenskirchen wie zum Beispiel bei den Quäkern oder den Mennoniten – grundsätzlich keine Mehrheiten für pazifistische Positionen gegeben hat.“ In: PAUSCH Frieden S. 115.

2.
Grundlegende inhaltliche
und begriffliche Klärungen

2.1 FRIEDENSFRAGE UND GEMEINDEGESTALT

a) Gemeinde – Kirche: Christliche Gemeinden gibt es, seit es einen christlichen Glauben gibt. Eine christliche Gemeinde ist der Zusammenschluss von Menschen, die als gemeinsamen Bezugspunkt Jesus Christus haben. Seine Gegenwart wird gemeinsam gefeiert. Sie ereignet sich, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, Mt 18,20.

Wo christliche Gemeinden sich begegnen, ihre Vertreter eine Gemeinschaft von Gemeinden bilden und entsprechende Strukturen ausbilden, die diese Gemeinschaft der Gemeinden selbst befördern und ebenso den Gemeinden vor Ort dienlich sind, entsteht Kirche.

Mit Gemeinde ist im Folgenden der Zusammenschluss von Christen an einem Ort gemeint; mit Kirche deren strukturierte Verfasstheit im Zusammenschluss verschiedener Gemeinden.

Es kann Gemeinden ohne Kirche geben – sofern sie autonom, ohne organisatorisch-instituionellen Zusammenschluss mit einer anderen Gemeinde existieren.9 Kann es aber eine Kirche ohne Gemeinden geben?10

b) Friede: Der Friede ist anfänglich und antlitzhaft (Biser). Mit der Botschaft vom Anbruch des Reiches Gottes hat Jesus eine Möglichkeit aufgezeigt, inmitten fürchterlicher Umstände dennoch Heil zu leben. Evangelien bezeugen11, dass Jesus der Verführung widerstanden hat, sich zu einem messianischen König machen zu lassen, vgl. Jh 6,15; Mt 4,3-10; Lk 4,3-12. Stattdessen übernahm er Aufgaben von Dienern: Indem er den Jüngern die Füße wusch, Jh 13,4ff, oder bei Mahlzeiten zu Tisch diente, Mt 26,26 parr. Mit dem Anbruch des Reiches Gottes zieht die Sabbatwelt, das Jubeljahr, Lk 4,19, in die Realität ein. In der Nähe Jesu haben Menschen den Frieden bekannt und ihn später in ihm erkannt. Die guten Anfänge der Welt, wie die Schöpfungsgeschichte Gen 1f sie entwirft, sind in den Anfängen vom Reich Gottes in Jesu Verkündigung und Leben gegenwärtig. Der Friede ist anfänglich, original, kreatürlich und trägt ein Gesicht: Das Gesicht Christi. In der Gemeinschaft mit ihm entsteht die Gemeinschaft der Christusförmigen, die mit ihrem Leib und Leben als Gemeinde ihn selbst, Christus, heute verkörpern.

Im Bekenntnis zur Auferstehung des am Kreuz hingerichteten Jesus von Nazareth verkörpert die Gemeinde fortan Jesus selbst und bildet seinen Leib, vgl. Röm 12,5; Eph 4,15f u.ö. Es ist eine geistlich-körperliche Gemeinschaft, die mit der Zeichenhandlung bei der letzten Mahlzeit mit ihm begründet wurde. Jedes Mal, wenn solche Gemeinschaft zusammenkommt, feiert sie den Sieg der Liebe Jesu über den Tod – er ist zwischen den Glaubenden gegenwärtig. An die Stelle der Verkündigung des Anbruchs des Reiches Gottes – Jesu Verkündigung – tritt die Verkündigung Jesu – die Verkündigung der Gemeinden. Das angebrochene Reich Gottes wird immer neu dort erfahrbar, wo die Gegenwart Jesu gefeiert wird. Seine Gegenwart ereignet sich in den Zusammenkünften als Gemeinde und in den Taten der Barmherzigkeit.

Das menschliche Verlangen, wie Gott zu sein, hatte – Reflexionen gemäß, die in der Bibel zu Geschichten geronnen sind – zur Folge, dass das anfängliche Paradies verloren ging, Gen 3. Jesus zeigt eine andere Möglichkeit, wie Gott zu sein12: wie er die Feinde zu lieben, Mt 5,48. Die Vollkommenheit Gottes wird in der Feindesliebe zur alltäglichen Wirklichkeit. Jesus richtet dieses Wort an eine hörende Gemeinschaft. Seine Anrede richtet sich nicht an Einzelne, sondern an eine Gruppe von Hörenden. So kann Feindesliebe in Gemeinschaften gelebt werden, die Christus als den Frieden (Eph 2,14) bekennen.

Der Friede ist nach diesem Verständnis weder ein Ideal noch eine Zielbestimmung13, keine regulative Idee, kein Transzendental und keine Utopie14. Diese Inhaltsbestimmungen des Friedens scheitern daran, dass, wenn nicht mit dem Frieden angefangen wird, nicht einzusehen ist, warum diese Bemühungen im Frieden enden sollen. Es ist nicht nachprüfbar, inwieweit der eingeschlagene Weg tatsächlich dahin führt, wohin er zu führen vorgibt. Es ist nicht nachzuvollziehen, wie eine Idealvorstellung Realität gewinnen kann, wenn nicht schon etwas gegenwärtig ist, das mit Letzterer übereinstimmt. Wenn der Friede die Bedingung der Möglichkeit menschenlichen Lebens ist, warum ist er dann nicht selbst eine Möglichkeit? Wenn der Friede keinen Ort hat, ist er im Wortsinn a-topos, ohne einen Ort, utopisch.

Die Anfänglichkeit des Friedens ist die conditio sine qua non des Friedens. Seine Antlitzhaftigkeit ist Verwirklichungsbedingung – Friede kann nicht abstrakt gelebt werden, sondern nur zwischen Menschen. Die Antlitzhaftigkeit des Friedens Christi bezieht den Feind mit ein, sodass ich bekenne, dass auch zwischen ihm und mir Christus und nicht die Gewalt die Zwischenbestimmung ist.

2.2 ZUR UNTERSCHEIDUNG
VON
FRIEDENSTHEOLOGIE
UND
FRIEDENSETHIK

a) Friedenstheologische und friedensethische Schriften: Unter friedenstheologischen Schriften werden solche verstanden, die den Ausschluss tötender Gewalt mit Gründen aus dem Alten und/oder Neuen Testament belegen.

Als friedensethische Schriften werden solche angesehen, die die Androhung und Anwendung tötender Gewalt, unter welchen bedingten und beschränkten Umständen auch immer, als sinnvoll oder gar als notwendig erachten.

Folgende Muster können dabei auftreten:

Sofern in einer Schrift das Muster A1 oder A2 erkennbar ist, ordne ich es der friedensethischen, B1 oder B2 der friedenstheologischen Literatur zu. Zwischen A2 und B1 können Übergänge stattfinden, etwa in der Diskussion um eine Internationale Polizei, s. Badischer Beratungsprozess.

b) Krieg: Die Lehre vom gerechten Frieden legt großen Wert darauf, vom Frieden aus zu denken. Aus diesem Grunde wird bereits das Wort „Krieg“ vermieden und stattdessen von „Einsatz“ oder „militärischen Aufgaben“ gesprochen.15

Mir fällt es schwer, in dieser Wortwahl zu erkennen, dass vom Frieden aus gedacht wird. Diese Schwierigkeit ergibt sich für mich aus folgender Beobachtung: Kommt es in einem „Einsatz“ zur Anwendung tötender Gewalt – wie z. B. durch den Abwurf von Bomben auf einen liegengebliebenen Tanklastwagen am 4. September 2009 auf Befehl des Oberst Georg Klein bei Kundus in Afghanistan –, dann wird vor Gericht, hier Landgericht Bonn, das Kriegsrecht in Anspruch genommen, demzufolge sich der Soldat für den Tod von Zivilisten nicht zu verantworten hat, sofern seine Handlung aus militärischen Gründen vertretbar war. Zivilrechtlich hätte er sich für den Tod von um die einhundert Menschen verantworten müssen.16

Mit Krieg wird dabei im Folgenden jede Androhung oder Anwendung einer bewaffneten Handlung von Soldaten einer Armee eines völkerrechtlich anerkannten Staates verstanden. Ein Angriff von bewaffneten Kräften des selbstausgerufenen und völkerrechtlich nicht anerkannten Islamischen Staates ist für sich betrachtet darum kein Krieg, sondern eine Tat, die mit Mitteln der Kriminalitätsbekämpfung als ein Verbrechen zu ahnden ist. Erst der Angriff einer Armee auf gegnerische Stellungen verwandelt den Konflikt in einen Krieg.

c) Kriegsreligion: Dass Krieg und Religion keine Feinde sind, lehrt bereits die Antike. Ares und Athene können im Krieg erscheinen und treiben ihr Wesen (Homer, Ilias) mitunter miteinander im Streit. Zeus hält sie samt und sonders mit seiner Allgewalt im Zaum. Die Welt wäre im Krieg der Titanen sonst untergegangen.17 Der Krieg kann Merkmale der Religion annehmen

Von einer Kriegsreligion ist spätestens dann zu spechen, wenn der Krieg als transzendente Größe angesehen wird. Das ist in einem bewaffneten Konflikt dann der Fall, wenn der Krieg um des Krieges willen geführt wird. Diese Situation tritt in der Regel ein, wenn ein Kamerad ums Leben gekommen ist und es heißt, er soll nicht umsonst gestorben sein. Dann erscheint der Krieg als Krieg in seiner Selbstzwecksetzung. So manifestiert sich der Krieg als Gewalt um der Gewalt willen.18

Der Gott, von dem nach Zeugnis und Verkündigung des Lebens und Wirkens Jesu die Rede ist, ist kein Kriegsgott. Ganz im Gegenteil ereignet sich in der Feindesliebe die gleiche Vollkommenheit, die Gott auszeichnet, vgl. Mt 5,48. Darum ist in dieser Studie nicht von Kriegstheologie die Rede. Es gibt nur den einen Gott, den Jesus bezeugt, und der die Christenheit mit dem jüdischen Volk zusammenschließt und die Beziehung zum Eingott-Glauben im Islam offenhält. Dieser theologische Grund ist es vor allem, der mich davon abhält, von einer „Kriegstheologie“, „Apartheidstheologie“19 o.ä. zu sprechen, selbst wenn der Begriff „Kriegstheologie“ bereits eingeführt worden ist.20 Von daher ist es m. E. zutreffend, wenn THOMAS SCHIRRMACHER von Hitlers Kriegsreligion spricht.21 Insofern in dieser Schrift von Kriegsreligion die Rede ist, wird auf diese Weise angezeigt, dass die Religionswissenschaft zur Bearbeitung dieser speziellen Thematik als der größere Rahmen angesehen wird.

2.3 FRIEDENSTHEOLOGISCHE BEGRIFFLICHKEIT

Im Folgenden werden einige Begriffe, die in dieser friedenstheologischen Arbeit häufiger verwendet werden, geklärt Damit ist nicht gesagt, dass diese Begriffswahl für eine Friedenstheologie unabdingbar wäre. Zumindest sind sie für das Erfassen von friedenstheologischen Zusammenhängen hilfreich.

2.3.1 „Konstantinismus“ – „konstantinistisch“

Der Begriff „konstantinische Wende“ wird zu Recht infrage gestellt.22 Die Entwicklung der verfolgten Kirche zu einer Staatskirche vollzog sich über einen Zeitraum, der die Regierungszeit Kaiser Konstantins (306-337) überschreitet. Der Beginn des Prozesses kann zwar mit dem Edikt von Mailand 313 eindeutig bezeichnet werden – das Ende jedoch nicht, da die enge Bindung von Kirchen an staatliche Obrigkeit selbst nach dem dreimaligen Untergang des römischen Reiches (nach der Völkerwanderung, nach dem Untergang Byzanz’, nach Napoleon 1806) anhielt. Dass der Begriff nach wie vor in Gebrauch ist23, weist allerdings auf ein Problem hin, das mit dem Begriff selbst offenbar nicht gelöst wird: Die Tatsache, dass sich mit dem Werden der Staatskirche in allen anderen Bereichen von Kirche, Theologie, christlichem Glauben und Gemeinde wesentliche Dinge veränderten, sodass auch ohne trennscharfe Zeitangaben, ein „Vorher“ und ein „Nachher“ angegeben werden kann. Eine der bekanntesten Veränderungen ist die Ächtung derer, die den Kriegsdienst verweigern, auf der Synode von Arles 314. Zuvor mussten diejenigen, die durch kriegerische Gewalt Blut an den Händen hatten, öffentlich Buße leisten.

Um diesem Wandel Rechnung zu tragen, verwende ich den Begriff Konstantinismus. Er grenzt sich vom Begriff der konstantinischen Häresie ab, den JEAN LASSERRE und JOHN HOWARD YODER – Letzterer spricht von der „konstantinischen Irrlehre“ – möglicherweise unabhängig24 voneinander geprägt haben. Den verurteilenden Teil des Begriffs, Häresie bzw. Irrlehre, verwende ich in dieser Studie nicht, weil Urteilen und Verurteilen in einen anderen Zusammenhang gehören, vgl. Mt 7,1.

Lasserre und Yoder benutzen den Begriff nicht mit derselben Bedeutung. Lasserre gebraucht ihn in seinem Buch Der Krieg und das Evangelium (1953, dt. 1956; digital 2004), ohne ihn einzuführen oder näher zu begründen. Dieser Aufgabe unterzieht er sich in seinem Aufsatz Die Christenheit vor der Gewaltfrage (1965, 2008, dt. 2010).

Folgendes ist dabei für ihn zentral:

Der entscheidende Punkt, der die konstantinische Häresie ausmacht, ist, dass nicht mehr an die alleinige Herrschaft Christi geglaubt wird. Von jetzt an gibt es noch andere Herrscher neben Christus. (Lasserre Christenheit 57)

Das „ursprüngliche Bekenntnis ‚Jesus Christus ist der Herr’ wurde eingeschränkt“ (Lasserre Christenheit 58) zu „‚Jesus Christus ist unser Herr’“ (Lasserre Christenheit 58), so „dass die Herrschaft Jesu über die ganze Welt ihren Sinn verloren hat.“ (Lasserre Christenheit 58) „Von nun an gilt der Staat in der christlichen Tradition als unabhängig von der Autorität Christi.“ (Lasserre Christenheit 59) Politische Autoritäten gelten „als von Gott eingesetzt, von Ihm gewollt und kontrolliert. Sie stehen aber nicht länger unter der Kontrolle und Autorität Jesu Christi“. (Lasserre Christenheit 59) Sie brauchen „Jesus Christus nicht mehr [zu] gehorchen und auch nicht seiner Ethik. Deshalb sind sie praktisch autonom, nur ihren eigenen Gesetzen unterworfen und nicht mehr dem Gesetz Christi.“ (Lasserre Christenheit 59)

Der Mensch wird zweigeteilt: in einen öffentlichen Bereich und in einen privaten, den Glaubensbereich, sodass „ein Christ in seinem Privatleben Jesus gehorcht, im gesellschaftlichen Leben aber dem Staat“ (Lasserre Christenheit 59). So werden für den staatlichen Bereich „neue moralische Kriterien“ (Lasserre Christenheit 59) eingeführt. Sie „stehen“ jedoch „in absolutem Widerspruch zum Evangelium.“ (Lasserre Christenheit 59) Lasserre nennt „beispielsweise das Prinzip, dass der Zweck die Mittel heilige oder das Prinzip der Effizienz.“ (Lasserre Christenheit 59) Zu den Kennzeichen der konstantinischen Häresie zählt Lasserre darüber hinaus

John Howard Yoder hielt 1962 in Frankfurt/Main einen Vortrag mit dem Titel Zur Überwindung der Konstantinischen Irrlehre26. Die Irrlehre stellt sich ihm als ein geschlossenes Lehrgefüge dar. Ihre Leitsätze sind:

  1. Die Gesellschaft muss funktionieren.“ (Yoder Irrlehre 62, Hervorhebungen i. O.) Alles andere wäre „gegen Gottes Willen“ (Yoder Irrlehre 62).
  2. Es sind nur Christen da. Wenn die Erhaltung der Gesellschaft eine Notwendigkeit ist, dann müssen Christen diesen Dienst tun, denn Christenvolk und Bürgervolk sind … identisch geworden.“ (Yoder Irrlehre 62, Hervorhebungen i. O.) Dass es so bleibt, dafür sorgen Kindertaufe und Glaubenszwang. Religiöse Minderheiten sowie Sklaven haben keine politischen Bürgerrechte und scheiden darum für diese Aufgabe aus.
  3. Die christliche Ethik ist eine Ethik für jedermann.“ (Yoder Irrlehre 63, Hervorhebungen i. O.) Das hat zur Folge, dass Christen nicht Pflichten auferlegt werden dürfen, „die nicht allen Menschen, gleich welcher persönlichen Glaubenshaltung, zugemutet werden können.“ (Yoder Irrlehre 63)
  4. Weitere „als die sich auf Jesus Christus gründenden Maßstäbe für das ethische Handeln [sind] erforderlich.“ (Yoder Irrlehre 63 Hervorhebungen i. O.) Yoder führt „Selbstschutz, ... Selbstbehauptung“ (Yoder Irrlehre 63) an. „Diese ‚anderen Maßstäbe’ werden gewöhnlich ‚naturrechlich’ genannt.“ (Yoder Irrlehre 64, Hervorhebungen i. O.) Damit erhalten diese Maßstäbe eine „metaphysische Fundierung“ (Yoder Irrlehre 65, Hervorhebungen i. O.).
  5. Im Falle einer ‚Pflichtenkollision’ haben die gesellschaftlich verankerten Pflichten und Rechte Vorfahrt.“ (Yoder Irrlehre 65, Hervorhebungen i. O.) „Wo … gewählt werden muss, wo die Forderungen des Amtes und die Forderungen der Nachfolge Jesu Christi nicht gleichzeitig erfüllt werden können, ist das ‚Amt’ ausschlaggebend.“ (Yoder Irrlehre 65) Christliche Tugenden wie Gewaltfreiheit werden „ins Privatleben und ins Kloster verwiesen“ (Yoder Irrlehre 65).
  6. Damit ist eine gesellschaftlich-staatliche Eigengesetzlichkeit freigesetzt, „die zur Dämonie werden [kann]“. (Yoder Irrlehre 66) Von der Seite des Evangeliums oder der Schöpfung her kann nicht Einhalt geboten werden, sie sind bereits, lehrhaft anders gerahmt und damit überdeterminiert, eingeschlossen worden.

Leider beziehen sich weder Yoder noch Lasserre auf historische Vorgänge. Die Wendung von der Märtyrerkirche zur Staatskirche27 vollzog sich nicht nur dadurch, dass die Kirche geduldet wurde (Mailänder Edikt 313) oder dass sie zur Staatsreligion (Dreikaiseredikt 380; Edikt von 391) erklärt wurde. Der gesamte christliche Glaube veränderte sich.

Einige Veränderungen seien genannt: Konstantin musste, nachdem er den christlichen Gott anerkannt hatte, „auf den regelrechten Triumph als Teil des Jupiterkultes gänzlich verzichten“ (DNP 15,370).28 Der „adventus augustii als herrschaftlicher Einzug in triumphalen Formen“ (DNP 15,370) musste den klassischen Triumph ersetzen. „Im spätant[iken] Konstantinopel ist als Ziel des Zuges der Jupitertempel durch die Hagia Sophia ersetzt worden.“ (DNP 15,370) „Da der Adventus des H.[errschers] auf die ritualisierte Erscheinung einer Gottheit zurückgeht (Epiphanie), eigneten sich seine Formen v. a. in der bildlichen Darstellung bes.[onders] für den adventus Christi (Parusie), der bei jedem herrscherlichen Einzug seit Konstantin dem adventus augusti zu sakraler Überhöhung verhalf.“ (DNP 15,370) Konstantin sah sich als Stellvertreter Christi29 und darum als bevollmächtigt an, Synoden einzuberufen30.

Zweierlei wird damit erreicht:

  1. Der Kaiser des römischen Reiches regiert innerhalb der Grenzen seines Reiches. Als Stellvertreter Christi verschmelzen die Grenzen seines Reiches mit denen der Kirche. Das ist eine Gewichtsverschiebung mit erheblicher Auswirkung.
  2. Nach alt- und neutestamentlicher Überzeugung steht die Gewalt über Leben und Tod allein Gott zu. Die christliche Botschaft der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus erhält eine andere Rahmung, indem der Kaiser nun als Stellvertreter Jesu Christi erscheint. In Christus wird Gott verherrlicht.31 Zunehmend wird zugleich Jesus vergöttlicht32, vgl. Jesus Pantokrator. Infolgedessen ist es legitim, wenn der Kaiser über Tod und Leben bestimmt. Er hat die Vollmacht dazu von Gott selbst durch Christus erhalten.

Zwei entgegengesetzte Bewegungen werden damit zusammengebunden und bewirken, wenn beide zur gleichen Zeit gelten sollen, Lähmung (double bind):

Befreit der dienende Christus zur neuen Gemenschaft und zur eigenen Glaubens- und Gewissensentscheidung, wird diese Freiheit gleich wieder einkassiert durch die Bindung des Gewissens an Christus, den die kaiserliche Obrigkeit repräsentiert.

Mit Konstantinismus wird im Folgenden eine Haltung benannt, die die Vereinigung, Verschmelzung oder Überschneidung von obrigkeitlichen und kirchlichen Aufgaben, Ämtern und Einrichtungen befürwortet und aufrechterhält. Bei der Vereinigung bleibt nur ein Mittelpunkt erhalten. Bei der Verschmelzung bilden sich zwei Schwerpunkte, es entsteht eine eher elliptische Struktur. Überschneidung bezeichnet alle Formen der Kooperation oder Übernahme von Aufgaben von- und/oder füreinander.

Geschichtlich hat der Konstantinismus auf der einen Seite des Extrems die Form des Staatskirchentums (Staat leitet Kirche, Cäsaropapismus) und auf der anderen Seite den des Kirchenstaats (Kirche leitet Staat, Papocäsarismus) angenommen. Dazwischen gibt es zahllose Varianten. In Deutschland etwa durch Einzug der Kirchensteuer durch staatliche Behörden und die Militärseelsorge; darin insbesondere der Lebenskundliche Unterricht als Überschneidung von kirchlichen Trägern und staatlichen Aufgaben.

Systemisch zeitigt der Konstantinismus folgende tiefgreifende Veränderungen für Kirche und Gemeinden:

1. Expansion: Christliches Leben vollzog sich im römischen Reich im Austausch der Gemeinden untereinander. Gemeindeleitende und Gemeindeglieder der einzelnen Gemeinden begegneten sich auf verschiedenen Ebenen. Die Grenze des christlichen Lebens verlief dort, wo die christliche Versammlung verlassen wurde. Der Einzelne trat, wenn er die Gemeindeversammlung verließ, aus der ecclesia, der Versammlung, in die diaspora, die Zerstreuung.

Konstantinismus steht dafür, dass die Grenze der Kirche zur Grenze des römischen Reiches bzw. des jeweiligen Herrschaftsbereiches wird.

Damit findet eine kaum vorstellbare Ausdehnung statt. Zwar treten innerhalb kürzester Zeit Tausende von Menschen in die Kirche ein – doch hat die Zahl an sich nichts zu bedeuten. Lukas berichtet in seiner Apostelgeschichte von Massenübertritten, er spricht in Apg 2,41 von „dreitausend Menschen“ (LUT).

Weitaus einschneidender ist, dass die Unterscheidung, durch die eine Grenze entsteht, dort wo sie sichtbar wird, zu einer Unterscheidung nach dem Verwaltungs- und Kontrollbereich durch römische Behörden wird, also zu einer Größe, die durch Macht und gegebenenfalls durch den Einsatz von Gewalt bestimmt ist.33

Es ist so, als würde eine Zelle derartig mit Wasser aufgeschwemmt, dass sie ihre Zellmembran verliert. Und das Gefäß, in dem das Wasser aufbewahrt wird, ist fortan die Grenze für die verbliebenen Zellteile, sofern sie noch existieren. Als Gegenreaktion entstanden in gegenläufiger Bewegung ägyptische Einsiedeleien und die Klosterbewegung als Gemeinschaftsbewegung, die durch Ummauerung der Klöster – eine ägyptische Sitte aus pharaonischer Zeit – nun selbst bestimmte, wo die Grenze zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zur christlichen Kongregation verläuft.

2. Reduktion: Zugleich wird die Ausdehnung des Christentums auf das Römische Reich reduziert. Das geschieht gesellschaftlich, indem festgelegt wurde, dass römischer Staatsbürger und damit Anwärter auf ein staatliches Amt nur der werden konnte, der getauft war. Die zuvor für die Christenheit gegebene Ausrichtung, „bis an die Grenzen der Erde“, Apg 1,8 (EIN), bzw. „alle Völker“, Mt 28,19(LUT), wird eingetauscht gegen die Grenzen der gegebenen politischen Einheit. Das gilt überwiegend auch für die Mission.34

Diese Entwicklung stieß bereits in der Antike auf Widerstand. Es entstanden die autokephalen Kirchen, z. B. in Ägypten und Syrien. Dies wird im Westen gerne als Abspaltung gewertet. Es kann hingegen als ein Prozess bewertet werden, durch den die Unabhängigkeit bewahrt werden sollte. Dabei können diese Kirchen ihrerseits einen Prozess des zunehmenden Konstantinismus vollziehen, indem kirchliche Leitung staatlicher Gewalt stützend und legitimierend zur Seite steht. Die autokephalen Kirchen haben die Mission weitergetrieben, von Syrien aus bis nach Indien und China, von Ägypten aus in den Sudan und das übrige Schwarzafrika.35

3. Konzentration: Das Wort stammt aus dem Lateinischen „contraho“, „auf einen Punkt zusammenziehen“36 und bezeichnet die Entstehung einer Mitte, eines Zentrums und damit zugleich eines Randes, einer Peripherie.

Die Mitte verkörpert ein Machtzentrum. Nicht überall, wo ein kirchliches Machtzentrum entsteht, herrscht der Konstantinismus – so war Lukas zufolge Jerusalem in den ersten Jahren der Christenheit solch ein Entscheidungszentrum – aber überall dort, wo der Konstantinimus wirkt, entstehen kirchliche Machtzentren. Die Geschichte der evangelischen Kirchenbehörden beginnt alsbald mit dem protestantischen Staatskirchentum (Konsistorien).

Architektur vermittelt Botschaften. Sie zeigt an, wo solch ein Machtzentrum entsteht und wie es aufgefasst werden will. Verkörperte das Pantheon in Rom die Botschaft, dass Rom für alle Religionen des Reiches im Zentrum der Welt stehe, so war es nach der Gründung von Konstantinopel die Hagia Sophia, die diesen Anspruch verkörperte. Sie war die Vereinigung der beiden vollkommenen platonischen Körper – Kubus und Kugel – und übertraf damit noch das Pantheon. Der feierliche Einzug des Kaisers endete nun dort.

Sobald ein Machtzentrum entstanden ist, entscheidet Nähe und Ferne zu diesem Machtzentrum, wie groß oder gering der Einfluss auf das Geschick der Menschen ist, für die ein Amtsinhaber sich verantwortlich weiß.37 Das wurde bereits in der Frühzeit des Konstantinismus dadurch deutlich, dass die Basiliken, Kaufmannshallen und Gerichtshallen des Kaisers mit eindeutigem Machtzentrum in der Apsis zum Standard-Kirchengebäude wurde und der Altar nun anzeigte, wer der Macht nahesteht.

Diese Konzentration – die Anordnung unterschiedlicher Machtsphären um einen Machtmittelpunkt – führt zugleich dazu, dass es Bereiche gibt, die vom Machtzentrum ferngehalten oder ausgeschlossen werden: Die Macht des Machtzentrums zeigt sich gerade darin, dass sie noch an der Peripherie durchsetzen kann, wer dazu gehört und wer nicht.

Der Ausschluss derer, die nicht den wahren Glauben haben, gehört grundlegend zum Konstantinismus. Erst die Reichskirche schuf Häretiker und Ketzer, Menschen, die auf Grund ihres Glaubens um ihr Leben fürchten mussten. Zunächst waren Juden noch römische Bürger38 wie alle anderen, aber bald wurden sie zu Bürgern zweiter Klasse. Anbetungsstätten der Mithraskulte wurden zerstört39 und unter Theodosius stand auf die Anbetung Mithras’ die Todesstrafe.40

Die Reichskirche vollzog diesen Prozess der Konzentration selbst, indem der Bischof von Rom für sich beanspruchte, über alle anderen Bischöfe bestimmen zu können. Der Widerspruch aus Konstantinopel wurde über Jahrhunderte ertragen und im Gleichgewicht gehalten, vor allem weil im Westen kein vergleichbares politisches Machtzentrum vorhanden war. Das änderte sich mit der Ottonischen Renaissance und den Saliern. Die von West-Rom betriebene Trennung von der Ostkirche – durch einen Streit um ein Wort im Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel – diente nicht zuletzt dazu, die Kontrolle über die Peripherie im Balkan zu behalten. Eine Grenze entstand, die fortan Serbien von Kroatien trennte.

4. Auslagerung: Verantwortungsbereiche, über die die Versammlung der Christen verfügte, indem sie darüber befand, wer ihr vorstand, wie was gelesen wurde, wer welche Aufgaben wahrnahm, dazu das öffentliche Bekenntnis von Sünden und der öffentliche Zuspruch der Vergebung – das wurde mehr und mehr an eine Behörde abgegeben, die – da sie bereits angefangen hatte, staatliche Aufgaben zu übernehmen – nun auch als staatliche Behörde handelte. Das Kirchenrecht entsteht.

Die Stola – ein Zeichen für den römischen Beamten des Kaiserreiches – wurde zum Zeichen des Priesters der Reichskirche.

Mit dieser Entmachtung der christlichen Versammlung treten grundlegende Fragen auf: Wo ist Christus? Wo ist er lebendig?

Die Auslagerung wirkt sich auf das Verständnis der Bibel, der Verkündigung und der Lehre aus. Eine Staatshermeneutik zieht ein, die von außen (mit)bestimmt, was in den Zusammenkünften gelehrt und gebetet wird. Im protestantischen Staatskirchentum, dem landesherrlichen Kirchenregiment, überwachten Fürsten und Könige die Lehre, die Verwaltung der Sakramente und die Verkündigung. Sie sahen sich verantwortlich für die Kirche. Als oberster Bischof, summus episcopus, verkörperten sie selbst die Kirche.41

Die christologische Lehre der Vereinigung von Gott und Mensch in dem einen Jesus Christus, von zwei Personen in einer Person, stand Pate bei der europäischen Herrscherideologie. Demnach vereinigt der Herrscher zwei Körper in einem Leib: den königlichen Leib, den Herrschaftsleib, und den menschlichen Leib.42 Er ist damit menschlichen Maßstäben enthoben.

Die Auswirkungen solcher Traditionen reichen bis in die Gegenwart, wenn von Körperschaften des öffentlichen Rechts gesprochen wird.43

5. Verwandlung: In vor-konstantinischer Zeit ist Jesus in der Gemeinde zwischen Christinnen und Christen lebendig. Die Gemeinde selbst ist sein Leib und repräsentiert ihn mit ihrem Handeln und Verhalten, mit ihrer Botschaft, ihrem Können, Geld und Vermögen vor Gott und der Welt.

Die Gemeinde als ordnender Bezugsrahmen löst sich im Verlauf der Geschichte des Konstantinismus auf.

Der Übertritt aus der Welt in die Gemeinde und umgekehrt hatte im Wesentlichen zwei Dimensionen: Es war ein örtlicher Eintritt in den Ort, an dem die christliche Gemeinde versammelt war, meistens in Privathäusern.

Blieb man dort und wurde Teil der Gemeinde durch die Taufe, kam die andere Dimension hinzu: Die Grenze zwischen Welt und Gemeinde lief mitten durch einen selbst hindurch, indem die Gesinnung Christi – wie von Paulus in Phil 2,5ff beschrieben – zur eigenen wurde. Es war eine unsichtbare Grenze, die sich trotzdem sichtbar auswirkte im Leben und Verhalten der Christen untereinander und mit anderen.

Der Übertritt in die Gemeinde hat neben der nicht nur unabdingbaren, sondern beabsichtigten und gewollten räumlichen Dimension – schließlich ist Gott ja in dieser Welt Mensch geworden – vor allem eine geistlich-geistige Dimension.

Anstelle dieser Gesinnung als (mit)entscheidendem Kriterium für die Zugehörigkeit zur Gemeinde tritt im Konstantinismus die Grenze. Eine Materialisierung, eine Entgeistlichung findet statt, die Umwandlung einer mit Freiwilligkeit und Freiheit verbundenen Körperlichkeit – die christliche Versammlung – in eine mit Zwang und Gewalt verbundene Körperschaft.

Zugleich wird im Anschluss an Augustin eine gemeindefreie Spiritualität mit dem himmlischen Jerusalem betont, eine Vision, die prinzipiell unerreichbar ist und so als Leitbild fungiert.

An die Stelle der Polarität Gemeinde und Welt tritt nun die Zweiheit der Himmlischen Stadt und der von Gott abgefallenen Welt. Gemeinde und Welt stehen in Polarität zueinander, sind jedoch keine Dualität, denn beide sind aufeinander bezogen, und zwar so lange, bis der wiederkehrende Christus die Welt und die Gemeinde so verändern wird, dass sich um ihn eine erfüllende Gemeinschaft aller Menschen bildet.

Die Auflösung der Gemeinde als dem Bereich, in dem Christus gegenwärtig ist und sich Kirche ereignet, also als die Zusammenkunft derer, die zum Herrn, kyrios, Christus gehören, ist das entscheidende Ereignis, das den Konstantinismus von der Märtyrerkirche im Römischen Reich trennt. Die Gewaltfrage ist in diesem Zusammenhang noch nicht einmal die zentrale Frage. Selbst wenn ein christlicher Kaiser – und an diesem Oxymoron nimmt fortan kaum noch jemand Anstoß, weil ein Gewöhnungsprozess stattgefunden hat – in seiner Regierungszeit keinen einzigen Krieg führen würde, würde dies den Konstantinismus nicht verändern:

2.3.2 Die Logik der Unteilbarkeit

EUGEN BISER gemäß (Biser Sinn 122) ist der Friede unteilbar. In der friedenstheologischen Literatur betont dieses KASPAR MAYR (Mayr Weg 127/3744): „Der Friede ist eine unteilbare Einheit.“ Demnach ist die Logik der Unteilbarkeit auf den Frieden anwendbar. Der Begriff des Unteilbaren, á-tomos, ist bereits von der vorsokratischen Philosophie eingeführt worden. Nach dem Verständnis der Atomisten ist es die kleinste, nicht mehr weiter teilbare Einheit beim Aufbau der Welt. Diese Sicht wurde von Epikur zu einem System ausgebaut, das im Mittelalter unter das Verdikt der katholischen Kirche fiel, weil es den Schöpfungsglauben ausschloss. Plotin dürfte derjenige sein, der die besonderen logischen Möglichkeiten beim Phänomen der Unteilbarkeit in seiner Philosophie über das Eine entdeckte. „Das Eine ist immer anwesend, da es keine Verschiedenheit hat (VI 9 [9] 8,34).“44 So kann weiter von dem Unteilbaren gesagt werden: In allen seinen Erscheinungen ist es ganz und vollkommen. Das unteilbare Eine kann sich vergeben, Plotin spricht von Emanationen, ohne weniger zu werden. Und es kann alles Ausgegebene wieder einsammeln, ohne dadurch mehr zu werden. Diese und andere Aussagen der Logik der Unteilbarkeit können auf alles, was für unteilbar erklärt wird, angewandt und darum auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft werden. Auch wenn gesagt wird, dass der Friede unteilbar ist.


9 So etwa der Zusammenschluss von sich zum christlichen Glauben bekennenden Muslimen, die sich in Ländern mit islamischer Gesetzgebung z. T. heimlich treffen und untereinander austauschen.

10 Denkbar wäre Folgendes: Wenn sich dem Reichsbischof Ludwig Müller im September 1933 keine einzige Landeskirche und keine Gemeinde angeschlossen hätte, hätte es womöglich eine Kirche der Deutschen Christen ohne Gemeinden gegeben.

11 Die biblische Überlieferung Alten und Neuen Testaments sehe ich als das Primäre an. Als von Menschen geschaffene Texte sind sie nach den gleichen hermeneutischen Grundsätzen zu verstehen, wie jeder anderer Text auch. Sie sind sprachlich geronnene Wirklichkeit und bilden eine eigene Dimension menschlichen Lebens, die in ihrer Vielfalt und prinzipiellen Unabgeschlossenheit beschrieben und benannt werden kann. Vgl: KORSCHORKE, ALBRECHT: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt/ Main 2012.

12 „Die Feindesliebe wird von Jesus im Sinne einer Nachahmung Gottes (imitatio Dei) durch den Hinweis auf die liebende Zuwendung Gottes zu allen Menschen begründet“. HOFHEINZ Pazifismus S. 417.

13 Der Friede als Zielvorstellung ist nicht vor ideologischem Missbrauch geschützt. Tendenziell kann alles dem Frieden dienen, ohne dass nachprüfbar ist, ob das tatsächlich der Fall ist, weil hier Friede als zukünftig aufgefasst wird. Im Folgenden geht es auch darum, dass der Friede dem ideologischen Missbrauch entwunden wird.

14 Vgl. BISER Sinn S. 43, 96, 201, 217.

15 „Zur eindeutigen begrifflichen Neuorientierung aber ist es sinnvoll, den Begriff des Krieges im Sinne des Art. 2 VN-Charta ohne Einschränkung zu ächten.“ In: von Schubert Frieden S. 124.

16 LANDGERICHT BONN, 1 = 460/11, Urteil vom 11.12.2013, Absatz Nr. 59f (II(5) b. ee): „(b) Die Regelungen der Zusatzprotokolle zu den Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte sind nicht lediglich an die Vertragsparteien gerichtete Verpflichtungen zur Beschränkung der Methoden der Kriegsführung. Zweck – und nicht lediglich Reflex – des humanitären Völkerrechts und insbesondere der Zusatzprotokolle ist es, die von bewaffneten Konflikten betroffenen Individuen zu schützen (vgl. Dutta AöR 133 [2008], 191 [222]; a.A. von Woedtke Die Verantwortlichkeit Deutschlands für seine Streitkräfte im Auslandseinsatz und die sich daraus ergebenden Schadensersatzansprüche von Einzelpersonen als Opfer deutscher Militärhandlungen [2010] S. 342).
Amboshttp://www.justiz.nrw.de/nrwe/lgs/bonn/lg_bonn/j2013/1_O_460_11_Urteil_20131211.html