Inhaltsverzeichnis
Der Weg deines Herzens
1. Tag
2. Tag
3. Tag
4. Tag
5. Tag
6. Tag
7. Tag
8. Tag
9. Tag
10. Tag
11. Tag
12. Tag
Der kleine Lichtfunke
Der Weg deines Herzens
Folge deinem Herzen, es kennt deinen Weg!
Wie eine Brücke in ein neues Leben
es dich leiten möchte!
Folge ihm und vor dir beginnt sich zu entfalten:
Ein Leben voll ungeahnter Begebenheiten,
ein Leben, das seinen Zauber dir enthüllt!
Wie mit den Augen eines Kindes
wirst du sie erblicken:
Die Magie, die in jedem Augenblicke wohnt!
Dein Herz alleine weist dir den Weg,
der dich über diese Brücke geleit´!
Drum erkenne es an,
dein Herz,
als den wahren Führer deines Geschicks!
Eva-Maria Eleni
1. Tag
Die ganze Nacht hatte ich mich in meinem Bett hin und hergewälzt, doch nun war es soweit. Endlich hatte ich einen Entschluss gefasst.
Ich hatte beschlossen heute eine Antwort auf meine Frage zu finden. So lange schon wollte ich es wissen, wissen, wer ich denn wirklich war.
Zuvor hatte ich mir bereits jede Menge Bücher gesucht, auch hatte ich probiert Menschen zu finden, die mir vielleicht weiter helfen konnten. Doch all das hatte mir nicht viel genützt.
Diesmal entschloss ich mich für eine andere Art der Suche, diesmal beschloss ich meine sicheren vier Wände zu verlassen.
Das war etwas, das mir sehr schwer fiel, meine vermeintliche Sicherheit, meine Gewohntheiten zu verlassen und den Schritt nach draußen zu wagen, ins Unbekannte, ins Unerwartete.
Ich wollte vertrauen lernen indem ich endlich mutig war, etwas wagte.
Meine Knie zitterten. Ich fühlte mich nicht wohl, ich fühlte mich in diesem Moment auch alles andere als mutig.
Ich hatte keine Vorstellung davon, was auf mich zukommen würde, ich war unsicher.
Jedoch war mein Beschluss bereits gefasst. Diesen wollte ich nun durchführen, koste es was es wolle.
Mit zitternden Händen und klopfendem Herzen zog ich meine Schuhe an, nahm mir meine Jacke, meinen Rucksack der nur mit wenigen Dingen gefüllt war, denn ich dachte mir, dass ich nicht lange wegbleiben würde. Es würde genügen ein wenig zu essen und zu trinken mitzunehmen, zwei T-Shirts zum Wechseln und einen warmen Pullover sollte es später etwas kühler werden.
Ich überlegte mir, dass ich die Straße in Richtung Süden nehmen könnte. Dort gab es einigermaßen unwegsames Gelände und einen Wald. Später führte der Weg in die Berge.
Ich nahm mir vor einfach so weit zu gehen, wie ich kam. Ich würde vermutlich gegen Abend zurück sein. Obwohl, so überlegte ich weiter, es nicht so schlimm wäre, würde ich mir dort in der Nähe eine Pension zum Übernachten suchen, da ich sowieso drei Wochen Urlaub hatte. Drei Wochen in denen ich mir ansonsten nichts weiter vorgenommen hatte.
So entschloss ich mich vorsichtshalber doch zusätzlich mein Toilettezeug einzupacken.
Für einen Moment war sie wieder da, die Angst in mir. Sie wollte mir erzählen, dass ich doch auch einfach hier bleiben konnte.
Doch ich hatte genug von der ewigen Stille in meinen vier Wänden, wo ein Tag sich an den anderen reihte und nicht viel passierte. Alles war so vorhersehbar geworden, langweilig. Ich drohte zu ersticken, bekam einfach keine Luft mehr.
Seit Tagen kribbelte es mich in den Gliedern. Jetzt endlich hatte ich mich dazu aufgerafft, wenigstens ein Stückchen ins Unbekannte zu wandern. Ohne wirklichen Plan wohin genau oder wie lange ich fort bleiben würde.
Ich setzte mich tapfer gegen meine Angst durch und schloss die Tür hinter mir.
Endlich auf der Straße spazierte ich nun fröhlich dahin. Ich atmete die frische, noch kühle Frühlingsluft ein und konnte endlich durchatmen. Es war als hätte ich Tonnen an Gewicht von mir abgesteift und in meiner Wohnung zurückgelassen.
Ich summte ein Liedchen vor mich hin.
„Komisch, dass ich jetzt auf einmal so gut gelaunt bin“, wunderte ich mich über mich selbst.
„Es wird wohl daran liegen, dass ich nun nicht mehr zu Hause sitze und ständig über diese Fragen nachdenke.
Seit so langer Zeit dachte ich darüber nach, wie es sich wohl anfühlen könnte, tiefes Vertrauen zu empfinden, weil ich wusste, wer ich wirklich war. Jedoch bislang hatte ich darauf nie eine Antwort gefunden.
Wie viele Menschen hatte ich beobachtet, um zu entdecken, ob sie dieses Vertrauen in sich selbst gefunden hätten, um von ihnen zu lernen, doch kam es mir nie vor, als hätten sie es selbst entdeckt.
Sie hatten alle so viel Angst, vor so vielen Dingen, genau wie ich. Wie sollten sie mir erklären können, was Vertrauen bedeutete, wenn sie sich doch genauso fürchteten wie ich?“
Aber heute freute ich mich so sehr. Endlich nahm ich diese Fragerei, ohne je eine Antwort zu finden, nicht mehr länger hin. Heute machte ich mich auf den Weg, um meine Antwort zu suchen und ich wollte sie finden - unbedingt.
Das Wetter war so wunderbar, die Vögel sangen, die Natur war kürzlich erst zu neuem Leben erwacht. Die noch zarten Pflänzchen reckten ihre Köpfe aus dem feuchten Erdboden.
Es war ein langer kalter Winter gewesen, doch nun schien die Zeit des Ruhens endlich vorbei zu sein. Der Schnee war bereits seit etwa drei Wochen vom Regen weggespült worden. Die Sonne wärmte auch schon recht kräftig, ungewöhnlich kräftig. Wenn auch der Wind noch ordentlich frisch war.
Ich zog meine Jacke zu, um mich vor dem Wind zu schützen.
Das Wetter passte wunderbar zu meinem Neubeginn. Genau wie die Natur jetzt erneut zu neuem Leben erwachte, würde ich nun endlich meinen Entschluss in die Tat umsetzen.
„Wie willst du denn etwas im Kopf begreifen können, das nur dein Herz verstehen kann?“, tönte ein hell klingendes Stimmchen.
Wie versteinert blieb ich stehen: „Wer hat das gesagt?“
Ich drehte mich um. Ich sah zwei spielende Kinder, sie spielten Fangen und eines, der Junge, war gerade lachend hinter einem Baum verschwunden. Das Mädchen stand nicht weit von mir entfernt und sah mich fragend an.
Sie wiederholte ihre Frage: „Wie willst du etwas im Kopf begreifen können, was du nur im Herzen verstehen kannst?“
„Wieso fragst du mich das?“, ich war verwirrt, sie konnte unmöglich meine Gedanken erraten haben.
Sie war doch nur ein kleines Kind, was hätte sie von den Fragen wissen können, die mich schon so lange beschäftigten?
„Na, ich sehe doch, dass du eine Frage auf dem Herzen hast, ich kann dein Herz spüren!“
Ich starrte sie ungläubig an. Das konnte doch unmöglich wahr sein, wie sollte sie in meinem Herzen etwas lesen können.
Doch sie sprach weiter: „Ich höre dein Herz, aber du hörst ihm nicht zu, deshalb ist es traurig. Aber auch ein bisschen glücklich, weil du heute angefangen hast.“
„Was habe ich denn angefangen?“
„Etwas zu entdecken!“, rief sie noch, ehe sie sich umdrehte und hinter dem Jungen herlief.
Lange blickte ich ihr verwundert nach.
„So ein kleines Kind, wieso erzählt sie mir Dinge, die mich direkt ins Herz treffen? Wie ist so etwas möglich?“
Verwirrt setzte ich meinen Weg fort.
Irgendetwas war aber jetzt anders als zuvor. Ich konnte nur nicht so recht erkennen was es war.
Die Sonne schien noch ein wenig wärmer zu werden. Ich begann zu schwitzen.
Bald wurde mir jedoch klar, dass es gar nicht die Sonne war, die mich ins Schwitzen brachte.
Ja, innerlich war es mir wärmer, nahezu heiß geworden. Mir war als hätte mich dieses Kind an etwas erinnert, etwas das ich vergessen hatte.
Doch was war es denn eigentlich? Ich zermarterte mir den Kopf, doch ich kam nicht dahinter, zu welcher Erinnerung ich gerade keinen Zugang fand.
Ich spazierte vor mich hin ohne eine Antwort zu finden. Jedoch je weiter ich marschierte, umso mehr lösten sich meine Gedanken in Luft auf - sie verloren an Bedeutung.
Nach etwa zwei Stunden war ich sehr müde von der ungewohnten Belastung des langen Gehens, da ich gewöhnlich für alles mein Auto oder den Aufzug benutzte.
Schließlich setzte ich mich unter eine große Tanne, um ein wenig auszuruhen.
Ich zog meine Schuhe aus. Meine Füße schmerzten ein wenig von dem ungewohnt langen Wandern. An einigen Stellen fühlten sie sich an, als würden bald Blasen entstehen.
Jetzt ärgerte ich mich ein wenig darüber, dass ich nicht daran gedacht hatte, Pflaster einzustecken. Außerdem musste ich mir leider eingestehen, dass ich meine körperliche Fitness viel zu sehr vernachlässigt hatte. Das war mir einfach nie wichtig gewesen.
Ein junger Bursche spazierte daher. Er war ausgerüstet mit einem Rucksack, trug stark verschmutze Bergschuhe und einem Wanderstock. Seine Figur war sportlich, er war wohl viel in den Bergen unterwegs.
Er blieb stehen und blickte mich neugierig an.
Mir war sein Blick etwas unangenehm. Ich bemühte mich rasch, in eine andere Richtung zu schauen um ihn wissen zu lassen, dass ich gerade gar kein Interesse an Gesellschaft hatte.
Doch der Bursche ließ sich nicht verscheuchen und eröffnete das Gespräch: „Guten Tag, heute ist es ja so wunderbar. Ein herrlicher Tag, um sich auf eine Reise zu begeben!“
Etwas mürrisch antwortete ich ihm nur mit einem knappen: „Ja, stimmt!“
Ich war immer noch damit beschäftigt, meine Füße auf Druckstellen hin zu untersuchen.
„Warte, ich habe Blasenpflaster dabei. Es sieht mir so aus, als wären deine Schuhe nicht wirklich eingelaufen. Da kann es leicht passieren, dass man sich Blasen holt!“
Er sah mir ganz offen und freundlich ins Gesicht, sodass ich es gar nicht mehr schaffte, meine mürrische Laune beizubehalten.
„Vielen Dank“, antwortete ich erleichtert und sah ihm dabei zu, wie er in seinem Rucksack nach den Pflastern fischte.
Bald waren meine Füße mit Pflastern versorgt. Ich begann mich zu entspannen und etwas befreiter durchzuatmen.
Der Bursche setzte sich neben mich: „Übrigens, ich heiße Luca und du?“
Ich schüttelte seine ausgestreckte Hand und antwortete: „Ich heiße Luis.“
„Freut mich wirklich sehr, dich kennen zu lernen, Luis!“
Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander. Irgendwie fühlte es sich merkwürdig an, einen Fremden so nah neben mir sitzen zu haben und dabei nichts zu sprechen.
Trotzdem fühlte ich mich ihm irgendwie nah.
„Ungewöhnlich“, dachte ich bei mir selbst.
Meine Gedanken begannen zu schweifen. Ich fragte mich, wie ich eigentlich mit Fremden umging.
Komisch, darüber hatte noch gar nie nachgedacht, aber jetzt, da Luca neben mir saß, begann ich, mir darüber Gedanken zu machen.
Schließlich wollte ich ja das Vertrauen zu mir selbst suchen und finden, hatte ich das denn so schnell wieder vergessen? Diese Aufgabe, die ich mir da selber gestellt hatte, sie muss auch mit diesem fremden Burschen etwas zu tun haben, überlegte ich weiter, ohne es laut auszusprechen.
So dachte ich weiter über mein Verhalten nach: Wenn ich Menschen auf der Straße begegnete, so nahm ich das kaum je wahr.
Ich beachtete sie gar nicht. Es war ja etwas völlig Normales, dass in Städten Menschen umhergingen. Die meisten waren auch ziemlich beschäftig und in ihre eigenen Gedanken versunken, so wie ich selber. Ständig war ich damit befasst, das zu erledigen, was als nächstes gemacht werden sollte.
So machte ich Pläne für die nächsten Stunden, Tage oder Wochen, wie ich mir meine Zeit möglichst effizient einteilen könnte. Diese Pläne mussten selbstverständlich so weit wie möglich eingehalten werden.
Doch als ich jetzt neben Luca saß, unter diesem schönen Baum und mir die frische Luft um die Nase wehte, da musste ich mir eingestehen, dass wohl etwas nicht richtig daran war, wie ich mein Leben mit Plänen voll stopfte.
Ich betrachtete Luca von der Seite. Er hatte dunkles, leicht wuscheliges Haar und war bereits gebräunt von der Sonne, obwohl es erst April war.
Er musste wohl schon viele Stunden draußen verbracht haben.
„Vielleicht hat er ja eine Arbeit, bei der er im Freien sein kann“, überlegte ich mir.
Er konnte höchstens Mitte zwanzig sein und obwohl er sehr schlank war, so hatte er doch einen muskulösen Körperbau.
„Maurer könnte er sein“, dachte ich weiter.
Während ich meinen Gedanken nachhing hatte Luca sich an den Baumstamm gelehnt und die Augen geschlossen.
Er döste ein wenig vor sich hin, so, als könnte kommen was da wollte, er würde jetzt bestimmt nicht aufhören, diesen wunderbaren Moment auszukosten.
Fast beneidete ich ihn darum, dass es ihm möglich schien, sich so vollkommen diesem Augenblick hinzugeben. Ob ich das wohl auch jemals können würde?
Ständig plante ich mein Leben auf die Minute genau oder war dabei, meine Pläne in die Tat umzusetzen.
Und doch! Seit ich mich auf diesen Weg begeben hatte, ohne einen Plan zu haben, wohin ich denn nun gehen sollte, da hatte ich schon damit begonnen, mich zu verändern.
Jetzt saß ich hier neben diesem Fremden und genoss es, unter einem Baum zu sitzen. Einfach nur da zu sitzen und nichts zu tun.
Das wäre mir sonst im Leben nicht eingefallen. Ich hatte nie Zeit für so etwas.
Doch nun, jetzt hatte ich sie. Irgendwie begann ich mich jetzt doch allmählich, trotz der Unsicherheit, die sich nach wie vor bemerkbar machte, ein wenig zu entspannen.
Ein stechender Schmerz in meiner Herzgegend riss mich jäh aus dieser Entspannung heraus.
„Au, verdammt, was ist das!“, rief ich gequält.
Luca war nun ebenfalls wieder wach und wandte sich mir besorgt zu:
„Was ist denn passiert, dein Gesicht ist ja ganz schmerzverzerrt!“
„Ich habe keine Ahnung, in meiner linken Brust schmerzt es schrecklich. Dieser Schmerz kam so völlig aus dem Nichts, so etwas hatte ich noch nie.“
Luca beobachtete mich eine Weile. Anschließend legte er seine Hände abwechselnd auf meine Brust, dann auf meinen Bauch, danach auf meinen Kopf, der ganz heiß geworden war.
Ich konnte nicht verstehen was er da machte, aber der Schmerz war viel zu stark, um darüber nachdenken zu können.
Nach einer Weile sagte er zu mir: „Jetzt atme vorsichtig in deinen Schmerz hinein!“
Ich versuchte, ihm zu gehorchen, aber es tat ganz abscheulich weh.
Mit ruhiger Stimme erklärte er mir: „Ich weiß, das tut jetzt weh, aber hab keine Angst es wird nichts Schlimmes geschehen. Probiere es einfach, du wirst schon sehen.“
Ich nahm tapfer seinen Vorschlag an.
Einige Minuten versuchte ich, mich auf den Schmerz einzulassen. Dabei fiel mir auf, dass mir hierbei etwas bekannt vorkam. Ich konnte es aber nicht zuordnen.
Ich atmete schwer ein und aus.
Ich verlor das Zeitgefühl, es kam mir vor, als würde das alles ewig lange dauern.
Endlich, endlich begann es, sich ein wenig leichter anzufühlen.
Der Schmerz war noch da, aber wenigstens war er jetzt nicht mehr so beängstigend.
Mein Atmen wurde etwas ruhiger. Ich begann nach und nach wieder wahrzunehmen, was um mich herum passierte.
Ich sah Luca, der immer noch seine Hände auf meiner Brust hatte.
„Komisch, was ist denn bloß los mit mir, habe ich gerade einen Herzinfarkt?“
Luca lächelte mir aufmunternd zu: „Nein, das ist kein Herzinfarkt. Eine alte Angst hat sich gerade gezeigt. Etwas, das sich tief in deinem Herzen vergraben hatte.“
„Eine alte Angst? Die muss sich aber gut versteckt haben, denn so etwas ist mir noch nie passiert!“
„Ja, was glaubst du denn wie schlimm es wäre, wenn so etwas wie eben gerade ständig passieren würde?“
„Oh, das wäre nicht gut, wie sollte ich dann meinen täglichen Verpflichtungen nachkommen?“
„Ja, genau das meine ich! So ein Anfall kann nur kommen, wenn du dich traust dich zu entspannen, dich dem hingeben kannst, was jetzt gerade in dir ist und sich zeigen möchte.
Solange du dich mit allem Möglichen beschäftigt hältst, wird sich so etwas nicht zeigen dürfen.“
„Na dann ist es ja auch kein Wunder, dass ich immer Pläne machen muss und mich bemühe diese auch einzuhalten, damit so etwas nicht ständig passiert!“, bemerkte ich etwas verzweifelt.
„Mach dir keine Sorgen, jetzt ist es schon da, hat sich bereits gezeigt. Und du hast es überstanden.
Es wird dir bald sehr viel besser gehen als zuvor. Es kann auch sein, dass du in Zukunft gar nicht mehr das Bedürfnis haben wirst, dich immerfort mit Arbeit zu überschütten.“
„Woher weißt du von diesen Dingen?“
„Ich habe auch so meine Erfahrungen gemacht. Ich hatte aber gute Lehrer, die mir vieles über mich selbst und das Leben beigebracht haben.“
Ich dachte nach, konnte Luca nicht sofort eine Antwort geben. Dieser junge Bursche wusste tatsächlich einiges, seine Worte hatten etwas in mir berührt, irgendetwas das mir sagte, dass er die Wahrheit sprach. Nur mein Verstand wollte davon nichts wissen.
Ich als Kopfmensch, der seine Entscheidungen und Pläne immer sehr sorgfältig abwog, der nichts dem Zufall überlassen wollte, weil ich sie hasste, diese unvorhergesehenen Ereignisse.
Ausgerechnet ich fühlte plötzlich, dass sich in mir etwas regte, was meinem Verstand einfach völlig fremd war und doch konnte ich nicht anders, als mich darauf einzulassen.
Was war denn heute bloß los? Erst das kleine Mädchen, jetzt dieser Anfall und Luca, der mir von Dingen erzählte, die meinem Verstand völlig fremd waren und die mir trotzdem bekannt vorkamen.
Das war mir alles etwas zuviel.
Ich holte meine Flasche Wasser aus dem Rucksack und lehnte mich an den Baumstamm. Das Wasser tat mir gut, so langsam bekam ich mich wieder etwas unter Kontrolle.
Luca sah mich zufrieden von der Seite an: „So, jetzt hast du es wirklich überstanden, gratuliere dir!“
„Also ich bin jetzt ganz schön erledigt und sehr müde. In meiner Brust zieht es immer noch recht kräftig. Ich weiß nicht, ob das ein Grund sein kann mir zu gratulieren?“, murmelte ich Luca zu.
„Oh doch, ich finde schon, du hast zugelassen diesen Schmerz zu fühlen, denn er war schon lange vorher da, doch zuvor durfte er sich nie zeigen.
Jetzt war der Zeitpunkt da, dass du ihm erlaubt hast sich dir zu zeigen und du hast ihn angenommen.“
„Das klingt ja gerade so als hätte ich da die Wahl gehabt. Ich habe bestimmt nicht gewollt, dass ich mich so schrecklich fühle, noch dazu an einem so herrlichen Tag!“
„Nicht alles was unsere Seele von uns will, oder die Entscheidungen die tief in uns getroffen werden, sind uns vom Verstand her zugänglich.“
Ich hatte keine Ahnung was Luca damit meinte, dennoch fühlte es sich erneut so an, als würde er etwas in mir zum Schwingen bringen und mir etwas erklären was ich irgendwann schon einmal gewusst haben musste.
Aber noch immer war ich viel zu erledigt, um diesen Gedanken auf die Spur zu kommen.
Wenn ich nur gewusst hätte, wie ich meine Gedanken endlich zum Stoppen bringen konnte. Sie begannen mir ordentlich auf die Nerven zu gehen.
Als ob Luca erraten hätte was in mir vorging, legte er seine Hände nun auf meinen Kopf.
Ich war zu müde, um ihn daran zu hindern oder Einspruch zu erheben.
Ich ließ es einfach geschehen. In mir begann sich ein Gefühl der Zufriedenheit einzustellen, als ob mir jemand erklären würde, dass alles gut war und selbst der Schmerz in meiner Brust wäre nur eine notwendige Begleiterscheinung und nichts wovor ich mich fürchten musste.
„Jetzt umarme deinen Schmerz, halte ihn nah bei dir. Umarme ihn und höre ihm zu. Kannst du ihn ganz fest bei dir fühlen?“
Obwohl ich mir normalerweise von niemandem gerne erzählen ließ, was ich zu tun hatte, so es nicht um meine Arbeit ging, so machte ich diesmal ohne Widerworte, was Luca mir geraten hatte.
Ich konnte ihn ganz deutlich fühlen, diesen Schmerz. Es war ein dumpfer Schmerz, der auf mein Herz drückte. Immer wieder bekam ich etwas Angst davor, ihn noch stärker zu spüren.
Doch Luca hatte inzwischen seine Hände auf meinen Bauch gelegt. Irgendwie beruhigte und stärkte mich das.
Ich blieb einfach eine Weile so. Mit der Zeit fühlte es sich gar nicht mehr merkwürdig oder ungewohnt an.
Langsam begann ich, meinen Schmerz kennen zu lernen und als einen Teil von mir zu sehen, den ich vorher immer nur weit von mir weisen wollte.
Nach etwa einer Stunde war ich wieder einigermaßen bei Kräften. Immerhin konnte ich meinen Rucksack auf die Schultern nehmen und langsam losspazieren.
Luca begleitete mich mit den Worten: „Ich muss auch in diese Richtung!“
Ich war mir nicht sicher, ob er sich nicht einfach nur Sorgen um mich machte und mich nur nicht alleine gehen lassen wollte.
Allerdings musste ich zugeben, dass ich mir selbst auch nicht so ganz über den Weg traute oder eher meinem Körper nicht vertraute.
Was wäre denn, wenn ich nochmals so einen Anfall bekommen würde?
Deshalb war ich wirklich froh, dass Luca sich dazu entschlossen hatte, ein Stückchen mit mir zu gehen.
Ich wollte einfach nur den nächsten Gasthof erreichen und mich gründlich ausschlafen nach diesem anstrengenden Tag.
Diesmal hatten wir wirklich Glück. Wir mussten nicht lange suchen, bis wir einen Gasthof fanden. Wir konnten auch gleich zwei Zimmer bekommen.
Luca half mir in meines in den ersten Stock hinauf.
Ich legte mich sofort völlig erschöpft auf das Bett.
Luca setzte sich zu mir an die Bettkante und blickte mich zufrieden an.
Seinen klaren Augen faszinierten mich. Es war mir, als würde er etwas in meinen Augen lesen, etwas das mir selbst unbekannt war.
Irgendwie erschreckte mich das auch. Luca bemerkte es sofort und wandte seinen Blick ab.
„Ich gratuliere dir, Luis!“, begann er zu sprechen.
Ich war etwas verwirrt, konnte noch immer nicht wirklich klar denken, zumindest nicht so, wie ich es sonst von mir gewohnt war.
Eine eigenartige Schwere hatte sich über meine Gedanken gelegt und schien sie zum Stillstand gebracht zu haben.
Trotzdem hörte ich mir selber zu, wie ich zu Luca sagte: „Danke sehr! Ich weiß zwar wirklich nicht, wozu du mir gratulieren willst, denn ich fühle mich im Moment eher wie ein Häufchen Elend, aber deine Worte hören sich so gut an. Mein Herz freut sich über sie.“
Luca lächelte: „Genau dazu gratuliere ich dir. Du hast die erste Lektion gelernt. Du hast heute großen Mut bewiesen. Den Mut es zuzulassen, dass du dich jetzt wie ein Häufchen Elend fühlst. Dafür braucht es Mut, großen Mut.“
„Dabei bin ich doch eher ein kleiner Feigling!“, gab ich kleinlaut zu.
Und schon begann ich mich noch etwas kleiner und schlechter zu fühlen. Es war ein Wunder, dass das überhaupt noch möglich war.
„Ich weiche immer aus, wenn es Schwierigkeiten gibt. Entweder mache ich, was andere von mir wollen, damit ich meinen Job behalten kann oder ich gehe den Menschen aus dem Weg.
Mir ist so schnell alles zu viel. Aber solange ich meine Arbeit machen kann und dort meine Erfolge sehen kann, dann bin ich zufrieden. Trotzdem komme ich mir jetzt gerade ziemlich feige vor.“
Luca sah mich freundlich an, als wüsste er genau wovon ich sprach. Ich konnte es fast nicht ertragen, dass er mich so ansah, während ich mich selber für mich schämte.
Ich musste darüber nachdenken, wie die letzten Monate gewesen waren.
Seit langer Zeit schon hatte ich das dringende Bedürfnis, etwas in meinem Leben verändern zu wollen. Eines Tages las ich einige Zeilen. Ich kann mich noch nicht einmal erinnern wo sie gestanden hatten. Diese Zeilen standen in irgendeinem Buch oder in der Zeitung - ich wusste es nicht mehr, doch konnte ich mich an jedes Wort erinnern, sie hatten sich in mein Gedächtnis eingebrannt:
Lerne zu vertrauen und du wirst auf Schwingen des Lebens getragen
Lerne zu vertrauen und du wirst spüren, dass du lebst
Seither konnte ich sie nicht mehr vergessen.
Lange hatte ich versucht zu verstehen, was damit gemeint war.
Ich verstand sofort, dass sie wichtig waren. Wie aber sollte ich dieses Vertrauen denn gewinnen, dieses Vertrauen, ein Gefühl des Getragenwerdens, des Schwebens, einer Leichtigkeit, die mir einfach fehlte?
Damals begann ich alles aufzuschreiben, was mir dazu in den Sinn kam. Ich kaufte mir Bücher, um mehr zu erfahren, ich musste einfach mehr darüber wissen, begreifen. Jedoch so sehr ich mich auch bemühte alles nacheinander durchzugehen und zu analysieren so musste ich erkennen, dass ich nichts davon gefunden hatte, was ich tatsächlich gesucht hatte.
Ich hatte viel gelesen über Menschen, die es wohl in sich fühlen konnten, dieses Vertrauen, aber ich konnte einfach nirgends erkennen, wie sie es angestellt hatten, es erst einmal zu finden, um es anschließend beschreiben zu können.
So stellte ich nach vielen Fehlversuchen meine Bücher zurück in den Schrank. Ich hatte erkennen müssen, dass sie mich nicht lehren konnten, was ich wirklich zu erfahren wünschte.
Zunächst brach ich meine Suche vollständig ab. Ich dachte, ich würde das alles vielleicht einfach wieder vergessen, wenn ich mich nur wieder meinen üblichen Plänen und meinem gewohnten Leben widmen würde.
Doch auch das klappte nicht, so wie ich es mir vorgestellt hatte. Je mehr ich mich bemühte, meine Pläne einzuhalten, umso schlechter fühlte ich mich.
Was mir zuvor Sicherheit gegeben hatte, erfüllte diesen Zweck nicht mehr. Ich hatte mich verändert.
Und eines schönen Frühlingstages konnte ich nicht mehr. Ich musste meinen Rucksack packen und mein gewohntes Umfeld verlassen, einfach drauflos marschieren, etwas Anderes machen als ich es bisher getan hatte.
Nun war ich hier, in einem Gasthof, hundemüde und voll mit den Erlebnissen eines einzigen Tages, der viel intensiver war als jeder andere, den ich die letzten Jahre verbracht hatte.
Vielleicht war es das, was Luca mit Mut gemeint hatte. Ich machte nicht mehr so weiter wie ich es für so lange Zeit gewohnt gewesen war.
Ich hatte eine Reise begonnen und um diese Reise zu beginnen, ja das hatte viel Mut erfordert.
Zuvor hatte ich gehofft bequem von zu Hause aus in meinen Büchern zu finden, was ich suchte. Doch musste ich erkennen, dass man das Leben nicht aus Büchern lernen kann.
Nun machte ich mich auf den Weg, das Leben kennen zu lernen. Vielleicht könnte ich so dieses Vertrauen gewinnen, Vertrauen ins Leben und endlich herausfinden, wer Luis war.
Luca verabschiedete sich von mir, er hatte bemerkt, dass ich wohl heute zu keinem Gespräch mehr fähig sein würde.
Es war genug für heute, für diesen wunderschönen Frühlingstag.
Als er gegangen war holte ich aus meinem Rucksack ein frisches T-Shirt und zog mich um.
Ich kuschelte mich unter die Bettdecke und schlief auch sehr bald ein.
2. Tag
Als ich am nächsten Morgen nach unten ins Frühstückszimmer kam, saß Luca bereits an einem Tisch und winkte mir fröhlich zu.
Ich holte mir Kaffee und ein Brötchen. Dann setzte ich mich zu ihm.
„Na, hast du gut geschlafen?“, fragte er mich und sah mich wieder mit seinen klaren, blauen, durchdringenden Augen an. Langsam gewöhnte ich mich an seinen Blick. Heute war mir das auch nicht mehr ganz so unangenehm.
„Ich habe sehr unruhig geschlafen. Ich wurde oft wach, um anschließend sofort wieder in einen neuen Traum zu fallen. Das war echt anstrengend.“
„Ja, dein Körper und deine Seele arbeiten.“
„Sie arbeiten während ich schlafe? So merkwürdig habe ich bestimmt noch nie geträumt, obwohl ich mich an keinen einzigen Traum erinnern kann.“
„Ja, natürlich! Wenn du schläfst haben Körper und Seele Zeit und Ruhe die Dinge zu erledigen, für die im wachen Zustand keine Zeit bleibt.“
„Und was arbeiten die zwei da?“
„Oh, das kann recht unterschiedlich sein. Ich weiß nur ein wenig darüber. Manchmal verarbeitest du zum Beispiel, was du an diesem Tag Neues erlebt hast. Manchmal erinnern dich Träume an alte Situationen, die dich auch heute noch belasten, auch wenn du im Wachzustand nicht mehr an sie denkst. Manchmal bist du in einer anderen Welt, wo sich deine Seele erholen kann, um aufzutanken.
Ich habe auch bisweilen Träume die sehr anstrengend sind, weil ich in ihnen wirklich arbeite. Nicht immer weiß ich wann oder wo oder mit wem, aber ich bin richtig erschöpft, wenn ich aufwache und auch froh, wenn der Traum zu Ende ist.
Ich vermute bei dir waren das heute Nacht Verarbeitungsträume, jedenfalls nenne ich diese Träume so. Das geschieht, wenn Altes sich in dir neu umordnet, transformiert. Die Situationen beginnen sich zu verändern, aber das ist auch anstrengend für deinen Körper.
Aber wie ich schon erwähnt habe, ich weiß darüber nicht alles, es kann gut sein, dass es noch mehrere Arten von Träumen gibt, die ich selber noch nicht erlebt habe. Ich lerne in erster Linie dadurch, dass ich mich selber beobachte!“, Luca zuckte mit den Schultern, „ich weiß allerdings jemanden, der dir vielleicht weiter helfen könnte. Wenn es dich wirklich interessiert, welche Dinge sich in deinem Inneren abspielen, dann solltest du vielleicht zu ihr gehen!“
Schon wieder war dieses Gefühl da, das ich gestern schon mehrmals gehabt hatte.
Luca sagte etwas und obwohl ich nicht begreifen konnte wovon er eigentlich sprach, begann etwas in mir aufzuflammen. Wie ein Feuer, das sich gerade eben nun wieder neu entfacht hatte und das ich gar nicht mehr unter Kontrolle bekommen konnte, selbst wenn ich es wollte.
Obwohl es mich in meiner Brust von dem gestrigen Anfall noch immer schmerzte, so konnte ich mich einfach nicht entziehen.
Ich verspürte noch nicht einmal den Wunsch, hier wieder auszusteigen, umzukehren und in mein altes Leben zurückzugehen. Obwohl ich keine Ahnung hatte, wohin dieser <Zug> mich bringen würde.
Ja, es war wie ein Zug in den ich eingestiegen war und ich kam nicht wieder heraus, denn ich wollte nicht. Ich fand diese Fahrt inzwischen ziemlich spannend, faszinierend. Sie zog mich magisch mit sich.
„Oh, und diese Frau würde mir darauf auch Antworten geben wollen?“