Tanja Busse

Melken und gemolken werden

Die ostdeutsche Landwirtschaft nach der Wende

Tanja Busse

Melken und
gemolken werden

Die ostdeutsche Landwirtschaft
nach der Wende

Für Lasse

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, Juli 2016

entspricht der 2. Druckauflage von 2014

© Christoph Links Verlag GmbH

Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32–0

Internet: www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de

Cover: KahaneDesign, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von Thomas Kläber (www.thomas-klaeber.de)

ISBN 978-3-86284-343-5

Inhalt

Der Streit um den Acker und die wahre Form der Landwirtschaft

Die schwierige und dennoch erfolgreiche Umgestaltung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften

Verteilungskämpfe in der Kornkammer Mecklenburgs

Was aus der LPG Klützer Winkel und den Gütern Damshagen und Schönfeld in Nordwestmecklenburg geworden ist

»Aber ein bißchen enttäuscht war ich schon, als ich die Arbeit verlor«

Silke Manschwedat, Melkerin im Landwirtschaftsbetrieb Klützer Winkel

»Nach der Wende 75 % Sozialismus«

Gert Griese, Vorsitzender des Landwirtschaftsbetriebes Klützer Winkel

»Drei Pyramiden Schutt«

Helmut Vobis, Rentner, ehemaliger Vorsitzender der LPG Tierproduktion Klütz

Die Rückkehr des Grafensohnes

»Seit 600 Jahren im Familienbesitz«

Dr. Christian von Plessen, Außenhandelskaufmann, landwirtschaftlicher Unternehmer in Damshagen und Schönfeld

»Ob die heute noch Pferde haben?«

Richard Borgward, Rentner und ehemaliger Angestellter der LPG Tierproduktion Rolofshagen bei Klütz

Lagora rennt

Wie das Gestüt Ganschow (Mecklenburg) vor den Herren mit den schwarzen Koffern gerettet wurde

»Die Treuhand wollte das Gestüt zerschlagen«

Friedhelm Mencke, Geschäftsführer des Gestüts Ganschow bei Güstrow

Chancengleichheit für alle Betriebsformen

Die schwierige Aufgabe eines Landwirtschaftsministers in Ostdeutschland

»Der einzige praktische Landwirt im Arbeitskreis der letzten Volkskammer«

Till Backhaus, Minister für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten und Fischerei in Mecklenburg-Vorpommern

LPG in Trümmern

Wie die Schweineställe der LPG Blumberg (Brandenburg) vor dem Verfall bewahrt wurden

»Ich habe noch kein Huhn geschlachtet«

Gisela Peters, Inhaberin des Tierzuchthofes Peters in Löhme

»Sieglinde ist die schönste Kuh«

Dr. Hans-Ulrich Peters, Tierzuchthof Peters in Löhme

Retter der Spreewaldgurke

Wie ein Rheinländer den VEB Spreewaldkonserve in Golßen (Brandenburg) gekauft und eine Regionalmarke etabliert hat

»Bloß keine Rezepturen ändern!«

Konrad Linkenheil, Unternehmer und Waldbesitzer in Golß

»Einen Wald muß man in großen Strukturen bewirtschaften, so wie in der DDR.«

Udo Kleschitzki, Verwalter des forst- und landwirtschaftlichen Besitzes der Familie Linkenheil, Golßen

Die Chancen des Systemwechsels genutzt

Wie die LPG Derenburg (Sachsen-Anhalt) eine Genossenschaft geblieben und eine Frau an ihre Spitze gekommen ist

»Was die im Westen können, können wir auch«

Ute Scheller, Vorsitzende der Agrarproduktivgenossenschaft Derenburg-Heimburg

»Manchmal scheint es, als machten die im Westen unsere Entwicklung nach«

Fritz Rhien, stellvertretender Vorsitzender der Agrarproduktivgenossenschaft Derenburg-Heimburg

»Früher hatte die Landwirtschaft keinen so schlechten Ruf«

Uwe Böse, Pflanzenschutzexperte in der Agrarproduktivgenossenschaft Derenburg-Heimburg

»Es gibt nur eins: Du machst dich selbständig!«

Helmut Bollmann, Wiedereinrichter in Benzingerode

Auf dem besten Boden in Ostdeutschland

Warum Hessen und Bayern in der Lommatzscher Pflege (Sachsen) ackern

»Gleich nach der Wende hat sich mein Vater im Osten umgesehen«

Ulrich Geiger, Bauernsohn aus Hessen und Landwirt in Ziegenhain

»Ob Ost- oder West-Arbeitgeber, Hauptsache war der Job«

Steffen Gottschaldt, Traktorfahrer, Angestellter bei Ulrich Geiger in Ziegenhain

Die Bio-LPG

Wie aus der LPG »Wilhelm Pieck« in Vachdorf (Thüringen) ein Ökozentrum wurde

»Kein romantischer Rückschritt«

Eberhard Baumann, Geschäftsführer des Ökozentrums Werratal/Thüringen

Die Stärke und Schwäche der Landwirtschaft im Osten

Ein Nachwort (2014)

Anhang

Anmerkungen

Glossar

Abkürzungen

Weiterführende Literatur

Bildnachweis

Dank

Über die Autorin

Der Streit um den Acker und die wahre Form der Landwirtschaft

Die schwierige und dennoch erfolgreiche Umgestaltung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften

Die Melker streichen die ersten Tropfen aus den Eutern und setzen silberfarbene Röhren an die Zitzen. Die schwarzen Gummischläuche an den Melkbechern vibrieren mit dem Fluß der Milch. Hinter den Eutern sieht man die gesenkten Köpfe der anderen Kühe. Die meisten starren gleichgültig auf den Boden und warten, bis ihre vollen Euter leichter werden.

Oben über jeder Kuh hängt ein kleiner Kasten mit Displayanzeige: 14,6, 14,8, 15 Liter, dann ist das Euter leer, und eine metallene Schnur zieht die Melkbecher ab. Jede der 400 Kühe trägt einen Chip am Hals, und wenn sie die Schranke zum Melkstand passiert, wird sie vom Computer registriert. Gibt sie weniger Milch als üblich, leuchtet ein rotes Blinklicht. Im Vorwartehof drängen sich die Kühe wie Menschen am Eingang eines Fußballstadions. Hier schiebt sich der Treiber durch die dichtgedrängten Tierleiber und lenkt je zwölf in den rechten und zwölf in den linken Gang.

Dies ist der Fischgrätenmelkstand, den die LPG Tierproduktion Klütz im Herbst 1990 gekauft hat. Hier werden 48 Kühe gleichzeitig gemolken, in zwei Melkständen Euter an Euter, aufgereiht wie Fischgräten. Am 1. Januar 1991 ist aus der LPG der genossenschaftlich organisierte Landwirtschaftsbetrieb Klützer Winkel geworden. Er hat die zehn Jahre nach der Wende überlebt, ihm ist der Sprung aus der sozialistischen Planwirtschaft in die regulierte Marktwirtschaft aus eigener Kraft gelungen.

Die Landwirtschaft – mit Ausnahme der Volkseigenen Güter – ist einer der wenigen Bereiche, in denen die Betroffenen die Umwandlung ihrer Unternehmen selbst in die Hand nehmen konnten. Von den 4 200 Landwirtschaftlichen und Gärtnerischen Produktionsgenossenschaften existieren noch 3 000. Davon haben über 90 Prozent Geschäftsführer aus Ostdeutschland. »Der einzige Wirtschaftszweig, der mehrheitlich in ostdeutscher Hand ist und auch erfolgreich wirtschaftet«, sagt Dr. Regine Wieland, eine der Landwirtschaftsexperten der Deutschen Bank. Das ist eine große Ausnahme, denn die Treuhandpolitik und der Grundsatz des Einigungsvertrages »Rückgabe vor Entschädigung« haben dazu geführt, daß zehn Jahre nach der Vereinigung nur noch fünf Prozent des ostdeutschen Produktivvermögens im Besitz von Ostdeutschen ist.

Die ostdeutsche Landwirtschaft ist heute wettbewerbsfähiger als die in den alten Bundesländern. Seit 1998 geben die ostdeutschen Kühe mehr Milch als die westdeutschen, 1999 im Durchschnitt knapp 6 600 Liter pro Kuh und Jahr, knapp 800 mehr als im Westen. Die Bauern in Sachsen-Anhalt machen die größten Gewinne in ganz Deutschland. Und während in Westdeutschland ein Familienbetrieb nach dem anderen dichtmacht, ist die Zahl der ostdeutschen Agrarunternehmen seit Jahren stabil.

Damit ist der ostdeutschen Landwirtschaft nach der Wende alles in allem ein großer ökonomischer Erfolg und eine stolze Verteidigung des Erbes der DDR gelungen. Es sind die großen ostdeutschen Einheiten, einst durch die sozialistische Kollektivierung entstanden, die dem verschärften Konkurrenzdruck auf dem Agrarmarkt gewachsen sind. Aber hier hat auch die letzte große ideologische Schlacht stattgefunden, die alte Feindschaften verstärkt und neue geschaffen hat.

Bodenreform und Kollektivierung

Der Sonderweg der ostdeutschen Landwirtschaft begann im September 1945, als die Sowjetische Militäradministration die Bodenreform einleitete. Unter der Losung »Junkerland in Bauernhand« wurden Kriegsverbrecher und Landbesitzer, die mehr als 100 Hektar Land besaßen, enteignet, bis zum 1. Januar 1950 mehr als 14 000 Betriebe. Es war nicht nur die KPD, die das so wollte. Auch konservative Politiker hielten eine Reform der Besitzverhältnisse auf dem Land für unausweichlich, so etwa Ernst Lemmer von der CDU, der die »ostelbischen Großagrarier« beschuldigte, Verbündete Hitlers gewesen zu sein.1

Aus ökonomischer Sicht war das wenig sinnvoll: Vor dem Zweiten Weltkrieg war die Landwirtschaft auf dem Gebiet der späteren DDR produktiver als die im Westen, obwohl die natürlichen Bedingungen schlechter waren. Aus politischer Sicht dagegen ging es darum, breitere Besitzverhältnisse zu schaffen.

Das enteignete Land wurde an Landarbeiter, Handwerker, landarme Bauern und Vertriebene verteilt. Jeder bekam etwa acht Hektar, ein überschaubares Feld, von dem man genug ernten konnte, um satt zu werden, aber viel zuwenig, um auf Dauer rentabel zu wirtschaften. Heute reicht kaum das Zehnfache, um davon als Landwirt leben zu können.

Nach dem Vorbild der sowjetischen Kolchosen wurde dieses Land kollektiviert. Das Ziel, landwirtschaftliche Genossenschaften zu bilden, hat die SED erst 1952 auf der II. Parteikonferenz verkündet. Aber es wurde schon eher vorbereitet: Die SED agitierte gegen die Großbauern und bürdete ihnen kaum zu erfüllende Plansolls auf. Tausende verließen ihre Höfe und flohen in den Westen. Bis 1960, so plante das Zentralkomitee der SED 1957, sollte die Mehrheit der Bauern in Genossenschaften organisiert sein. Die Bauern wurden überzeugt, überredet oder genötigt, den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften beizutreten. Für die Neubauern, die erst durch die Bodenreform zu Land gekommen und oft mit der Bewirtschaftung überfordert waren, war die kollektive Wirtschaft ein Vorteil. Die größeren Bauern dagegen waren meist skeptisch.

1947 wurde die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) gegründet. Sie baute überall auf dem Land Maschinen-Ausleih-Stationen (MAS) auf, die vor allem den kleinen Bodenreformbauern und den mittelgroßen Bauern zugute kamen. Doch im Laufe der Jahre verlor sie durch die verstärkte Kollektivierung an Einfluß. 1982 wurde sie als Interessenvertretung der einzelnen Genossenschaftsbauern wiederbelebt; sie kümmerte sich vor allem um deren private Hauswirtschaften und die ländlichen Verkaufs- und Dienstleistungseinrichtungen. Ab 1986 gab es eigene Vertreter in der Volkskammer.

Der Bauernsohn Hans-Heinrich Jäger, der LPG-Vorsitzender wurde und heute den Nachfolgebetrieb Dorf Gutow leitet, beschreibt seine Entwicklung so: »In den fünfziger Jahren habe ich gesagt: Niemals in die LPG! Im Studium habe ich eine andere Meinung angenommen, und heute, würde ich sagen, muß jeder selbst wissen, welche Form für ihn die beste ist. Meine Prognose aber ist, daß der Anteil der Flächen, der privat bewirtschaftet wird, in den kommenden Jahren noch größer werden wird.« Wie er dachten damals viele junge Kader: Die Bauernsöhne waren in dem Bewußtsein großgeworden, Hofnachfolger in einer langen Generationenreihe zu sein, doch die Argumentation an den Universitäten für die kollektivierte, also großflächige und deshalb effektivere Landwirtschaft überzeugte schließlich viele.

Zunächst schlossen sich die meisten Bauern zu LPGen des Typs I zusammen, das heißt, sie betrieben nur den Feldbau gemeinsam und hielten das Vieh weiterhin in privaten Ställen und auf dem privat genutzten Grünland. Die LPG Typ II, bei der auch das Grünland von der Genossenschaft bewirtschaftet wurde, war eine Übergangsform, die keine praktische Relevanz hatte. Im Typ III schließlich, der seit dem »Sozialistischen Frühling auf dem Land« 1960 propagiert wurde, sich aber erst Anfang der siebziger Jahre endgültig durchsetzte, erhielt die LPG das volle Nutzungsrecht nicht nur über die land- und forstwirtschaftlichen Flächen, sondern auch über das Vieh. Im Grundbuch blieben die alten Besitzer als Landeigentümer eingetragen.

In den folgenden Jahren entstand eine neue Art von Landwirtschaft, eine von der Partei gelenkte »Großraumwirtschaft« mit Kuhherden wie in Argentinien und Betrieben, die größer waren als die der enteigneten Großgrundbesitzer. Im sozialistischen Dorf sollten das Elend der Landarbeiter und die soziale Zersplitterung ein Ende haben, und für die Genossenschaftsbauern sollten wie für die Industriearbeiter geregelte Arbeitszeiten gelten. Das Gesetz über die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, das der Ministerrat der DDR 1959 erlassen hat, erwähnt ausdrücklich, daß die LPGen auch der »Verbesserung der materiellen und kulturellen Lebensbedingungen der Landbevölkerung dienen« sollen. Die LPG wurde zum ökonomischen, kulturellen und sozialen Zentrum des Dorfes und ersetzte die Kirche und den Gutsherrn. Ähnlich wie in früheren Zeiten blieben die Landbewohner ans Land gebunden. Laut LPG-Gesetz aus dem Jahr 1982 waren die Kinder der LPG-Mitglieder gehalten, selbst in der LPG tätig zu werden, um den »natürlichen Wechsel der Generationen der Klasse der Genossenschaftsbauern« zu gewährleisten.

Nach der Wende waren die Bauern im Westen erstaunt, daß so viele Ostbetriebe an der genossenschaftlichen Struktur festhielten. Doch mit der Kollektivierung waren viele LPG-Mitglieder inzwischen durchaus einverstanden. Wo die ehemaligen Privatbauern die Entfremdung vom eigenen Land und mangelnde Freiheit beklagten, sahen die überzeugten LPG-Mitglieder geregelte Arbeitszeiten, soziale Sicherheit und eine moderne Agrarstruktur.

Bücken und schleppen: Bis zur Mechanisierung in den siebziger Jahren prägte harte Knochenarbeit die DDR-Landwirtschaft, in den privaten Wirtschaften auch noch länger, wie hier bei der Kartoffelernte in Eilenburg (Sachsen), 1981.

Was vielen jedoch mißfiel, war der große Einfluß, den die SED auf die Betriebe nahm. In den LPGen gab es, ähnlich wie in den Volkseigenen Betrieben, neben der landwirtschaftlichen Führungsebene eine parallele Kontrollebene der SED, die überwachte, ob die Vorgaben der Kreisleitungen eingehalten wurden. Dadurch fühlten sich viele LPG-Vorsitzende gegängelt. Weil der Einfluß der SED auf die Leitungsebene so groß war und auch die Bauernpartei als Vasall der SED nicht für mehr Freiräume sorgen konnte, hatten die einfachen Bauern innerhalb der LPG erst recht wenig zu sagen. Die Mitbestimmungsrechte waren bei weitem nicht so groß, wie es im LPG-Gesetz beschrieben war: Die Genossenschaftsbauern sollten ihre gemeinsame Arbeit »entsprechend den Prinzipien der Gleichberechtigung, der kameradschaftlichen Zusammenarbeit und der gegenseitigen Hilfe« verrichten.2 Tatsächlich aber sagen viele: »Es wurde gemacht, was die Brigadiere sagten.«

Anfang der achtziger Jahre waren 93 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche in der Hand der LPGen. In den siebziger Jahren wurden gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit der Genossenschaftsbauern einzelne LPGen zu größeren Einheiten zusammengeschlossen, die sich über die alten Gemarkungsgrenzen der Dörfer hinweg und über mehrere tausend Hektar Land erstreckten. Es entstanden die Kooperativen Abteilungen Pflanzenproduktion (KAP) und die Zwischenbetrieblichen Einrichtungen (ZBE), gigantische Betriebszusammenschlüsse, die sich als nicht beherrschbar erwiesen. Dahinter standen die Ideen des Politbüro-Mitglieds Gerhard Grüneberg, der einen neuen Typ des Genossenschaftsbauern formen wollte, der »auf industriemäßige Weise arbeitet« und die »industriemäßigen Produktionsmethoden anzuwenden« versteht.3

Um die Industrialisierung der Landwirtschaft zu fördern, wurden die Genossenschaften schließlich in Spezialbetriebe für Tier- und Pflanzenproduktion geteilt. Auch das sollte die Effizienz steigern, doch dieses Ziel wurde nicht erreicht. Viele LPG-Leiter, die große Strukturen und industrialisierte Landwirtschaft generell befürworteten, waren mit dieser Trennung unzufrieden, weil sie gegen die natürliche Einheit von Tieren und Pflanzen verstieß. Aus landwirtschaftlicher Sicht störte die Leiter auch, daß die Politik auf dem Ziel der territorialen Eigenversorgung beharrte. In jeder Gegend der DDR sollten alle landwirtschaftlichen Produkte angebaut werden, unabhängig davon, ob die Gegend dazu überhaupt geeignet war. Die Besonderheiten der einzelnen Böden wurden dabei nicht berücksichtigt.

Die Wende als Chance für eine neue Landwirtschaft

»Vor der Wiedervereinigung war der ostdeutsche Agrarsektor nicht konkurrenzfähig gegenüber dem westdeutschen«, sagt der Agarökonom Holger Thiele.4 Aber die ostdeutsche Landwirtschaft barg das Potential für eine gute zukünftige Entwicklung, einmal durch die großen Strukturen und zum anderen durch die gute Ausbildung der LPG-Vorsitzenden.

Nach dem Fall der Mauer verschwanden die Mitarbeiter mancher LPGen von einem Tag auf den anderen, um sich im Westen Arbeit zu suchen. In anderen wurde weitergearbeitet, als sei nichts geschehen. Diejenigen, die vor dreißig Jahren nur widerstrebend in die LPG gegangen waren, machten sich Hoffnungen, ihr Land wieder selbst bewirtschaften zu können. Aus dem Westen kamen die ersten vertriebenen oder geflohenen Alteigentümer, um das Land zu besichtigen, das sie vor mehr als vierzig Jahren verlassen hatten.

Am 9. März 1990 wurde aus der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) der »Bauernverband der DDR«. Gleichzeitig gründeten die Landwirtschaftlichen und Gärtnerischen Produktionsgenossenschaften eigene Verbände. Im Bemühen um eine einheitliche Interessenvertretung schlossen sich diese Organisationen auf Länderebene zusammen. Die daraus entstandenen Landesbauernverbände wurden 1991/92 Mitglieder des westdeutschen Bauernverbandes. Auch diejenigen Bauern, die ihr Land aus der LPG herausgenommen hatten, um wieder eine private Landwirtschaft aufzubauen, die sogenannten Wiedereinrichter, organisierten sich in mehreren Verbänden. Einige davon schlossen sich den Landesbauernverbänden an, vor allem in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen, die anderen gründeten einen eigenen Dachverband.

Im Frühjahr 1990 verhandelten ost- und westdeutsche Politiker über Währungsunion und Wiedervereinigung. Doch wie es mit der Landwirtschaft weitergehen sollte, wußte noch keiner. Für die bevorstehende Transformation einer genossenschaftlichen sozialistischen Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft gab es nirgends auf der Welt ein Vorbild. Ökonomen schüttelten den Kopf, als die Politiker den Wechselkurs von DM zu Ostmark auf 1:2 und für kleinere Geldbestände im Privatguthaben auf 1:1 festlegten. Sie hielten die Ostmark für vierfach überbewertet. Die Entscheidung brachte die ostdeutsche Landwirtschaft in Schwierigkeiten. Am Tag der Währungsunion, am 1. Juli 1990, waren Getreide und Kartoffeln über Nacht nur noch knapp die Hälfte wert, Fleisch und Milch sogar noch weniger. Die Landwirte waren schockiert. Mit der Einführung der DM brachen die Absatzmärkte in Osteuropa weg. Die Bürger der DDR ließen ihre Landwirtschaft im Stich und kauften lieber cellophanverpackte Gurken aus Holland als die aus dem eigenen Land. Die ostdeutschen Landwirte erfuhren, daß sie nicht wettbewerbsfähig waren: Ihre Erträge betrugen im Schnitt nur etwa zwei Drittel des westdeutschen Niveaus.

1990 fielen auch die alten Außenhandelsbeschränkungen weg. Die LPGen kauften neue Maschinen, Dünger und Pflanzenschutzmittel und staunten über den schnellen Erfolg: Von 1990 bis ’93 ernteten sie 34 Prozent mehr Weizen und 79 Prozent mehr Zuckerrüben. Nach der Wende ist die Bruttowertschöpfung der ostdeutschen Industrie um mehr als die Hälfte gesunken, in der Landwirtschaft hat sie beinahe das Niveau gehalten.

Während in den LPGen Traktoren die Pferde ersetzten, nutzten private Bauern Gespannpferde für die Feldarbeit bis in die achtziger Jahre.

Im Sommer ’90 war das noch nicht unbedingt abzusehen. In der letzten, frei gewählten Volkskammer debattierte der Arbeitskreis Landwirtschaft über die Zukunft der LPGen. Der einzige Landwirt unter den Mitgliedern war der ehemalige Traktorist Till Backhaus, der später Landwirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern wurde. Am 29. Juni verabschiedete die Volkskammer das Landwirtschaftsanpassungsgesetz, das die Umwandlung der LPGen in eingetragene Genossenschaften vorsah. Das Gesetz sollte sicherstellen, daß die Bodeneigentümer wieder über ihr Land verfügen können, daß die Genossenschaftsmitglieder am Vermögen der LPGen beteiligt werden und daß eine »vielfältig strukturierte Landwirtschaft« entsteht, in der sowohl Genossenschaften als auch Privatbauern eine Chance haben sollten. Das Gesetz ließ viele Fragen offen, die erst durch die späteren Novellen und die Rechtsprechung gelöst wurden. Diese Unklarheiten haben für großen Ärger gesorgt. Zunächst war zum Beispiel nicht geregelt, ob die Inventarbeiträge, also das, was die ehemals privaten Bauern bei der Kollektivierung in die LPG eingebracht hatten, 2 : 1 oder, wie erst 1993 entschieden wurde, 1:1 zurückgezahlt werden mußten.

Damit war alles offen: Die Beschäftigten in der Landwirtschaft konnten selbst entscheiden, was aus ihnen werden sollte, die Treuhand, die die Staatsbetriebe der DDR zu privatisieren hatte, würde nicht über sie bestimmen. Während die Volkseigenen Betriebe und auch die Volkseigenen Güter in treuhänderische Verwaltung übergeben wurden und die Beschäftigten darauf warten mußten, daß Fremde über ihr Schicksal entschieden, lag vor den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften die ganze Freiheit einer selbst zu gestaltenden Zukunft.

Die LPG-Vorsitzenden und die Mitglieder, die ihr Land wieder selbst bewirtschaften wollten, fuhren zu westdeutschen Bauern und blickten ratlos auf die kleinen Felder, die sie »Handtücher« nannten. Diese Bauern hatten ihren Hof als Familienbetrieb organisiert, die Frauen fütterten die Schweine, und die Kinder halfen beim Rinderumtreiben, und manche hatten sich mit dem Nachbarbauern zu einer Maschinengemeinschaft zusammengeschlossen. Aber wie man einen Betrieb mit mehreren tausend Hektar, hundert Beschäftigten und zwölf Mähdreschern unter den Bedingungen der europäischen Agrarpolitik zu führen hatte, das konnten sie ihnen nicht sagen.

Vierzig Jahre lang hatten sich die LPG-Leiter bemühen sollen, die Produktion zu steigern, um die Bevölkerung zu versorgen, und nun erzählten ihnen die westdeutschen Landwirte von Flächenstillegungsprämien und Extensivierungsprogrammen. »Jeder Quadratmeter Land ist zu nutzen«, hatte es in der DDR geheißen, und plötzlich galt irgendwie das Gegenteil: Je weniger man anbaute, desto mehr Ausgleichszahlungen konnte man sich von der EU erhoffen. Gleichzeitig waren die Preise für landwirtschaftliche Produkte gesunken, und man mußte immer billiger produzieren, um überhaupt Geld zu verdienen.

Es war einigermaßen verwirrend: Die Bauern im Westen sprachen vom Familienbetrieb als Ideal und sagten: »Klar, daß das bei euch nicht funktioniert hat. Man steht eben nachts nur auf, um einer Kuh beim Kalben zu helfen, wenn es die eigene ist.« Aber sie gaben zu, daß ihre Höfe, die jahrhundertelang große Familien ernährt hatten, zu klein geworden waren, um dem Preisdruck standzuhalten. Die ostdeutschen Bauern sahen ihre Chance: Die großen Strukturen, die riesigen Schläge und die jahrelange Erfahrung mit vielen spezialisierten Arbeitskräften, das alles mußte reichen, um es zu schaffen.

Bloß wie? Die LPG ist in eine eingetragene Genossenschaft umzuwandeln, stand im Landwirtschaftsanpassungsgesetz. Wie geht das? Und was ist mit den Mitgliedern, die die LPG verlassen wollen? Was ist mit dem Land der enteigneten Großgrundbesitzer, die in den Westen geflohen waren? Im Gesetz stand auch, daß die Mitglieder am Vermögen beteiligt werden müssen. Wie berechnet man das? Und wenn die Mitglieder zurückfordern, was sie eingebracht haben, bleibt dann genug Vermögen, um die Genossenschaft fortzuführen? Und wenn das alles geregelt wäre: Welche Art von Landwirtschaft sollte man in Zukunft machen? Schweine- oder Bullenmast? Davon hatten die westdeutschen Bauern abgeraten: zu schlechte Preise. Milchproduktion? Da gab es dieses Quotensystem, bei dem – ähnlich wie früher vom Rat des Kreises – die Mengen festgelegt wurden, die man produzieren durfte. 1991 wurde die Referenzmenge und spätere Milchquote für die ostdeutschen Betriebe auf 70 Prozent der Produktion des Jahres 1991 begrenzt. Damit liegen die ostdeutschen Lieferrechte weit unter den westdeutschen. Ackerbau schien den meisten das einfachste zu sein. Aber dafür würden sehr, sehr wenig Arbeitskräfte gebraucht werden. Und wenn man den meisten Mitgliedern ihren Arbeitsplatz kündigen müßte, würden sie dann Mitglieder der Genossenschaft bleiben wollen? Oder aus Enttäuschung gegen die LPGen vorgehen?

Die ersten Opfer: Beinahe 700 000 entlassene Landarbeiter

Es sollte Jahre dauern, bis diese Fragen beantwortet wurden. Doch eines war sofort klar: Der Schritt in die Marktwirtschaft konnte nur mit besserer Technik und deutlich weniger Arbeitskräften gelingen. In den folgenden Monaten erfuhren Hunderttausende von LPG-Mitgliedern, daß sie in Zukunft nicht mehr gebraucht würden oder doch gebraucht, aber nicht mehr bezahlt werden könnten, jedenfalls arbeitslos seien. Mehr als 830 000 Menschen hatten 1989 in der Landwirtschaft der DDR gearbeitet. Zehn Jahre später waren 135 000 übriggeblieben. Als »völlig unproduktiv« kritisierten die westlichen Berater die Beschäftigungszahlen der LPGen. Leute, die den ganzen Tag nur den Hof fegen, Steine sammeln und mit der Hand Stroh und Heu laden, könne man sich in der Marktwirtschaft nicht mehr leisten. Erst Jahre später fiel den LPG-Leitern ein, was sie hätten sagen können: daß es so etwas wie ABM-Stellen gewesen wären, daß sie Leute von der Straße geholt hätten, die heute arbeitslos wären und für die also der Staat aufkommen müßte.

»Die Frauen waren die ersten, die nach Hause gehen durften«, sagt Jutta Quoos, damals »Hauptbuchhalter« in der LPG Tierproduktion Schönewalde. Heute ist sie Geschäftsführerin des Nachfolgebetriebes und Vorsitzende des Brandenburger Landfrauenverbandes. »Die wenigen, die es bis ins Management gebracht haben, waren zuvor meist nur der Notnagel aus der zweiten Reihe.« Es habe ausscheidende LPG-Vorsitzende gegeben, die kurz vor dem Ruin die Frauen aus der Betriebsleitung gefragt hätten, ob sie nicht versuchen wollten, den Betrieb weiterzuführen. »Die sind dann daran gewachsen.« Doch die Opfer waren die entlassenen Handarbeitskräfte im Feldbau, Traktoristinnen und Melkerinnen. Viele Frauen waren in der Tierproduktion beschäftigt gewesen, die unter den neuen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der EU regelrecht zusammengebrochen ist. 1989 produzierte die DDR mehr Schweinefleisch, als sie selbst verbrauchte, knapp zehn Jahre später weniger als die Hälfte des Eigenverbrauchs. Viele ehemalige Leiterinnen der großen Kälberaufzucht- oder Schweinemastanlagen sitzen heute als Vorruheständler oder Arbeitslose zu Hause und haben viel Zeit, den langsamen Verfall ihrer alten Arbeitsstätten zu beobachten. »Sie haben die Arbeitslosigkeit als persönlichen Makel empfunden, deshalb sprechen sie nicht darüber«, sagt Jutta Quoos. »Weil es wehtut.«

Dr. Uta Hoffmann-Altmann, die an der Humboldt-Universität in Berlin über Frauen in der ländlichen Entwicklung forscht, spricht von einem »zunehmenden Ausschluß der Frauen« und einer »Dequalifizierung« der Hochschulabsolventinnen. Bei den entlassenen Landfrauen hat sie eine »gewisse Lethargie« und eine starke Vereinzelung festgestellt. Viele beklagen, daß die Männer in alte Rollenmuster zurückgefallen sind.

Streit an allen Fronten

Aber die Dörfer spalteten sich nicht nur in Arbeitslose und Beschäftigte. Mit der Wende begann ein Streit auf dem Land, in dem alte Fronten wieder aufbrachen und neue hinzukamen. Alle, die sich jemals auf dem Land gegenübergestanden hatten, kämpften erneut, und auch die, die vierzig Jahre lang miteinander ausgekommen waren, wurden zu Gegnern. In den agrarwissenschaftlichen Fakultäten, in den Verbänden der Bauern und unter den Agrarpolitikern entbrannte von neuem die Debatte, ob der bäuerliche Familienbetrieb das strukturpolitische Leitbild bleiben müsse. Die Bundesregierung wünschte, dieses Modell auch im Osten Deutschlands durchzusetzen,5 obwohl sich die westdeutsche Landwirtschaft längst dem Druck der fallenden Preise hatte beugen müssen und im Zuge des Strukturwandels auch im Westen immer größere Agrarbetriebe entstanden waren. Währenddessen stritten Alteigentümer und LPGen um Land, und Genossenschaftsmitglieder forderten bessere Vermögensauseinandersetzungen von den LPG-Vorständen. Die wiederum kämpften dagegen, die Schulden aus DDR-Zeiten, die sogenannten Altschulden, übernehmen zu müssen, während die Treuhand die Industriebetriebe entschuldet zum Verkauf anbot. Wiedereinrichter wetterten gegen die LPG-Nachfolgeunternehmen, die ihnen keine Chance ließen, Land zu bekommen, und alle zusammen zitterten, wenn die Europäische Union über eine Kürzung der Subventionen für die Landwirtschaft verhandelte oder den günstigen Verkauf von Treuhandland verbieten wollte. Die höchsten deutschen Gerichte sind bis über das Jahr 2000 hinaus mit den Streitfällen in der ostdeutschen Landwirtschaft beschäftigt.

»Es scheint schier unmöglich, den plötzlich gültigen neuen Rechtsrahmen zu überblicken«, schreibt der ehemalige sächsische Landwirtschaftsminister Rolf Jähnichen acht Jahre später über das Jahr 1990. »Dies gilt gerade für die Landwirte, die sich in einem durch die Brüsseler Agrarpolitik vorgegebenen komplizierten Handlungsrahmen wiederfinden, der allerdings mit seinen Quoten, Kontingenten und Prämiensystemen eher an eine andere Form der Planwirtschaft erinnert. Genau diese europäische Agrarpolitik befindet sich zu allem Überfluß in der Phase einer grundsätzlichen Reformierung.«6

Nach der Wiedervereinigung wurden die neuen Länder zum Ziel-1-Gebiet mit der höchsten Förderpriorität der Europäischen Union. Die EU, der Bund und die Länder richteten besondere Förderprogramme für die ostdeutsche Landwirtschaft ein. Es gab Umstrukturierungshilfen für die LPGen und Programme für die Wiedereinrichter, die großzügiger gefördert wurden, um bessere Chancen für den Neuanfang zu haben. Allein die Bundesregierung hat dafür 8,3 Milliarden Mark ausgegeben.

Frauen als Handarbeitskräfte bei der Kartoffelernte vor und nach der Wende: LPG »Frieden« in Beyern 1980 und LPG-Folgeunternehmen in Drehnow (beide Brandenburg), 1995.

Altschulden erschlagen die Genossenschaften

Laut Landwirtschaftsanpassungsgesetz der Volkskammer mußten sich die LPGen bis zum Ende des Jahres 1991 in eingetragene Genossenschaften umgewandelt haben, andernfalls wurden sie zwangsliquidiert. Nach der Wiedervereinigung änderte die Bundesregierung das Gesetz mehrere Male. In der Fassung von 1991 stand nun ausdrücklich, daß eine Umwandlung in jede mögliche Rechtsform zulässig war. Das war auch vorher rechtlich möglich, aber im Gesetz nicht erwähnt gewesen. Von den 3 000 LPG-Nachfolgeunternehmen sind 40 Prozent Genossenschaften geblieben, 52 Prozent haben sich in GmbHs umgewandelt. Der Rest sind GmbH & Co. KG und Aktiengesellschaften.

Die Nachfolgeunternehmen müssen für ihre Schulden aus DDR-Zeiten aufkommen, obwohl die LPGen damals nur beschränkten Einfluß darauf hatten, ob und wie viele Kredite sie aufnahmen und wozu diese verwendet werden sollten. Das geliehene Geld mußten sie nicht nur in die Landwirtschaft investieren, sondern auch in Sozialgebäude, zum Beispiel in Kindergarteneinrichtungen. Insgesamt waren es acht Milliarden Mark, die sehr unterschiedlich verteilt waren. Einzelne LPGen waren mit fünfzehn Millionen Mark verschuldet. Die Bundesregierung beauftragte die Treuhand, jene Unternehmen, die Altschulden haben, zu entlasten, und stellte dazu 1,4 Milliarden Mark zur Verfügung. Mit dieser Summe wurden 78 Prozent der nicht mehr werthaltigen Kredite abgelöst. Die Altschuldenfrage wurde dennoch vor Gericht gebracht. Der Konkursverwalter einer LPG in Sachsen-Anhalt hatte sich geweigert, die Schulden der LPG aus DDR-Zeiten anzuerkennen. 1993 entschied der Bundesgerichtshof, daß die LPGen die Schulden übernehmen müßten, und vier Jahre später bestätigte das Bundesverfassungsgericht das Urteil.

Die ausscheidenden Mitglieder blieben zwar schuldenfrei, doch reduzierte sich durch das Urteil ihr Abfindungsanspruch. In Extremfällen bekamen die Mitglieder nicht einmal ihren Inventarbeitrag zurück, weil die Banken bei der Vermögensauseinandersetzung Vorrang hatten. Das empfanden die ostdeutschen Landwirte als Unrecht: Einerseits wurden sie von den Westdeutschen als »Opfer der Zwangskollektivierung« bezeichnet, andererseits legten die Gerichte nun fest, daß ihr privates Vermögen, das sie der LPG unter Zwang zur Verfügung gestellt hatten, als Vermögen der LPG bei der Schuldentilgung angerechnet wurde.

Die LPG-Nachfolger waren schwer getroffen, auch wenn ihnen die Schuldentilgung erleichtert wurde. So müssen sie zwar 20 Prozent ihres Gewinnes zur Schuldentilgung abführen, aber nur dann, wenn sie überhaupt Gewinn erwirtschaften. Macht eine LPG Verluste, muß sie die Schulden nicht bedienen. Doch durch die Verzinsung steigen die Schulden währenddessen selbstverständlich weiter. Es kursierte die Verschwörungstheorie, das Urteil sei ein Versuch des Westens, die ostdeutschen Betriebe kaputtzumachen. Die Manager der LPG-Nachfolger kritisierten, daß sie Kredite abzuzahlen hätten, deren Werthaltigkeit zum größten Teil verloren sei. Viele Ställe und Maschinen aus DDR-Zeiten genügten nicht den Anforderungen der neuen Zeit. »Es war unheimlich schwer für die Vorstände der LPGen, ihren Genossenschaftsmitgliedern zu erklären, warum beispielsweise ein Trabi, der für 12000 Ost-Mark auf Kredit angeschafft worden war, nach der Wende nur noch mit 500 DM in der Bilanz stand«, sagt Regine Wieland, die für ihre Dissertation die Umwandlung von LPGen in der Prignitz beobachtet hat. Einer dieser Betriebe hatte so viele Altschulden, daß sie den Leitern sagte: »Nach bundesdeutschem Recht bleibt nichts als die Liquidation.« Doch die LPG-Leiter beschlossen, die Schulden zu ignorieren und weiterzumachen. »Und sie hatten recht«, so Wieland. »Den Betrieb gibt es heute noch, die Schulden zwar auch, aber es wird irgendwann eine politische Lösung geben, wie das vernünftig geregelt werden kann.«

Eine endgültige Lösung der Altschuldenfrage ist tatsächlich noch nicht gefunden: Die Bundesregierung hat Wissenschaftler beauftragt, die Wirkungen der Altschuldenregelungen zu analysieren, und Fachleute rechnen mit heftigen Diskussionen über eine mögliche politische Neuregelung.

Ein Kampf ohne Ende: Wem gehört das Vermögen der Genossenschaften?

Ein zweiter Streit entzündete sich am Paragraphen 44 des mehrfach novellierten Landwirtschaftsanpassungsgesetzes: Darin stand, daß die Mitglieder am Vermögen der LPG zu beteiligen wären. Das weckte bei den ehemaligen Privatbauern die Erwartung, das Gesetz könne sie für vierzig Jahre unfreiwilliger Mitgliedschaft in der LPG entschädigen. Tatsächlich stand die gerechte Verteilung des Vermögens und nicht der Erhalt der Genossenschaft im Vordergrund. »Doch das Landwirtschaftsanpassungsgesetz war kein Zwangskollektivierungswiedergutmachungsgesetz«, sagt der Parlamentarische Staatssekretär Gerald Thalheim. »Die das erhofft hatten, mußten zwangsläufig enttäuscht werden.«7

Das Gesetz sei gut gewesen, Fehler habe es nur bei der Umsetzung gegeben. Vor allem die Anwälte aus Westdeutschland, die die LPGen bei der Umwandlung beraten haben, hätten mangelnde Rechtskenntnis gehabt, einzelne von ihnen hätten eine »Enttäuschungsspur mißglückter Umwandlungen« durchs Land gezogen. Wissenschaftler bemängeln dagegen zahlreiche Lükken im Gesetz. In der ersten Fassung, die noch von der Volkskammer verabschiedet worden war, fehlten genaue Angaben darüber, wie die Mitglieder am Vermögen beteiligt werden sollten. Insgesamt waren 1,4 Millionen Menschen, LPG-Mitglieder, Landbesitzer und ihre Erben, von der Vermögensauseinandersetzung betroffen.

Weil nach vier Jahren die meisten Fälle noch immer nicht geklärt waren, wurde 1994 eine Verjährungsregelung eingeführt, die den ehemaligen LPG-Mitgliedern insgesamt fünf Jahre Zeit gab, ihre Ansprüche geltend zu machen. Da die LPGen bis zum 31. Dezember 1991 umgewandelt sein mußten, blieb den Mitgliedern zum Zeitpunkt der Einführung dieser Frist nur noch ein Jahr.

Diejenigen, die vermuteten, daß der LPG-Vorstand das Vermögen zu niedrig bewertet hatte, konnten sich nicht zu gerichtlichen Schritten entschließen. Die einfachen Mitglieder befanden sich in der schlechteren Position: Traktoristen und Rinderzüchter hatten in der Regel nicht gelernt, Bilanzen zu lesen, und mußten deshalb den Vorständen vertrauen. Nach Ansicht des Agrarökonomen Holger Thiele fehlten im Gesetz genaue Angaben über die Mitbestimmungsrechte der Mitglieder. Vielleicht hätte man einen Ombudsmann einsetzen oder neutrale Gremien etablieren können, meint Thiele, um die DM-Eröffnungsbilanzen und die Vermögensauseinandersetzungen besser zu kontrollieren.

Nach dem Feierabend in der LPG folgte die privaten Hauswirtschaft: Schäfer in Bahnsdorf bei Herzberg (Brandenburg) und Gänsezüchter in Coppenstedt (Sachsen-Anhalt), achtziger Jahre.

Die LPG-Leitungen standen vor dem Dilemma, ihren Mitgliedern soviel wie möglich auszuzahlen oder aber soviel Kapital wie möglich zu behalten, um die Stabilität des Unternehmens nicht zu gefährden. Wie bewertet man aber beispielsweise einen Schweinestall, der nach der Wende nicht mehr zu gebrauchen ist? Mit einem Gebäuderestwert? Mit den Abrißkosten? Die Vermögensauseinandersetzung war oft eine Auseinandersetzung zwischen den Generationen: Die alten Bauern hatten Höfe eingebracht und wollten eine Entschädigung, während die jungen hofften, ihre Arbeit nicht zu verlieren.

Wie kompliziert diese Auseinandersetzung ist, zeigt der Fall eines ehemaligen LPG-Mitgliedes im Erzgebirge, das meinte, bei der Vermögensauseinandersetzung zu wenig Geld bekommen zu haben, und gerichtlich gegen den LPG-Nachfolger vorging. Der Bundesgerichtshof untersuchte 1997 die Umwandlung dieser LPG und stellte fest, daß dabei Fehler gemacht worden waren und der neue Betrieb gar nicht existieren dürfte. »Die untote LPG steigt wie Graf Dracula aus der Gruft«, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung als Titel über einen Gastkommentar eines Mitarbeiters des Sächsischen Landwirtschaftsministeriums. Der Autor Burkhard Zscheischler erklärt darin, daß sich das ehemalige LPG-Mitglied mit seiner Klage wahrscheinlich selbst geschadet habe, weil es bei der nun bevorstehenden ordnungsgemäßen Liquidation vielleicht sogar Geld zurückzahlen muß. Er schreibt: »Wem nützt es? Der dahinter stehende Verband sagt es offen: den landhungrigen Betrieben. (…) Wenn nämlich die großen Agrarunternehmen der neuen Länder – mit politischer Unterstützung des BGH – erst in die richtige Klemme geraten sind, werden die potenten Aufkäufer schnell zur Stelle sein. (…) Dies wird wieder Wasser auf die Mühlen jener DDR-Nostalgiker sein, die die Vereinigung Deutschlands ohnehin nur als eine konsequente Kolonialisierung des Ostens durch den westlichen Kapitalismus betrachten.«8

Da steckt alles drin: Hinter jeder Betriebsform steckt ein Glaubensbekenntnis, und das Fortbestehen der LPG-Nachfolgeunternehmen ist ein kleiner nachträglicher Sieg für die DDR. Für Jutta Quoos, die Tochter eines in die LPG gezwungenen Privatbauern, die heute ein LPG-Nachfolgeunternehmen leitet, ist das die Ironie der Geschichte. Ausgerechnet diejenigen, die sich vor vierzig Jahren als Opfer der Zwangskollektivierung verstanden, sich dann aber mit der neuen Form der Landwirtschaft arrangierten, sind heute oft die größten Verfechter der großstrukturierten genossenschaftlichen Landwirtschaft.

Aus der anderen Perspektive erschien das alles als ein großes Unrecht: 1995 griff der Spiegel das Thema auf – als Anwalt der »einfachen Ost-Bauern«, der »Belogenen und Betrogenen«.9 Die Autoren beschuldigten die LPG-Chefs, mit »Skrupellosigkeit« und »krimineller Energie« die kleinen Bauern »ausgetrickst und ausgenommen« zu haben. »Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit herrschen sie nun wieder wie zu SED-Zeiten über das Land, mit einem Unterschied allerdings: Früher waren sie nur mächtig, heute sind sie auch noch reich.« Seitenlang beschrieben die Autoren sehr einseitig die LPG-Chefs als eine Art Verbrecherbande, die sich alter Seilschaften bedient, um politischen Einfluß zu nehmen, den Bauernverband fest im Griff hat und die ehemaligen Mitglieder einschüchtert.

Doch das Rührstück hatte zunächst nicht den gewünschten Erfolg. »Zu meiner großen Verblüffung gab es keine Resonanz in der ostdeutschen Öffentlichkeit. Trotz zahlreicher Strafanzeigen haben die Staatsanwälte – wenn überhaupt – eher lustlos ermittelt«, so der Autor Dr. Hermann Bott im Dezember 2000. Ob das allein die Folge alter Seilschaften war, ist jedoch nicht geklärt. Viele Ermittlungsverfahren, so Andreas Geigulat, bis Anfang 1999 Inspektionsleiter in der Zentralen Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) beim Polizeipräsidium Berlin, seien eingestellt worden, weil die Beweisführung sehr schwierig gewesen sei. Auf den Dörfern habe ein sehr hoher informeller Druck geherrscht, und viele Zeugen hätten keine oder nur unvollständige Aussagen machen wollen.

Doch viele einfache LPG-Mitglieder hielten den Spiegel-Bericht für übertrieben, was die ausgebliebene ostdeutsche Resonanz erklären könnte.

Ein Jahr nach Erscheinen der Spiegel-Geschichte wurde das Landwirtschaftsanpassungsgesetz erneut novelliert und die Verjährungsfrist auf zehn Jahre verlängert. Die ist am 31. Dezember 2000 abgelaufen. Das Bundeslandwirtschaftsministerium schließt neue Gesetzesänderungen aus. Doch damit gibt es noch keinen Frieden in den Dörfern. Der Agrarwissenschaftler Bernhard Forstner beobachtet heute einen Prozeß der Konzentration in den LPG-Nachfolgeunternehmen. Viele tendierten zu immer kleiner werdenden Mitgliedszahlen. Wenn in den nächsten Jahren Mitglieder ausscheiden, steht eine zweite Welle der Vermögensauseinandersetzung bevor.

Als der westdeutsche Agrarökonom Holger Thiele während seiner Tätigkeit als Unternehmensberater nach der Wende ostdeutsche Genossenschaften besuchte und an vielen Vollversammlungen teilnahm, war er »erstaunt über die Solidarität der Mitglieder mit dem Unternehmen«. Daß dieser Zusammenhalt aus dem Glauben an die genossenschaftliche Idee entstehe, kann er sich nicht vorstellen. Als Ökonom glaube er nicht, daß altruistische Motive das Handeln von Menschen leiteten. Vielleicht hat es einfach ökonomische Gründe: Die einfachen LPG-Mitglieder hatten sehr spezialisierte Berufe gelernt, wußten nicht viel über Betriebswirtschaftslehre und sahen wenig Möglichkeiten, im strukturschwachen ländlichen Raum eine andere Arbeit zu finden. So blieb ihnen nichts als die Agrargenossenschaft. Vielleicht ist aber auch – gerade unter dem Eindruck der Diffamierung durch die privaten Bauernverbände und Medien – ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Genossenschaftsmitgliedern entstanden. Auf der agrargenossenschaftlichen Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung 2000 wurde über »die Lebensfähigkeit der Genossenschaftsidee« diskutiert, und für Dr. Hans Watzek, den Landwirtschaftsminister der Modrow-Regierung 1989/90, bringen die »Produktivgenossenschaften, in denen die Genossen sowohl Anteilseigner als auch Produzenten sind, eine neue Facette in die kapitalistische Produktionsweise«.10

Immer wieder wurde die Frage der Genossenschaften in der Landwirtschaft zur Glaubensfrage: 1997 spießte Dieter Tanneberger, der Präsident des Deutschen Landbundes vor Fotografen rote Socken auf Mistgabeln und warf dem sächsischen Landwirtschaftsminister Jähnichen vor, er spiele die Karte der »roten Barone«, denn er vertusche die Unrechtmäßigkeiten bei der Umwandlung.

Der damalige Bundeslandwirtschaftsminister Jochen Borchert hatte 1993 im Vorwort zur Neufassung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes geschrieben, daß »die Rechte ausgeschiedener LPG-Mitglieder massiv beschnitten wurden«.11 Aber daß es tatsächlich »flächendeckende Bilanzfälschungen« gegeben hat, wie Tanneberger behauptete, ist inzwischen widerlegt, so Ingo Zopf, Referatsleiter für Betriebswirtschaft und Beratung im Thüringer Ministerium für Landwirtschaft, Naturschutz und Umwelt. Er beruft sich auf den Bericht des Bundesrechnungshofes »über die Abwicklung von Altkrediten der ehemaligen DDR« vom 27. September 1995 und die Prüfungen seines Ministeriums.