Bastian Zach
Donaumelodien – Morbide Geschichten
11 Kurzgeschichten aus dem historischen Wien
Abgründiges Wien Wien und der Tod – eine ewige Liebe. In kaum einer anderen Stadt sind unbändige Lebensfreude und der Hang zum Morbiden so präsent wie in der alten Kaisermetropole. Daher ist es kaum verwunderlich, dass manch dunkles Geheimnis die Zeiten überdauert hat: Ein Mann und seine Angst, lebendig begraben zu werden. Die mysteriösen Machenschaften des lieben Augustins. Die überraschende Beichte eines Scharfrichters. Ein Duell unter Ehrenmännern, die keine sind, und eine Jungfer in Nöten. Das Mysterium eines Abnormitäten-Kabinetts. Die Anklage einer Unholdin und eine ersehnte Wiedergutmachung. Ein Obdachloser in der Kanalisation und die grausamste Chance seines Lebens. Ein Arzt und der Tod einer Kaiserin. Und vieles mehr …
Jede der 11 „Morbiden Geschichten“ erzählt aus einer anderen Zeit und ist doch tief in Wien verwurzelt – manchmal abgründig, manchmal fantastisch, aber immer mit einem (bösen) Schmunzeln.
Bastian Zach wurde 1973 in Leoben geboren und verbrachte seine Jugend in Salzburg. Das Studium an der Graphischen zog ihn nach Wien, als selbstständiger Schriftsteller und Drehbuchautor lebt und arbeitet er seither in der Hauptstadt. Die Liebe zu historischen Geschichten, die in seiner Wahlheimat Wien an jeder Ecke lauern, inspirierte ihn zu diesen Kurzgeschichten.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
Lektorat: Teresa Storkenmaier
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von: © ullstein bild – Imagno / Österreichisches Volkshochschularchiv
ISBN 978-3-8392-6676-2
Zum Buch
Impressum
Widmung
I.Der Schein des Todes Wien, 1893
II.Strotter Wien, 1903
III.Die UnholdinWien, 1604
IV.Alles ist hinWien, 1681
V.Das DuellWien, 1752
VI.Der Fluss und das Mädchen Wien 1832
VII.Die Porzellanfuhr’ Wien, 1753
VIII.So a Hetz! Wien, 1796
IX.Die BeichteWien, 1617
X.Fidschi-Meerjungfrau Wien, 1874
XI.Elisabeth Wien, 1908
Nachwort
Danksagung
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Sigismund von Aschbach war ein Genussmensch durch und durch. Im Jahre 1847 hatte er das Licht der Welt erblickt, und war die folgenden drei Jahre nicht vom Busen seiner Amme zu trennen gewesen. Er liebte das Leben in all seinen Facetten und ließ sich von Kindesbeinen an von ihnen prägen. Genauer gesagt erfolgte diese Prägung in drei Etappen:
Als Knabe von gerade einmal vier Lenzen wurden ihm zum ersten Mal Zwetschkenknödel mit zerlassener Butter kredenzt, was zeitlebens zu seiner Leibspeise werden sollte – die erste Prägung, die seine heutige Leibesfülle eindrucksvoll zur Schau stellte.
An seinem neunten Geburtstag befand Sigismunds Vater, der als gestrenger und zuweilen ungerechter Herr mehr gefürchtet denn geliebt wurde, dass es an der Zeit für den Junior und alleinigen Erben war, den Schatz der Familie zu verkosten – den Muskat-Sylvaner. Es handelte sich um einen Weißwein, den Sigismunds Großvater aus dem Loiretal in Frankreich mitgebracht hatte und der nicht nur den Reichtum, sondern auch den ausgezeichneten Ruf der Familie begründete. Das hämmernde Kopfweh, das Sigismund am Morgen nach seiner Einführung in das bis dato unbekannte Getränk aus eingemaischten Weintrauben empfand, würde er ebenso wenig vergessen wie sein Verlangen, das Erlebte zu wiederholen. Wieder und immer wieder – die zweite Prägung, die seine stets geröteten Wangen und seine grobporige Nase nicht weniger eindrucksvoll bewiesen.
Mit elf Lenzen geschahen vielerlei wundersame Veränderungen in Sigismunds Körper: Es wuchsen Haare an den seltsamsten Stellen, seine Stimme begann zu klingen, als würde er seine Worte jodeln, und er fand auf einmal Gefallen an seinem Kindermädchen … Und sie, ein junges Ding aus dem ländlichen Böhmen, das der Herrgott mit mehr Busen denn Verstand gesegnet hatte, empfand es durchaus vergnüglich, den Sprössling der Familie ihres Dienstgebers in die Künste der Liebe einzuführen. Eine herrlich unbeschwerte Zeit, wie beide befanden, die ewig hätte dauern können – bis sich Sigismund zwei Jahre später an ihr sattgesehen und -gegriffen hatte. In einer verregneten Herbstnacht war sie laut heulend vom Anwesen gejagt worden, nachdem Sigismunds Mutter von der unsäglichen Liaison in Kenntnis gesetzt worden war. Natürlich von Sigismund selbst.
Diese dritte Prägung erklärte seinen Hang zu älteren Frauen und seine Vorliebe, von ihnen im Schlafgemach nicht nur wie ein Knabe behandelt, sondern auch so gezüchtigt zu werden, wovon sein immer wieder stark geröteter Hintern Zeugnis ablegen konnte – oder besser gesagt, hätte können, hieße es nicht, sich gebührlich zu kleiden.
Als aus dem immer hungrigen, immer durstigen und fast immer erregten Jungspund schließlich ein junger Mann reifte, kam unverhofft noch eine vierte Prägung hinzu – die des Strebens nach Wissen. Obwohl er sich nicht mehr auf das Wohlwollen seines Vaters angewiesen fühlte, war er dennoch mit einem Male zielstrebig darauf bedacht gewesen, der Belesenheit seines Vaters zumindest ebenbürtig zu werden – sowohl was die Allgemeinbildung als auch was den Weinbau betraf.
Allerdings musste Sigismund bald erkennen, dass ihm jene Fähigkeiten fehlten, die man schlichtweg nicht erlernen konnte: Zunächst mangelte es ihm am nuancierten Geschmackssinn. Der war notwendig, um die Qualität der jeweiligen Trauben zu erfahren und um deren Aromen beim Ausatmen durch die Nase wahrzunehmen. Eine Fähigkeit, die sich für das Keltern eines besonders exquisiten Weines als essenziell erwies.
Auch fehlte ihm die Weitsicht seines Vaters, was der Gaumen des selbsternannten Wiener Sommeliers in der nächsten Saison gerne verlustieren mochte.
Und zu guter Letzt ließ er Zurückhaltung vermissen, wenn es um die reine Verkostung der jüngsten Tropfen ging, weshalb sein Spucknapf immer trocken, seine Stimmung jedoch stets feuchtfröhlich war.
Dafür besaß Sigismund eine andere Gabe: Er verstand sich darauf, Techniken zu verinnerlichen und Verfahrensprozesse zu erkennen und diese fortwährend zu optimieren. So kam es, dass der familiäre Betrieb trotz Sigismunds Defiziten kosteneffizient expandierte und alsbald Großvaters Rebsaft nicht nur in den lokalen Heurigen und Schankstuben, sondern in ganz Europa erhältlich war.
Früh- und Spätlesen kamen und gingen. Schließlich lag Sigismunds Vater auf dem Sterbebett, umringt von seiner Gemahlin, seinem Sohn und einer auserwählten Dienerschaft. Zur Überraschung aller waren die letzten Worte des Patriarchen jedoch nicht »Ich liebe dich, mein Weib«. Auch kein Gebet, verknüpft mit der verzweifelten Hoffnung auf Erlösung. Es war ein grundehrliches: »Ich bin stolz auf dich, mein Sohn.«
Diese letzten, tief emotionalen Worte seines Herrn Papa spornten Sigismund an, sein Dasein auf Erden zu etwas Unvergesslichem zu machen, etwas, was der gesamten Nachwelt als Leuchtfeuer in einer sturmumtosten Nacht des Zweifelns dienen sollte – und so begann er, Waisenhäuser zu gründen, ließ leistbare Wohnungen für seine Arbeiter erbauen, errichtete Alten- und Armenhäuser. Im Gegensatz zu seinem Vater wurde er daher nicht gefürchtet, sondern respektiert und bewundert, manchmal gar geliebt, vom einfachen Knecht bis zu den Granden der Wiener Gesellschaft.
Um dieses immense Pensum an Wohltätigkeit jedoch fortwährend bewerkstelligen zu können, vergrub er sich immer tiefer in seine Arbeit, bis Sigismund schließlich – mit dreißig Jahren – einen Schwächeanfall erlitt …
Daraufhin verordnete ihm sein Hausarzt nicht nur eine grauenhaft strikte Diät und eine lästige teilzeitliche Alkoholabstinenz, sondern das, wovor sich Sigismund am meisten fürchtete: drei Monate leidiges Nichtstun. Oder, wie es der Arzt euphemisierte: drei Monate reinste Erholung an den Schwefelquellen des Kurortes Baden.
Dort, unter all dem Geldadel und anderen steinreichen Hypochondern, machte der Kurgast Sigismund die Bekanntschaft mit Ludwig von Kempny, einem einflussreichen Kaufmann, mit dem ihn alsbald nicht nur Berufliches, sondern auch Privates verbinden sollte – im fortgeschrittenen Alter von zweiunddreißig Jahren heiratete Sigismund endlich, und das auch noch aus Liebe. Und es war nicht, wie mancher zu vermuten geneigt war, eine ältere Frau, die ihm fortan den Hintern versohlen sollte, sondern eine blutjunge, die das auch noch mit Hingabe tat. Clara von Kempny, gerade einmal siebzehn Jahre alt. Sie war der Augenschatz ihres Vaters. Aber soviel sie auch an Mitgift in die Ehe brachte, sosehr mangelte es ihr an Schönheit und Grazie. Böse Zungen behaupteten gar, Clara gleiche mehr einer grobschlächtigen Magd denn einer Aristokratin. Die Frage ihrer eigentlichen Abstammung hätte wohl nur ihre Mutter beeiden können, aber die war bei der Geburt ihres bereits damals schwer übergewichtigen Kindes gestorben.
Doch Sigismund und Clara kümmerte es nicht, was böse Zungen hissten, im Gegenteil. Sie führten eine Ehe, um die sie alsbald viele aus der gehobenen Wiener Gesellschaft beneideten – frei von Gerüchten und Skandalen, nur ein Bild vermittelnd: das der perfekten liebenden Verbindung von Mann und Frau vor Gott. Kaum ein Sonntag verging, an dem das Ehepaar nicht an der Heiligen Messe im Stephansdom teilnahm, keine Fastenzeiten, die nicht strikt eingehalten wurden. Selbst Feiertage wurden entsprechend würdig begangen.
Doch trotz seiner aufgeflammten Frömmigkeit vertraute Sigismund dem Herrn nicht so weit, dass er sich ganz und gar in Seine Hände begab …
Diese Letzte seiner Prägungen begann am Karfreitag, dem 30. März des Jahres 1888. Sigismund und Clara saßen zu Tisch, verspeisten je eine Forelle auf Müllerinart und gaben sich belustigt, dass der diesjährige Ostersonntag mit dem 1. April zusammenfiel.
Plötzlich begann Clara zu husten. Immer heftiger bäumte sich ihr Körper auf. Ihre Augen traten hervor, während ihre Hände ihre Kehle umklammerten, in der Hoffnung, sie könne das wieder herausdrücken, was ihr quer im Halse steckte. Sigismund eilte ihr zu Hilfe, schlang von hinten seine Arme um sein Weib und presste gegen ihren Brustkorb. Doch es half nichts. Clara sackte zusammen und blieb regungslos am Boden liegen, Augen und Mund noch immer entsetzlich weit aufgerissen.
Sigismund ergriff die nackte Panik. Er rief nach der Dienerschaft. Doch auch die konnte nichts anderes tun, als hilflos um die Dame des Hauses herumzustehen wie neugierige Schulkinder um ein totes Tier, manche starr vor Schock, andere bereits in Gebeten versunken.
Mit einem Male bäumte Clara sich auf, erbrach sich auf den kostbaren Perserteppich und schnappte nach Luft wie ein Karpfen an Land. Wenig später blickte sie die Dienerschaft um sich herum an, als hätte sie keine Ahnung, wie sie auf den Boden gelangt war und weshalb die anderen sie umringten.
Seither war Fisch von der Speisekarte gestrichen. An Freitagen gab es nur noch Biber zu essen – ganz im Einklang mit dem Konstanzer Konzil von 1414.
Clara fehlte jegliche Erinnerung an den Vorfall, doch Sigismund begann sich zu fragen, was wohl in der Zeit des bewusstlosen Zusammensackens seiner Gemahlin und dem erneuten Ins-Leben-Kommen geschehen sein mochte. War sie tot gewesen? Immerhin hatte sie keinen Puls mehr gehabt, das hatte Sigismund mit Entsetzen festgestellt. Nur dass es vom Tode kein Zurück gab, dessen war er sich auch gewiss.
Clara musste also in einer Art Zwischenzustand gewesen sein, nicht mehr am Leben, aber eben auch nicht tot …
Und was Sigismund noch viel mehr beunruhigte als der Gedanke an diesen Zustand war der Gedanke daran, dass ihn das gleiche Schicksal ereilen könnte. Nur eben nicht mit jenem glücklichen Ausgang, den Clara erleben durfte, sondern geprägt von der Vorstellung, im Sarge aufzuwachen, der sich dann bereits tief unter der Erde des Wiener Zentralfriedhofes befand.
Schließlich wuchs diese Vorstellung zu einer Angst heran, Schlingpflanzen gleich, die sich um einen gesunden Baum wanden, um ihn irgendwann zu ersticken.
Daher ließ Sigismund – natürlich im Geheimen – Erkundigungen einholen. Er wollte wissen, ob nur er allein an dieser abstrusen seelischen Erkrankung litt. Zu seiner Erleichterung erfuhr er, dass dem nicht so war, ja gar, dass er sich damit in illustrer Runde wiederfand. So manch anderem berühmten Zeitgenossen schien es wie ihm zu ergehen. Dem Dramatiker Johann Nepomuk Nestroy, der verfügt hatte, man möge ihm einen Herzstich versetzen, damit er nicht im Sarge aufwachte. Oder dem dänischen Schriftsteller H. C. Andersen, der befohlen hatte, dass ihm die Pulsadern durchgeschnitten werden sollten. Der Philosoph Arthur Schopenhauer hatte gar testamentarisch verankert, dass er erst begraben werden dürfe, wenn sein Körper deutliche Merkmale der Verwesung aufweise. Ja, diese großen Männer begleitete dieselbe Angst wie Sigismund, vom Erwachen am Morgen bis zum Schlafengehen am Abend: die Taphephobie. Die Angst davor, als Scheintoter lebendig begraben zu werden.
Wenngleich Sigismund sich jenen Herren ebenbürtig sah, so teilte er nicht deren Herangehensweise an den vorzeitig diagnostizierten Tod. Denn, so war sich Sigismund gewiss, wenn er aus seinem Scheintod erwachen würde, dann könnte er erneut Großes schaffen. Und so galt für Sigismund oberste Priorität, diesem vermeintlichen Scheintod entgegenzuwirken, koste es, was es wolle!
Im Zuge seiner Überlegungen stieß er auf eine Erfindung, die ein gewisser k. k. Strafhaus-Verwalter namens Johann Nepomuk Peter dem Leichenhof des Ortes Währing gestiftet hatte: den Rettungswecker. Es war eine komplizierte Apparatur, die der Totengräber selbst, dem zumeist nicht Schöngeist, Fingerspitzengefühl und das Verständnis für moderne Mechanik innewohnten, mit dem Aufgebahrten verbinden musste. Eng anliegende Hülsen an Fingern und Zehen sollten durch einen Draht, der unterirdisch in einem Rohr verlief, mit dem Rettungswecker im Hause des Totengräbers verbunden werden, worauf, bei der geringsten Zuckung des Scheintoten, dort eine Glocke zu läuten beginnen sollte. Da diese Apparatur jedoch bereits 1828 installiert worden und seither nicht eine einzige Rettung eines Scheintoten dokumentiert war, hielt sie Sigismund für schlichtweg sinnlos, da augenscheinlich zu komplex.
Was ihm daran jedoch gefiel, war die Idee, die der Erfindung zugrunde lag. Sie war ihm Inspiration und Ansporn zugleich, für seine eigene letzte Ruhestätte etwas Ähnliches zu konzipieren. Es musste jedoch etwas sein, was er selbst steuern konnte, und es musste etwas sein, was im Falle eines Versagens noch weitere Möglichkeiten der Alarmierung beinhaltete.
Selbstverständlich kam die Beerdigung in einem Sarg nicht länger infrage. Zu groß war die Wahrscheinlichkeit, aus dem unvorhergesehenen Halbschlaf aufzuwachen und sich eingepfercht in einer Kiste unter der Erde wiederzufinden, unfähig, die nötigen Prozeduren zur Errettung einzuleiten. Daher plante Sigismund in einem ersten Schritt eine Begräbnisstätte, die diesen Einschränkungen nicht unterlag – ein Mausoleum. Es würde ihm im Falle eines Aufwachens genügend Platz bieten, sich frei zu bewegen und Alarm zu schlagen. Allerdings sollte es weder mit einem ehernen Gitter noch mit einer hölzernen Tür verschlossen sein, sondern mit einer Steinplatte – zu groß war Sigismunds Angst davor, dass noch in der Nacht der Beerdigung Grabräuber das Inventar rauben, oder, noch schlimmer, seinen scheintoten Körper schänden könnten.
Gesagt, getan.
Ein Platz für die steinerne Ruhestätte war schnell gefunden, denn der 1874 eröffnete Wiener Zentralfriedhof bot eine schier unendlich weite Fläche für ein solches Bauwerk, dem zudem auch noch eine repräsentative Wirkung innewohnte. Und es bot in sich genügend Platz, um die nötigsten Utensilien zu beherbergen, die man nach dem Aufwachen benötigte: eine Lampe und Schwefelhölzer, eine Flasche mit Wasser, fünf Bouteillen des Familienweins, Zwieback – in Ermangelung der Haltbarkeit seiner geliebten Zwetschkenknödel mit zerlassener Butter –, einen bequemen Schlafsessel sowie einen Mantel aus Flanell. Dies alles sollte ausreichen, um einige Stunden bis zur Errettung ausharren zu können.
Nachdem er diese grundlegenden Banalitäten zu Papier gebracht hatte, widmete sich Sigismund als Nächstes jenen Vorrichtungen, die der Außenwelt im Fall des Falles von seiner Auferstehung künden sollten.
Das Tagesgeschäft des Familienbetriebes überantwortete Sigismund zunächst seinem getreuen Verwalter Hans. Seine geliebte Clara bat er um Verständnis, ihn in seinem Arbeitszimmer, in das er sich zurückzuziehen gedachte, nur zu stören, um ihm dreimal täglich Speis und Trank zu bringen. Auch auf die mehrmals wöchentlich vollzogenen ehelichen Pflichten möge sie für die Dauer seiner Schaffensperiode verzichten. Danach würde er sich ausgiebig bei ihr revanchieren.
Mit einem Kuss auf den Mund und einem Lächeln willigte sie widerspruchslos ein.
Dann versperrte er die Tür hinter sich, nahm in dem breiten Ledersessel vor seinem Schreibtisch Platz und wartete darauf, dass die Sonne unterging.
Obwohl es tief in der Nacht war, zog Sigismund alle Vorhänge zu, um die Finsternis noch greifbarer zu gestalten. Den wertvollen Teppich rollte er zur Seite und legte sich auf die kühlen Eichendielen. Er löschte die Petroleumlampe, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen.
Er war tot.
Das Lebensband zerschnitten.
Er hatte den letzten Seufzer getan, einen Abgang gemacht. Ein Bangl gerissen, den Löffel abgegeben, die Patschn gestreckt, sich den Holzpyjama angezogen.
Seltsam, wie viele Ausdrücke der Mensch für das Unausweichliche hatte, kam Sigismund in den Sinn, worauf er sich sofort selbst ermahnte, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Also, er war tot.
Endlich war endlich unendlich. Rund um ihn das zeitlose Nichts (die Heilsversprechungen der Prediger hatte er trotz seines tiefen Glaubens immer als Zuckerbrot für die Armen verachtet).
Dann –
Plötzliches Erwachen! Plötzliche Erkenntnis! Sigismund im steinernen Sarg!
Hieraus musste er sich erst einmal befreien, sonst wären alle weiterführenden Überlegungen bezüglich einer Errettung obsolet. Die Steinplatte über ihm, mit ihrer lebensgroßen Nachbildung eines den gerechten Schlaf schlummernden Sigismunds, mochte eine gute Tonne wiegen, sie wegzuschieben war daher ein Ding der Unmöglichkeit. Und alles andere als eine solche Steinplatte wäre einfach nicht standesgemäß. Es musste also eine Methode der Befreiung sein, die er selbst bewerkstelligen konnte, die einfach genug war, um nicht fehleranfällig zu sein, und die die strukturelle Integrität des Sarkophags nicht beeinträchtigte – sonst würde er von einer Tonne Stein zerquetscht. Sigismund öffnete die Augen, sah sich förmlich in seinem dunklen, kalten Geleitbehältnis in die Ewigkeit. Sein erster Instinkt: mit den Füßen treten. Damit kam ihm auch bereits die Lösung des Problems: Die Wand an der Fußseite durfte nur gesteckt sein und keine tragende Funktion aufweisen. Dann könnte Sigismund einfach dagegentreten, sie würde aus der Konstruktion fallen und ihm somit den Fluchtweg aus dem Sarkophag und rein ins Mausoleum öffnen.
Heureka! Die erste Hürde war genommen.
Sigismund robbte am Dielenboden dahin, stand schließlich auf und blickte in die Schwärze des Raums. Er tastete sich vorwärts, ergriff die bereitgestellten Schwefelhölzer und die Lampe und entzündete ein schwaches Licht. Nun würde er sich erst einmal in den Schlafsessel setzen, um den Schock des Eingetretenen zu verkraften. Und um in aller Ruhe eine Bouteille Wein zu trinken, um dann … ja, was würde dann folgen? Schreien oder mit den Fäusten gegen die Wände des Mausoleums zu hämmern wäre vermutlich zwecklos, zu dick war das Gemäuer. Daher fügte er der Inventarliste noch einen schweren Hammer hinzu. Das Klopfen mit einem solchen Werkzeug würden die Besucher des Friedhofs mit Sicherheit hören, und ihm dann zu Hilfe eilen.
Der Hammer war Sigismunds erster Rettungsanker.
Aber diese Vorsichtsmaßnahme empfand der Winzer als nicht genug. Er musste auf Nummer sicher gehen. Er brauchte die Absicherung der Absicherung der Absicherung. Und er wusste, dass nun sein ganzes Geschick gefragt war.
Schließlich war es so weit: Sigismund hatte eine Alarmmechanik entworfen, die sowohl effizient wie realisierbar erschien. Doch genau genommen war es nicht nur eine Mechanik.
Es waren dero drei.
Die erste gestaltete sich so einfach wie wirkungsvoll:
Eine Signalfahne. Deren hölzerne Stange würde Sigismund vom Inneren des Mausoleums durch ein Rohr nach draußen schieben, worauf sich die darauf gewickelte Fahne ausrollen sollte. Der Saum würde mit Bleikügelchen beschwert sein, damit sie dies von allein tat. Auf der Fahne würde in großen Lettern »ZU HILFE« gestickt sein, sowie in zwei kleineren Zeilen präzise Instruktionen, was man zu tun hätte.
Im Geiste ging er das Prozedere durch. Sigismund drückt die Stange nach draußen, die Fahne entwickelt sich, ein Besucher wird darauf aufmerksam und holt Hilfe …
Gerettet!
Die zweite Alarmmechanik war ein Läutwerk, dessen drei Glöckchen an der äußeren Stirnseite des Giebels befestigt waren und über einen einfachen Zugmechanismus im Inneren des Mausoleums zum Klingen gebracht werden konnten. Irgendein Friedhofsbesucher würde mit Sicherheit ob des Lärms aufmerksam werden und daraufhin Hilfe holen. Doch welcher Zugmechanismus wäre wohl der effizienteste? Eine dicke Schnur aus Hanf war leichtgängig, jedoch nicht besonders haltbar. Eine Eisenkette könnte rosten und brechen. Schließlich einigte sich Sigismund mit sich selbst auf ein kettengliedriges Zugwerk aus Bronze.
Was würde diesmal geschehen? Sigismund zieht an der Kette, die Glöckchen draußen läuten, ein Besucher wird darauf aufmerksam und holt Hilfe …
Erneut gerettet!
Die dritte Alarmmechanik war die Modernste. Basierend auf der Nutzung der jüngst entdeckten Verwendung von Elektrizität durch Werner von Siemens sollte ein Wechselstromkreis in das Mausoleum eingeleitet werden. Dort würde Sigismund einen Kippschalter betätigen, worauf, ähnlich wie beim antiquierten Rettungswecker, eine eigens montierte Klingel im Häuschen des Friedhofswärters zu schrillen begann, der daraufhin, wie instruiert, die Sicherheitswache zu verständigen hätte, die dann ausrücken und den schweren Stein, der den Eingang ins Mausoleum verschloss, wegschieben würde.
Ein letztes Mal galt es, alle Schritte nachzuvollziehen. Sigismund betätigt den Kippschalter, die Klingel schrillt, der Friedhofswärter holt Hilfe …
Endgültig gerettet!
Zufrieden ließ sich Sigismund in den schweren Ledersessel vor seinem Schreibtisch sinken, auf dem mittlerweile unzählige Blätter voller Notizen und Skizzen lagen, und strich sich genussvoll über den ansehnlichen Wanst.
Ganze zwei Monate hatte sein Eremitendasein angedauert, das manchmal mehr von Wahnvorstellungen denn kühnen Überlegungen geprägt war. Und doch hatte er sich Schritt für Schritt der Lösung aller sich stellenden Probleme genähert und sie schlussendlich gemeistert.
Sigismund griff eines der wenigen unbeschriebenen Blätter Papier und zückte abermals die Feder: Was galt es, vor seiner Beerdigung noch zu tun? Das Mausoleum war mit den auf der Inventarliste beschriebenen Utensilien zu bestücken und dem Friedhofswärter würde man drei Bouteillen des Familien-Muskat-Sylvaners schenken, als Dank für dessen Kooperation.
Damit wäre dann wohl alles getan.
Mit einem Male überkam Sigismund das Bild des Mausoleums bei Nacht – ein dunkler Steinblock inmitten eines unbeleuchteten Friedhofs. Ob er noch eine Beleuchtung andenken sollte? Immerhin würde man so schneller den Weg zu ihm finden. Er setzte die Feder aufs Papier und fügte hinzu: »Vier große mit Petroleum befüllte Lampen, je zwei zu beiden Seiten des Ausgangs, sind bei Anbruch der Dunkelheit zu entzünden, und erst im Morgengrauen wieder zu löschen, und dies zehn konsekutiv aufeinanderfolgende Nächte lang, ab Beisetzung. Dafür sind dem Friedhofswärter weitere drei Bouteillen Wein zu spenden.«
Sigismunds Blick fixierte den Punkt aus Tinte, der mehr und mehr von seinem Glanz verlor, als er vom Papier aufgesogen wurde. Es war vollbracht. Er sammelte alle relevanten Instruktionen und Skizzen, sortierte sie, und schob sie in ein Kuvert.
Dann schritt er zum Fenster, riss die schweren Vorhänge zur Seite und öffnete es. Seine Weinberge erstrahlten im güldenen Licht der untergehenden Sonne, eine warme sommerliche Brise schmeichelte um Sigismunds dichten, zwei Monate alten weißen Vollbart. Er atmete tief ein und aus und wurde sich in diesem Moment gewahr, wie eine erdrückende Last von ihm genommen wurde. Und er freute sich darauf, sich fortan wieder der Leichtigkeit des Seins zuzuwenden, wie damals, bevor er dieser tückischen Phobie anheimgefallen war.
Was stand als Nächstes an? Das Mausoleum musste errichtet, alle Mechaniken auf ihre Funktion überprüft werden, und dann –
Sigismund hielt inne. Was war er gerade im Begriff zu tun? Dies verstand man ganz und gar nicht unter »das Leben genießen«! Als Erstes würde er jetzt ein ausgiebiges und wohl dringend notwendiges Bad nehmen. Danach würde er sich genussvoll das Gestrüpp vom Gesicht rasieren. Und erst dann würde er zu Clara ins Bett steigen und so oft mit ihr verkehren, bis er nicht mehr konnte oder sie nicht mehr wollte – wobei Ersteres weitaus öfter vorkam als Letzteres. Später würde er, und bei dem Gedanken daran füllte sich sein Mund bereits mit Speichel, Zwetschkenknödel mit zerlassener Butter verschmausen, und zwar eine solche Menge, bis ihm der Magen zu zerplatzen drohte.
Voller Tatendrang klatschte er in die Hände. Wohlan!
Sechs Monate später stand Sigismund am Zentralfriedhof und bewunderte das Bauwerk, dem mit seinem säulengestützten Baldachin die zeitlose Anmutung eines griechischen Tempels innewohnte. Nur die edelsten Materialien hatte er zugelassen: weißen Carrara-Marmor aus Italien, aus dem bereits die Trajanssäule in Rom errichtet worden war. Schmuckelemente und figurale Allegorien auf die Abschnitte des Lebens ließ er die traditionsreiche Berliner Bronzegießerei Gladenbeck fertigen, die auch die Göttin auf der Siegessäule in Berlin hergestellt hatte. Selbst bei kleineren Details wie der Auswahl der wenigen verwendeten Hölzer scheute Sigismund weder Mühen noch Kosten. Neben ihm stand Jaroslav Veselý, der Architekt, der mit dem Monument mindestens ebenso zufrieden schien wie der Bauherr. Schließlich gesellte sich Clara zu den beiden in stummer Ehrerbietung verweilenden Herren und ergriff die Hand ihres Gemahls. Ob er denn nun zufrieden sei und seine Rastlosigkeit ablegen könne?
Der nickte. Denn er wusste, dass er von nun an ein neuer Mensch und zugleich wieder der alte war. Und das würden sie gebührend feiern.
Die beiden Eheleute ließen sich von einem Fiaker in die traditionsreiche Pilsner Bierklinik in der Inneren Stadt kutschieren, bestellten den besten Wein des Hauses und – da es Freitag war – frisch gefangene Forelle, wenn auch als Filet.
Sigismund und Clara scherzten, lachten und tranken. Sie fühlten sich, als hätten sie erneut zueinandergefunden. Keine Spur mehr von Sigismunds Taphephobie. Verflogen war jegliche Obsession mit dem Ableben …
Bis ihn ein Hustenanfall wild zu beuteln begann. Sigismund sprang vom Tisch auf, stolperte rückwärts und stürzte sogleich zu Boden. Der Atem röchelnd, sein Blick starr. Über ihm die Bögen des altehrwürdigen Kellergewölbes. Clara kniete sich weinend hin und rüttelte an ihm wie an einem trotzigen Kind, das nicht folgen wollte. Sigismund war, als würden sich seine Augäpfel von innen mit einer milchigen Flüssigkeit füllen, die immer dichter wurde, bis er schließlich nichts mehr sehen konnte außer dem weißen Licht, das nun allumfassend und alles durchdringend war.
Eine ungekannte Leichtigkeit umgarnte ihn.
Dann war Sigismund von Aschbach tot.
Drei Tage lang wurde er in der Kühle des Kellers des Familienanwesens aufgebahrt, ohne dass Clara auch nur einen Augenblick von seiner Seite wich, nur einen Eimer für ihre Notdurft neben sich.
Letzten Endes war er da – der Tag von Sigismunds Beisetzung.
Die Trauergemeinde, die sich zur Verabschiedung eingefunden hatte, schien größer, als Clara es vermutet hätte, hatten sich doch all jene eingefunden, denen Sigismund zu Lebzeiten als Wohltäter ein Begriff gewesen war: die Waisen, die Alten, die Armen. Sie alle beweinten ihn, als wäre er ein Teil ihrer eigenen leiblichen Familie, und so zog sich der Trauerzug schier endlos über den Wiener Zentralfriedhof.
Beim Mausoleum angekommen sprach der Priester von Herzen kommende, tröstende Worte – sofern Worte ob eines solchen Verlustes überhaupt Trost spenden konnten – während der Leichnam aus dem hölzernen Sarg gehoben und in den Steinernen gelegt wurde. Zum Abschluss wurde die Sargplatte von sechs Knechten zugeschoben. Und mit dem Verstummen des steinernen Knirschens verstummte auch die Trauergemeinde, während von fern die Totenglocken schallten.
Clara, in ein schwarzes Spitzenkleid gewandet, das Gesicht hinter einem Schleier, wartete so lange, bis ihr auch der Letzte der Gesellschaft kondoliert hatte. Danach warf sie einen Blick auf das Inventar, das, wie von Sigismund angeordnet, jedes an seinem Platz stand, und nickte den sechs Knechten zu, die daraufhin das Mausoleum mit der schweren Steinplatte verschlossen.
Gebeugt von Gram stand sie noch da, bis der Friedhofswärter kam, um die vier Petroleumlampen zu entzünden. Dann schritt sie zu ihrer Kutsche, die sie in ihr einsames Zuhause bringen würde.
Geräuschlos legte sich die Nacht über den Friedhof, tauchte die Inschriften auf den Grabsteinen ins Dunkel des Vergessens. Nur das flackernde Licht der Petroleumlampen ließ Schatten auf Sigismunds Mausoleum tanzen, als würde ein wildes Fest gefeiert.
Im Inneren des Grabmals war es ebenso finster wie still, wie auch im Sarkophag selbst, in dem Sigismund ruhte, gekleidet in seinen besten Sonntagsanzug.
Plötzlich begann sein Körper zu zucken. Erst ein wenig, dann immer heftiger. Sigismund riss die Augen auf, strampelte wie wild, unfähig zu erkennen, wo er sich befand. Sein Atem ging immer schneller. Was war das für ein Albtraum, der ihn gefangen hielt? Warum wachte er nicht auf? Schließlich stieß Sigismund mit den Füßen an eine Wand, trat dagegen und hörte sogleich, wie eine Steinplatte am Boden zerbarst.
Erst jetzt dämmerte es ihm – es war also tatsächlich das eingetreten, wovor er sich am meisten gefürchtet hatte. Und wogegen er so emsig vorgebaut hatte.
Mit Müh und Not robbte Sigismund ob seiner Leibesfülle aus seinem Sarg und landete schließlich auf dem Boden, auf dem die Brocken der zerbrochenen Seitenwand verstreut lagen. Er mahnte sich zur Umsicht, jetzt wollte nichts Unüberlegtes getan werden! Zuerst musste er Licht machen. Wenn alles an dem Platz war, wohin er es befohlen hatte, dann müsste er nur zwei Schritte zu seiner Linken machen, und –
Sigismund stolperte über die Gesteinsbrocken der Platte, rutschte aus und suchte Halt … diesen fand er, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Dann stürzte er zu Boden. Ein stechender Schmerz durchfuhr sein Knie. Er verfluchte sich, weil er nicht mit eingeplant hatte, dass die Platte zerbrechen könnte.
Und wenn schon, wo war das Licht?
Blind tastete sich Sigismund vorwärts, erfühlte schließlich die bereitgestellten Schwefelhölzer und die Lampe und entzündete ein schwaches Licht. Dann fiel sein Blick zu jener Stelle, an der er gerade eben noch Halt gesucht hatte, und weiter auf die am Boden liegende Bronzekette, die zum Läutwerk an der Außenseite geführt hätte – hätte er sie nicht gerade eben abgerissen.
Somit war das Läuten der Glocken nicht mehr möglich.
Er atmete tief durch. »In der Ruhe liegt die Kraft«, sprach Sigismund sich Mut zu, denn ob solcher Widrigkeiten hatte er ja mehrere Alarmmechanismen geplant. Aber zunächst galt es, wieder zu Atem zu kommen. Er setzte sich in den Schlafsessel, nahm eine Bouteille Wein, entkorkte sie mit dem daneben liegenden Öffner und trank sie mit gierigen Schlucken aus. Allmählich kam sein Körper zur Ruhe. Doch seine Gedanken kreisten hektisch in seinem Kopf wie ein aufgeschreckter Schwarm Wespen um das eigene Nest. Vorbei war jegliche Vernunft, die zu geordneten Schritten geführt hätte. Das Gefühl von Panik machte sich in ihm breit, kroch ihm in den Rücken und versuchte ihm von dort aus, den Brustkorb zuzupressen. Sigismund wurde die Luft knapp.
Was sollte er –
Er musste den Friedhofswärter alarmieren! Sigismund stürzte zum Kippschalter, der an der Wand montiert war, und aktivierte ihn. Jetzt hieß es warten, aber nicht lange, dann würde das schrille Läuten den Wärter mit Sicherheit auf schnellstem Wege zu ihm treiben.
Was Sigismund nicht wusste, war, dass der Wärter außerordentlichen Gefallen am Muskat-Sylvaner gefunden hatte, und so waren aus dem redlichen Vorsatz, nur ein Gläschen Wein auf den verstorbenen edlen Spender zu trinken, schließlich alle sechs Bouteillen geworden. Nicht einmal die Pummerin des Stephansdoms hätte den Trunkenbold in diesem Zustand zu wecken vermocht.
Als Sigismunds Hoffnung schwand, dass die Alarmklingel in der nächsten Zeit ihre Wirkung tun würde, schritt er zur Wand, ergriff die Stange mit der eingewickelten Signalfahne und schob sie durch das Kupferrohr nach draußen. Mit einem Male begann sich der Schaft von selbst zu drehen, die Fahne wickelte sich also wie geplant von selbst aus! Erleichtert setzte sich Sigismund wieder in seinen Sessel und öffnete die zweite Bouteille Wein.
Sigismund entging jedoch, dass das Tuch der Fahne auf der Petroleumlampe neben dem Eingang zu liegen kam, und nur wenige Minuten später in hellen Flammen stand. Das Feuer fraß das gesamte Gewebe samt Instruktionen und verbrannte auch noch, oben an der Fahnenstange angekommen, die stoffummantelte Zuleitung zur elektrischen Alarmklingel. Dies hatte zur Folge, dass das Läuten im Friedhofswärterhäuschen schlagartig endete.
Nachdem Stunden ohne das kleinste Anzeichen auf Rettung verstrichen waren, schwand auch in Sigismund die Hoffnung darauf, dass sich noch alles zum Guten wenden würde. Wie in aller Welt konnte seine penible Planung so schiefgehen? Hatte er nicht alles minutiös entworfen? War er nicht ein guter Christ gewesen? Hatte er nicht mehr Wohltaten begangen als die meisten seiner Zeitgenossen? Zu Clara war er kaum garstig gewesen, und auch sonst hatte er so gelebt, dass er sich erhobenen Hauptes im Spiegel anblicken konnte – wenn er denn einen im Mausoleum mit eingeplant hätte.
Da fiel es ihm siedend heiß ein: Er hatte ja noch den schweren Hammer, mit dem er Klopfzeichen geben konnte, solange ihn seine Kräfte nicht verließen … der Hammer, wo war der verfluchte Hammer? Mit der Lampe in der Hand suchte Sigismund jeden Winkel seines steinernen Gefängnisses ab, aber von dem Werkzeug fehlte jede Spur. Irgendwann verspürte er ein heftiges Stechen in der Brust. Erneut setzte er sich in den Sessel, löschte die Lampe, um ein wenig durchzuatmen.
Und beim Gedanken an Clara schlief er für immer ein.
Was Sigismund nicht mehr erfahren würde, war, dass tags darauf Thomas Pospischil, seines Zeichens Handwerker für alles, was am Friedhofsgelände anfiel, den schweren Hammer zum Mausoleum zurückbrachte. Er hatte ihn am Morgen des vorangegangenen Tages dort entdeckt und sich gedacht, er würde ihn sich schnell für den Abriss einer scheußlichen Steinfigur ausborgen, denn hier würde er mit Sicherheit nicht vermisst. Da das Grabmal zu seiner Überraschung nun jedoch verschlossen war, schulterte er das schwere Werkzeug und ging pfeifend seines Weges …