Keine Zukunft für immer

Das Punk-Lexikon


von Axel Klingenberg


Verlag Andreas Reiffer





Umschlaggestaltung: Patrick Schmitz (www.pottzblitz.de)


1. Auflage (E-Book), 2015, Identisch mit der Printversion von 2012

© Verlag Andreas Reiffer, 2012


ISBN 978-3-945715-40-6


Verlag Andreas Reiffer, Hauptstr. 16 b, D-38527 Meine

www.verlag-reiffer.de

www.facebook.com/verlagreiffer



Als er wiederkam, saßen wir gerade vorm Zelt, nutzten den viertelstündigen Wolkenaufriss für eine Rutsche Brühpolnische mit Löwensenf und fragten ihn, was wir verpasst hätten.

»Geschubst haben die mich ...«

Wir sahen an ihm herab. Er hatte sich dreckig gemacht.

Frank Schäfer


»Auch ich habe geschubst.«

Greil Marcus



Hey ho, let’s go!


Ich möchte gleich am Anfang etwas richtig stellen: »Keine Zukunft für immer« ist kein Lexikon im herkömmlichen Sinn, denn es erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und verzichtet von vornherein auf den Anschein von Objektivität. Ersteres wäre aus naheliegenden Gründen gar nicht zu leisten gewesen – zu umfangreich wäre der zu behandelnde Stoff. Und so habe ich beispielsweise nur den Bands einen Eintrag zugestanden, von denen ich meine, an ihnen exemplarisch etwas aufzeigen zu können. Oder wenn es eine gute Geschichte über sie zu erzählen gibt. Womit wir bei der nicht vorhandenen Objektivität angekommen wären. Dieses Punk-Lexikon ist meine Version von Punk. Jeder andere hätte ein anderes Buch zu diesem Thema geschrieben, andere Dinge in den Vordergrund gerückt oder beiseite geschoben. Und natürlich auch andere Bands bejubelt oder verrissen.

Zu meinen Kernkompetenzen: Ich bin seit über 25 Jahren mit der Underground- und Punk-Subkultur verbunden: als Hörer dieser Musik, als Konzertgänger, als zeitweiliges Mitglied einer Konzertgruppe, als Musiker (war nur’n Witz: meine Gesangskarriere endete nach einem halben Nachmittag im Übungsraum ...) und als Fanzine-Macher (Else Kling, Kroizweise und Der Corerier hießen meine bescheidenen Beiträge zur Punkpresse). Von den Fanzines kam ich schließlich zum Schreiben und beteiligte mich mit dem Heft Shut up – be happy (eine Reminiszenz an Jello Biafra) am Social Beat-Netzwerk, dem literarischen Arm des Punks. Doch meine teilnehmende Beobachtung (wie es unter Sozialwissenschaftlern scherzhaft heißt) ging noch weiter: Ich betätigte mich einige Jahre in der Antifa und durfte mich auch an der einen oder anderen Hausbesetzung beteiligen – alles Erlebnisse, die ich nicht missen möchte.

Und letztendlich bin ich doch immer nur eines gewesen und bis heute geblieben: Ein Fan dieser Musik und des Spirits, der damit verbunden ist. Punk war eben immer mehr als bloß Musik.


Ich danke Andreas und Antje für Rat und Tat und gemeinsam erlebten Punkrock.



Bauwagenplatz, der

Wenn der gemeine Punk seinen Eltern so derartig auf den Sack geht, dass sie ihn nun wirklich nicht mehr ertragen können, fliegt er zuhause raus. Dann zieht er entweder in eine Wohngemeinschaft, unter eine Brücke, in ein Studentenwohnheim oder in eine von den Erzeugern finanzierte Eigentumswohnung. Eine Minderheit lebt auch gerne auf Bauwagenplätzen. Das sind eigentlich auch Eigentumswohnungen, nur auf Rädern und sehr klein und ohne Klo, aber mit Ofen. Dort lebt man sehr intensiv, das heißt, dass man entweder schwitzt oder friert oder krank ist. Dafür ist man aber immer in der Natur – na ja, was man so »Natur« nennt in der Stadt. Der Punk ist mit seinem Bauwagen sehr mobil (wenn auch sehr langsam). Das vermittelt einem das schöne Marlboro-Gefühl von Freiheit und Abenteuer. Auf Bauwagenplätzen wohnen natürlich nicht nur Punker, sondern auch Hippies und Ökos.

Anspieltipp: Der Bauwagenplatzbewohner steht natürlich auf handgemachte Musik. Man kann auch sagen: auf Kleinkunst. Das ist nicht immer schön anzuhören, aber wenn ich eine musikalische Empfehlung aussprechen soll, dann entscheide ich mich auf jeden Fall für den Berliner Liedermacher Yok Quetschenpaua, den ich in meiner Zeit bei den Autonomen viel gehört habe. Und so heißt auch eines seiner Lieder: »Komm zu den Autonomen«.


Berlin

Berlin ist die Brutstätte der deutschen Punk-Szene. Das sieht man in Düsseldorf natürlich ganz anders.

Anspieltipp: Ein klarer Beweis dafür ist der PVC-Song »Wall City Rock«, der auch tatsächlich schon ziemlich nach Punk klingt – im Gegensatz zu dem schweinerockigen »Berlin by Night«.


Black Metal, der

Wenn Punkrock und Heavy Metal eine unheilige Allianz eingehen, entsteht dabei Black Metal. Venom, die Begründer dieses Genres, spielten so schlicht (um nicht zu sagen: schlecht), dass man sie für Punks hätte halten können – wenn sie nicht so lange Haare gehabt hätten. Auch inhaltlich war man gewissermaßen punkig – denn ihr stolz vor sich her getragener Satanismus war in Wirklichkeit eher anti-kirchlich als pro-teuflisch. Die satanistische Theologie interessierte Cronos, Mantas und Abaddon in Wirklichkeit nicht die Bohne. Sie wollten keine neue Religion begründen, sondern eine alte zerstören.

Na gut, wahrscheinlich wollten sie einfach nur Krach machen, eierkneifende Spandexhosen und möglichst viele Nieten tragen sowie einen Grund haben, sich die Haare nicht waschen zu müssen.

Haare nicht waschen ist nämlich böse und böse ist gut.

Anspieltipp: Ganz klar: Venom waren die ersten und sind die besten. Insbesondere »In League with Satan« ist Gott ... Verzeihung ... Satan. Aber Black Metal hat sich natürlich weiterentwickelt, entfernte sich dabei aber immer mehr von seinen Rock-Wurzeln und das ist auch gut ... verdammt ... schlecht so. Wer wissen will, wohin das führen kann (nämlich in hochinteressante psychedelische Gefilde am Rande der Trance-Berge) sollte sich mal unbedingt Liturgy anhören. Die New Yorker machen allerbesten ... ich meine ... allerschlechtesten ... ach scheiße ... ich geb’s auf ... Black Metal. Und sie geben nicht viel auf diese ganzen Leder-und Nieten-Quatsch. In dem wunderschönen Videoclip zu ihrem Song »Returner« trägt der Schlagzeuger sogar ein quietschgrünes T-Shirt. Dabei sagt doch schon der Name, dass es im Black Metal nur eine zulässige Farbe gibt.


Chaostage, die

Der Ausdruck »Chaostage« ist mittlerweile in die deutsche Sprache eingegangen. Immer wenn’s mal ein bisschen durcheinander geht und zwei Leute gleichzeitig reden, von denen einer zu spät gekommen ist, titelt die BILD-Zeitung: »Chaostage in Berlin«, »Chaostage in Athen« oder »Chaostage in Burg auf Fehmarn«. Der inflationären Verwendung des Wortes ist daher mit aller Entschiedenheit entgegen zu treten. Wenn irgendwann jeder dieses Wort nach Belieben verwenden darf, dann haben wir ... genau: Chaostage in ganz Deutschland. Und das kann niemand ernsthaft wollen!

Doch verlassen wir den Dschungel der Sprach- und wenden uns der Geschichtswissenschaft zu: Zu den direkten Vorläufern der Chaostage zählen die »Wuppertaler Punker-Treffs« (1982), die eine Protestaktion dagegen waren, dass sich auf Anordnung der Wuppertaler Stadtverwaltung die Wuppertaler Punker nicht mehr an einem bestimmten Brunnen in der Wuppertaler Innenstadt treffen sollten, was dazu führte, dass sich nunmehr auch Punks, die nicht aus Wuppertal stammten, in Wuppertal trafen. Diese Samstage im Jahre 1982 fanden so großen Anklang, dass man den Erfolg in anderen Städten wiederholen wollte. Am 18. Dezember 1982 trafen sich daher zahlreiche Punks aus der ganzen Republik in der norddeutschen Provinzstadt und Punkermetropole Hannover zu einem »Chaos-Tag« (man beachte das Singular), um gegen die sogenannte Punkerdatei (und die allgemeine Schlechtigkeit der Welt) zu protestieren. In der Punkerdatei sollten nicht nur Punks, sondern auch andere auffällig aussehende Personen erfasst werden, um sie im Bedarfsfall leichter auszusortieren zu können.

Anfang Juni 1983 fanden in Hannover schließlich die ersten »Chaostage« (jetzt im Plural) statt. Erklärtes Ziel war es, die »rivalisierenden Jugendgruppen« der Skinheads und Punks zu versöhnen. Die Versöhnung endet – dank der ebenfalls anreisenden Nazi-Skins – in einer veritablen Massenschlägerei. Weil das so schön war, wurde auch im nächsten Jahr zu Chaostagen aufgerufen. Um den Nazis gleich klar zu machen, dass sie nicht erwünscht waren, stellte man die Veranstaltung unter das sicher lang diskutierte und daher wohlformulierte Motto »Chaos-Tage gegen die braune Pest«. Dementsprechend wurde sogar eine antifaschistische Demonstration durchgeführt, die allerdings von einer hundertfünfzigköpfigen Gruppe von Naziskins gestört wurde. Die Demo endet am UJZ Glocksee, wo ein Konzert stattfand, welches jedoch nach zwei Stunden von der Polizei beendet wurde. Anschließend wurde das Gelände abgeriegelt und die 1500 Anwesenden die ganze Nacht dort festgehalten. Am nächsten Morgen war das UJZ ein Trümmerhaufen.

Dies führte nicht nur zu nachhaltigen Verstimmungen zwischen den Punks und den lokalen Autonomen, sondern auch dazu, dass sich viele Punks der aufblühenden Hardcore-Szene zuwandten.

Der Versuch, im Jahre 1989 »Internationale Chaostage« in Hannover zu begehen, scheiterte kläglich an mangelnder internationaler oder auch nur nationaler Beteiligung. Noch nicht einmal die Nazi-Skins kamen.

Dafür fanden nunmehr auch in anderen Städten kleinere Chaostage statt, z.B. in dem ostwestfälischen mittelgroßen Oberzentrum Lübbecke – immerhin waren diese tatsächlich international, denn es waren auch Punks aus Belgien, Holland und Großbritannien angereist, vermutlich dem weltweit guten Ruf des deutschen Bieres folgend, denn der Austragungsort der dortigen Chaostage war das traditionelle Bierbrunnenfest, zu dessen Hauptattraktion der kostenlose Ausschank von Bier der ortsansässigen Barre-Brauerei gehörte.

Zu einem überraschenden Chaostage-Revival kam es 1994, initiiert vor allen Dingen von Personen aus dem Umfeld des Fanzines ZAP. Wieder einmal zeigte die Polizei viel Fingerspitzengefühl bei der Benutzung ihrer Schlagstöcke. Jede Ansammlung von mehr als drei Personen mit bunten Haaren konnte nach Ansicht der Beamten nur durch den massiven Einsatz von Tonfas und Tränengas deeskaliert werden. Auch die Medien waren begeistert und taten so, als wäre das Lagerfeuer vor der Luther-Kirche ein brennender Stadtteil. Und weil es ja zehn Jahr zuvor so schön war, stürmte die Polizei wieder einmal ein Konzert (diesmal im Sprengel) und nahm 400 Besucher fest. Die Presse kam ihrer staatsbürgerlichen Pflicht nach und berichtete sachlich (»Blut klebte an Steinen und Containern«) und nach ausführlicher Recherche über die Chaostage – sogar aus einem nicht existierenden Flugblatt (»Sie wollen Hannover in Schutt und Asche legen.«) wurde fleißig zitiert.

Im folgenden Jahr bemühten sich dann die anreisenden Punks, ihrem schlechten Image gerecht zu werden (Motto: »Die Presse befiehlt, wir folgen!«). Die 3000 Punks, Autonomen, Hooligans und Jugendlichen ausländischer Herkunft lieferten sich einen offenen Schlagabtausch mit den 3000 Polizisten und Bundesgrenzschutzbeamten. Ein eindeutiger Sieger war allerdings nicht auszumachen. Der niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder und sein Innenminister Gerhard »Bluthund« Glogowski bekamen trotzdem von der einschlägigen Presse viel Lob für ihr pädagogisch wertvolles Vorgehen. Als Höhepunkt dieser Chaostage galt die Räumung des Sprengel-Geländes und die Plünderung eines Penny-Marktes in der Nordstadt.

Der Chronist dieser Ereignisse war übrigens ebenfalls Besucher dieser Chaostage und des gleichzeitig stattfindenden Fährmannfestes. Bevor letzteres abgeriegelt wurde, verließ ich jedoch mit vielen anderen das Gelände und begab mich auf eine recht erheiternde Odyssee durch Hannover, die zum Ziel hatte, irgendwie die Nordstadt zu erreichen. Was uns nach wenigen Stunden und einem kleinen Umweg durch eine ausufernde Schrebergartensiedlung auch gelang. Auch mein Auto habe ich wiedergefunden und da es beim Barrikadenbau keine Verwendung gefunden hatte, gelang es mir, die Stadt ohne größere Verluste zu verlassen.

Trotz der hervorragenden Leistungen der Polizei musste übrigens der hannoversche Polizeipräsident zwei Wochen nach den Chaostagen von seinem Amt zurücktreten. Dabei hatte er sich doch stets bemüht, die ihm gestellte Aufgabe zu erkennen. Auch dass das Amtsgericht Hannover im Anschluss feststellte, dass die Festnahme von 500 Punks rechtswidrig gewesen sei, kann man nur als Anstellerei bezeichnen.