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Inhaltsverzeichnis




























Das deutsche Pilgerwege-Netz

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Adressen / Literatur

Adressen,…

Ein hervorragender Anlaufpunkt für alle, die ihre Fühler in Richtung deutscher Jakobswege ausstrecken wollen, sind die deutschen Jakobus-Gesellschaften – Pilgerbrüder gibt es zwischen Aachen und Sachsen-Anhalt (fast) überall! Diese – nicht vollständige – Liste gibt einen ersten Überblick:



St. Jakobus-Gesellschaft Berlin-Brandenburg e.V.
Moorhof 1, 16766 Kremmen, Tel.: (033055) 21292



Freundeskreis der Jakobuspilger Hermandad Santiago e.V. Paderborn
Busdorfmauer 33, 33098 Paderborn, Tel.: (05251) 5068677



Jakobus-Pilgergemeinschaft Göttingen e.V.
c/o Kathol. Kirchengemeinde St. Michael
Turmstr. 6, 37073 Göttingen



St. Jakobus Gesellschaft Sachsen-Anhalt e.V.
Geschäftsstelle (nur postalisch):
Neustädter Str. 4, 39104 Magdeburg



Sankt-Jakobusbruderschaft Düsseldorf e.V.
Heinrich Wipper, Lützowstr. 245, 42653 Solingen, Fax: (0212) 815747



Freunde des Jakobusweges Marienhospital Eickel
Marienstr. 2, 44651 Herne



Jakobusbruderschaft Kalkar
Karl-Ludwig von Dornick
Monrestr. 19, 47546 Kalkar



Jakobus Münster – Freundeskreis für Pilger und Pilgerinteressierte
Rita Maria Meyer, Tel.: (0251) 6749583



Santiago-Freunde Köln
c/o Robert Recht, Wilensteinweg 11, 50739 Köln, Tel.: (0221) 1701423



Deutsche St. Jakobus-Gesellschaft e.V.
Tempelhofer Straße 21, 52068 Aachen, Tel.: (0241) 4790-127



St. Jakobusbruderschaft Trier
Krahnenufer 19, 54290 Trier, Fax: (0651) 9451217



St. Jakobus-Gesellschaft Rheinland-Pfalz-Saarland e.V.
Hildegard Becker-Janson, Hauptstr. 12, 55286 Sulzheim



ULTREIA – Verein zur Förderung der mittelalterlichen Jakoswege
Löwenstr. 61, 70597 Stuttgart (Degerloch), Tel.: (0711) 760066



Hohenzollerische Jakobusgesellschaft e.V.
Postfach 225, 72375 Hechingen



Jakobus-Bruderschaft Killer A.D 1510
Kirchweiler Straße 16/1, 72393 Burladingen-Killer
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Badische St. Jakobusgesellschaft e.V.
Geschäftsstelle im Jugendwerk, 79206 Breisach, Tel.: (07664) 409-0 (14.00-
17.00 Uhr)



Jakobusgemeinschaft Rohrdorf e.V.
St.-Jakobus-Platz 3, 83101 Rohrdorf



Jakobus-Pilgergemeinschaft Augsburg e.V.
Kirchstraße 2d, 86368 Gersthofen



Pilger vom Weg nach Santiago de Compostela e.V.
Deutschmeisterring 101, 86609 Donauwörth, Tel.: (0906) 66 45



Beuroner Jakobspilger-Gemeinschaft
Benediktusweg 1, 88631 Beuron, Tel.: (07466) 927 412



Schwäbische Jakobusgesellschaft
Stiftung Haus St. Jakobus,
Kapellenberg 58-60, 89610 Oberdischingen, Tel.: (07305) 91 95 75



Sankt-Jakobus-Bruderschaft Bamberg von 1496



Fränkische St. Jakobus-Gesellschaft Würzburg e.V.
Ottostraße 1 – Kilianeum, 97070 Würzburg

… Weblinks, …

Extrem nützliche Informationszentrale für Pilger in spe – mit ausführlicher Liste deutscher Jakobswege und Pilger-Chat.



Der Name der Seite spricht für sich ...



Übersicht über einige deutsche Wegemit einem kleinen Forum!



Beispiel für eine wachsende Zahl von Webseiten, die sich gezielt einzelnen deutschen Wegabschnitten widmen. Diese hier ist jedoch fast schon ein kleiner Online-Reiseführer. Sogar mit Quartierverzeichnisvorbildlich!



Sehr schöne Zusammenstellung einer Vielzahl deutscher Jakobswege. Die Autorin Beate Steger hält auch Vorträge und bietet in ihrem Web-Shop sogar eine DVD zum Thema »Pilgern vor der Haustür« an.

… Literatur …

Wipper, Heinrich: Von Paderborn durch das Sauerland nach Köln: Ein Pilgerführer, Paderborn 2005.



Schäfer, Karl-Josef: Ein Jakobsweg von Neuss über Köln nach Koblenz-Stolzenfels — Der Pilgerwanderführer für den Rhein-Camino (Teil 1), Norderstedt 2009.



Moll, Michael und Schumann, Bianca: NRW: Jakobsweg von Paderborn nach Aachen, Welver 2005.

Sendelbach, Kay: Wege der Jakobspilger im Rheinland: Übernachtungsverzeichnis, Roxheim 2008.



Bei der Planung der vorliegenden Reise waren insbesondere hilfreich die Pilgerführer des J.P. Bachem-Verlags, die in Zusammenarbeit mit Denkmalschützern und Jakobusbruderschaften erstellt wurden und mittlerweile eine beachtliche, kleine Bibliothek umfassen:



Heusch-Altenstein, Annette und Kühn, Christoph: Jakobswege – Wege der Jakobspilger in Rheinland und Westfalen, Band 9: In 9 Etappen von Dortmund über Essen und Düsseldorf nach Aachen, mit einer Variante über Mülheim an der Ruhr und Duisburg, Köln 2010.



Spichal, Ulrike und Gerbaulet, Horst: Jakobswege – Wege der Jakobspilger in Westfalen, Band 6: In 12 Etappen zu Fuß und per Rad von Osnabrück über Münster und Dortmund nach Wuppertal-Beyenburg, Köln 2008.



Heusch-Altenstein, Annette und Flinspach, Karlheinz: Jakobswege – Wege der Jakobspilger im Rheinland, Band 1: In 8 Etappen von Wuppertal-Beyenburg über Köln nach Aachen/Belgien, Köln 2005.



Heusch-Altenstein, Annette, Flinspach, Karlheinz, Harzheim, Gabriele und Wipper, Heinrich: Jakobswege — Wege der Jakobspilger im Rheinland, Band 2: In 13 Etappen zu Fuß und per Rad von Köln und Bonn über Trier nach Perl/Schengen am Dreiländereck von Deutschland, Luxemburg und Frankreich, Köln 2007.



Eine Übersicht über die bislang erhältlichen Bände gibt es hier:



Sehr spannend können auch vereinzelte Pilgerberichte in Veröffentlichungen der Jakobus-Bruderschaften sein, z.B.:



Kerckhoff, Winand: Auf dem Jakobsweg durch Bonn, in: St. JakobusBruderschaft Düsseldorf e.V., Hrsg.: Die Kalebasse, Band 48, Düsseldorf 2010.

Weitere »Fanzines«:

Sternenweg (Deutsche St. Jakobus-Gesellschaft e.V.)
Unterwegs (Fränkische St. Jakobus-Gesellschaft Würzburg e.V.)
Camino (St. Jakobus-G esellschaft Berlin-Brandenburg e.V.)
Jakobusblättle (Badische Jakobusgesellschaft)



Auch zur rein praktischen Vorbereitung auf die Wanderung kann man inzwischen auf gute Ratgeber zurückgreifen, zum Beispiel:



Berger, Karen: Wandern — Planung, Ausrüstung, Gelände, Bekleidung, Zelten, Sicherheit, Starnberg 2006.



Selbstverständlich gibt es auch speziell auf den Jakobsweg zugeschnittene Ratgeber. Sie befassen sich zwar in der Regel mit den speziellen Bedingungen des spanischen Caminos, vieles (»Mit wem pilgern?«) gilt jedoch auch in Deutschland. Eine Empfehlung unter vielen:



Joos, Raimund: Pilgern auf den Jakobswegen, Welver 2008.

Ähnlich Spanien-lastig sind naturgemäß viele Bücher, die sich mit der Geschichte der Jakobswege befassen. Trotzdem sind Bücher wie das folgende sehr lesenswertPilger standen schließlich überall vor ähnlichen Problemen:



Herbers, Klaus: Jakobsweg — Geschichte und Kultur einer Pilgerfahrt, München 2007.



Wer sich für die Gefahren des Reisens in den Jahrhunderten vor Auto, Bahn und Flugzeug interessiert, wird hier fündig:



Gräf, Holger Th. und Pröve, Ralf: Wege ins Ungewisse — Reisen in der frühen Neuzeit (1500 — 1800), Frankfurt am Main 1997.



Auch auf den Webseiten der Jakobus-Bruderschaften finden sich zuweilen sehr detaillierte Literaturverzeichnisse, z.B. hier: . Eine ausgezeichnete aktuelle – und kommentierte – Liste ist auf den Webseiten von Manfred Zentgraf zu finden, der sich als Verlagsbuchhändler seit 1990 auf Jakobspilgerbücher spezialisiert hat (; auch: ; inkl. Verzeichnis aktueller Führer für die deutschen Wege). Was Zentgraf nicht hat, gibt’s wahrscheinlich nicht.

Drei Heilige und ein Engel

Dienstag, 7. April 2009 – Dortmund bis Herdecke

Um acht Uhr wache ich auf, so langsam, wie eine Luftblase in Honig aufsteigt. O. K.: Das mit dem Aufstehen hätte ich besser gelassen: Meine Rückenmuskeln sind verspannt wie Tiefseekabel, die Beine schwer wie Elbschlamm. Ich schleppe mich zum Fenster – und reiße mich im Nu zusammen, denn das Haus gegenüber entpuppt sich bei Tageslicht als Alten-»Residenz«; ich sehe zwar keine Bewohner – was die Sache nur unheimlicher macht –, aber die Zimmer sind in genau diesen aufdringlich hellen und aggressiv aufmunternden Farben gestrichen, wie man sie nur in Heimen, Krankenhäusern oder Kindergärten findet. Bevor ich so weit bin, denke ich, möchte ich doch noch gerne ein paar Dinge durchziehen! Diese Wanderung zum Beispiel.



Der Frühstückssaal meiner Jugendherberge hat etwas von einem Seminarraum: Alles ist abwaschbar, die Stühle würden in jeder Unimensa eine gute Figur machen. An einer Wand steht »Deo Gratias« – ein Kreuz sehe ich seltsamerweise nirgendwo, stattdessen eine Leine, an der die halbe Welt in Form von Papierflaggen aufgehängt ist. Am Nachbartisch nimmt dann auch prompt eine Handvoll junger Briten Platz, zu erkennen an einem Dialekt, der so wenig an Englisch erinnert, wie es sich nur Einwohner von Manchester, Brighton, Bristol oder einiger wirklich finsterer Ecken Londons leisten können. Einer der jungen Leute, vielleicht 14 Jahre alt, fällt zudem durch einen selbst für Insel-Verhältnisse extravaganten Kleidungsstil auf: Mit schwarzer Hose, lila Hemd, grünem Gürtel und bleistiftschmaler schwarzer Krawatte ist er Kandidat Nummer eins für jeden Gary-Numan -Revival-Contest – er sieht aus, als wäre er vorhin nicht aufgestanden, sondern von einer Konzertbühne gestiegen und trägt die ganze Subkultur seiner Insel mit sich herum, denke ich: John Lennon, Elton John oder Howard Jones und all die anderen, und frage mich, was ich alles mit mir herumschleppe. Plötzlich habe ich es ganz eilig, meinen Rucksack zu packen. Ich brauche nur wenige Minuten, dann liegt mein Rückenkoffer fertig verschnürt vor mir. Ein Meisterwerk! Seltsam nur: Der Reißverschluss gleitet zu wie der ICE Köln-Frankfurt. Außerdem kommt mir das Ding auch leichter vor als bei meiner Ankunft am Vortag. Weniger Zahnpasta vielleicht? Unmöglich – und trotzdem richtig: Kulturbeutel vergessen! Nachdem ich das Ding dazugestopft habe, sieht der Rucksack wieder aus wie Reiner Calmund in einem Superman-Dress. Egal – los geht’s! Mein erster Tag auf dem Jakobsweg!



Das Licht, das von draußen hereinscheint, ist weiß wie im Zentrum einer Nuklearexplosion. Die Luft riecht frisch wie Weichspüler – könnte ein warmer Tag werden heute! Laut Pilgerführer habe ich einiges vor: als besonders irritierend empfinde ich die vielen Höhenlinien auf der Karte. Egal: Zunächst darf ich sowieso erst einmal an Bürokomplexen entlang wandern und die A40 überqueren; es wird eine Weile dauern, bis ich allmählich Häuser erreiche, in denen die Menschen angenehmere Dinge tun, als Akten zu wälzen und sich in Konferenzen anzuöden. Immerhin: In der Nähe der Westfalenhallen stehe ich unvermittelt vor einem steinernen Turm, der als Teil der Befestigungsanlage um die Stadt einmal die Handelsstraße nach Köln unter seinen Fittichen hatte. Das Ding ist von einer kleinen Mauer umgeben, die wie gemacht ist für eine kleine Pause! Ich setze meinen Rucksack ab und habe ganz kurz das Gefühl zu fliegen; wenige Sekunden später weicht dieser Eindruck allerdings der Befürchtung, beim nächsten Schritt vornüberzufallen. Egal – weiter! Irgendwann darauf wird es richtig grün. Im Rombergpark, einem ausgedehnten Botanischen Garten voller vor Blüten brennender Bäume, kommt mir eine alte Dame entgegen. »Wandern für mein Leben gern«, sagt sie im Vorbeiflattern, und ich verstehe nicht richtig, ob sie diesen Satz mit einem Frage- oder Ausrufungszeichen versieht. Egal, vielleicht beides: Ich jedenfalls komme gut voran. Nur mein Nacken beginnt allmählich wieder, sich in Eichenholz zu verwandeln.

Wichtig ist, dass ich meinen Kopf dabeihabe, denn mit dem will ich mich auseinandersetzen.

Gegen Mittag mache ich in einem Dortmunder Vorort neben einer großen »1994« aus Bronze Rast. Die Skulptur sieht aus, als hätte sie sich auch eben erst hier hingesetzt; als ich ein gutes Stück dahinter den Abzweig nicht direkt finde, winkt mir ein Handwerker zu und zeigt mir mit einem Schraubenzieher in der Hand den richtigen Pfad. O. K.: Auf dem Original-Jakobsweg bin ich schon seit ein paar Kilometern nicht mehr. Das liegt daran, dass viele der alten Pilger-Originaltrassen über die Jahrhunderte zu viel befahrenen Straßen geworden sind, an denen man nicht einmal Abgas-Junkies entlangschicken möchte. Die aktuelle Trasse windet sich daher wie Efeu um den alten Weg herum, um ihn dann später ein Stück weit im Westen liegen zu lassen wie eine abgelegte Schlangenhaut. Mir macht das nichts: Ich glaube eh nicht an so etwas wie die »Magie« alter Straßen. Einen Eindruck vom Pilgerleben bekomme ich auch, wenn ich an einer anderen Stelle durch den Wald streife! Wichtig ist, dass ich meinen Kopf dabeihabe, denn mit dem will ich mich auseinandersetzen. Hohensyburg! Laut Reiseführer könnte ich hier abbrechen, wenn ich ein Bett finde, aber ich denke nicht dran! Jetzt will ich erst recht sehen, wie weit ich heute noch komme! Ich entdecke ein Café, das ich vor Jahren mal besucht hatte. Damals habe ich dafür eine Stunde im Auto gesessen! Meine Füße brennen wie Magnesiumfackeln, aber das Verhältnis eine Autostunde = zwei Tage zu Fuß imponiert mir! Von der nahe gelegenen Burgruine – der ehemaligen »Sigiburg« – steht nicht mehr viel … Aber ich kenne ich das Ding ohnehin so gut wie das Wartezimmer meiner Ärztin und stiefele mehr aus Pflichterfüllung noch einmal durch die Anlage. Viel spannender finde ich die Aussicht ins Tal vom nahe gelegenen Kaiserdenkmal aus: Die Leute unten sind klein wie Schweinegrippeviren, die Gegend sieht aus wie ein weiches Kissen, auch die Ruhr gibt ihr Bestes in der Disziplin »Schimmern im Nachmittagslicht«. Auf einer Mauer zwischen Ruine und Bismarckturm treffe ich ein sehr entspanntes junges Pärchen. Der Typ fragt mich, ob ich »wandere« – und spricht das Wort so aus, als meine er »auf Händen gehen«, »Fernseher aus dem Fenster schmeißen« oder »cooler als Jake Blues sein«, und schaut seiner Freundin lange in die Augen, als ich weitergehe. Ich muss runter an die Ruhr – auf einem malerischen Pfad mit eingebautem Bergbauwanderweg, der sich in engen Serpentinen abwärts windet. Ich mache alle paar Dutzend Meter Pause, um die Aussicht zu genießen – und um meine Knie zu beruhigen, die auf das plötzliche Bergab nach gefühlten 100.000 Kilometern bergauf zuvor etwas spröde reagieren.



Unten biege ich in einen Weg ein, der mich auf der nördlichen Seite des Hengsteysees – einer Art Aussackung des Flusses – nach Herdecke bringen soll. Sehr weit komme ich allerdings nicht: Schon nach ein paar Hundert Metern spricht mich ein Mann offenbar italienischer Provenienz an, der es sich mit zwei Kumpels auf einer Bank bequem gemacht hat. Für gewöhnlich sagt man den Leuten zwischen Mailand und Neapel ja nach, dass sie es verstehen, sich exquisit zu kleiden – auf diesen Herrn trifft das allerdings nicht auf den ersten Blick zu. Er trägt ein oranges T-Shirt, eine lila, arg sackige Jogginghose und eine tiefschwarze, mit den Jahren im Stirnbereich leicht gelichtete, aber kunstvoll gekämmte Thomas-Anders-Matte. Seine beiden Kollegen würden in jedem Mafia-Film als Leibwächter durchgehen – weshalb ich mir eigentlich vorgenommen hatte, ihre Bank mit stur nach vorne gerichtetem Blick so schnell wie möglich zu passieren, habe aber keinen Erfolg mit meiner Strategie. »Ey, willsse du weiter gehe?«

Das Trio mustert mich und meinen Rucksack, als wollten die drei abschätzen, ob ich auch nur eine einzige Stunde als Packer am Duisburger Hafen überleben würde. Ui! Ich habe mal gelesen, dass man Fremden auf keinen Fall sein Ziel nennen soll! Jetzt bloß nix falsch machen! »Oh, isse schwer jetzt. Weg isse nach eine Kilometere gesperrte. Kannsse du nixe durch«, sagt Thomas Anders und schüttelt seine Mähne. Ich habe Angst, in einer Wolke mikroskopisch kleiner Öltröpfchen zu stehen. »Sicher. Kannsse du den Hang rauf und obe gehe. Habe wir auche so gemacht. Aber mit deine Last isse vielleicht schwer.« Er schaut mich an wie einen Ferrari mit Reifenschaden. Ich bleibe eine Weile stehen und weiß nicht recht, was ich sagen soll. »Entschuldigung. Ische sage nur«, sagt der Mähnenmann und hebt die Schultern wie ein Chefarzt, dem eben ein 120-Jähriger auf dem Weg in den OP gestorben ist. Ich überlege, ob ich gekränkt sein soll, schließlich habe ich mich mit dem Ding auf dem Rücken heute schon zur Hohensyburg geschleppt, die jetzt klein wie ein Streichholzmännchen auf dem Bergrücken hinter mir liegt. Andererseits … »Eh, gehsse du rüber, andere Seite. Aber ich sage nur. Musse du wisse. Entschuldigung.« Entschuldigung? Jetzt erst fällt mir auf, wie leer gefegt der Weg vor mir ist – während sich drüben, auf der anderen Seite der Ruhr, Menschenmassen wie bei einer Media-Markt-Eröffnung entlangschieben … Was war ich für ein Idiot! Die schrägen Jungs haben mir einen Riesen-Umweg erspart! Ich muss mich erst einmal daran gewöhnen, dass es Menschen gibt, denen es etwas ausmacht, mich auf dem falschen Weg zu sehen! Und dann auch noch solche, denen ich unter normalen Umständen nicht mal einen gebrauchten VW-Käfer-Rückspiegel abgekauft hätte …

Oft liegt das Ziel nicht am Ende des Wegs, sondern an seinem Rand.

Menschen, Eiswagen, Hunde, Radfahrer – und jetzt auch ein Pilger: Auf dieser Seite der Ruhr ist wirklich eine Menge los. Ich gehe gerade 500 Meter, als ich von einem jungen Mann eingeholt werde. Wo ich hin will? Ich nenne ihm mein Fernziel: Trier. Treffer: »Eine der schönsten Städte Deutschlands! Und da gehst du zu Fuß hin?« Ich kriege raus, dass der Typ als Student mal eine Weile da unten gelebt hat und inzwischen eine Art Biochemiker ist. Sowas: Da schindet man sich tagelang, um dem Alltag eine Nase zu drehen, und einer der ersten, mit dem man etwas ernsthafter ins Gespräch kommt, ist ein Kollege! Egal: Wir quatschen eine Weile übers Wandern und darüber, wie toll er es findet, dass sich mal jemand Zeit nimmt für so eine Reise und über die verrückte, schnelle Zeit, die einem den Blick für die wesentlichen Dinge des Lebens verstellt, dann muss er weiter, er hat es eilig.



Ich nicht mehr so. Aus gutem Grund: Es ist kühl geworden; kurz vor Herdecke sind meine Füße aus reinem Plutonium, mein Rücken fühlt sich an, als hätte mir jemand eine tiefgefrorene Leiche darauf gebunden. Und: Ich habe getrödelt! Statt der geplanten fünf habe ich acht Stunden auf der Piste verbracht. Zum Glück finde ich heraus, dass das nächste Bett ganz in der Nähe steht: In einem sogenannten »Mini-Hotel«, gleich am Ortseingang. Vor Ort entpuppt sich das Etablissement als winziges Fachwerkhaus, kaum größer als die Geräteschuppen, in denen Leute anderswo Spaten und Rasenmäher aufbewahren. Ich soll am Haus gegenüber klopfen; davor finde ich eine schmale, weiße Bank, widerstehe aber der Versuchung, mich hinzusetzen – keine Ahnung, ob ich je wieder aufstehen könnte. Nach ein paar Minuten schaut eine alte Dame aus dem Fenster über mir. »Ist das für einen Pilger?« Einen Moment weiß ich nicht, was ich sagen soll. So hat mich bisher noch niemand genannt. Irgendwie ist es mir etwas peinlich, so angesprochen zu werden, aber es ist unbestreitbar: bin ja einer. »Warten Sie, ich komme runter.« »He, aber, Moment, was soll das denn kosten?« »Das Zimmer ist umsonst. Aber das Frühstück müssen Sie bezahlen. Fünf Euro.«



Als die Dame zum »Hotel« rüberwuselt, habe ich Mühe, ihr zu folgen: Ich komme mir mit meinem Rucksack plötzlich vor wie ein Brontosaurier, der weiß, dass er heute Abend noch aussterben muss. Das Hotel ist allerdings nicht der richtige Platz dafür: Es ist ultraniedlich. Im Erdgeschoss ein Aufenthaltsraum mit locker implantierter Küche, darüber, über eine winzige Wendeltreppe zu erreichen – in der ich mit meinem Rucksack zwei mal stecken bleibe – , zwei Zimmer und ein Etagenbad, das so sauber aussieht wie aus einem Sanitärkatalog. Der Boden meines Zimmerchens knarzt, in der Ecke steht ein alter Schrank, aus dem jeden Augenblick ein lustiges Gespenst wehen könnte; mein Bett ist älter als ich, da sind garantiert schon etliche Leute drin gestorben. Aber die Decke ist bauschig wie die Plümos, die man in Kinderwagen stopft. Ich lehne meinen Rucksack vorsichtig an die Wand und erfahre, dass das Mini-Hotel seit Kurzem so etwas wie die offizielle Pilgerstation in Herdecke ist; Stempel gibt’s auch bei ihr, sagt meine Gastgeberin. Erst gestern seien drei Pilger da gewesen, Großeltern mit Enkel, total fertig, der Mann hätte zwei Unterschenkelprothesen, sie wären 28 Kilometer gelaufen. Mann: Dagegen habe ich heute einen Wellnessurlaub gehabt! Ich reiche der Dame meinen Pass; sie lässt sich viel Zeit, den Stempel möglichst schön hineinzubekommen. Als sie sieht, dass ihr Werk gelungen ist, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Plötzlich sieht man, wo die ganzen Falten herkommen: Sie greifen auf den Wangen ineinander wie Hände, die sich guten Tag sagen. »Wissen Sie, ich bin jetzt 85. Wenn man schon nicht mehr wandern kann, muss man eben einen anderen Beitrag leisten«, sagt die Lady.

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Bevor ich mich in mein Bett haue, streife ich noch durch Herdecke, wobei ich die Besucher eines italienischen Restaurants mit meinem etwas rustikalen Outdoor-Outfit und einer Plastiktüte voller Getränkeflaschen etwas verunsichere, und anschließend noch ein wenig durch das Haus. In einer Ecke stehen zwei Sessel vor einem gusseisernen Ofen, davor zwei spielende Keramikkätzchen. Auf einem kleinen Beistelltischchen entdecke ich einen Teller mit zwei unverschämt lecker aussehenden Äpfeln samt Messer zum Aufschneiden. Auf einem Sekretär, der eine Ecke des Raums ausfüllt wie Oli Kahn sein Tor, finde ich ein riesiges Gästebuch, im Regal daneben einen Kalender mit Jakobsweg-Sprüchen. Einige davon notiere ich mir. Oft liegt das Ziel nicht am Ende des Wegs, sondern an seinem Rand, lese ich zum Beispiel. Auf vielen Wegen kannst Du Dich verlieren. Finden nur auf Deinem. Und: Menschen, nicht Mauern machen Städte. Ich bin todmüde. Und doch den Tränen nah. Keine Ahnung, warum. Spirituell hat mich dieser Tag ja nun nicht so arg weitergebracht. Trotzdem fühle ich mich innerlich seltsam satt. An Gott kann ich nicht glauben. Aber an Menschen wie meine Vermieterin irgendwie schon. Ich schleppe mich ins Bett und schlafe auf der Stelle ein.

Weisheit – oder auch nicht Und das Grillteller-Wunder vom Gevel-Berg

Mittwoch, 8. April 2009 – Herdecke bis Gevelsberg

Als Erstes zerdeppere ich ein rohes Ei auf dem Frühstückstisch. Dann werfe ich das Milchkännchen runter. Kein Wunder: Ich habe unter meiner Decke gelegen wie ein Stein unter zwei Metern Erde. Falls tatsächlich Gespenster aus dem Schrank gekommen sind, haben sie mich nicht geweckt. Oder es nicht geschafft. Egal: Dafür bin ich tot. Immer noch. Auch deshalb versuche ich heute Morgen, bewusst alles etwas langsamer zu machen als sonst. Schließlich wird es allmählich Zeit, dass ich etwas ruhiger werde: Das ist eine Pilgerreise, da wird man zu einem weiseren Menschen, oder? Und die hetzen nun mal nicht! Auf dem Plan stehen heute Hagen-Haaspe – neun Kilometer, Schwierigkeitsgrad laut Pilgerführer »mittel« – und Gevelsberg, zehn Kilometer in der Kategorie »mittel bis schwer«. Werd’ die Etappen trotzdem zusammenfassen. Neun Kilometer gehen ja gar nicht!



Der Rucksack ist schnell gepackt, aber wieder habe ich das Gefühl, dass irgendwas fehlt. Kulturbeutel? Als ich ihn aus dem Bad hole, fällt mein Blick auf die Sachen, die ich dort gestern zum Trocknen aufgehängt habe. Ohne durchschlagenden Erfolg, wie sich jetzt zeigt – vielleicht hätte ich die Heizung doch anmachen sollen. Egal: Ins Haus gegenüber gehe ich wie auf Glas. Mit dem Schlüssel in der Hand will meine Gastgeberin, sie heißt Ines Berger, wie ich Zeitungsausschnitten im Hotel inzwischen entnehmen durfte, noch wissen, ob ich was im Gästebuch hinterlassen habe – mit einem Glänzen in den Augen wie bei einem jungen Mädchen, das sich auf ein Weihnachtsgeschenk freut. Ein Foto darf ich leider nicht von ihr machen. Dass ich nicht darauf bestanden habe, ist eines der wenigen Dinge auf dieser Reise, die ich später wirklich bereue.

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Neun Uhr! Die Luft riecht frisch, als würde ich in Island auf einem Gletscher stehen; nachts muss es geregnet haben, aber jetzt leuchtet der Himmel wie eine Flasche Wodka Wick Blau. Auch mein Weg zeigt sich zunächst großzügig: Es geht zurück zur Ruhr; am anderen Ufer dann ein Stück nach Westen und zack – bin ich wieder im Grünen. Auf den Bordstein des Wegs hat jemand mit blauer Farbe »UMARME MICH« geschrieben, ein paar Meter weiter folgt das dazugehörige »BITTE«. Alles in Großbuchstaben, aber trotzdem ganz leise. Wer mag das dahin gemalt haben? Hoffentlich nicht der Typ, der sich die heutige Wegführung ausgedacht hat – über den darf ich mich nämlich wundern: Es geht den Kaisberg rauf und danach gleich wieder runter. Das hätte man vielleicht auch einfacher haben können! Immerhin: Auch Karl der Große soll hier oben vorbeigeschaut haben, bevor er sich die Sigiburg genommen hat. Da will ich natürlich nicht zurückstehen. Und langsam gewinnt der Weg wieder an Kraft: Nach etwa drei Kilometern fällt mir auf, wie leicht mir heute Morgen das Aufbrechen gefallen ist. Nach vieren mache ich mir Gedanken über die Hotelbesitzerin. Mir wird klar, dass sie für vieles steht, was mit Christentum eigentlich gemeint ist. Und frage mich, ob das Bild, das ich von Christen habe, vielleicht doch ein wenig zu sehr von den Medien geprägt ist: Da sieht man in erster Linie evangelikale Spinner, Eiferer und durchgeknallte Fanatiker jeder Kajüte, die ihren Kindern alles verbieten, was die Natur ihnen mit einem fröhlichen Augenzwinkern ins Körbchen gelegt hat; das alles garniert mit bigotten Kirchenfunktionären, denen heiliger Anschein und Karriere wichtiger sind als die Menschen. Aber vielleicht müssen die ja auch heiliger sein als heilig: Wer scharfe Schatten werfen will, braucht nun mal Kanten, denke ich. Vielleicht lassen all diese Überheiligen ja nach Feierabend die Sau raus. Ich will’s jedenfalls hoffen. Zum Glück scheint Berger nicht die einzige richtige Christin hier zu sein: In der Nähe des Friedhofs Vorhalle reißt sich eine Frau ein Bein aus, um mir den Weg zu erklären. Ich habe mich zwar gar nicht verlaufen, höre aber trotzdem geduldig zu und bedanke mich.



Schon fast zehn Kilometer auf dem Tacho. Es ist angenehm kühl, der Himmel immer noch blau wie die Augen von Terence Hill: Was will der Pilger mehr? Hinter Vorhalle wird der Weg schnell wieder schön. Wald! Laut Reiseführer sind die Pfade in diesem Gebiet älter als 150 Jahre. Komisch, wie wenig mir Füße und Rücken heute wehtun. 4,4 km/h – nicht übel! O. K. – ich hatte mir gute zehn Prozent mehr vorgenommen … Aber allmählich kehrt in meine Schritte irgendwie so etwas wie Ruhe ein. Auch die Gedanken werden flacher und langsamer wie der Atem eines Zen-Meisters, auch sie schreiten mit kleineren Schritten voran. Tatsächlich erinnert mich Gehen plötzlich ein wenig an Luft holen. Ab und zu sprudeln noch ein paar Bilder von meiner Arbeit und dem ganzen Stress zu Hause in mir hoch, aber im Großen und Ganzen nimmt mich allmählich doch eine Art loungige Gelassenheit an die Hand. Ich wundere mich über das, was ich gestern noch für innere Ruhe gehalten habe und bin gespannt auf das, was da noch kommt!

Irgendwann sind allerdings die Muschel-Hinweise, die bisher in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen an den Bäumen geprangt haben, verschwunden. Nicht so schlimm, ich habe ja meinen GPS-Empfänger und eine gute Karte dabei, ich kann mich also gar nicht verlaufen, selbst wenn ich’s versuchen würde. Allerdings scheint nicht alles in mir dieser Ansicht zu sein: Kaum habe ich gemerkt, dass es ein Problem gibt, stellt sich dieser Druck im Kopf wieder ein, mit dem mein Körper in den letzten Monaten auf Stress reagiert hat. Plötzlich wird mir bewusst, dass diese Kopfschmerzen die letzten zwei Tage verschwunden waren. Aha, das war also der Normalzustand? So fühlt sich das an, wenn nichts ist? Nach ein paar Metern fallen mir ein paar hohe, schlanke Bäume auf, deren Kronen sich im Wind hin und her wiegen, als hätten sie sich etwas Wichtiges zu erzählen. In der Nähe entdecke ich eine Bank und beschließe spontan, Mittagspause zu machen. Setze mich, lehne mich zurück und vergesse den Weg. Strecke die Beine aus. Irgendwie könnte ich diesen Bäumen stundenlang zuschauen. Wow.



Was für ein Schock! Eben lenkte ich meine Schritte noch über verwunschene Pfaden entlang von Feldern, Wiesen und Weidezäunen, wie man sie eher im alpinen Hochgebirge erwarten würde, dann schlägt der Weg einen Haken – und plötzlich befinde ich mich auf einer grauen Straße ohne jegliche Spur einer Bepflanzung. Hagen-Haspe! Mein Gott – ich laufe auf einen ehemaligen Bunker zu. Um den – sagen wir mal: urbanen – Eindruck dieses städtebaulichen Kleinods nicht zu zerstören, haben die Bewohner des Örtchens das Ding bemalt. Aber nicht mit Grünzeug, wie man es anderswo vielleicht machen würde, sondern mit einem Haus, einem Förderturm und irgendwelchen Industrieanlagen. Davor immerhin zwei (echte) Bäume, die sich in dem Gesamtensemble allerdings ausnehmen, als hätte jemand ihre Samen vor Jahren versehentlich da fallen lassen. O. K.: In Haspe lag mal einer der Hagener Richtplätze. Hier warteten Rad und Galgen auf Verurteilte: Solche Orte waren bei den Leuten ja nie sehr beliebt … Kann sich der Charakter eines solchen Platzes bis heute halten? Warum leben Menschen in so einem Ort, wo es doch ganz in der Nähe Kleinode wie Herdecke gibt? Ein paar Meter vor dem Industrie-Bunker finde ich immerhin ein Café, das den schönen Namen »Himmlisch« trägt. Ich werfe meinen Rucksack an die Wand und mich in einen Sessel, der mindestens so bequem ist wie meine Lieblingsjeans, lehne meinen Pilgerstab vorsichtig an den Tisch und bestelle Waffeln mit Sahne und einen Cappuccino. Was für eine Lust, darauf zu warten! Mit stiller Freude lese ich zudem in meinem Pilgerführer, dass der Weg von nun an weitgehend den Höhenlinien folgen soll! Hurra! Waffel essen, weiter! Vor dem Laden sonnt sich meine Kellnerin an einem kleinen Tischchen, auf den kaum ein Aschenbecher passt; sie blinzelt und lächelt mich an, als ich ihr das Geld hinlege.



Hinter Haspe deckt sich die aktuelle Trasse wieder ein kurzes Stück mit dem historischen Wegverlauf. Ich bin also mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit genau auf dem Pfad, den Tausende von Pilgern vor mir unter ihren Wanderstab genommen haben. Der Aufstieg dahin ist allerdings ganz schön knackig; endlich hochgeschraubt, bin ich nass wie Froschlaich und leere eine Eineinhalb-Liter-Flasche Mineralwasser fast in einem Zug. Auch danach: von wegen »weitgehend entlang der Höhenlinien«! Hier geht es auf und ab! Mein Weg führt über eine Reihe von Bergen, die nebeneinander liegen wie schlafende Hunde und alle die Namen von Köpfen tragen: Bredder Kopf, Poeter Kopf, Brahms Kopf. Dazwischen geht es immer wieder runter ins Tal. Der »wahre« Jakobsweg läuft längst wieder ein kleines Stück weiter oben. O. K.: Auf diese Weise bleiben mir wenigstens ein paar Höhenmeter erspart; trotzdem möchte ich wissen, was die Leute früher dahin verschlagen hat! Spätestens am Hageböllinger Kopf bin ich schlapp wie ein schlecht gelagerter Fahrradreifen – dabei habe ich da noch den Mühler Kopf und zwei weitere Täler vor mir! Irgendwo finde ich vier Gartenstühle, die jemand über ein paar Bretter miteinander verschraubt hat. Wanderer nimm dir Zeit steht da drauf. Das mach’ ich natürlich gerne! Ein Mülleimer steht leider nicht in der Nähe. Das ist blöd, weil ich seit der letzten Pause die geleerte Wasserflasche mit mir herumschleppe. Na super: Andere Wanderer suchen verzweifelt nach Wasser, ich dagegen nach einem Papierkorb, um endlich dieses doofe Stück Polyethylenterephthalat loszuwerden. Ich bekomme eine düstere Ahnung von dem Bild, das sich dieser junge Engländer in Dortmund wahrscheinlich von mir machen würde …



He, allmählich wird’s jetzt aber wirklich hart. Das viele Auf und Ab zermürbt mich. Der Rucksack drückt, mein Rücken ist völlig vernagelt, ich kann den Kopf kaum noch drehen, irgendjemand hat mir Sand zwischen die Wirbel gestreut. Ich hake nur noch Kilometer ab. Nur vorwärts, vorwärts, irgendwie. Dann, endlich: Häuser, eine Landstraße, Bürgersteige. Blöd nur: Gevelsberg ist lang wie eine tote Anaconda und offenbar überwiegend von finster dreinblickenden Gestalten bevölkert. Zwei dicke Kinder fragen mich, was ich da mache, aber ich habe keine Kraft zu antworten. Mit der Tanknadel im roten Bereich lasse ich mich auf eine Bank in der Nähe der Post fallen wie ein welkes Blatt. Im Adressteil des Pilgerführers finde ich tatsächlich eine Pilgerherberge – Hurra! Allerdings liegt die – am Hageböllinger Kopf! Raaaah! Ich hätte vor vier Kilometern einfach nur rechts statt geradeaus gehen müssen!

Zum zweiten Mal an diesem Tag bin ich im Himmelreich. Danke, Jakobsweg!

Und jetzt? Meine Füße brennen wie Schweröl. Meine Schultern sind schon längst nicht mehr aus Eiche, sondern aus Presspappe: Zeit für Plan B! Den Notfallplan. Ich werde mir die Stelle für die Fortsetzung der Reise morgen merken und mir ein Taxi zur Pilgerherberge nehmen! »Geh zum Bahnhof«, sage ich mir, da stehen garantiert welche. Schlechte Idee: Der Gevelsberger Hauptbahnhof ist etwa so groß wie eine S-Bahn-Haltestelle in Bottrop-Süd. O. K.: Es gibt einen Taxistand. Aber der ist so leer wie der Raum zwischen Erde und Mond. Ich werde hier sterben. Oder? Ich zücke meinen GPS-Empfänger. Das nächste Hotel liegt unendlich weite 500 Meter von hier. Ich beschließe, es zu nehmen, egal, was es kostet. Immerhin spare ich das Taxi.



Die Alte Redaktion wirkt von außen tatsächlich so unscheinbar wie eine Vorort-Druckerei. Aber wenn Betten drinstehen, könnte sie meinetwegen aussehen wie eine Karstadt-Filiale. »Sind Sie Pilger?« »Würde ich sagen.« Ich klopfe mit dem Wanderstab auf den Boden. Den Hut lasse ich auf, weil ich darunter garantiert aussehe wie ein eingeschäumter Teppich. Die Frau an der Rezeption, eine junge, aufgeweckte Mittzwanzigerin mit Kurzhaarfrisur und Brille, blickt zwischen mir und einem Bildschirm hin und her. Ich halte mich an meinem Wanderstab fest, um nicht umzufallen. »Normalerweise ist telefonische Anmeldung ja besser, aber jetzt stehen Sie nun mal vor mir …« »Was kostet das denn?«, frage ich. Die Frau lächelt mir zu. Jetzt nehme ich meinen Hut doch ab und weiß nicht, was ich sagen soll. Ich lächle einfach zurück.



Das Hotel ist so übersichtlich wie ein altes Bergwerk. Lange Flure, diverse Treppen. Meine – sagen wir: Kammer – ist winzig wie ein Baukran-Kommando-stand, aber sehr adrett. Ein Fenster gibt es nicht. Aber eine Heizung, auf der ich meine Sachen trocknen kann! Ich klettere auf die Matratze und versinke darin wie ein rohes Ei in einem schwarzen Tümpel. Gegen sieben Uhr abends weckt mich mein Magen. Ich raffe mich auf; irgendwo in dem Stollensystem finde ich einen Aushang mit dem Menü für heute Abend: Rotbarschfilet an Basmatireis und Blattspinat. Mist – warum habe ich mir im Wildgehege vorhin kein Reh mitgenommen! Ich will einen Grillteller! Blöderweise regnet es draußen inzwischen in Strömen. Ich gehe zur Rezeption, lasse mir dort etwas resigniert einen Hotelstempel in den Pilgerpass drücken, den Weg zum Rotbarschfilet beschreiben – und verlaufe mich. Irgendwann öffne ich eine schwere Tür, hinter der es verdächtig nach Essen riecht – und lande mitten in einem griechischen Grill. Wie in einem dieser Filme, wo man durch einen Kleiderschrank in ein anderes Leben geht … Es duftet nach Fritten und Gyros! An den Nachbartischen sitzen Leute an winzigen Tischen, die sich unter Fastfood und gut gefüllten Biergläsern biegen. Zum zweiten Mal an diesem Tag bin ich im Himmelreich. Danke, Jakobsweg!